Mord an der Costa del Sol - Sigrun Dahmer - E-Book
SONDERANGEBOT

Mord an der Costa del Sol E-Book

Sigrun Dahmer

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein spannender Kriminalfall, der bis zur letzten Seite in Atem hält …
Das ungleiche Kommissar-Duo Sandra und Javier ermittelt vor der einzigartigen Kulisse Andalusiens

Oberkommissarin Sandra König würde am liebsten nach Spanien reisen, um dort endlich mal wieder Urlaub zu machen. Doch wird sie nicht zum Entspannen an die Costa del Sol abgeordnet. Ein Teilnehmer einer deutschen Reisegruppe starb unter mysteriösen Umständen, alles deutet auf einen Mord hin. Sie wird dem Comisario Principal Javier Sánchez an die Seite gestellt, dem sie bei den Ermittlungen helfen soll. Allerdings gestaltet sich die Zusammenarbeit holprig, da Javier skeptisch gegenüber Sandras Ermittlungsmethoden ist. Als eine Teilnehmerin der Reisegruppe spurlos verschwindet, wird klar, dass Sandra und Javier an einem Strang ziehen müssen, um einen weiteren Mord zu verhindern …

Erste Leser:innenstimmen
„Spannender Krimi mit Schauplatz in Andalusien – die perfekte Urlaubslektüre für alle Krimifans!“
„Die Zusammenarbeit des Ermittlerduos ist erfrischend und bringt Schwung in den Spannungsroman.“
„Eine tolle Mischung aus fesselndem Fall und südlicher Atmosphäre – man fühlt sich direkt an die sonnige Costa del Sol versetzt.“
„Wer einen packenden Kriminalroman mit unvorhersehbaren Wendungen sucht, wird hier fündig.“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 412

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses E-Book

Oberkommissarin Sandra König würde am liebsten nach Spanien reisen, um dort endlich mal wieder Urlaub zu machen. Doch wird sie nicht zum Entspannen an die Costa del Sol abgeordnet. Ein Teilnehmer einer deutschen Reisegruppe starb unter mysteriösen Umständen, alles deutet auf einen Mord hin. Sie wird dem Comisario Principal Javier Sánchez an die Seite gestellt, dem sie bei den Ermittlungen helfen soll. Allerdings gestaltet sich die Zusammenarbeit holprig, da Javier skeptisch gegenüber Sandras Ermittlungsmethoden ist. Als eine Teilnehmerin der Reisegruppe spurlos verschwindet, wird klar, dass Sandra und Javier an einem Strang ziehen müssen, um einen weiteren Mord zu verhindern …

Impressum

Erstausgabe September 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-473-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-484-2

Covergestaltung: ARTC.ore Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © tichr, © ahau1969, © Cristian H. Gomez, © VAlekStudio, © OlegRi, © jular seesulai Lektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 12.02.2024, 15:39:21.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

TikTok

YouTube

Mord an der Costa del Sol

Prolog

Sonntag, den 2. Juni, 18 Uhr

Tom

Tom kam sich wie ein Kinoheld vor: wichtig. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Die richtige. Er würde zu seinem Wort stehen. Es durchziehen, selbst wenn es nicht leicht sein würde. Natürlich gäbe es Widerstände. Das gehörte dazu, wenn man seine Träume verwirklichen und sich selbst neu erfinden wollte. Wenn er etwas auf der Studienreise gelernt hatte, dann das!

Tom blickte sich um. Er war allein. Bewusst hatte er sich ein wenig zurückfallen lassen. Er nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche und stellte sie neben sich ab. Er wollte diese wilde Wüstenlandschaft einen Moment lang genießen. Sie nur für sich haben. Die alten Berge lagen majestätisch und kraftvoll vor ihm, rochen nach Hitze und Staub.

Endlich allein. Doch dann machte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung hoch oben in der Luft aus. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, wie über ihm Greifvögel im wolkenlosen blauen Himmel kreisten. Ihm fiel ein, dass Carola der Reisegruppe dazu etwas auf der Hinfahrt im Zug erklärt hatte. Was hatte sie nur gesagt? Richtig, der Berg hieß auf Spanisch wohl so etwas wie Geierberg, benannt nach diesen Aasfressern. Plötzlich hörte er ein Rascheln. Vermutlich ein wildes Tier. Tom deutete es als Hinweis, dass er genug pausiert hatte. Es war an der Zeit, das Ziel zu erreichen. Er nahm noch einen Schluck, verstaute die Flasche und setzte sich wieder in Bewegung. Erst lief er durch das Geröll, dann ging es steil bergauf, und kurz danach hatte er den Gipfel erklommen.

Angekommen.

Stolz kletterte Tom auf den Felsüberhang, der vor ihm lag. Obwohl er sich vorsichtig hinsetzte, lösten sich ein paar Steine und fielen nach unten in die Schlucht. Er merkte, dass sich seine Finger instinktiv in den Felsritzen festgekrallt hatten. Vor ihm ging es verdammt tief runter. Tom spürte, wie sich Schweiß auf seiner Stirn bildete, wagte es aber nicht, eine Hand zu lösen, um ihn abzuwischen. Nachdem er den Aufstieg für leicht befunden hatte, wurde ihm jetzt erst bewusst, wie hoch oben er tatsächlich gelandet war. Er wagte einen Blick in die Tiefe und bemerkte, wie ihm schwindelig wurde.

