Moral ohne Gott? - Markus Widenmeyer - E-Book

Moral ohne Gott? E-Book

Markus Widenmeyer

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Beschreibung

Gibt es Gott nicht, scheint Moral nur ein unverbindliches Produkt der Evolution zu sein. Viele Philosophen meinen heute aber, dass es auch ohne Gott eine wirklich objektive, von der Natur und vom Menschen unabhängige Moral geben kann. Der Autor zeigt, warum solche Ansätze scheitern und dass Moral nach wie vor ein starkes Indiz für den Theismus ist.

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Markus Widenmeyer

Moral ohne Gott?

Eine Verteidigung der theistischenGrundlegung objektiver Moral

STUDIUM INTEGRALEPHILOSOPHIE

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7578-4 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6169-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

1. Auflage 2022

© Copyright der deutschen Ausgabe 2022 by SCM Hänssler

im SCM Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Herausgegeben von der Studiengemeinschaft

Wort und Wissen e.V.

www.wort-und-wissen.org

Studium Integrale

Satz: Studiengemeinschaft Wort und Wissen, Baiersbronn Umschlaggestaltung: Regine Tholen

Titelbild: Tim Bogdanov, unsplash.com

Inhalt

1. Einleitung

2. Gibt es objektive Moral?

2.1 Die Realität des Bösen

2.2 Wer hat recht?

2.3 Objektive Moral als Illusion?

2.4 Moral, Ethik, objektive Moral

3. Normen, Werte, Handlungen und die Rolle von Personen

3.1 Normen und Werte

3.2 Handlungen

3.3 Was macht eine gute Handlung gut?

4. Metaethische Kandidaten für objektive Moral

4.1 Mit Moral gegen Gott?

4.2 Der Non-Kognitivismus

4.3 Einteilung metaethischer Positionen

4.4 Der antirealistische Kognitivismus

4.5 Der metaethische Naturalismus

4.6 Der moralische Realismus

5. Vom apersonalen zum personalen moralischen Realismus

5.1 Der gottlose normative Realismus Erik Wielenbergs

5.2 Eine erkenntnistheoretische Kritik des nichttheistischen moralischen Realismus

5.2.1 Ein (zu) optimistischer Ansatz

5.2.2 Das Kausalitätsproblem

5.2.3 Evolutionäre Argumente gegen einen nichttheistischen moralischen Realismus

5.2.4 Kausal wirksame apersonale moralische Tatsachen?

5.3 Ontologische Kritik des apersonalen moralischen Realismus

5.4 Verteidigung des personalen moralischen Realismus

6. Der theistische moralische Realismus

6.1 Gott als maximal denkbare Autorität

6.2 Gott ist intrinsisch vollkommen gut

6.3 Gott, das Gutsein der Dinge und dessen Erkennbarkeit

6.4 Wie Gott intrinsisch und notwendig gut sein kann

6.5 Die Qualität des Moralischen

7. Zusammenfassung

Literatur

Glossar

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Einleitung

Das Wort „Moral“ könnte Sie an einen anmaßend erhobenen Zeigefinger denken lassen oder an eine bigotte, unterdrückerische Sittenlehre. Und damit hätten Sie im Grunde schon selbst ein moralisches Urteil gefällt. Kritik an (falscher) Moral oder an Missbräuchen von Moral ist eben auch moralisch, unterscheidet also zwischen richtig und falsch, gut und schlecht.

Was Bigotterie und ein (bestenfalls) nerviges Moralisieren betrifft, müssen wir keinesfalls an längst vergangene Zeiten zurückdenken. Gerade unser Zeitalter wird oft als besonders moralisierend wahrgenommen. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb im November 2020: „In der Politik geht es immer öfter um Gut und Böse, nicht um Richtig oder Falsch. Moral ist manchmal ein Opfer, oft nur ein Kind ihrer Zeit. Gefährlich wird sie als Waffe.“1 Das zum Ausdruck gebrachte Unbehagen ist verständlich: Demagogen und Diktatoren setzten das Moralisieren wohl schon immer gerne als Waffe zugunsten ihrer Machterhaltung und -erweiterung ein. So zeigte z. B. der Rhetoriker Ulrich Ulonska, dass die Reden Adolf Hitlers stark von moralisierender Rhetorik durchdrungen waren: Forderungen nach (sozialer) Gerechtigkeit, eine moralisierend-diffamierende Kritik an seinen Gegnern oder die Suggestion eigener moralischer Überlegenheit.2

Die Wirksamkeit moralisierender Rhetorik ist kein Zufall, weil wir Menschen durch und durch moralische Wesen sind. Schon für ein kleines Kind ist es wichtig, ob es selbst oder der andere Schuld hat, wer und was gut oder böse ist, und diese tiefe moralische Imprägnierung unserer Existenz begleitet uns durch unser ganzes Leben: Unterscheidungslinien zwischen gut und schlecht, richtig und falsch, Recht und Unrecht, Unschuld und Schuld sowie Lohn und Strafe bestimmen offen oder unterschwellig unseren Alltag, unser Leben, die Politik und die Weltgeschichte.

Das Thema Moral ist also unhintergehbar. Und es ist sogar zu wenig, wenn man sagt, dass dieses Thema sehr wichtig ist: Was wichtig ist und was nicht, ist selbst eine moralische Unterscheidung.

Es ist zu wenig, wenn man sagt, dass das Thema Moral sehr wichtig ist: Was wichtig ist und was nicht, ist selbst eine moralische Unterscheidung.

Womöglich lässt uns dieses Thema sogar auch nach diesem Leben nicht los. Obwohl in westlichen Kulturen die naturalistische Weltsicht recht verbreitet ist, gehen noch rund 40 % der Deutschen davon aus, dass es nach dem körperlichen Tod weitergeht, und weitere rund 20 % schließen es zumindest nicht aus. Sogar ein Viertel derer, die sich als „konfessionslos“ bezeichnen, glauben an ein Weiterleben nach dem Tod.3 Es handelt sich hier wohl um eine anthropologische Konstante: Schon immer haben Menschen der verschiedensten Kulturräume geahnt, dass wir nach unserem körperlichen Tod in irgendeiner Form weiterexistieren, meist in Verbindung damit, dass uns im Jenseits eine moralische Beurteilung mit weitreichenden Strafen oder Belohnungen erwartet.

Das allein beweist nicht viel. Aber dennoch sind solche Überzeugungen alles andere als unvernünftig. Wohl alle Menschen haben tief in sich die moralische Wahrnehmung, dass gutes Handeln zu loben ist und böses Handeln nach Strafe verlangt. Immanuel Kant hat in seiner Moralphilosophie die Auffassung vertreten, dass das unhintergehbare Phänomen des Moralischen auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit verweist. Die Welt erschiene moralisch absurd, wenn es keine höhere, letzte Gerechtigkeit gäbe, wenn am Ende die Bösen ungeschoren davongekommen wären und die Menschen guten Willens die Dummen sein sollten.

Das ist eine erste Verbindungsstelle zwischen Moral und der Existenz Gottes: Ein Weiterleben nach dem Tod und eine letzte Gerechtigkeit dürften sehr viel wahrscheinlicher sein, wenn Gott existiert.

Was ist mit der Moral selbst? Kann es Moral auch ohne Gott geben? Mit „Moral“ meine ich hier kein normatives Überzeugungssystem, das Menschen, der „Zeitgeist“ oder politisch-ideologische Systeme installiert haben und das dann auch jederzeit von einer anderen Warte aus kritisiert und revidiert werden kann. Eine solche subjektive und relative Moral kann in der Tat eine gefährliche Waffe sein. Auch meine ich keine biologisch bedingte Moral, z. B. in Form bestimmter Verhaltensdispositionen oder emotionaler Reaktionen. Ich meine eine objektive Moral, die wirklich einen universellen, absolut berechtigten, unerbittlichen Anspruch uns gegenüber hat, und zwar unabhängig davon, was wir meinen, fühlen oder welche persönlichen Interessen wir haben. Eine Analogie zu einer solchen objektiven Moral sind Naturgesetze. Auch die Schwerkraft wirkt unerbittlich auf uns, egal was wir über sie denken.

