Moderne Kunst - Die Malerei des 20. Jahrhunderts -  - E-Book

Moderne Kunst - Die Malerei des 20. Jahrhunderts E-Book

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Beschreibung

Die Malerei des 20. Jahrhunderts ist reich an Strömungen, Kunstrichtungen und Stilformen: Das vorliegen E-Book entführt Sie in die Welt des Fauvismus, Expressionismus und Kubismus, der Pop-Art und Objektkunst bis hin zur der Malerei der Neuen Wilden. Dank digitaler Darstellungstechnik werden Ihnen mehr als 210 Zeugnisse der Malerei des 20. Jahrhunderts in beeindruckender Farbintensität präsentiert und vom Autor fachkundig und verständlich in Szene gesetzt. Erleben Sie die neue Welt digitaler Bildkunst.

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DIE MALEREI

DES 20. JAHRHUNDERTS

Henri Matisse, 1869-1954 Erinnerung an Ozeanien, 1953 Collage, 284,4 x 286,4 cm New York, Museum of Modern Art

„Genauigkeit ist nicht Wahrheit.“

Henri Matisse, 1947

Impressum:

Malerei des 20. Jahrhunderts

Autor: Dr. Gottlieb Leinz

© Originalausgabe by Royal Smeets Offset B.V. Weert, Niederlande

© by Media Serges B.V. Weert, Niederlande

© by Serges Medienproduktion, 42659 Solingen

Alle Rechte vorbehalten.

Für Werke von Bildenden Künstlern, angeschlossen bei einer CISAC-Organisation (oder vergleichbaren Organisationen) sind die Urheberrechte geregelt mit Beeldrecht Amsterdam, Niederlande

© 1996 c/o Beeldrecht

Realisierung der Digitalausgabe: Zeilenwert GmbH, 07407 Rudolstadt

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Die Väter der Moderne: Malerei von Gauguin bis Munch

Die Reinheit der Mittel: Die Wilden in Paris

Zurück zu den Ursprüngen: Die Maler der „Brücke“

Vom Klang der Bilder: Die Maler des „Blauen Reiters“

Verlangen nach Ausdruck: Unabhängige Expressionisten

Die Ordnung der Dinge: Die Revolution des Kubismus

Dynamik und Melancholie des Lebens: Futurismus und Pittura Metafisica

Gesetze des Zufalls und des Wunderbaren: Dada und Surrealismus

Malerei der russischen Avantgarde

Zurück zur Vernunft: Tendenzen der neuen Sachlichkeit

Spätwerke der großen Maler

Die Geometrie des abstrakten Bildes: Vom Konstruktivismus zur Farbflächenmalerei

Kunst als Abenteuer: Die Informelle Malerei

„Rohe“ Kunst bei Dubuffet und der Gruppe Cobra

Das Ende des Tafelbildes: Materialbilder des Neuen Realismus in Frankreich

Neue Raumkonzepte: Fontana, Manzoni und die Gruppe ZERO

Die Wirklichkeit des Alltags: Pop Art und die Folgen

Schauplatz Amerika

Tendenzen in Italien, Spanien und Deutschland

Der Kunstbegriff von Joseph Beuys

Licht am Ende des Tunnels: Die Malerei der Neuen Wilden

Einleitung

Als Werner Haftmann zwischen 1950 und 1953 sein berühmtes Buch zur „Malerei im 20. Jahrhunderts“ konzipierte, lagen erst 50 Entwicklungsjahre der Kunst dieses Jahrhunderts zurück. Heute hat sich die Situation entscheidend gewandelt, zumal die künstlerischen Entwicklungen in England und in den USA eigentlich erst nach 1945 einsetzten, dann freilich um so massiver in die Geschicke der Kunst eingriffen. Der Austausch zwischen Europa und Amerika leitete zudem ein neues, fruchtbares Kapitel der Kunst ein, das auch in diesem Band entsprechend gewürdigt wird. Zu erinnern ist an die Kunst der sechziger Jahre, an Objekt-Kunst, Happening und Pop Art und an die dadurch ausgelösten neuen Wellen künstlerischer Erzeugnisse, die bis heute noch spürbar sind.