Es war so still.

Doch dann hörte er in der Ferne Gesprächsfetzen. Er atmete laut aus. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass die Geräusche nicht aus der Nähe, sondern von der anderen Seite des Berges kamen. Mist. Das konnte nur bedeuten, dass sich seine Reisegruppe offensichtlich schon auf dem Abstieg befand. Hatten sie nicht bemerkt, dass er zurückgeblieben war? Zumindest Frank würde doch auf ihn warten!

Plötzlich hörte er hinter sich Schritte, die schnell und zielstrebig auf ihn zukamen. Geht doch. Erleichtert entspannte Tom sich und drehte vorsichtig den Kopf, konnte aber niemanden ausmachen. War das Frank? Tom spürte, wie wackelig seine Knie noch immer waren. Schnell schaute er wieder stur geradeaus. Komisch, früher hatte er keine Probleme mit Höhenangst gehabt.

Mit einem Mal zischte ihm jemand etwas ins Ohr. „Du Verräter. Du hast es nicht besser verdient!“ Dann spürte Tom, dass eine Hand in seine hintere rechte Hosentasche griff, dorthin, wo sich sein privates Handy befand. Bevor er etwas sagen konnte, nahm ihm ein Stoß in seinen unteren Rücken den Atem. Die Wucht des Schlages hatte ihn automatisch nach vorn rutschen lassen. Instinktiv lehnte sich Tom in dem Versuch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, mit dem Rücken weit nach hinten. Bloß weg von dem Abgrund! Endlich konnte er wieder atmen. Er schnappte nach Luft. Doch kaum dass er sich gefangen hatte, gingen bereits kleine, aber heftige Schläge auf seinen Kopf nieder. Ihm wurde schummerig. Watte im Kopf. Kurz darauf folgte ein erneuter Hieb auf den unteren Rücken. Sein Körper rutschte noch näher an den Abgrund heran. Tom merkte, wie gefährlich weit seine Beine bereits über der Schlucht hingen. Es war zu spät. Sein letzter Versuch, die Schieflage auszugleichen, scheiterte. Er war zu langsam, zu schwach. Voller Entsetzen spürte Tom noch einen weiteren heftigen Stoß in den Rücken, und dann verlor er jeglichen Halt.

Als er in die Schlucht fiel, sauste der Wind so laut an seinen Ohren vorbei, dass er seinen eigenen Hilfeschrei nur verzerrt hörte. Gleichzeitig sah er Felsen und Kakteen auf sich zukommen. Vor seinen Augen begannen die Bilder durcheinanderzuwirbeln. Die Sträucher und Steine wurden immer größer. Dann prallte er auf.

Ein lauter Knacks. Weißes Licht. Stechen im Kopf. Blut. Blitze.

Ruhe.

Kapitel 1

Montag, den 3. Juni, 7.12 Uhr

Javier

Javier drehte sich im Bett herum. Im Traum saß er mit seiner Tochter Ana in dem kleinen Strandrestaurant in der Nähe des Hafens von Málaga. Sie aßen, tranken und plauderten. Kein Streit, nur wohlige sonnengelbe Harmonie. Seine Traumwelt war so real, dass Javier sogar überzeugt war, im Hintergrund das Kommen und Gehen der blauen Wellen zu hören.

Plötzlich schrillte sein privates Handy. Was sollte das? Er streckte seinen Arm aus und klaubte das Scheißteil vom Nachttisch. Schlaftrunken kniff er die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Irgendwelche Zeichen, die er ohne Brille nicht entziffern konnte, blinkten fortwährend. Er drückte mit dem Daumen auf dem Display herum, bis das Ding endlich Ruhe gab.

Einschlafen konnte er dennoch nicht mehr. Er musste aufs Klo. Unruhig warf er sich noch ein paarmal hin und her und versuchte an die Traumszene am Strand anzuknüpfen. Doch es funktionierte nicht. Nach ein paar Minuten gab er auf und erhob sich. Als er aus dem Bad zurückkam, war er so wach, dass er sein Handy nahm, um nachzuschauen, wer ihn angerufen hatte.

Was?

Inmaculada?

Wie konnte das sein?

Dann fiel es ihm ein. Auf dem Ehemaligentreffen letztes Jahr hatten sie sich zwar nur kurz gesprochen, aber immerhin Telefonnummern ausgetauscht. Javier hatte Inma in der Schule schon immer sympathisch gefunden. Doch kaum war das Colegio beendet, hatten sie sich Jahrzehnte aus den Augen verloren. Was machte sie jetzt noch gleich? Er kam nicht drauf. Erst mal frühstücken, dann alles andere.

Javier befüllte seine silberne Kaffeekanne und stellte sie auf den Herd. Danach fischte er ein schon recht hartes Stück Baguette aus der Papiertüte auf der Ablage. Wenig später tunkte er das mit salziger Butter beschmierte Baguette-Stück in seinen schwarzen Kaffee und bemerkte, wie ihm das Koffein den so dringend benötigten Antrieb gab. Okay, jetzt war es so weit. Nun würde er herausfinden, was Inma von ihm wollte. Sie musste schon einen dringenden Grund haben, ihn noch vor Dienstbeginn aus dem Schlaf zu reißen. Er kramte einen Stift aus der Küchenschublade und drehte einen bunt bedruckten Flyer mit Werbung für den Supermarkt um, damit er sich auf der leeren Rückseite Notizen machen konnte. So gewappnet rief er seine alte Schulfreundin zurück.