In diesem Buch möchte ich dafür argumentieren, dass es objektive Moral nur geben kann, wenn es Gott gibt. Wenn diese Argumentation gelingt, wir weiterhin gute Gründe für die Annahme haben, dass es objektive Moral gibt, und außerdem die wesentlichen Einwände gegen eine theistische Moralfundierung entkräftet werden können, dann spricht dies unabhängig von anderen möglichen Argumenten für die Existenz Gottes.

Die dazu konträre Weltsicht ist der Naturalismus, der nach wie vor in unserer westlichen, säkularisierten Kultur sehr einflussreich ist. Der Naturalismus ist klassischerweise die Auffassung, dass die Natur alles ist, was es gibt, wobei „Natur“ im Wesentlichen als das verstanden wird, was durch die Naturwissenschaften erforscht werden kann. Die Existenz Gottes, einer unsterblichen Seele und objektiver moralischer Wahrheiten wird verneint. Allerdings scheint sich diese Weltsicht an verschiedenen Fronten in Rückzugsgefechten zu befinden oder sie erfährt zumindest weitreichende Modifikationen und Erweiterungen. Über 160 Jahre nach Darwins Entstehung der Arten sagen immer mehr und auch naturalistisch gesonnene Biologen offen, dass auf Basis bisheriger Evolutionsvorstellungen das Entscheidende noch nicht wirklich erklärt werden konnte: evolutionär neue, komplex funktionale Konstruktionen.4 Eine andere Herausforderung ist die Feinabstimmung des Universums: Unser Universum ist auf verschiedenen Ebenen hochpräzise und mathematisch elegant für eine stabile und funktionale Materie, für eine komplexe Chemie und Leben ausgelegt.5 In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob nicht Zielorientierung ein fundamentales Merkmal der Wirklichkeit ist.6 Und dies kann wohl nur als ein geistiges, personales Merkmal gedacht werden. Eine dritte Herausforderung findet sich in der Philosophie des Geistes: Auch hier räumen prominente naturalistische Philosophen wie z. B. Colin McGinn, David Chalmers oder Thomas Nagel ein, dass wir das Geistige (oder wesentliche Aspekte davon) nicht auf Grundlage von Physik, Chemie und Biologie erklären können. Einige geben offen den klassischen, materialistischen Naturalismus auf, der nur physikalische, nichtgeistige Entitäten als die fundamentale und ursprüngliche Ausstattung der Realität akzeptiert hat.7 Stattdessen postulieren sie fundamentale nicht-physikalische Wesenheiten, um der Realität des Geistigen gerecht werden zu können.8

Eine weitere Problemzone der naturalistischen Weltsicht befindet sich nun auf dem Gebiet der Moral. Und auch hier stellt sich die bedeutsame Frage, welche Seinsqualitäten fundamental sind: Leben wir in einer fundamental moralischen oder einer fundamental amoralischen Welt? Für klassische Naturalisten gilt der Slogan des prominenten Kosmologen Carl Sagan: „Das Universum ist alles, was es gibt, jemals war oder jemals sein wird.“ Und dieses Universum ist „gleichgültig gegenüber [unseren] Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“, wie es Jacques Monod, Nobelpreisträger für Molekularbiologie, formulierte. Die Welt wäre dann fundamental amoralisch. Das Phänomen, dass wir Menschen bestimmte Gesichtspunkte der Realität in gut und schlecht einteilen, manche Handlungen und Personen als moralisch schlecht und tadelns- oder bestrafenswert und andere als gut und lobenswert ansehen, wäre ein seltsames Nebenprodukt letztlich rein physikalisch-chemischer Prozesse. Viele Atheisten glauben daher, dass die Welt amoralisch ist und dass objektive Moral, also die Möglichkeit wirklich berechtigter moralischer Urteile, eine Illusion ist. Prominente Beispiele sind Friedrich Nietzsche, Bertrand Russell oder Jean-Paul Sartre, weitere John Leslie Mackie, Alex Rosenberg, Michael Ruse oder Edward O. Wilson. Für die beiden letztgenannten ist unsere Wahrnehmung einer objektiven Moral ein Betrug unserer Gene, wenn auch ein biologisch nützlicher.

Warum also nicht einfach annehmen, dass die Welt amoralisch und unsere Vorstellung objektiver Moral eine Illusion ist? Das ist deshalb keine gute Idee, weil unsere Lebensvollzüge zutiefst moralisch imprägniert sind und die These, dass unsere moralischen Überzeugungen letztlich allesamt substanzlos wären, Folgen hätte, die unannehmbar erscheinen. Eine Folge wäre, dass es zwischen den selbstlosesten Wohltätern der Menschheit wie Mutter Teresa9 und Massenmördern und Ausnahmeverbrechern wie Pol Pot oder Adolf Hitler keinen objektiven moralischen Unterschied gäbe. Der Unterschied bestände hier in letzter Konsequenz nur in einer Art Geschmacksfrage.

Eine weitere Folge wäre, dass wir gegenüber anderen Personen keine berechtigten Vorwürfe mehr machen oder uns nicht berechtigterweise über etwas beschweren könnten, wo uns oder anderen schweres Unrecht angetan wird; das Wort „Unrecht“ hätte hier ohnehin keinen Sinn, zumindest keinen moralischen. Auch könnte eine Gesellschaftsordnung nicht verbessert werden, weil es keinen objektiven Standard von „besser“ und „schlechter“ gäbe. Eine Kultur ohne Sklaverei, ohne Willkür der Herrschenden und ohne Kinderopfer wäre, objektiv gesehen, nicht besser oder schlechter als eine Kultur mit diesen Dingen.

Vielleicht könnte man das Moralische bis dahin noch als Wunschdenken abtun. Plausibel wäre eine solche Auffassung aber nicht. Denn eine Haltung, die konsequent objektive Moral leugnet, wird kaum ein Mensch in der Praxis leben können – auch nicht der, der sich für so „aufgeklärt“ hält, dass er meint, Moral wäre Wunschdenken oder eine andere Art der Illusion. Menschen sind in der Regel davon überzeugt, meist sogar fest davon überzeugt, dass wenigstens ein Teil ihrer moralischen Urteile wirklich wahr ist. Einige unserer moralischen Wahrnehmungen sind einfach zu stark und zu deutlich. Sollte das Moralische dagegen eine Illusion sein, die uns die Natur vorgaukelt, liegt es vielleicht auch nahe, an unseren sonstigen Überzeugungen, die wir über die Welt haben, zu zweifeln. Vielleicht leben wir dann in einer Art „Matrix“ – und die Welt ist radikal anders, als es unser Gehirn (oder was auch immer es ist) uns vorgaukelt? Wer glaubt, dass die Realität nicht absurd, sondern vernünftig ist – was uns z. B. auch die Erfolge der Wissenschaft und Technik nahelegen –, der sollte auch annehmen, dass es objektive Moral gibt.

Ein Ansatz ist hier, Moral zwar gewissermaßen als ein Produkt des Menschen, z. B. der menschlichen Vernunft oder des gesellschaftlichen Diskurses, anzusehen, während es dennoch objektive oder quasiobjektive Kriterien gibt, zwischen gültigen und nicht gültigen normativen Ansprüchen zu unterscheiden. Wir werden dazu die Diskursethik betrachten, die in den 70er- und 80er- Jahre entwickelt wurde. Das Dilemma solcher Ansätze ist, kurz gesagt: Entweder greifen sie doch wieder auf universelle, wirklich objektive Normen zurück, die kein Produkt des Menschen sein können, oder der eigentlich moralische und verbindliche Charakter wird nicht greifbar.

Aus Gründen dieser Art gibt es viele Philosophen, die der Ansicht sind, dass es objektive moralische Tatsachen gibt, die von uns Menschen nicht erfunden, sondern entdeckt werden, was auch unserer natürlichen Denk- und Sprechweise entspricht. Aber wie würde sich das mit einer mehr oder weniger konsequent naturalistischen Weltsicht vertragen, die heute nach wie vor recht populär ist? Einige Philosophen vertreten die Auffassung, dass moralische Tatsachen natürliche Tatsachen darstellen oder, philosophisch verklausulierter, auf natürliche Tatsachen reduzierbar sind. Das Problem ist hier, dass sich das eigentlich Moralische an diesen Tatsachen bei genauer Analyse in Luft auflöst.