Die in den USA und in Europa neueingerichteten bzw. neuerbauten Kunstmuseen, mehr noch die großen Übersichtsausstellungen der letzten Jahre zur Malerei des 20. Jahrhunderts verdeutlichen, daß die zunehmende Beschäftigung mit Werken der bildenden Kunst ihr eigentliches Stimulans über die zeitgenössische, moderne Kunst erhielt und nicht so sehr über die Kunst der klassischen Stile. Die Kunst der Gegenwart lenkte den Blick ferner auf die schier unerschöpfliche vitale Kraft der Malerei, die gerade mit den Neuen Wilden eine plötzliche neue Aufwertung und Bedeutung erhielt. Die zeitgenössische Kunst und darin eingeschlossen weite Bereiche der Kunst nach 1945 muß somit als eigentlicher Vorreiter und als erster Einstieg in die Malerei des 20. Jahrhunderts akzeptiert werden.

Jeder interessierte Betrachter sucht wohl zunächst den Kontakt zur gegenwärtigen Kunst seines eigenen Lebensraumes, ehe er diese ergänzend vergleicht mit der Avantgarde der modernen Kunst. Andererseits sind die Bezüge der Kunst unserer Zeit zu früheren Epochen des 20. Jahrhunderts so offensichtlich und deutlich, daß sich immer ein vergleichendes Sehen anbietet: Happening, Fluxus und Pop Art fußen auf Dada und Marcel Duchamp, die Farbfeldmalerei auf dem Konstruktivismus, die Malerei der Neuen Wilden auf dem Expressionismus und Surrealismus.

Von all diesen Überlegungen geht auch die Konzeption des vorliegenden Buches aus. Die Kunst nach 1945 wird in umfangreichen Kapiteln behandelt. Hierbei wird jeweils versucht, in Text und Bild ein Gleichgewicht herzustellen zwischen allgemeinen Stiltendenzen (Abstrakter Expressionismus, Informel, Pop Art u.a.), der Biographie herausragender Künstler (Picasso, Pollock, Klee, Fontana, Klein, Beuys u.a.) und den Beiträgen führender Gruppierungen (Wiener Schule, Zero, Neuer Realismus), deren Rang und Einfluß jeweils auch durch mehrere Bildbeispiele hervorgehoben werden. Sind die Entwicklungen der gegenwärtigen Malerei noch offen und fließend, so können die Anfänge der modernen Malerei, deren Grundlagen wesentlich vor 1914 formuliert wurden, als in sich geschlossene Übersichtskapitel behandelt werden. Hierzu gehören zunächst die expressiven Tendenzen, beginnend mit den Fauvisren um Matisse in Paris und den Brücken-Künstlern in Dresden und endend mit der Malerei der Neuen Sachlichkeit, in der die Expression wiederum deutlich zurückgenommen wird.

Dem Konstruktivismus des Bauhauses und der De-Stijl-Bewegung um Mondrian stehen Dada und Surrealismus gegenüber. Dominieren dort Abstraktion und Ratio, so hier die Absage an geläufige Ästhetik (Dada) und die Konzentration auf traumatische Visionen (Pittura Metafisica, Surrealismus). Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die künstlerische Revolution des neuen modernen Bildes, die in Kubismus und Futurismus ihren ersten Höhepunkt erreichte. Indem der Kubismus mit den überragenden Künstlern Picasso, Braque, Delaunay und Leger sowohl konstruktive als auch expressive Eigenschaften in sich aufnahm, wurde er zum Kristallisationszentrum der gesamten modernen Malerei. Die Wirklichkeit des Bildes wird wichtiger als die Wirklichkeit der Natur. Cezanne und Seurat erweisen sich für die Konstruktion dieses neuen Weltbildes als die wichtigsten Vorläufer, während Gauguin und van Gogh konsequent den Weg einer erlebnisintensiven, farbigen Bildsynthese aufzeigten. Gemeinsam mit den nordischen Vorvätern der Expression, Munch und Ensor, formulierten diese Künstler exemplarisch die neue Rolle der Kunst in einer die Tradition abschüttelnden Aufbruchsphase. die in Klees berühmter Feststellung einmündete: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“

G. L.

Die Väter der Moderne: Malerei von Gauguin bis Munch

Im Jahre 1886 hatte sich um Gauguin und Emile Bernard in der bäuerlichen Landschaft der Bretagne eine Künstlergruppe zurückgezogen, die sich von der Hektik und dem Erfolgszwang der Großstadt bewußt fernhielt. Der Aufenthalt in der Provinz war nicht einfache Nostalgie nach dem unbekümmerten Landleben, sondern Suche nach den Quellen der Kunst, nach der Einfachheit und nach dem Geheimnisvollen, nach Mythen und religiösen Bräuchen der Bretonen.