„Javier? Bist du es?“

„Morgen Inma. Was gibt’s?“

„Du musst sofort kommen. Es ist schrecklich.“

Javier war diese Art Anruf leider nur zu vertraut. Er arbeitete schon lange genug als Comisario Principal bei der nationalen Polizei in Málaga und hatte schon so einige Mordkommissionen geleitet, um diese Art von Telefonstottern einordnen zu können: Die Wortlosigkeit unter Schock war typisch für Menschen, die das erste Mal in ihrem Leben mit dem Opfer eines Gewaltverbrechens konfrontiert wurden.

„Ganz ruhig, Inma. Sag mir doch erst einmal, wo du bist.“

„In El Chorro. Ich wollte mich mit meiner Wandergruppe auf den Caminito del Rey begeben.“

Wanderführerin.

Genau, das hatte sie ihm erzählt. Nach der Familienzeit hatte sie sich zur Wanderführerin ausbilden lassen und verdiente sich ihr Geld damit, dass sie mit einheimischen Touristen Tagestouren rund um Málaga veranstaltete. Javier konzentrierte sich wieder auf das Telefonat.

„Wo genau?“

Sie nannte ihm die Adresse. In der Nähe des Dorfes El Chorro, notierte sich Javier. Danach fing sie an zu schluchzen.

„Da gibt es einen … Verletzten?“, tastete er sich vorsichtig heran.

„Ja, und so viel Blut. Ich habe einen bewusstlosen jungen Mann gefunden. Er ist anscheinend vom Berg gestürzt. Weißt du, ich bin hier mit meiner Wandergruppe unterwegs. Du bist doch Polizist. Man soll doch immer Rettungssanitäter und Polizei informieren …“

„Du hast alles genau richtig gemacht, Inma. Hört sich so an, als ob du bereits für Erste Hilfe gesorgt hättest.“

„Ja.“

„Das ist erst einmal das Wichtigste. Alles andere können wir gleich klären. Allerdings muss ich dich noch um ein, zwei Kleinigkeiten bitten …“

„Okay.“ Sie flüsterte mehr, als dass sie sprach.

„Pass auf, erstens: Fass nichts an, sorg dafür, dass niemand den …“ Javier überlegte, wie er es formulieren konnte, ohne Inmaculada mit kriminaltechnischen Fachbegriffen zu erschrecken. „Ich meine, stelle einfach sicher, dass niemand weggeht.“

„Aber …“

„Ich setze mich jetzt sofort ins Auto und werde gleich da sein. Und achte zweitens darauf, dass nicht irgendwelche Paparazzi wie wild herumfotografieren.“

„Warum? Wer sollte das tun?“

„Bin gleich da.“

Javier kam schnell durch. Vormittags fuhren viele Pendler nach Málaga rein, aber kaum jemand fuhr aus der Stadt raus. Es dauerte nur wenige Minuten Fahrzeit durch die Berge Andalusiens, und schon befand sich Javier auf dem Land. Während er an Olivenbäumen und weiß gekalkten Bauernhäusern vorbeifuhr, informierte er die Kollegen, dass er sich um den Vorfall kümmerte und bereits unterwegs wäre. Gleichzeitig forderte er die Spurensicherung an. Nachdem er das Dienstliche erledigt hatte, genoss er den Blick aus dem Autofenster. Er kam viel zu selten aus Málaga raus. Dabei war die Gegend hier unfassbar schön. Wie erhaben die Berge vor ihm lagen. Er stieß einen Seufzer aus. Dios mío, wie sehr er diese Landschaft liebte!

Er schaute auf die Uhr. Gleich würde er bei Inma sein. Die Straßen wurden immer schmaler, er fuhr durch einen Tunnel, und dann kam er in El Chorro an. Was für ein Anblick. Im Hintergrund das wuchtige Bergpanorama, das man aus so einigen nationalen und internationalen Westernfilmen kannte, und im Vordergrund ein fast karibisch grünblau leuchtender Stausee. Javier hielt in einer Parkbucht und schaute auf seine Notizen auf der Rückseite seines Werbeflyers. Der Geierberg. Er gab den Namen in seinem Navi ein und bahnte sich auf staubigen Straßen mit Schlaglöchern den Weg zum Tatort.

Als er ihn erreichte, machte er sich ein erstes Bild von der Lage: In der Mitte des Parkplatzes stand der Rettungswagen. Inma saß auf einem großen Felsbrocken am Rand, eine dieser gold-silbernen Wärmedecken über den Schultern. Ein kleiner Reisebus mit dem Kennzeichen von Málaga parkte direkt neben der Zufahrt. Sobald Javier mit dem Polizeiauto an dem Kleinbus vorbeifuhr, pressten sich jede Mengen Nasen an die Busscheiben. Inmas Schützlinge. Etwa zwanzig Meter vom Parkplatz entfernt, machte Javier die orangen Warnwesten der Sanitäter aus.

Er stieg aus dem Wagen und ging als Erstes auf Inma zu.

„Hallo, Inma.“ Er gab ihr Küsschen auf beide Wangen und hielt die zierliche Frau mit dem blondierten, kinnlangen Haar einen Augenblick in seinen Armen.