Um dem Moralischen wirklich gerecht zu werden, vertreten deshalb seit wenigen Jahrzehnten auch viele agnostische oder atheistische Philosophen die Auffassung, dass das Moralische eine fundamentale, d. h. nicht reduzierbare und gleichzeitig nichtnatürliche Ausstattung der Welt ist. Man nennt diese Auffassung „moralischer Realismus“. Sie ist mittlerweile eine weit verbreitete Position in der philosophischen Ethik.10

Heute vertreten wieder viele Philosophen, darunter auch Atheisten und Agnostiker, einen moralischen Realismus: Moral ist eine fundamentale, nicht reduzierbare und nichtnatürliche Ausstattung der Welt.

Ein zentraler Teil dieses Buches widmet sich der derzeit vorherrschenden Variante dieses moralischen Realismus, die ich „apersonalen moralischen Realismus“ nenne. Das Moralische hat nach dieser Auffassung einen rein nichtgeistigen bzw. apersonalen11 Ursprung. In der Regel wird angenommen, dass diese Auffassung vollumfänglich mit dem Atheismus kombinierbar ist. Der atheistische Philosoph Erik Wielenberg nennt sie deshalb auch „gottlosen normativen Realismus“. „Gottlos“ bedeutet hier, dass objektive Moral, dem Anspruch nach, auch vollständig ohne die Existenz Gottes möglich ist. Synonym zu „gottlos“ verwende ich in diesem Zusammenhang „nichttheistisch“.

Es gibt hier die angesprochenen Parallelen, z. B. in der Philosophie des Geistes, wo einige atheistische Philosophen begonnen haben, Bewusstsein (natürlich in einer möglichst minimalen Form) als eine fundamentale Ausstattung der Realität anzusehen. Der Trend ist, Elemente, die klassischerweise einer theistischen Weltsicht zugeschlagen wurden, in eine nichttheistische Weltsicht zu übernehmen. Diesen Trend sollten Theisten kritisch begleiten.

Ich werde diesen apersonalen moralischen Realismus analysieren und einige seiner Schwächen herausarbeiten. Dabei werde ich mich nicht ausschließlich, aber schwerpunktmäßig an einem 2014 erschienenen Buch Erik Wielenbergs orientieren. Wielenbergs Positionen sind nicht nur relativ aktuell und recht repräsentativ; Wielenberg hat auch im Jahr 2018 über die von ihm vertretenen Positionen mit dem christlichen Philosophen William Lane Craig an der North Carolina State University eine Debatte geführt. Anschließend erschien 2021 ein Band, in dem die Argumente Wielenbergs und Craigs nochmals dargestellt und weiter debattiert wurden.

Der apersonale moralische Realismus ist auf mindestens zwei Gebieten mit Herausforderungen konfrontiert. Das erste Gebiet ist erkenntnistheoretischer Art. Hier müssten seine Vertreter ein glaubhaftes Konzept vorlegen, dass und wie die Erkenntnis moralischer Wahrheiten durch den menschlichen Geist auch in einem atheistischen, mehr oder minder konsequent naturalistischen Kontext möglich ist. Dazu müsste moralische Information an den menschlichen Geist übermittelt werden können, ausgehend von nichtgeistigen und gleichzeitig nichtnatürlichen moralischen Entitäten, die von der raumzeitlichen Welt und vom Menschen und seinem Denken unabhängig existieren würden. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Vertreter des apersonalen Realismus davon ausgehen, dass moralische Entitäten kausal wirkungslos sind.

Zweitens gibt es eine Reihe von ontologisch gelagerten Herausforderungen, die also damit zu tun haben, was das Moralische seinem Wesen nach ist: Der apersonale Realist denkt die Quelle und Grundlage der Moral als etwas strikt Nichtgeistiges, das zudem ohne Grund, Ursache und Erklärung existiert.

Moralische Realisten gehen davon aus, dass moralische Tatsachen metaphysisch notwendig, ewig und unabhängig von unserer konkreten, raumzeitlichen Welt existieren. Für einen typischen nichttheistischen moralischen Realisten ergibt sich z. B. folgendes Problem: Unendlich lange, bevor das Universum und Menschen und damit Liebe, Morde, Ehrlichkeit und Lüge existiert haben (und hypothetisch auch dann, wenn das Universum nie in Existenz gekommen wäre), gab es abstrakte moralische Tatsachen, die spezifisch auf solche Dinge bezogen sind; sie sind der tiefste Grund dafür, dass Mord und Lüge moralisch falsch, Ehrlichkeit und Liebe moralisch gut sind. Aber wie können sich solche blinden, nichtgeistigen moralischen Entitäten gleichsam hellseherisch auf solche konkreten Dinge unserer Welt beziehen?

Ein solcher Bezug ist überhaupt etwas, das man bei geistlosen Dingen nicht erwarten sollte. Moralische Tatsachen beziehen sich nicht nur auf Dinge in der Welt, wie Liebe, Morde, Ehrlichkeit und Lüge, sie beziehen sich eben auch typischerweise auf solche Dinge, die aktuell gar nicht existieren (was gerade im letzten Punkt zum Ausdruck kam). Das (moralische) Verbot von Mord ist z. B. auch dann in Kraft, wenn aktuell kein Mord geschieht. Auch haben moralische Tatsachen eine Art Einstellung zu den Dingen, auf die sie sich beziehen, sie sind ihnen gegenüber nicht gleichgültig, sondern drücken aus, dass etwas sein soll oder nicht sein soll. Diese Fähigkeit, sich auf diese Weise auf etwas zu beziehen, nennt man Intentionalität, ein zentrales Merkmal des Geistigen, das in einem apersonalen Kontext eigentlich nicht existieren dürfte.

Dazu kommt, dass das Moralische inhaltlich sehr spezifisch auf Anliegen von Personen bezogen ist bzw. auf Dinge, die mit Personen in irgendeiner Weise zu tun haben. Moral ist personenzentriert. Dies ist für uns, als personale Wesen, eine Selbstverständlichkeit und alles andere empfänden wir als absurd. Beispiele sind das Verbot zu lügen, zu stehlen, zu morden, das Gebot der Nächstenliebe und der Hilfsbereitschaft oder der Wert des Lebens, des Menschen oder menschlicher Beziehungen. Der Kontrast dazu wären Dinge oder Eigenschaften, die mit Personen nichts Spezifisches zu tun haben: So sind z. B. der Besitz einer bestimmten Masse oder einer bestimmten Ladung, die Eigenschaft aus 17 Teilen zu bestehen, die Zahl 53 oder Neutronensterne weder gut noch schlecht, weder geboten noch verboten. Dieser spezifisch personale und soziale Bezug des Moralischen ist überhaupt nicht erklärbar, wenn die Quelle des Moralischen wirklich etwas rein Apersonales sein sollte.

Ein apersonaler moralischer Realismus muss vermeintlich nichtgeistigen Entitäten Eigenschaften zusprechen, die eigentlich nur Personen oder gar Gott zukommen können.

Ich werde sieben Gesichtspunkte diskutieren, die jeder für sich nahelegen, dass das Moralische mit Geist zu tun hat. Ein apersonaler moralischer Realismus muss stattdessen vermeintlich nichtgeistigen Entitäten Eigenschaften zusprechen, die eigentlich nur Personen oder gar Gott zukommen können. Dies macht diese Auffassung sehr unattraktiv und erzwingt meines Erachtens den Schluss, dass objektive Moral, wenn es sie gibt, eine personale, geistige Grundlage hat.

Neben der kritischen Analyse des apersonalen moralischen Realismus werde ich daher ein alternatives Konzept, einen personalen bzw. theistischen moralischen Realismus, skizzieren und verteidigen.

Dazu kann man diesen potenziellen personalen Ursprung der Moral noch weiter eingrenzen. Er sollte z. B. nichts Endliches sein, also nichts, das z. B. einen zeitlichen Anfang hat: Denn wirklich objektive moralische Prinzipien zeichnen sich durch metaphysische Notwendigkeit und damit auch zeitlose Gültigkeit aus. Wir werden außerdem sehen, dass objektive moralische Pflichten eine absolute, unübertreffliche Autorität repräsentieren und dass diese moralische Autorität zudem eine moralische Vollkommenheit voraussetzt. Auch muss gewährleistet werden, dass endliche Personen wie wir Menschen das Moralische erkennen können, was insgesamt eine erhebliche Abstimmungsleistung zwischen der Quelle des Moralischen und dem menschlichen Geist voraussetzen dürfte.