Im Rückgriff auf die Technik sakraler Glasmalerei und auf den schattenlosen japanischen Holzschnitt entwarf Gauguin die „Vision nach der Predigt“ (unten). Eine Gruppe im Halbkreis sitzender Bäuerinnen mit gefalteten Händen und andächtig gesenktem Blick bildet eine Arena, die in grellem Zinnoberrot aufleuchtet. Ein diagonal geneigter Baumstamm trennt die Ringergruppe von einer links ins Bild laufenden Kuh. Es handelt sich um die alttestamentarische Szene des Kampfes von Jakob mit dem mythischen Engel. Feste Konturen bannen die leuchtenden Farben, die nicht mehr punktförmig, sondern in geschlossenen Flächen das Bild füllen. Gauguin erfaßt das Ereignis der frommen Frauen beim Gebet, als fände es in der Bretagne selbst statt. Wirklich sind hier nur die Menschen, visionär der Kampf, der sich – so Gauguin – in der Phantasie der Frauen abspielt.

Paul Gauguin, 1848-1903 Vision nach der Predigt, 1888 Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm Edinburgh, National Gallery of Scotland

Vincent van Gogh, 1853-1890 Sternenhimmel, 1889 Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm New York, Museum of Modern Art

Die Faszination einfacher Kulturen sollte Gauguin 1891 nach Tahiti führen. „Der Geist der barbarischen Götter“, den er dort spürte, schien ihm ungleich natürlicher als jede andere Lebensform. Leuchtende und reine Farben in festen Linien bestimmen zunehmend seine Bilder, die Traum und Wirklichkeit, Mythos und Paradies einschließen.

Der musikalischen Harmonik und Exotik Gauguins steht das auflodernde Feuer des menschlichen Schicksals gegenüber, dem wir im Werk von van Gogh begegnen. „Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele“, schrieb van Gogh 1879 an seinen Bruder Theo. Dieses Feuer selbstquälerischer Besessenheit entwickelte sich hier in einer einzigartigen Leistung zwischen Angst und Hoffnung. Als van Gogh 1888 nach Arles in die Provence zog, wohin ihm Gauguin für einige Monate folgte, erfaßten ihn bald Nervenkrise, Zusammenbruch und seelische Not. Der Wille, die Eindrücke der Natur und der hier lebenden Menschen mit der eigenen inneren Anteilnahme zu verschmelzen, führte van Gogh zu leidenschaftlichen, pastos gemalten Bildern mit aufglühenden Landschaften, Köpfen, Stilleben und Selbstbildnissen. Die Farbe quillt in glutvollen Strömen über die Bildfläche und wird durch starke Konturen gedämmt. Gerade in den Landschaften, die in der Hitze der Tages oder in dunkler Nacht vor Ort entstanden, suchte der Künstler den Ausdruck: formal in der kraftvollen, spontanen Handschrift, inhaltlich in der Konzentration auf Erlebnisse vor der Allmacht der Natur. Jedes Bild wird zu einem Existenzraum.

Claude Monet, 1840-1926 Nymphéas, um 1920 Öl auf Leinwand, 100 x 300 cm Paris, Musée Marmottan

Georges Seurat, 1859-1891 Sonntagnachmittag auf der Île de la Grande Jatte, 1884-86 Öl auf Leinwand, 206 x 306 cm Chicago, The Art Institute of Chicago, Helen Birch Bartlett Memorial Collection

Unter nächtlich gestirntem Himmel liegt der Ort Saint-Remy, wo van Gogh 1889 in die Heilanstalt eingeliefert wurde. Den kreisenden Bewegungsströmen der Gestirne mit der glutvollen Mondscheibe stellt sich die breitgelagerte Landschaft mit den Häusern vor den Bergen entgegen, die den Gestirnen Halt gebieten. Dem Kirchturm im Mittelgrund entspricht die aufzüngelnde Zypresse, beides Symbole des Glaubens und des Todes.

Die explosionsartige Ausdrucksgewalt von van Gogh, dessen Werk erst mit dem Frühexpressionismus Anerkennung fand, ist nicht zu verwechseln mit dem Spätwerk von Claude Monet. Der Altmeister des französischen Impressionismus hatte in Giverny serienweise Seerosenbilder und Gartenstücke (Abb. S. 10) gemalt und hierbei zu einem ähnlich vehementen Malstil gefunden. Aus fließenden Farbrinnsalen entsteht ein feines Gewebe von Farbtönen, die rahmen- und perspektivlos einen Ausschnitt aus der Fülle der Natur erfassen. Für die Lyrische Abstraktion der Nachkriegsmalerei sollte diese Auffassung von großem Einfluß werden. Monets Ausdruckswerte fußen jedoch nicht wie bei van Gogh auf Leidenschaft und überhöhender Symbolik. Sie unterliegen immer noch dem Lichtspiel und Zufall des impressionistischen Sehens.