„Wie geht es dir?“

„Alles klar“, sagte sie mit beherrschter Stimme. „Als ich heute Morgen …“

„Gut. Hör mal, es tut mir leid, dich unterbrechen zu müssen. Ich komme gleich wieder, und dann kannst du mir alles erzählen. Aber erst einmal muss ich mir ein Bild vom Tatort machen.“

„Tatort?“ Sie sah ihn misstrauisch an.

„Von der Unfallstelle“, beruhigte er sie. Sie hatte recht. Vielleicht handelte es sich um einen Unfall am Berg. Wäre nicht unüblich in dieser Gegend. Bevor der berühmte Wanderweg Caminito del Rey systematisch abgesichert wurde, gab es hier einige Unglücksfälle.

Javier hielt auf die Sanitäter zu. Es waren eine Handvoll junger Männer Anfang zwanzig, im Alter seiner Tochter Ana. Javier stellte sich kurz vor und schaute auf die Bahre, die neben einer riesigen Blutlache auf dem Boden lag. Unter einem Laken zeichnete sich der Körper eines schlanken Erwachsenen ab.

„Er ist soeben gestorben. Da war nichts mehr zu machen“, sagte einer der Sanitäter.

„Er hat zu viel Blut verloren.“ Javier schaute auf die Lache.

„Wir vermuten, dass er auch innere Blutungen hatte.“

„Kann ich mal das Gesicht sehen?“

Vorsichtig deckte einer der Männer das Laken auf. In diesem Moment erleuchtete ein Blitzlicht die Szene.

„Das ist ja wohl nicht wahr!“ Javier schaltete schnell und jagte dem Fotografen hinterher. Bald hatte er die Frau eingeholt. Er konfiszierte die Kamera und ließ sich ihren Ausweis zeigen. „Ab morgen können Sie sich Ihre Kamera auf der Wache abholen.“ Er händigte ihr eine Visitenkarte aus. „Und jetzt sollten Sie besser gehen, bevor …“ Sie warf ihm ein freches Lächeln zu und verschwand, bevor er den Satz beenden konnte.

Kapitel 2

Montag, den 3. Juni, 11 Uhr

Sandra

Sandra war gerade dabei, den Bürokalender der Kölner Polizeiwache von der Wand zu nehmen und das Blatt von Mai auf Juni umzublättern, als ihre Kollegin Julia nach ihr rief. Julia und sie arbeiteten oft im Team zusammen. Gerade die Tatsache, dass sie einen Fall von Grund auf verschieden angingen, führte immer wieder zu erstaunlich schnellen und außergewöhnlich guten Ergebnissen.

„Sandra, der Chef will dich sprechen.“ Julia brüllte die Info durch die Kölner Dienststelle, warf sich auf ihren Bürostuhl und packte geräuschvoll ein Croissant aus.

Sandra lächelte. Ihre Kollegin hatte die Ruhe weg.

„Oha“, murmelte Sandra halblaut und setzte sich Julia gegenüber. „Weißt du, was er will?“

Bevor sie antwortete, kaute Julia genussvoll zu Ende. Dann grinste sie Sandra an. „Nö, hörte sich aber unaufgeregt an. Nichts Schlimmes.“

Was für eine Frohnatur ihre Kollegin war, dachte Sandra. Es gehörte schon einiges dazu, in einer Polizeiwache nichts Schlimmes zu erwarten.

„Erst mal ’nen Tee?“ Julia schob ihr den gut gefüllten Deckel ihrer Thermoskanne herüber.

„Nee, danke. Ich bringe es am besten sofort hinter mich.“

Sandra stand auf und lief zu Jörgs Büro hinüber. Sie klopfte.

„Komm rein, Sandra“, hörte sie ihren Chef durch die Tür rufen.

„Kannst du mittlerweile durch Türen hindurchschauen?“

„Schön wär’s“, ging Jörg auf den lahmen Witz ein. „Setz dich.“

Julias Einschätzung schien richtig gewesen zu sein. Nichts Dramatisches. Sandra entspannte sich ein wenig.

„Sandra, die spanischen Kollegen verlangen nach dir.“

Was? Sandra setzte sich unweigerlich aufrecht hin. Spanien? Schon das Wort allein triggerte sie. Es stand für ein anderes Leben. Einen fantastischen Sommer.

„Barcelona?“, fragte sie atemlos nach. Dort hatte sie das Erasmus-Austauschprogramm für europäische Polizistinnen und Polizisten absolviert, zusammen mit Giancarlo aus Turin und François aus Marseille.

„Nee, Südspanien. Da ist ein Deutscher zu Tode gekommen, und sie möchten gerne von uns Unterstützung bei der Ermittlung. Da habe ich sofort an dich gedacht. Du bist einer unserer besten Polizisten …“

„Polizistinnen“, unterbrach sie ihn.