Solche Punkte sprechen dafür, dass Gott der Grund und der Ursprung der Moral ist. Oder sie sprechen wenigstens dafür, dass Gott der Grund und Ursprung der Moral ist, wenn es objektive Moral gibt.

Denn es gibt auch Einwände gegen eine theistische Moralfundierung. Nachdem wir eine apersonale Grundlage der Moral wohl ausschließen können und eine von Menschen konstruierte Moral nicht objektiv sein dürfte, stellen diese Einwände dann auch faktisch die Möglichkeit objektiver Moral infrage, sollten sie stichhaltig sein.

Ich werde einige meines Erachtens repräsentative Einwände diskutieren und ich meine, dass sie entkräftet werden können. Der bekannteste Einwand dürfte im zuerst von Platon formulierten Euthyphron-Dilemma ausgedrückt sein: Ist das jeweils Gute einfach nur deshalb gut, weil Gott es so will? Oder will Gott das Gute, weil es (unabhängig von Gott) gut ist?

Meine Antwort wird lauten, dass die guten Dinge gut sind, weil Gott ihnen einen Wert zumisst. Dies geschieht aber nicht grundlos. Anlass sind die Eigenschaften dieser Dinge. Da Gott selbst gut ist, sind z. B. auch Dinge, die Gott ähneln, gut. Das sind insbesondere Personen und personale Beziehungen, weiterhin Dinge, die Ähnlichkeit mit Personen haben (wie andere Lebewesen) oder anderweitig mit wichtigen Gesichtspunkten des Personseins zu tun haben (so sind z. B. Wahrheit und Erkenntnis etwas Gutes, insofern Personen rationale Wesen sind).

Aber was ist es, das Gott seinen Wert, sein Gutsein zumisst? Er tut dies gewissermaßen selbst. Gottes Gutsein ist ausschließlich in Gott, er hat nichts anderes nötig, um gut zu sein, es ist intrinsisch. Ich werde dies so formulieren, dass Gott sich selbst als gut denkt, freilich nicht einfach nur so, wie wir Menschen das Wort „Denken“ auf uns selbst anwenden. Gottes Denken ist schöpferisch, er hat, nach theistischer Überzeugung, durch sein Denken und dessen Ausdruck die Welt hervorgebracht. In diesem Sinne denkt Gott sein Gutsein notwendig und ewig als etwas, das nicht weniger objektiv und wirklich ist als z. B. die raumzeitliche Welt. Notwendig und ewig ist dieses Gutsein, weil es gleichzeitig ein Existenzgrund Gottes ist.

Ist Gott der Grund und Ursprung der Moral, ist er nicht einfach nur gut. Er ist derjenige, der allen guten Dingen ihr Gutsein verleiht – etwa so wie die Sonne allen hellen Dingen ihre Helligkeit verleiht. Dies demonstriert und unterstreicht nochmals eindrücklich seine Anbetungswürdigkeit. Und es zeigt, dass nur eine Moral, die in Gott gründet, den Wert und die Würde des Menschen begründen kann.

Überblick über das Buch

Im zweiten Kapitel möchte ich weiter ausführen, warum es vernünftig ist, von der Existenz objektiver Moral auszugehen. Dort werde ich auch definieren, was ich unter objektiver Moral verstehe. Im dritten Kapitel erläutere ich die in der Ethik gebräuchliche Unterscheidung zwischen Werten und Normen und weise bereits auf die zentrale Rolle von Personen hin.

Im vierten Kapitel werden vorwiegend Ansätze betrachtet, die auf unterschiedliche Weise die Frage beantworten wollen, worauf objektive Moral, falls es sie gibt, wirklich beruht. Nach einem Typ von Ansätzen könnte es auch in einer fundamental amoralischen Welt objektive Moral geben. Das wäre z. B. dann der Fall, wenn Moral in irgendeiner Form ein Konstrukt der Menschheit bzw. des menschlichen Denkens wäre und diesem Konstrukt gleichzeitig eine (quasi)objektive Gültigkeit zukommen würde. Diese Auffassung nenne ich antirealistischen Kognitivismus. Ich werde dazu zwei Varianten der im deutschen Sprachraum einflussreichen Diskursethik vorstellen und sie daraufhin analysieren, ob sie in der Lage sind, objektive Moral zu begründen, ohne dabei auf externe, der Menschheit vorgegebene moralisch-normative Grundsätze zurückzugreifen.

Anschließend werde ich die Ansicht, dass objektive Moral ein natürliches Phänomen ist, unter die Lupe nehmen. Dies ist der metaethische Naturalismus, den ich in drei Varianten unterteile: einen konsequenten metaethischen Naturalismus, der das Moralische letztlich in physikalischen Sachverhalten verortet, einen biologischen metaethischen Naturalismus und einen psychologischen metaethischen Naturalismus, der das Moralische in irgendeiner Form mit bestimmten psychischen Merkmalen, die wir Menschen bei uns selbst vorfinden, gleichsetzt.

Mit typischen Vertretern des genannten apersonalen moralischen Realismus bin ich einig, dass die beiden zuletzt genannten Hauptauffassungen, der antirealistische Kognitivismus und der metaethische Naturalismus in ihren jeweiligen Spielarten, Sackgassen sind: Objektive Moral ist letztlich kein Produkt der Menschheit und sie ist nichts Natürliches. Aber dann trennen sich die Wege. Im fünften Kapitel werde ich dafür argumentieren, dass im Rahmen eines nichttheistischen moralischen Realismus eine objektive Moral für Menschen nicht erkennbar wäre und dass das Moralische aus einer Reihe von Gründen eine personale Grundlage haben muss. Dabei werde ich auch Argumente diskutieren, die gegen die alternative Auffassung, den personalen bzw. theistischen moralischen Realismus, vorgebracht wurden. Im sechsten Kapitel werde ich weitere Gründe dafür nennen, dass das Moralische in Gott gründet, und skizzieren, wie das gedacht werden kann, sowie auf weitere Einwände eingehen. Diese beiden Kapitel beinhalten die zentralen Überlegungen dieses Buches. Das siebte Kapitel ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2. Gibt es objektive Moral?

2.1 Die Realität des Bösen

„Renaissance“ bedeutet „Wiedergeburt“. Die Renaissanceepoche steht für eine Wiedergeburt der griechisch-römischen Antike und ihrer glanzvollen Kulturleistungen, im Anschluss an das sogenannte „Mittelalter“ – ein abschätzig gemeinter Ausdruck für eine vermeintlich verlorene, dunkle Zwischenzeit. Im Grunde sind solche Begrifflichkeiten aber Propaganda. Dunkles gab es in jeder Epoche und das gilt ganz besonders für die griechisch-römische Antike. In einem 2020 erschienenen Buch stellt der Historiker und Journalist Markus Spieker dies an vielen Beispielen erschreckend realistisch dar. Greifen wir nur zwei heraus. Nach Niederschlagung des Spartakus-Sklavenaufstands wurden entlang einer wichtigen Hauptstraße auf über 300 km Strecke Tausende der Besiegten an Kreuze genagelt. Kann diese Grausamkeit noch gesteigert werden? Spieker schildert noch eine andere Massenkreuzigung, bei der die Opfer gänzlich Unbeteiligte waren und viele Kinder unter ihnen:

„Im Dämmerlicht bewegt sich eine riesige Menschengruppe durch Roms verlassene Straßen. Vierhundert Männer, Frauen, kleine Jungen und Mädchen marschieren, stolpern, kriechen vorwärts, angetrieben von Knüppelschlägen und ‚Vorwärts‘-Rufen. Die Kinder kreischen. Die Erwachsenen wimmern und beißen die Zähne zusammen. Mütter tragen ihre kleinen Kinder auf dem Arm. Auch die Säuglinge werden nicht verschont […].