Die Konsequenz aus dem Eigenleben der Farbe hatte zuvor Georges Seurat gezogen, der dem Farbschleier der Impression eine Systematik zu geben suchte. Das Programmbild seines Stils ist der „Sonntagnachmittag auf der Île de la Grande Jatte“ bei Paris (oben).

Paul Cézanne, 1839-1906 Mont Sainte-Victoire, um 1900 Öl auf Leinwand, 78 x 99 cm St. Petersburg, Eremitage

Diese mühsame Aufrasterung der Tonskala nach Rhythmus, Gleichmaß und Kontrast begeisterte nicht allein Gauguin, van Gogh oder Toulouse-Lautrec, sondern auch die Fauvisten wie Henri Matisse.

Aus der Mitte der Impressionisten rückte nun ein Künstler ins Rampenlicht, der sich als Gegner jeder Flüchtigkeit, jeder Deformation und jeder seelischen Überhöhung verstand: Paul Cézanne aus Aix-en-Provence. Wie van Gogh konnte auch Cézanne nur vor dem Motiv bzw. dem Modell arbeiten. Er enthielt sich jedoch jeder emotionalen Erregung und wünschte allein nach formalen Überlegungen dem Bild Festigkeit, Klarheit und Ernst zu geben. Das Bild wird allein in Farbe und ohne harte Konturen „realisiert“. Cézanne wollte, daß seine Motive einen zeitlosen Charakter annehmen. Er „reproduziert“ nicht noch einmal die Natur, sondern setzt sorgsam Farbe neben Farbe.

Edvard Munch, 1863-1944 Der Schrei, 1909 Öl auf Pappe, 84 x 67 cm Oslo, Kommunes Kunstsamlinger, Munch-Museet

Die Landschaft um den Berg Ste. Victoire bei Aix-en-Provence ist das Hauptmotiv des Künstlers (oben). In mehr als zehn Fassungen in Öl stellte sich der Künstler seinem „Gebirge“. In einem dichten Gewebe sitzen die Farben gleichmäßig nebeneinander und füllen ein weites Panorama. Der Raum ist nicht mehr perspektivisch exakt erschlossen, sondern alle Dinge sind gleichwertig in Farbe umgesetzt. Es gibt keine Elemente mehr, die „davor“ oder „dahinter“ liegen, die deutlicher oder undeutlicher wären. Das Bild ist insgesamt eine farbige Einheit, wo es keine „lockeren Maschen geben (kann), kein Loch, durch das die Wahrheit entschlüpft“. „Ich bringe alles zusammen, was sich zerstreut.“ (Cézanne)

Mit dieser Methode schuf Cézanne erstmalig das moderne Bild, das nur seinen eigenen Gesetzen folgt.

Der Formdisziplin und Logik dieser Kunst steht nun auch zu Beginn der modernen Malerei die andere Seite des Lebens gegenüber: Depression und Tragik, Entfremdung von der Umwelt und Zweifel an der Realität der Dinge. Zu den Malern dieser Konfliktsituation gehören in erster Linie der Norweger Edvard Munch und der Belgier James Ensor, deren Menschenbild nicht mehr heil und unversehrt blieb. Ähnlich wie van Gogh stehen diese Künstler in einer persönlichen Krise und reagieren auf die zeithistorischen Zwänge, die im Werk sichtbare Spuren hinterlassen.

James Sidney Ensor, 1860-1949 Der Einzug Christi in Brüssel im Jahre 1888, 1888 Öl auf Leinwand, 258 x 431 cm Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten (Leihgabe)

James Ensor aus Ostende malte seine Hauptwerke noch vor 1900. Sein größtes Gemälde ist „Der Einzug Christi in Brüssel“ (oben). Eine riesige Menschenmenge wogt durch die Straße. Im Vordergrund sind es große, grimassierende Gesichter, die sich nach hinten zu verkleinern. Der auf dem Esel reitende Christus mit den Zügen des Künstlers ist in der Bildmitte kaum auszumachen. Über dem Strom der bunten Menge wehen Fahnen. Ein Spruchband verkündet: „Vive la Sociale“, ein anderes verweist auf „Vive Jésus, Roi de Bruxelles“. Diese lärmende Menschenmenge ist eine Aktualisierung des biblischen Einzugs Christi in Jerusalem. Das Ereignis findet in Brüssel statt, wo Ensor total abgelehnt worden war. Des Künstlers Furcht vor der Menge, vor der ganzen Welt, der er sich schutzlos ausgesetzt fühlt, wird hier im Bild ausgetragen. Das Individuum fällt der Masse zum Opfer und droht unterzugehen.