„Wie dem auch sei, jedenfalls sprichst du Spanisch und hast in Barcelona schon einmal mit den spanischen Kollegen zusammengearbeitet.“

„Also ich weiß nicht …“ Natürlich freute Sandra sich über Jörgs Kompliment. Doch gleichzeitig fühlte sie sich überrumpelt. Wie immer eigentlich. Zu oft schon hatte Sandra sich von ihm um den Finger wickeln lassen. Sie wusste, dass das auch an ihr lag. Sie war manchmal zu verträumt und gutmütig. Jedenfalls hatte Jörg sie immer wieder vertröstet, was ihre Beförderung zur Polizeihauptkommissarin anging. So schnell würde ihr das nicht noch einmal passieren. Ihre Gegenstrategie: Weniger impulsiv reagieren und sich Julias ruhige Art zum Vorbild nehmen. Jetzt zum Beispiel bot sich ihr eine wunderbare Gelegenheit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

„Also …“, sie lehnte sich so lässig, wie sie konnte, auf ihrem Stuhl zurück. „Wie sind denn die Rahmenbedingungen?“

Jörg warf ihr einen langen Blick zu. Sofort kam Sandra sich manipuliert vor. Doch sie würde sich nicht zu einer vorschnellen Reaktion hinreißen lassen. Stattdessen lächelte sie ihm zu und wartete.

„Was meinst du damit?“

„Was genau hätten welche spanischen Kollegen gerne, dass ich es täte?“

Jörg lachte kurz auf. „Kannst du das bitte noch ein wenig umständlicher formulieren?“

„Mehr Informationen, bitte.“

„Na ja, die Details kenne ich auch noch nicht so wirklich. Im Prinzip geht es wohl darum, dass du sofort nach Málaga fliegst. Die Kollegen haben dort bereits ein Hotel für dich für erst einmal zehn Tage gebucht. In Málaga sollst du mit einem erfahrenen Kollegen zusammenarbeiten. Mit dem, Moment mal, dem Comisario Principal. Ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen. Ein gewisser Herr Sánchez …“

„Málaga, Andalusien?“ Jetzt erst verstand Sandra, worum es ging. Sie war beim Träumen falsch abgebogen. Das Angebot hatte mit Barcelona nichts zu tun.

„Hm, ja. “

„Habe ich das richtig verstanden, dass ich schon heute Abend in Spanien sein soll?“

Jörg nickte.

„Und wann soll ich meinen Koffer packen?“

„Also, deine temporäre Abordnung würde von uns aus ab sofort gelten.“

„Falls ich zusage.“

„Hör mal, Sandra. Warum denn nicht? Was spricht denn gegen Sonne, Meer und Tapas essen?“

Das war Sandra zu billig.

„Was ist denn das für eine Geschichte mit dem Deutschen? Warum ist er gestorben?“

„Ganz genau das ist dein Job. Du fliegst da runter, um das herauszufinden.“

Sandra starrte ihren Chef an. Sie hasste es, nicht ernst genommen zu werden. Nach einer unangenehmen Pause räusperte er sich und hob zu einer längeren Erklärung an.

„Also, es handelt sich um den sechsundzwanzigjährigen Thomas Schmittig. Er hat an einer … Moment mal …“ Jörg scrollte mit seiner Maus das Dokument herunter. „Also, soweit ich das sehe, hat er an einer Bildungsreise teilgenommen. Also diese ganze Mail ist so komisch ins Deutsche übersetzt …“

Er scrollte angestrengt weiter.

„Bei dieser Studienreise soll es um irgend so etwas wie Rhetorik und Kommunikation gehen. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Köln. Es handelt sich wohl um ein Seminar in Málaga, und von da aus wurden wohl auch verschiedene Exkursionen angeboten.“

Was war nur los mit Jörg? Der war doch sonst nicht so. Sandra beschlich das Gefühl, dass ihr Vorgesetzter die Mail gerade selbst zum ersten Mal las.

„Mord?“

„Warte mal.“ Jörg überflog den Text und fand dann die Stelle, die er suchte.

„Es ist wohl noch nicht ganz klar, ob es sich um einen Unfall, Selbstmord oder um Mord handelt. Also, mir scheint, die Kollegen stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen.“

Sandra dachte an Spanien. Sofort überkam sie ein warmes, wohliges Gefühl. Wie viel Spaß sie in der internationalen Gruppe gehabt hatten! Eine der wenigen Zeiten in ihrem Leben, in denen sie ohne Wenn und Aber gerne Polizistin gewesen war. Eine deutsche Polizistin in Spanien war bei vielen Landsleuten gern gesehen, denn sie sprach Deutsch und verkörperte ein Stück Zuhause.

Sandra schaute auf den stark vergrößerten Stadtplan hinter Jörgs Schreibtisch. Hier in Köln war es andersherum: Normalerweise hassten es die Hinterbliebenen, wenn die Polizei kam und sie in ihrer Trauer mit indiskreten Fragen zu dem möglichen Hintergrund des Verbrechens störte.

Sandra brauchte nicht länger nachzudenken. Sie wollte wieder die Polizistin sein, die als Freund und Helfer wertgeschätzt wurde. Also gab sie sich einen Ruck, drehte sich zu Jörg um und nickte.

„Alles klar, Jörg. Ich mach’s … Aber nur wenn Julia meine Kontaktperson in Deutschland ist.“

„Klar. Sonst noch was?“

Doch wieder reingefallen. Offensichtlich hätte sie noch wesentlich mehr herausschlagen können. Spesen, Urlaubstage, ihre schon so lange fällige Beförderung. Doch bevor sie diese Gedanken zu Ende geführt hatte, war Jörg schon aufgestanden.