Die Menschen, von denen viele jünger sind als 18 Jahre, sollen hingerichtet werden für einen Mord, an dem sie erwiesenermaßen unschuldig sind. Das Opfer ist ein Präfekt von Rom, so etwas wie der Bürgermeister der Stadt. Er war steinreich und hieß Lucius Pedanius Secundus. Er wurde erstochen in seinem Schlafzimmer aufgefunden. Alles deutet auf einen Sklaven als Täter hin. Gerüchte kursieren […] Nach einem neuen Gesetz muss nicht nur der Täter hingerichtet werden, sondern zur Abschreckung auch alle anderen Sklaven, die sich während der Tat in der riesigen Villa aufgehalten haben. In diesem Fall liegt die Zahl bei vierhundert. Weit mehr, als zur Tatzeit überhaupt in der Villa gewesen sein konnten. Aber die Römer wollten ein Exempel statuieren […].

Die Vierhundert werden gekreuzigt. Vielleicht haben die Henker Mitleid mit einigen der Kinder und stechen sie vorher ab. Die Schreie der Gequälten gellen den ganzen Tag durch das Stadtviertel.“12

Sehr wahrscheinlich werden Sie mir zustimmen: Eine solche Tat ist eindeutig moralisch falsch, sie ist böse. Und diese Tat war kein einsamer Ausnahmefall im alten Rom. Grausamkeit diente damals zur Unterhaltung der Massen und war Teil des Systems. Ebenso war Rom kein Ausnahmefall der Menschheitsgeschichte. Denken wir nur an einige der Grausamkeiten seit dem 20. Jahrhundert. An den Völkermord an den Armeniern. Die Gulags der Sowjetunion. Die Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Die Grausamkeiten roter Kulturrevolutionäre auf den Killing Fields. Die des „Islamischen Staates“ und anderer radikalislamischer Gruppen, oft noch auf Videoclips verbreitet. Nordkorea. Und diese Liste wird wohl leider fortzusetzen sein, solange die Menschheit, wie wir sie kennen, bestehen wird. Zwar mag es auch Taten geben, die gewisse Ähnlichkeit zu einigen der genannten haben, deren moralischer Status aber nicht ganz so leicht zu beurteilen ist. Diskutiert wird bis heute, ob die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki moralisch verwerfliche Massenmorde waren oder aber dadurch gerechtfertigt, dass durch sie, zumindest nach der damals bestmöglichen Einschätzung der Verantwortlichen, der Krieg beendet und ein noch größeres Ausmaß an Leid verhindert wurde.13 Aber in jedem Fall gibt es genug Beispiele, die uns eigentlich deutlich genug zeigen, dass das Böse real ist und damit auch überhaupt das Moralische. Dennoch gibt es darüber keinen Konsens.

2.2 Wer hat recht?

Markus Spieker beschreibt ebenso den Umgang mit unerwünschten Kindern im alten Rom. Pränatal und postnatal. Dort waren nicht nur Abtreibungen gang und gäbe, sondern auch das Töten oder Aussetzen von Babys:

„Wenn diese unerwünschten Kinder Glück hatten, wurden sie von Bordellbesitzern aufgegriffen und aufgezogen, bis sie auf den Strich gehen konnten. Wenn sie Pech hatten, wurden sie von Hunden gefressen. In den Müllhalden und an den Straßenrändern lagen abgenagte Babyknochen herum.

Zur römischen Praxis gehörte übrigens auch die nachgeburtliche Tötung von behinderten Kindern. Selbst der um Tugendhaftigkeit bemühte Philosoph Seneca fand darin nichts Schändliches: , Wir knüppeln tolle Hunde nieder, wir schlachten durchgedrehte Ochsen, wir schlachten kranke Schafe, bevor sie die Herde anstecken, wir eliminieren Missgeburten und ertränken unsere Kinder, wenn sie allzu schwächlich oder missgestaltet sind.‘“14

Einen deutlichen Kontrast dazu setzte das damals im römischen Weltreich neu aufkommende Christentum. Die Christen kümmerten sich um Kranke, Arme und ausgesetzte Kinder, denn sie waren davon überzeugt, dass jeder Mensch im Bilde Gottes geschaffen ist und damit auch Sklaven, Kinder oder Schwache. Christus hat geboten: „Lasst die Kinder zu mir kommen, denn solchen gehört das Himmelreich“. Und der Verfasser des Psalms 139 nimmt auf sich selbst Bezug, wo er sich noch als Klümpchen im Leib seiner Mutter beschreibt, was voraussetzt, dass dieses Klümpchen in seinem Wesenskern dasselbe „Ich“ und damit dieselbe vollwertige Person ist wie der Psalmist zur Zeit der Abfassung des Psalms.

In frühchristlichen Zeugnissen werden daher Abtreibungen und das Aussetzen von Säuglingen in einer Liste mit anderen schweren Sünden aufgeführt: „Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht Knaben schänden, nicht huren, nicht stehlen, nicht Zauberei treiben, nicht Gift mischen, nicht abtreiben noch ein Neugeborenes töten.“15 Und der christliche Autor Minucius Felix tadelt die Römer: „Ich sehe vielmehr, dass ihr selbst eure eigenen neugeborenen Kinder bald wilden Tieren und Vögeln aussetzt, bald durch Erwürgen einen elenden Tod sterben lasst. Und es gibt Frauen, die im eigenen Leib den Keim des künftigen Menschen mit Gifttränken zum Abstreben bringen; sie begehen Kindsmord, noch ehe sie gebären.“16

Diese Sicht sollte noch lange, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, vorherrschend sein. Ein prominenter Zeuge ist der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Er kam zum Schluss, dass Abtreibung „nichts anderes als Mord“ sei, auch wenn „die Schuld oft mehr auf die Gemeinschaft als auf den einzelnen fällt.“17 Und diese Auffassung herrschte nicht nur in der Moraltheologie vor. Auch die Gesetze orientierten sich an dieser Einschätzung. Im 18. Jahrhundert schrieb der Philosoph Immanuel Kant, es sei eine „notwendige Idee, den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt […] haben“.18 Schon eine befruchtete Eizelle sei als eine Person anzusehen und habe nach dem kategorischen Imperativ behandelt zu werden. Die Eltern dürfen es insbesondere nicht „als ihr Eigenthum zerstören“. Was Christen von Anfang an aus den Offenbarungsschriften und den Lehren ihres Herrn heraus erkannt haben, ließ sich auch durch rationale, philosophische Überlegungen nachvollziehen.

Aber dann kam alles anders. Protagonistinnen führten machtvolle Kampagnen durch unter Slogans wie „mein Bauch gehört mir“ oder „ich habe abgetrieben“. Abtreibung wurde bald in zunehmenden Teilen der Bevölkerung als ein zentraler Bestandteil eines Freiheitskampfes der Frau angesehen. War im römischen Reich der Hausvater, der „pater familias“, Herr über Leben und Tod seiner Sklaven, seiner Kinder und seiner Frau, soll von nun an die emanzipierte, selbstbestimmte Frau Herrin über Leben und Tod ihres noch nicht geborenen Kindes sein. Millionen von Lebendgeburten wurden so verhindert, auch mit erheblichem Einfluss auf die Demographien moderner westlicher Staaten.

Manchen geht dies noch nicht weit genug. Etliche Zeitgenossen fordern, auch Säuglinge und kleine Kinder vom absoluten Tötungsverbot auszunehmen.19 Ein prominenter Vertreter ist hier der Philosoph Peter Singer: „Das Postulat, dass alles menschliche Leben heilig ist, gilt nicht mehr […] wir fällen Entscheidungen darüber, welche Art von Leben wir fortsetzen wollen und welche nicht.“20 Im Grunde spreche auch nichts dagegen, mit Babys Versuche anzustellen und sie anschließend zu töten. „Es wäre lediglich schwierig, ihnen [den Eltern] zu erklären, dass völlig normale Kinder zu Experimenten gebraucht und dann umgebracht würden.“ Es ist kein Zufall, dass Singer die antike vorchristliche griechisch-römische Kultur zum Vorbild erklärt.

Dies ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr sich zentrale moralische Überzeugungen in der Geschichte ändern und genauso wieder zurückentwickeln können. Natürlich ist jede Seite davon überzeugt, recht zu haben. Aber welche Seite hat recht? Oder hat hier überhaupt jemand recht?