Eine verwandte demaskierende Menschensicht prägt das Werk von Munch. Munchs Kunst, die dem deutschen Frühexpressionismus wesentliche Impulse gab, liegt nicht so sehr in der formalen Perfektion, als in der kompromißlosen Darstellung von Vereinsamung, Tod und Entfremdung. Der 1902 vollendete „Lebensfries“ aus 22 Einzeltafeln ist das Hauptwerk dieses Lebenskampfes. Es klingt auch in dem Bild „Der Schrei“ an (Abb. S. 12). Auf der jäh in die Tiefe führenden Brücke steht vorne eine hagere Gestalt, deren Gesicht die Umrisse eines Totenkopfes angenommen hat. Nach Munch war es das eigene Angsterlebnis, das ihm vor Schrecken zitternd „das große Geschrei durch die Natur“ fühlbar machte. In gedehnten Linienschwüngen gehen Himmel und Erde, Wasser und Mensch ineinander auf. Die Dinge beginnen zu strudeln. Die Macht der Natur überfällt bedrohlich den hilflosen Menschen.

Die Reinheit der Mittel: Die Wilden in Paris

Den Künstlern standen in Paris zwei „Salons“ für Ausstellungen zur Verfügung: der seit 1884 bestehende „Salon der Unabhängigen“ und der 1903 gegründete „Herbstsalon“. Gründungsmitglied dieses Herbstsalons war Henri Matisse, der hier regelmäßig ausstellte. Matisse organisierte 1905 auch die Gedächtnisausstellungen für Seurat und van Gogh bei den Unabhängigen, während gleichzeitig Manets Werke im Herbstsalon zu sehen waren. Der Kunsthändler Ambroise Vollard hatte 1904 erstmals Arbeiten von Matisse ausgestellt. Bereits hier hatte sich abgezeichnet, daß Matisse kein eigentlicher Revolutionär war, sondern die Leistungen von Manet und Seurat, Gauguin und van Gogh zusammenfaßte. Für alle unvorbereiteten Besucher jedoch, die 1905 den Herbstsalon aufsuchten, waren die Bilder einer Gruppe von zehn jungen Malern, die sich um Matisse gesammelt hatten, eine Provokation. Diese Skandal-Ausstellung gilt als Gründung der Fauves (Wilden). Der Kritiker Louis Vauxcelles nannte diese Künstler, die eine derartig grelle Farbigkeit verwendeten, „Wilde“. Der Begriff wurde als Schimpfwort aufgegriffen und blieb als Stilbezeichnung bestehen. Der Fauvismus war geboren, ein Malstil, der sich gegen die Tonmalerei und gegen den Impressionismus richtete.

Henri Matisse, 1869-1954 Luxus (I), 1907 Öl auf Leinwand, 210 x 138 cm Paris, Musée National d’Art Moderne, Centre Pompidou

Als erster entdeckte Matisse die Palette reiner leuchtender Farben und die kräftige Linie. „Genauigkeit ist nicht Wahrheit“, predigte Matisse. Der dunkel gehaltenen Malerei stellte er die Reinheit des Kolorits entgegen. Bemerkenswert ist, daß Matisse in dieser Manier bereits vor 1905 malte. Im Jahre 1898 hatte er in intuitivem Anlauf einen männlichen Akt ganz in Blau gemalt, 1899 auch ein Cézanne-Gemälde erworben, „Drei Badende“, das er erst 1936 aus der Hand gab. „Meine ganze Zuversicht und Beständigkeit habe ich daraus gewonnen“, bekannte Matisse. Cézanne mußte Matisse davon überzeugt haben, daß jedes Bild sich allein aus der reinen, vollen Farbe entwickeln ließ. Matisse betonte zudem ihren dekorativen Rhythmus und ihren musikalischen Klang. Jedes Bild sei eine optische Sensation. „Ich schaffe keine Frau, ich mache ein Bild“, betonte er.