„Prima, Sandra. Dann sind wir uns einig. Ich schicke dir gleich mal alle Unterlagen zu. Guten Flug, und blamier uns nicht.“

Kapitel 3

Montag, den 3. Juni, 15 Uhr

Javier

„Javier“, Sofía, seine Sekretärin, öffnete vorsichtig die Tür. „Telefon für dich. Eine Inmaculada García. Soll ich durchstellen?“

Inma.

„Danke, Sofía. Bitte mach das. Und ich möchte nicht gestört werden.“

Kurz darauf hatte er Inmaculada in der Leitung. Javier spürte, dass er nervös wurde. Wie ein Teenager. Lächerlich.

„Hallo, Javier. Wie geht’s?“

„Gut, gut. Und dir?“

„Mir auch.“

Sie schwieg. Rief sie an, um wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen? Unwahrscheinlich. Vermutlich wollte sie sich nach dem toten Deutschen erkundigen. Sie war schon früher neugieriger als die anderen Mädchen gewesen. Das hatte ihm schon immer gefallen. Außerdem hatte sie sich, wenn es darauf ankam, anständig verhalten. Javier dachte an die Geschichte mit dem Pfuschzettel beim Physiktest. Das war schon Jahrzehnte her, in einem anderen, einem leichteren Leben. Javier konnte nicht anders, als ein wenig wehmütig zu lächeln.

„Hör mal. Ich rufe an, um mich zu erkundigen, was es Neues von dem Mann gibt, der vom Berg gestürzt ist.“

Hatte er sie doch richtig eingeschätzt. Inma ging den Dingen noch immer auf den Grund. Allerdings machte sich auch ein bisschen Enttäuschung in ihm breit. Er hatte gehofft, sie wäre auch an ihm als Person interessiert.

„Das war sicherlich ein Schock für dich, als du den Verletzten gefunden hast.“

„Das war es. Aber noch schlimmer fand ich es, hören zu müssen, dass der junge Mann, kurz nachdem ich ihn gefunden habe, gestorben ist. Er war noch so jung.“

„Das ist immer besonders schrecklich.“

„Habt Ihr schon herausgefunden, wer der Mann ist?“

„Ja. Ein deutscher Tourist. Sein Name lautet Tom Schmittig. Er ist zusammen mit einer Reisegruppe nach Südspanien gekommen. Er war erst sechsundzwanzig Jahre alt.“

„Wie entsetzlich. So alt wie meine beiden Söhne. Wenn ich mir das vorstelle …“

Javier hörte, dass Inmaculada schlucken musste und einen Moment brauchte, um sich zu fassen.

„Er muss die ganze Nacht dort gelegen haben. Hat so lange tapfer durchgehalten, bis er gefunden wurde, und ist dann doch gestorben.“

Sie schwieg. Und dann setzten sie beide gleichzeitig zum Reden an.

„Wenn ich irgendwie …“

„Was für eine Überraschung, dich …“

Dann verstummten sie. Javier nahm das Gespräch als Erster wieder auf.

„Du zuerst.“

„Wenn ich dir, also euch, der Polizei, irgendwie helfen kann … Ich kenne das Gelände recht gut.“

„Danke für das Angebot. Vielleicht kommen wir darauf zurück.“

Beide schwiegen, bis Javier das Gespräch weiter fortführte.

„Es waren keine schönen Umstände, unter denen wir uns wiedergesehen haben. Wie geht es dir?“

Während er das fragte, hätte er seine Worte am liebsten wieder rückgängig gemacht. Dasselbe hatte er sie schon einmal gefragt. Sie hielt ihn sicherlich für einen altersschwachen Papagei. Doch zu seinem Erstaunen holte sie diesmal etwas aus, um seine Frage zu beantworten.

„Ich bin zufrieden. Eduardo und ich haben uns scheiden lassen, als die Kinder ausgezogen sind. Jetzt wohne ich allein, verdiene mir ein wenig Geld durch Führungen und Wandertouren. Ich musste erst fünfzig werden, um zu sehen, in was für einer wunderbaren Gegend wir wohnen. Ich mag das Leben in Málaga Stadt. Doch obwohl ich gerne im Mittelmeer schwimme, muss ich sagen, dass mir die Berge noch besser gefallen. Wer weiß, vielleicht hat das mit dem Alter zu tun. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hatte da früher kein Auge für. Apropos Jugend, wie geht es deiner Tochter? María, oder?“

„Fast.“ Javier lachte. Wie leicht es war, mit Inma zu plaudern. Das war ihm schon beim Ehemaligentreffen aufgefallen. „Ana. Seit Ana in Madrid studiert, bekomme ich nicht mehr so viel von ihr mit.“

„Das kenne ich. Ich hätte auch oft gern mehr Kontakt zu den Kindern, aber dann denke ich daran, wie genervt ich damals von meiner Mutter war, die mich viel zu oft angerufen hat, um mir vorzuhalten, wie selten ich sie besuche.“

Das saß. Javier brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Nach ein paar Atemzügen murmelte er: „Interessant.“ Und plötzlich fiel ihm nichts mehr zu sagen ein.

„Also, wenn ich euch bei den Untersuchungen weiterhelfen kann, gib Bescheid. Meine Nummer hast du ja.“

„Mach ich. Danke.“

„Ich freue mich, wenn du dich meldest.“

„Okay.“

Dann hatte sie aufgelegt.