2.3 Objektive Moral als Illusion?

Ein durchaus nachvollziehbarer Schritt könnte sein, die zuletzt gestellte Frage negativ zu beantworten: Es gibt keine objektive Wahrheit in moralischen Fragen. Dies ist der moralische Nihilismus oder Skeptizismus.21 Unsere üblichen Vorstellungen, dass menschliche Handlungen objektiv gut oder böse sind, wären dann Illusionen. Hintergrund dieser Auffassung ist meist die heute dominierende naturalistische Weltsicht: Für den Naturalismus, wenigstens in seiner klassischen Form, ist alles Natur und die Natur das einzig Objektive. Und die Natur hat zu den Dingen keine Meinung, kennt keine Wertung. Die Wertungen entstammten lediglich unseren Gehirnen, die durch blinde evolutionäre Prozesse entstanden seien. Nichts an solchen Bewertungen sei in irgendeiner Weise objektiv und wirklich berechtigt. Wären unsere Gehirne zufällig etwas anders strukturiert, wären diese Wertungen vermutlich ganz anders. Wir könnten z. B. Dinge, die wir jetzt als moralisch widerlich ansehen, als gut ansehen. Oder wir würden, wie die Tiere, überhaupt keine moralischen Wertungen machen.

Aber auch wenn wir die „Hardware“ unseres Gehirns unverändert lassen, hinge das Moralische, wie Peter Singer es sagt, einfach nur von unseren Entscheidungen und Interessen ab.22 In jedem Fall gibt es nach dieser Sicht keinen uns vorgegebenen moralischen Standard. Wenn das die Erkenntnis sein sollte, dann müssen wir lernen diese Realität zu akzeptieren: ein Leben ohne irgendeine moralische Begrenzung – zumindest für alle, die aufgeklärt genug sind, um zu wissen, dass das Moralische eine Illusion ist. Man sollte sich nur nicht erwischen lassen. Oder genügend Macht haben.

Jacques Monod schreibt: „Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“23 Für den Naturalisten, wenigstens für den konsequenten, ist dieses Universum die einzige objektive Realität. Und diese wäre gleichgültig gegenüber unseren Verbrechen.

Aber warum reden Menschen dann überhaupt von „Verbrechen“? Michael Ruse und Edward O. Wilson schreiben: „Menschen funktionieren besser, wenn sie von ihren Genen dahingehend betrogen werden zu glauben, dass es eine objektive Moral gibt“24. Dass Massenkreuzigungen von Unschuldigen und Kindern, der Völkermord an den Armeniern und wenige Jahrzehnte darauf an den Juden, der Gulag, die Killing Fields oder die grausamen Morde islamischer Terrororganisationen moralisch objektiv schlecht sind, wäre nach dieser Auffassung eben eine Illusion. Wenn auch eine sehr mächtige. Tatsächlich aber wären diese Ereignisse objektiv so gut oder schlecht wie das Lebenswerk von Mutter Teresa. Genauer gesagt: Nichts wäre gut noch schlecht, sondern es würde einfach wertfrei vor sich hin existieren, wie der Saturnmond Titan, ein Apfelbaum oder ein Sauerstoffmolekül. Moralische Positionen wären Ausdruck subjektiven Geschmacks oder einer Art Folklore. Wer meint, sie seien mehr, würde der besagten Illusion unterliegen.

Die Auffassung, dass objektive Moral eine Illusion ist und moralische Urteile im Grunde generell falsch sind, ist eine durchaus etablierte zeitgenössische Position.25 Aber einiges spricht gegen einen solchen moralischen Nihilismus. Ein erstes Argument für eine objektive Moral ist, dass moralische Empfindungen einfach zu stark und zu deutlich sind, als dass sie als bloße Illusionen abgetan werden könnten. Zumindest einige moralische Urteile erscheinen uns als offensichtlich wahr, wie z. B. dass manche Gräueltaten der Weltgeschichte wirklich böse waren. Auch wenn man selbst Opfer von Unrecht wird, lässt man den moralischen Nihilismus in der Regel rasch fallen. Man ist dann empört und denkt natürlich auch, dass man zu Recht empört ist, weil man tatsächlichfalsch behandelt wurde. Manche vergleichen moralische Empfindungen in ihrer Stärke und Deutlichkeit sogar mit Sinneswahrnehmungen, so wie wir, gesund und voll wach, z. B. Menschen, Bäume, Häuser oder Autos wahrnehmen. Natürlich sind hier wie dort auch Sinnestäuschungen möglich. Aber sie sind nicht die Regel und meist korrigierbar. Moral sollte dann genauso wenig eine Illusion sein wie das, was wir im Alltag über unsere Sinne wahrnehmen.

Die Auffassung, dass objektive Moral eine Illusion ist und moralische Urteile generell falsch sind, ist eine etablierte zeitgenössische Position.

Zweitens hängen unsere Lebensvollzüge daran, dass es objektive Moral gibt. So erscheinen die Welt und unser Leben ohne objektive Moral absurd und sinnlos. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn ein robuster Sinn des Lebens damit zu tun hat, dass unsere eigene Existenz, die Ziele, die wir in unserem Leben verfolgen, und viele andere Dinge in der Welt etwas objektiv Gutes sind.26 Ohne diese Objektivität könnte eine Sache letztlich genauso wie ihr Gegenteil als sinnstiftend angesehen werden, was sehr unplausibel ist. Jeder könnte irgendetwas Beliebiges als „sinnvoll“ bezeichnen – was wäre das mehr als eine Einbildung, ein Trugbild? Unsere Lebensvollzüge, zumindest unsere bedeutsameren, bauen auf die Hoffnung, dass das, was wir tun und anstreben, wirklich etwas Sinnvolles, etwas Gutes im Sinne eines moralischen Wertes ist.

Greifen wir einen konkreten Fall heraus: Gibt es nichts objektiv Gutes, dann sind auch die Wahrheit selbst und die Suche nach ihr an sich nichts Gutes und damit sinnlos.27 Wenn Wahrheit nicht mehr um ihrer selbst willen angestrebt wird, ist alles anders. Zwar zeichnen sich Menschen eher nicht durch vollkommene Wahrheitsliebe und Rationalität aus, dennoch gehen wir normalerweise davon aus, dass Menschen in der Regel das vertreten, was sie für wahr halten, und auch ein einigermaßen konsistentes, widerspruchsfreies Gesamtbild von der Welt anstreben. Aber warum sollten Menschen das überhaupt noch tun, sobald sie der Ansicht sind, dass das Streben nach Wahrheit absurd und sinnlos ist, einfach deshalb, weil alles absurd und sinnlos ist? Wahrheit wäre buchstäblich nur noch dort relevant, wo sie dem eigenen, subjektiven Nutzen dienen würde. Ansonsten wäre sie völlig uninteressant. Damit wären unter anderem der Wissenschaft und der Philosophie, deren Sinn ja darin besteht, die Wahrheit um ihrer selbst willen anzustreben, der Boden entzogen.

Ich meine generell, dass die Auffassung, objektive Moral sei eine Illusion, nicht konsequent gelebt werden kann, und halte dies für ein Indiz, dass der moralische Nihilismus falsch ist.28

Drittens sollte jemand, der objektive Moral für eine Illusion hält, eine besonders gute Erklärung dafür haben, wie diese Illusion zustande kommt. Wie kommt es zu diesen starken moralischen Eindrücken in unserem Geist, wenn es keine moralische Realität geben sollte, die diese Eindrücke irgendwie hervorrufen könnte? Eine gewisse Ähnlichkeit zu dieser Situation hätte eine Welt, in der es kein Licht gibt (oder in der aus anderen Gründen nichts zu sehen wäre), aber dennoch Wesen mit einem ausgebildeten Sehsinn und entsprechenden visuellen Eindrücken. Gilbert Harman hat eine natürliche Erklärung unserer moralischen Wahrnehmungen vorgeschlagen.29 Die moralischen Vorstellungen, die wir Menschen haben, bräuchten nicht durch eine Bezugnahme auf eine objektive moralische Realität erklärt zu werden, sondern lediglich durch soziale, psychologische und ähnliche Faktoren.