Den Ausdruck sah er nicht in der expressiven Form van Goghs oder der deutschen Expressionisten. „Für mich liegt der Ausdruck nicht in der Leidenschaft, die in einem Gesicht aufblitzt oder sich in einer heftigen Bewegung äußert. Der Raum, den die Körper einnehmen, die leeren Partien um sie, die Proportionen: dies alles hat seinen Teil daran.“ Auf dieser Ebene ist das Werk von Matisse zu beurteilen und erklärt auch seine Faszination auf die ehemaligen Schüler von Gustave Moreau und die jüngeren Malerkollegen wie Albert Marquet, Henri Manguin, Charles Camoin und Jean Puy. Hinzu kamen das Freundespaar Maurice Vlaminck und André Derain sowie zuletzt die drei aus Le Havre stammenden Maler Othon Friesz, Raoul Dufy und Georges Braque. Auch der Holländer Kees van Dongen stellte mit den Fauvisten aus.

Henri Matisse, 1869-1954 Frau mit Hut, 1905 Öl auf Leinwand, 80,6 x 59,7 cm San Francisco, Privatsammlung

Kopf dieser Künstlergruppe, die nur wenige Jahre gemeinsam ausstellte, war Matisse. Gerade sein Gemälde „Frau mit Hut“ (Abb. S. 15), ein Porträt seiner Frau, hatte jenen Skandal ausgelöst. Hier werden die Farben so klar und ungetrübt wie möglich aufgetragen, kompakter in Kleidung und Hut, transparenter im Hintergrund. Besonders befremdend ist der riesige Hut, eine Modeerscheinung der Zeit, über dem zarten Gesicht. Der Zusammenklang leuchtender Farbflächen, nicht das Porträt, steht hier im Vordergrund. Der Stellenwert eines solchen Bildes wird erst klar, wenn wir einen Blick auf die kommenden epochalen Wandbilder von 1910 werfen. Für den Stadtpalast des russischen Industriellen und Sammlers Scukin in Moskau hatte Matisse monumentale Wandkompositionen zum Thema Tanz und Musik entworfen. „Der Tanz“ (Abb. S. 16) vereint fünf rote Akte zu einem Reigen. Sie fassen sich an den Händen und drehen sich in schwungvoller Kreisbewegung. Matisse konzentriert sich auf die Farben Rot, Blau und Grün und verzichtet rigoros auf alle Details. Durch die großflächige Farbenflut gewinnt die Komposition an Energie und dekorativem Einklang. „Mein erstes Bild“, so Matisse, „stellt einen Tanz dar, jene beschwingte Runde auf dem Hügel... Drei Farben für das große Tanzbild: das Azurblau des Himmels, das Rosa der Körper, das Grün der Hügel... Wir wollen durch die Vereinfachung der Ideen und des Plastischen heitere Würde erreichen. Ein harmonisches Ganzes ist unser einziges Ideal.“ Gleichgewicht im Bild, Harmonie und Einfachheit werden in Zukunft alle Bilder von Matisse auszeichnen. Große, fast monochrome Rächen beleben die Leinwände, auf denen sich alle Körper arabeskenhaft und frei bewegen.

Henri Matisse, 1869-1954 Der Tanz, 1909-10 Öl auf Leinwand, 260 x 391 cm St. Petersburg, Eremitage

Albert Marquet, 1875-1947 Le Pont Neuf, 1906 Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm Washington D.C., National Gallery of Art

Die Klarheit und Reinheit von Farbe und Formen erreichten in dieser Konsequenz nicht alle Maler des Fauvismus. Zu den engsten Freunden von Matisse gehörte Marquet aus Bordeaux. Er hatte 1908 das Atelier von Matisse am Quai St. Michel in Paris übernommen und von hier aus zahlreiche Stadtansichten ausgeführt. Marquet konzentrierte sich auf Städtebilder und Seestücke. Hätte er nicht auch gute Porträts gemalt, könnte man ihn wie Maurice Utrillo als einen modernen Vedutenmaler bezeichnen. Dem ruhigen Temperament des Künstlers entspricht ein inhaltlich und thematisch einheitliches Gesamtwerk. Es zeichnet sich nicht durch grelle Farbigkeit und kühne Ideen aus. Insofern gehört er zu den konservativen Anhängern des Fauvismus, der die lyrisch-verhaltene Stimmung eines Corot nicht aufgeben mochte (links).