Javier ärgerte sich über sich selbst. Inmaculada war so freundlich gewesen, und er hatte sie abgewürgt. Doch andererseits hatte er richtig gehandelt. Er war im Dienst, das war ein berufliches Telefonat. Die Ermittlungen hatten gerade erst begonnen, und er durfte nicht zu viel preisgeben.

Kapitel 4

Montag, den 3. Juni, 21 Uhr

Sandra

Als Sandra um 21 Uhr das Gepäck vom Fließband nahm, fühlte sie sich gleichzeitig aufgedreht und müde. Sie hatte den Flug genutzt, um sich detailliert in den Fall einzuarbeiten. Doch das alles hätte nun Zeit bis zum nächsten Tag. Jetzt wollte sie erst einmal feiern, dass sie zurück in Spanien war. Und so beschloss sie, alle Gedanken an den Fall vorerst zur Seite zu schieben. Voller Vorfreude rollte sie ihren Koffer durch den Zoll und betrat die Reisehalle. Dort sah Sandra schon von Weitem den uniformierten spanischen Kollegen, der ein Pappschild mit ihrem Namen hochhielt. Schnell lief sie auf ihn zu und begrüßte ihn beim Näherkommen unbeholfen mit einem Kopfnicken. Der Polizist, dessen genuschelten Namen sie auf die Schnelle nicht verstanden hatte, führte sie dienstbeflissen durch den Flughafen zum Parkplatz. Sandra setzte sich in den Wagen und schnallte sich an. Kurz darauf hörte sie, wie das Fenster neben ihr nach unten gefahren wurde.

„Es geht zum Hotel Victoria, Frau Polizeioberkommissarin. Da ist ein Zimmer für Sie reserviert.“

„Danke.“

Sandra legte vorsichtig den Unterarm auf den Rahmen des geöffneten Fensters und genoss die warme, milde Abendluft auf ihrer Haut. Sie roch, dass das Meer in der Nähe war, und freute sich über das bunte Treiben auf den Avenidas. Da ihr Fahrer nicht zum Reden aufgelegt zu sein schien, konzentrierte sie sich auf das Geplapper aus dem Autoradio. Auch wenn sie merkte, dass ihr Spanisch ein wenig eingerostet war, fühlte sich die Ankunft in Málaga großartig an.

„Wir sind da.“ Ihr Kollege hielt in einer dreckigen Straße vor einem heruntergekommenen Haus.

„Ist das mein Hotel?“

„Ja. Das Hotel Victoria.“

Er wich ihrem Blick aus. „Aber“, fuhr er kurz darauf fort, „das Victoria liegt sehr zentral. Direkt hinter der Kathedrale. Von hier aus können Sie zu Fuß zur Wache gehen.“

Ihr Begleiter kümmerte sich um das Einchecken im Victoria und verabschiedete sich. Sandra nahm ihr Gepäck und fuhr mit dem Fahrstuhl ins oberste Stockwerk. Immerhin, ein Fahrstuhl! Sie betrat das Zimmer. Es roch nach Putzmittel. Zitronenessig. Sandra eilte zum kleinen Dachfenster und riss es auf. Schon besser. Als Nächstes machte sie sich daran, ihren Koffer auszupacken. Lächelnd strich sie über ihr gelbes Sommerkleid, das ganz oben lag. Giancarlos Lieblingskleid. Zeit zum Feiern. Mit neuem Schwung hüpfte sie unter die Dusche und föhnte anschließend ihre langen blonden Haare vor dem leicht vergilbten Badezimmerspiegel. Eine Tortur in dem sowieso schon überhitzten Raum. Sie bemerkte, wie sich ein feuchter Film auf ihre Stirn legte. Denk praktisch, ermahnte sie sich und band ihre Haare kurz entschlossen zu einem Pferdeschwanz zusammen. Danach legte sie hellblauen Lidschatten auf, um die Müdigkeit zu überdecken. Etwas Lippenstift, und fertig. „So, Málaga. Auf geht’s!“ Da ihr die Geduld fehlte, auf den Aufzug zu warten, nahm sie die Treppen. Wenig später ging sie an der Rezeption vorbei auf die Straße hinaus. Draußen war es im Vergleich zu ihrem Hotelzimmer angenehm kühl.

Schon auf der Fahrt zum Hotel hatte sie das Gefühl gehabt, dass einiges los war in Málaga, aber in den Abendstunden schien das Treiben auf den Straßen noch einmal mehr geworden zu sein. Das kannte sie bereits aus Barcelona. Sobald die Hitze nachgelassen hatte, flanierte man auch dort gern im gelben Licht der Straßenlaternen. Hier fielen ihr vor allem die vielen gestylten Menschen auf. Ah, und dieser Geruch. Was war das noch gleich? Sie überlegte einen Moment. Dann fiel es ihr ein. Es roch nach frittiertem Fisch. Obwohl sie keinen Appetit hatte, weckte das schöne Erinnerungen an gesellige Abende am Stadtstrand von Barcelona.

Während Sandra durch die Altstadt lief, bewunderte sie die alten knorrigen Bäume und die großzügig gestalteten Plätze, auf denen Brunnen plätscherten. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete, wie die unterschiedlichsten Leute an ihr vorbeischlenderten. Viele schienen Touristinnen und Touristen zu sein. Offensichtlich zog Málaga Reisende ebenso stark an wie Barcelona. Was hatte sie damals mit Giancarlo und François vehement über die Vor- und Nachteile des Massentourismus diskutiert.