Eine solche Erklärung kann aber nicht vollständig sein. Denn wie kommt es dazu, dass – zwar durchaus begleitet von allen möglichen Faktoren sozialer, psychologischer und sonstiger Art – Menschen überhaupt diese oft sehr starken und deutlichen moralischen Eindrücke haben? Harmans Erklärungsansatz ist so unvollständig wie eine Erklärung der Existenz des Menschen, die sich auf Faktoren wie Zeugung, Entwicklungsbiologie, Geburt usw. beschränkt.30 Diese Faktoren erklären natürlich nur, wie einzelne Menschen in Existenz kommen, setzen aber die Existenz des Menschen überhaupt schon voraus, weswegen das Entscheidende unerklärt bleibt.

Es ist also zu beantworten, wie es überhaupt dazu kommt, dass wir solche starken moralischen Eindrücke haben. Wir brauchen dazu wesentlich umfassendere Erklärungen, und ein heute recht populärer Erklärungsansatz dürfte naturalistischer Art sein: Moralische Vorstellungen seien biologisch nützlich und existierten aus diesem Grunde, so wie die genannten Autoren Wilson und Ruse dies zum Ausdruck gebracht haben. Aber eine Erklärung dieser Art ist wenig überzeugend: Erstens wäre eine biologische Nützlichkeit konkret, spezifisch und naturwissenschaftlich adäquat nachzuweisen; so kommen z. B. andere Lebewesen als der Mensch biologisch auch ohne Moral aus. Zweitens ist es einfach ein Denkfehler zu meinen, eine Nützlichkeit könne das Zustandekommen einer Sache (kausal) erklären; das gilt auf jeden Fall in einem naturalistischen Kontext. Echte Erklärungen können hier wohl nur naturwissenschaftlicher und damit kausaler und naturgesetzlicher Art sein.31 Auch der Warp-Antrieb, das Perpetuum Mobile oder eine Zeitmaschine wären sicher nützlich. Aber sind sie überhaupt naturwissenschaftlich möglich? Diese Technologien existieren unseres Wissens nicht, und würden sie existieren, wären wir vor gewaltige naturwissenschaftliche Rätsel gestellt.32

Noch rätselhafter ist aus einer naturalistischen Perspektive die Existenz moralischer Überzeugungen und zwar am meisten deshalb, weil Überzeugungen, (seien sie moralischer Art oder nicht) geistige Größen sind, keine materiellen – die genannten Technologien wären immerhin noch etwas Materielles. Die Überzeugung „Stehlen ist falsch“ hat keine Masse, keine räumliche Form und keine Ladung. Sie hat überhaupt keine physikalischen Eigenschaften. Selbst wenn man wirklich naturwissenschaftlich sauber erklärt hätte, wie die Gehirnstrukturen entstehen, die mit moralischen Vorstellungen korrelieren (was wenigstens derzeit utopisch ist und falls solche Korrelationen überhaupt hinreichend feinkörnig bestehen), wären diese Vorstellungen selbst dadurch noch in keiner Weise erklärt, was auch etliche Naturalisten eingestehen.33 Zudem ist im Rahmen des Naturalismus ohnehin sehr fraglich, ob geistige Größen, falls es sie dann geben könnte, überhaupt eine kausale Wirkung in der physikalischen Welt ausüben würden. Ohne eigenständige kausale Wirkung können sie aber auch nicht nützlich sein.

Das Phänomen unserer starken moralischen Wahrnehmungen erscheint aber so bedeutsam, dass eine Weltsicht, in deren Rahmen dieses Phänomen nicht adäquat erklärt werden kann, rational recht unattraktiv ist. Die These, dass diese Wahrnehmungen letztlich Illusionen sind, dass hier also gar nichts wahrzunehmen ist, dürfte eine angemessene Erklärung ziemlich aussichtslos machen.

Diese drei Punkte liefern keine strenge Widerlegung des moralischen Nihilismus, aber sie machen ihn meines Erachtens recht unplausibel und verschieben die Beweislast auf das Feld der Moralskeptiker. Ja, die Welt und unser Dasein könnten sinnlos und absurd sein. Unsere moralische Wahrnehmung könnte irreführend und eine absurde Laune der Natur sein. Die Gräueltaten des Nationalsozialismus und Mutter Teresas Lebenswerk könnten objektiv moralisch indifferent sein – es wären dann Ereignisse, die einfach passiert und dabei objektiv so belanglos sind wie der sprichwörtlich umgefallene Sack Reis in Fernost.

Aber ein starker innerer Sinn sagt uns, dass das eigentlich nicht sein kann. Auch Menschen, die offiziell nicht an eine objektive Moral glauben, leben, denken und sprechen permanent so, als ob ihre moralischen Urteile sinnvoll und berechtigt sind und damit etwas Objektives ausdrücken. Es erscheint irrational, ohne zwingende Gründe eine Auffassung zu vertreten, mit der wir, wenn wir sie ernstnähmen, nicht leben könnten – und was bedeuteten dann noch „zwingende Gründe“? Solange wir also keine richtig guten Gründe dafür haben, dass es keine objektive Moral gibt, sollten wir davon ausgehen, dass es sie gibt. Ich werde daher im Folgenden davon ausgehen, dass es objektive Moral gibt.

Auch Menschen, die offiziell nicht an eine objektive Moral glauben, leben, denken und sprechen so, als ob ihre moralischen Urteile sinnvoll und berechtigt wären und damit etwas Objektives ausdrücken.

2.4 Moral, Ethik, objektive Moral

Wir sollten uns etwas Zeit nehmen für einige Definitionen. Was ist Moral? Moral kann man in einem ersten Schritt als Gesamtheit der Normen und Werte innerhalb einer Kultur, kleinerer Gruppen oder auch nur von Individuen bezeichnen, in der Regel mit einem Anspruch auf unbedingte Gültigkeit. „Unbedingt“ heißt, dass das Befolgen moralischer Normen ausnahmslos erste Priorität hat und z. B. nicht von besonderen Interessen abhängen darf: Ich soll das moralisch Richtige nicht (nur) deshalb tun, weil das Tun für mich Vorteile bzw. das Unterlassen negative Konsequenzen hätte. Ich soll das moralisch Richtige sogar auch dann tun, wenn es für mich Nachteile hätte. „Du sollst nicht lügen“ gilt auch dann, wenn die Wahrheit zu sagen für mich unvorteilhaft oder peinlich ist. Es kann zwar sein, dass man in ganz speziellen Situationen trotzdem lügen darf oder sogar muss – aber nur dann, wenn ansonsten eine vergleichbare oder noch höhere moralische Norm verletzt würde. Denken wir z. B. an den Besuch der Gestapo, die nach versteckten Juden sucht und entsprechende Fragen stellt. Die höhere Norm könnte lauten „du sollst unschuldige Menschen nicht an ein Terrorregime verraten“. Die Frage, ob Lügen hier lediglich erlaubt oder sogar geboten ist, kann man natürlich diskutieren. Der Punkt ist aber: Moralische Normen sollen im Konfliktfall immer Vorrang vor beliebigen anderen (amoralischen) Gründen haben, z. B. persönlichen Interessen; sie dürfen nur untereinander abgewogen werden.

In Abgrenzung zu „Moral“ verstehe ich unter „Ethik“ die Disziplin, die sich mit Moral beschäftigt. Einfach nur vorherrschende Moralvorstellungen zu beschreiben ist die Aufgabe der deskriptiven Ethik. Die deskriptive Ethik unterscheidet dabei nicht zwischen falschen und richtigen Moralvorstellungen. Eine Beschränkung auf diesen deskriptiven Aspekt wäre aber unzureichend und kann geradezu zynisch sein. Auch in Systemen, die wir als verbrecherisch ansehen, gibt es Moralvorstellungen. Denken wir an die „Moral“ der Mafia. Hitler‘s Ethic ist ein Buch des Historikers Richard Weikart, das ebenfalls ein Moralsystem beschreibt, nur eben ein (wenn es objektive Moral gibt) insgesamt sehr unmoralisches.34

Ein ganz wesentlicher Teil der Ethik, die normative Ethik, ist daher das Herausarbeiten der richtigen, wirklich gerechtfertigten Moral, der objektiven Moral, und eine damit einhergehende Bewertung menschlicher Handlungen mit Wahrheits- bzw. Richtigkeitsanspruch. Neben der deskriptiven und der normativen Ethik gibt es eine weitere Disziplin der Ethik, die Metaethik. Diese beschäftigt sich mit grundlegenden, vorgelagerten Fragen der Moral. Das Hauptthema dieses Buches, nämlich was die Voraussetzungen für objektive Moral sind, ist hauptsächlich metaethischer Art. Verschiedene metaethische Positionen werden wir insbesondere im vierten Kapitel kennenlernen und danach bewerten, welche für objektive Moral in Frage kommt.