Gleichzeitig mit Marquet und doch in völlig anderer Farbbehandlung entstanden „Die Schleppkähne“ (Abb. S. 17) von André Derain. Dieser entwickelte in seiner kurzen Fauve-Periode bis 1908 einen intensiven und äußerst dekorativen Farbflächenstil. Angespornt durch van Gogh setzte er wie dieser in kräftigen Flecken und Strichen die Kontraste grell gegeneinander. Die Farbe strahlt höchste Klarheit und Reinheit aus. Von Derain stammt auch das manifestartige Bekenntnis, das für alle Fauvisten gilt: „Die Farben werden für uns wie zu Dynamitpatronen. Sie sollten sich entladen. Die Idee in ihrer Frische war wundervoll, daß man alles über das Wirkliche hinausheben könnte. Das große Verdienst dieser Versuche war die Befreiung des Bildes von jedem nachahmenden und konventionellen Zusammenhang. Wir gingen direkt die Farbe an.“

André Derain, 1880-1954 Die Schleppkähne, 1905-06 Öl auf Leinwand, 80 x 97 cm Paris, Musée National d’Art Moderne, Centre Pompidou

Ebenfalls 1906 malte Braque, der 1905 Dufy kennengelernt und sich wie dieser dem Fauvismus angeschlossen hatte, „Der Landungssteg von l’Estaque“ (Abb. S. 18). Im Herbst dieses Jahres hielt sich Braque in L’Estaque auf, wo er 1908 seine ersten kubistischen Bilder malen sollte. In dem Seestück von 1906 arbeitet er noch wie Derain in Tupfern und Strichen reinster Farbe. Er bindet sie in einem lockeren und formsicheren Gewebe dekorativ zusammen. Ufer und Landschaft sind kompakter gestaltet, während die Strömungslinien und die Reflexe auf dem Wasser betont locker rhythmisiert sind. Vielfach scheint die ungrandierte Leinwand durch, wodurch Flächigkeit und Einklang des Bildes unterstützt werden.

Die menschliche Figur steht im Mittelpunkt des Werkes von van Dongen, der 1899 aus Rotterdam nach Paris übergesiedelt war und sich bereits um 1902 dem Stil des Fauvismus angenähert hatte. Seit 1906 malte er auf den Spuren von Toulouse-Lautrec Porträts der Tänzerinnen in den Folies Bergères (Abb. S. 19) und der mondänen Gesellschaft. Die in leuchtenden Farbflächen aufgebauten Frauenbilder vereinen die fauvistische Handhabung der reinen Farbe mit expressiven Bewegungsformen und kühnen Überschneidungen. Van Dongen kann gemeinsam mit Rouault als Vermittler fauvistischer und deutscher expressionistischer Malweise hervorgehoben werden, zumal er 1908 gemeinsam mit den Künstlern der „Brücke“ ausstellte.

Georges Braque, 1882-1963 Der Landungssteg von L’Estaque, 1906 Öl auf Leinwand, 37 x 46,5 cm Paris, Musée National d’Art Moderne, Centre Pompidou

Maurice de Vlaminck, 1876-1958 Die roten Bäume, 1906 Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm Paris, Musée National d’Art Moderne, Centre Pompidou

Kees van Dongen, 1877-1968 Die Sängerin Modjesko, 1908 Öl auf Leinwand, 100 x 81,5 cm New York, Museum of Modern Art

Dynamische Farbbehandlung finden wir erneut bei Vlaminck, der mit van Dongen engen Kontakt pflegte. Als Maler war er Autodidakt. Sein Schlüsselerlebnis, sich der Expression frei hinzugeben, war der Besuch einer van Gogh-Ausstellung 1901 in der Pariser Galerie Bernheim. Das Gemälde „Die roten Bäume“ (Abb. S. 18) entstand in Chatou am Ufer der Seine, wo die Häuser durch den Stangenwald der Baumstämme durchscheinen. Rot wie „Fackeln“ scheinen die Stämme zu brennen. Wie van Gogh erlebte Vlaminck die Natur in gesteigertem Erlebnis. Mit wuchtigen Pinselzügen erfaßt er seine Beobachtungen. „Ich steigerte sämtliche Farbtöne und übertraf alle Empfindungen, deren ich fähig war, in einer Orchestrierung aus reinen Farben.“

Dieser Malerei aus reinem Instinkt werden wir auch im deutschen Expressionismus begegnen, dessen Inhalte jedoch gänzlich verschieden sind.

Zurück zu den Ursprüngen: Die Maler der „Brücke“

Im Jahre 1905 wurde in Dresden, der traditionsreichen sächsischen Metropole, die Künstlergemeinschaft „Brücke“ gegründet. Parallel zu den Fauves in Paris ist dies die erste expressionistische Künstlergruppe, die sich bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1913 als gut organisierte Gemeinschaft darstellte. Zum Kern gehörten Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Hermann Max Pechstein.

Der anregendste und vitalste Künstler war Kirchner, der sich 1901 als Student der Architektur an der Technischen Hochschule in Dresden eingetragen hatte. Im Jahre 1904 war auch Heckel nach Dresden gekommen, um Architektur zu studieren. Er lernte hier Kirchner kennen. Heckeis Schulfreund aus Chemnitz, Karl Schmidt-Rottluff, folgte wenig später. Bald nach dem Zusammenschluß als Gruppe fanden sich weitere zeitweilige Mitglieder ein. Emil Nolde wurde 1906 wegen seiner Erfolge als Graphiker zum Beitritt aufgefordert. Schmidt-Rottluff, auf den auch die Namensbezeichnung „Brücke“ zurückgeht, schrieb damals an Nolde: „Eine von den Bestrebungen der Brücke ist, alle revolutionären und gärenden Elemente an sich zu ziehen, das besagt der Name Brücke.“

Über Heckel wurde auch Pechstein im Jahre 1906 Mitglied der „Brücke“, der einzige Künstler, der an einer Kunstakademie studiert hatte. 1906 kamen auch der Schweizer Cuno Amiet und der Finne Axel Gallen-Kallela hinzu. Erst 1910 wurde Otto Mueller Mitglied der Gruppe und beteiligte sich an den gemeinsamen Ausstellungen in Berlin, wohin die Künstlerfreunde 1911 übergesiedelt waren.

Max Pechstein, 1881-1955 Mädchen im schwarz-gelben Trikot, 1909 Öl auf Leinwand, 68 x 78 cm Hamburg, Privatsammlung

Ernst Ludwig Kirchner, 1880-1938 Liegender blauer Akt mit Strohhut, 1908-09 Öl auf Pappe, 68 x 72 cm Offenburg, Privatsammlung

Ergänzt wurde die Künstlergruppe durch einen Kreis von Passivmitgliedern, d.h. aufgeschlossenen Anhängern, um auf diese Weise die Isolierung aufzusprengen und weiter nach außen zu wirken. Auch wirtschaftliche Gründe machten diese Ausweitung nötig.

Für ihren Jahresbeitrag erhielten die Mitglieder jährlich eine Mappe mit drei bis vier Originaldruckgraphiken, ferner eine Mitgliedskarte und einen Rechenschaftsbericht über alle Aktivitäten. Diese Jahresmappen, die Werke aller Künstler enthielten, gehören heute zu den wertvollsten Dokumenten dieser Bewegung.

Das erste öffentliche „Programm der Brücke“ hatte Kirchner verfaßt und 1906 in gotischer Schriftform in Holz geschnitten. Es lautet: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“

Erich Heckel, 1883-1970 Badende, 1914 Öl auf Leinwand, 83 x 96,5 cm Bonn, Städtische Kunstsammlungen

Der Name „Brücke“ bedeutet somit „Brücke zur Zukunft“, von einem Ufer auf das andere. Kirchners Text ist jedoch kein eigentliches „Programm“, sondern ein Appell an die junge Generation, sich vom Ballast akademischer und moralischer Traditionen zu lösen. Er ist mit keiner Theorie verbunden, sondern setzt alle Hoffnung der Erneuerung auf ein gesteigertes Gefühl positiver und frischer Lebenskräfte. Dem rationalen Lebensprinzip und dem Bedürfnis nach Ausgleich und Harmonie setzen diese Maler die Spontaneität der Gefühle und Emotionen entgegen. Dies brachte eine kontrastreiche Handschrift und eine lockere Malweise mit sich. Wie die „Wilden“ in Paris führte dies zur Strahlkraft der reinen Farbe und zur ausdrucksgeladenen Linie. Dem instinktiven Malakt entsprechen harte Komplementärkontraste und grelle Form – und Farbkombinationen, die allein aus der inneren Anteilnahme und der Leidenschaft des Künstlers zu erklären sind.

Die vitale Schöpferkraft und die Suche nach Ursprünglichkeit und Einfachheit lenkte das Interesse der Künstler auch auf die Kunst der Primitivkulturen und Stammesvölker.