Was ist objektive Moral? Ein erster Gesichtspunkt ist, dass objektive moralische Urteile (wie „Niemand soll einen Mord begehen“ oder „Jeder soll seinen Nächsten lieben“) wahrheitsfähig sind. Sie drücken eine Wahrheit oder Falschheit aus und sind diesbezüglich vergleichbar mit mathematischen oder naturwissenschaftlichen Aussagen. Moralische Wahrheiten sind, wie z. B. auch die Schwerkraft, unabhängig davon in Kraft, was wir meinen, fühlen, wollen, denken oder welche persönlichen Interessen wir haben. (Da gerade auch menschliches Wollen, Meinen usw. moralisch beurteilt wird, muss man genauer sagen, dass die Wahrheit des moralischen Urteils unabhängig vom Menschen ist.)

Objektive moralische Wahrheiten gelten weiterhin universell. Das gilt natürlich für konkrete, individuelle moralische Wahrheiten. Eine moralische Wahrheit bezüglich eines konkreten Ereignisses in Raum und Zeit, z. B. des Mordes an Julius Cäsar am 15. März 44 vor Christus in Rom, ist wahr unabhängig vom Standpunkt dessen, der diese Wahrheit vertritt, damit auch unabhängig von Standort, Zeitpunkt, Kultur oder persönlichen Befindlichkeiten. Eine Wahrheit (sei sie moralisch oder nicht) kann nicht zu einer bestimmten Zeit in Kraft sein und zu einer anderen Zeit nicht oder in manchen Kulturen oder für manche Personen gelten und für die anderen nicht.

Darüber hinaus meine ich, dass auch viele allgemeinere moralische Wahrheiten universell gelten: Falls die sexualmoralischen Überzeugungen, die in Deutschland bis in die 1960er-Jahre mehrheitlich vertreten wurden, (im Großen und Ganzen) wahr sind, dann sind sie universell wahr. Sie sind dann überall und zu jeder Zeit wahr, unabhängig davon, was Menschen an anderen Orten oder zu anderen Zeiten meinen, empfinden oder wollen oder welche Gesetze sie verabschieden.

Zumindest einigen moralischen Wahrheiten muss auch Notwendigkeit zukommen: Dass sie notwendig gelten, heißt, ihr Nichtgelten ist unmöglich. Beispielsweise ist eine Welt, in der z. B. das Foltern und Töten Unschuldiger zum Vergnügen etwas Gutes wäre, nicht möglich. Eine solche Welt gibt es nicht nur nicht, sie kann es nicht geben.

Wahre moralische Urteile beschreiben nicht nur Tatsachen, die lediglich bestehen, und sonst weiter nichts, wie z. B. die Tatsache, dass der Mars zwei kleine Monde hat. Vielmehr drücken sie etwas aus, was Ansprüche an uns stellt, ein Sollen: Moralische Pflichten, d. h. Gebote oder Verbote, stellen einen Anspruch an uns, sie befehlen uns etwas und tun das rechtmäßig. Sie bringen damit eine Autorität zum Ausdruck,35 und zwar eine absolute, maximal denkbare Autorität, also eine Autorität, die nicht mehr sinnvoll hinterfragt und übertrumpft werden kann. Das entspricht nämlich der Tatsache, dass Moral einen unbedingten Anspruch an uns stellt, einen Anspruch mit höchster Priorität: Moralische Normen sollen im Konfliktfall immer Vorrang vor beliebigen anderen Gründen haben. Die Antwort auf die Frage „warum sollte ich meine moralischen Pflichten erfüllen?“ kann dann nur noch lauten, dass es in einem endgültigen und absoluten Sinne richtig ist, eine auf diese Autorität zurückgehende Pflicht zu erfüllen, und schlecht, es nicht zu tun. Es kann keinen ebenbürtigen oder gar höheren Maßstab des Richtigen mehr geben. Diese Eigenschaft moralischer Pflichten können wir Normativität nennen. Normative Sätze sagen aus, wie etwas sein soll, nicht, wie etwas lediglich ist.

Wahre, rechtmäßige moralische Urteile beruhen auf einem äußeren Standard. Moral wird sozusagen entdeckt oder vorgefunden, nicht erfunden. Dies hängt unmittelbar damit zusammen, dass moralische Urteile im oben beschriebenen Sinne, also unabhängig vom menschlichen Meinen, Denken, Fühlen oder Wollen, wahr oder falsch sein können.

Zum Beispiel können wir uns problemlos Situationen denken, für die wir sagen würden, dass ganze Kulturen oder sogar die ganze Menschheit moralisch im Irrtum sind. Zum Beispiel hätte sich ein Sowjet-Kommunismus über die ganze Erde ausbreiten können. Durch Gehirnwäsche oder Elimination Andersdenkender würden dann praktisch alle Menschen im Sinne der kommunistischen Partei denken. Dadurch wird die von der Partei vorgegebene Sichtweise aber nicht richtig, im Gegenteil. Menschliche Autoritäten und gesellschaftliche oder politische Systeme und ihre Moralsysteme scheinen vielmehr prinzipiell sinnvoll moralisch kritisierbar zu sein.

Es ist auch nicht zu sehen, warum eine moralische Norm mit ihrem unbedingten Anspruch wirklich gerechtfertigt sein soll, wenn sie lediglich (in irgendeiner Form) von Menschen erlassen wurde. Zwar gibt es Menschen, denen man gehorchen sollte (z. B. den Eltern oder der Staatsgewalt). Aber wenn das Befolgen einer Weisung der Eltern eine moralische Pflicht darstellen sollte, dann nur deshalb, weil eine vorgängige moralische Norm besteht – entweder eine Norm wie „Kinder sollen ihren Eltern gehorchen“, und/oder dass die Weisung der Eltern eine unabhängig davon bestehende moralische Pflicht zum Ausdruck bringt, z. B. „du sollt nicht das Spielzeug der anderen stehlen“. Und einer Weisung der Eltern, des Staates oder einer beliebigen anderen menschlichen Autorität ist dann nicht Folge zu leisten, wenn man durch geleisteten Gehorsam eine davon unabhängig bestehende moralische Pflicht verletzen würde.

Überlegungen dieser Art verweisen auf einen Standard jenseits menschlicher Setzungen und Autoritäten. Es gibt allerdings auch ethische Theorien, die beanspruchen, eine gleichsam objektive Moral (oder etwas nahe daran) ohne diese Bedingung begründen zu können, und dabei den erforderlichen Maßstab in einer bestimmten Weise in den Menschen bzw. in die Gesellschaft setzen. Damit werden wir uns in Abschnitt 4.4 näher beschäftigen.

Es ist plausibel anzunehmen, dass rechtmäßige moralische Urteile auf einem äußeren Standard beruhen. Zum Beispiel können wir uns Situationen denken, in denen die ganze Menschheit moralisch im Irrtum ist.

Nebenbei möchte ich erwähnen, dass nicht alle Normen moralische Normen sein müssen. Es gibt technische Normen (z. B. eine DIN A4-Norm), von Menschen erlassene Gesetze usw., die keine objektiven Normen (und in der Regel auch keine moralischen Normen) darstellen. Darüber hinaus werden auch objektive Normen diskutiert, die nicht moralische Normen sind, z. B. in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen.36 Eine solche Norm kann sein, dass man eine wahrscheinlichere Erklärung einer unwahrscheinlicheren Erklärung37 vorziehen soll, dass man Widersprüche vermeiden soll oder, bei gleicher Erklärungskraft, einfachere Erklärungen komplexeren vorziehen soll. Ich habe den Verdacht, dass solche Normen letztlich auch auf moralische Normen zurückgeführt werden können,38