Sandra schlenderte zum Meer und lief den Sandstrand entlang. Sie atmete tief die salzige Luft ein, fühlte sich leicht und unbeschwert. Kein Wunder. Sie hatte das Kunststück vollbracht, nach Spanien zurückzukehren und das stressige Leben in Köln für ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen, hinter sich zu lassen.

Sie würde das Beste aus ihrer Zeit hier machen. Wieder anknüpfen an die glücklichen Tage in Barcelona. Vergessen, dass sie in Köln viel zu oft mit der emotionalen Drecksarbeit abgespeist wurde: Ehemänner darüber zu informieren, dass ihre Ehefrauen nicht mehr zurückkehren würden. Eltern beibringen zu müssen, dass ihr Kind ermordet worden war. Der Gattin des Mordopfers mitzuteilen, dass ihr Mann sie jahrelang betrogen hatte. Sie hasste es, Nachrichten zu überbringen, die ein ganzes Lebensgebäude zum Einsturz brachten. Wie war es nur dazu gekommen, dass ausgerechnet sie in Köln zu derjenigen geworden war, die stets die unglückseligen Botschaften überbringen musste, von denen sich ihr Gegenüber nur schwer wieder erholen würde?

Ohne es zu merken, war Sandra in der Partyzone der Stadt gelandet. Bunte Lichter blinkten an den Fassaden, Erbrochenes stank am Straßenrand. Aus einem Klub erklang Drum ’n’ Bass. Lachende Menschen kamen ihr entgegen. Grelle Farben, Waden-Tattoos, enge Shirts.

Sandra wusste nicht, wo sie gelandet war. Dieses Viertel hatte jedenfalls keinerlei Ähnlichkeit mit dem vertrauten gotischen Viertel in Barcelona. Hier kannte sie niemanden, doch das war vielleicht gerade gut. Ihre Füße führten sie zielstrebig zu einem Nachtklub. Aus irgendeinem Grund sollte sie hier sein. Die Tatsache, dass sie niemand kannte, gab ihr das Gefühl, einen Blankoscheck für diese Nacht zu besitzen, der ihr erlaubte, alles zu tun, was sie wollte.

Sie öffnete ihren Pferdeschwanz, legte vor dem Rückspiegel eines parkenden Autos noch ein wenig Lippenstift nach und trug noch mehr blauen Lidschatten auf. Als Letztes knotete sie sich ihr rotes Halstuch um den Bauch. Fertig. Als sie sich dem Eingang des Nachtklubs näherte, wurde sie von dem Türsteher durchgewinkt. An der Theke bestellte sie einen Cocktail und tanzte eine Weile. Zurück am Tresen wurde ihr von jemandem ein weiterer Drink spendiert. Später stieg sie auf Shots um. Sie waren billiger und effektiver. Irgendwann sah sie zu, dass sie es schaffte, zum Victoria zurückzukommen.

Kapitel 5

Dienstag, den 4. Juni, 9 Uhr

Javier

Am nächsten Tag meldete sich die „Pressefotografin“, wie sie sich nannte, bei Javier. Er versuchte, ihr ins Gewissen zu reden, und gab ihr dann die Kamera zurück. Anschließend schaute er zu, wie sie die Bilder entfernte. Wie er diesen ganzen Schnickschnack mit den Medien hasste! Dennoch stand er auf, um sich höflich von der Skandalreporterin zu verabschieden. Man konnte nie wissen: Trotz aller Vorbehalte war es vermutlich geschickt, sich den Kontakt zur Presse warmzuhalten. Als Javier Anstalten machte, der Fotografin die Tür aufzuhalten, stieß er beinahe mit seiner Sekretärin Sofía zusammen, die sich offensichtlich gerade auf dem Weg zu ihm befand.

„Javier?“

„Ja?“

„Gleich kommt die deutsche Polizistin, diese Frau König. Gestern Abend habe ich sie noch im Hotel Victoria zu erreichen versucht, um sie zu begrüßen und ihr die neuesten Ermittlungsergebnisse mitzuteilen … Aber ich habe sie nicht an ihr Hoteltelefon bekommen können.“

„Du meinst die Übersetzerin für die Befragung der deutschen Reisegruppe?“ Javier war mit seinen Gedanken noch bei der aufdringlichen Skandalreporterin und konnte der Sekretärin nicht so schnell folgen.

„Nein, ich spreche von der deutschen Polizistin aus Köln, die angefordert wurde, um uns bei der Aufklärung des Falles zu unterstützen.“

In diesem Augenblick drehte sich die Paparazza um. „Deutsche Polizei? Das klingt nach einem interessanten Projekt. Internationale Zusammenarbeit. Was ist denn genau geplant?“

Javier schaute zwischen den beiden Frauen hin und her. Dann bat er die Sekretärin, die Pressefrau aus dem Gebäude hinauszubegleiten. Er sah Sofía an, dass sie sich ärgerte, zu viel preisgegeben zu haben. Was waren das nur für Zeiten, in denen man dermaßen auf der Hut sein musste!

Ärgerlich ging er in sein Büro zurück. Dabei fiel ihm auch wieder ein, dass die Staatsanwältin vorgeschlagen hatte, ihm bei der Ermittlung zum Fall des toten Deutschen am Fuße des Geierbergs einen Kollegen aus Deutschland zur Seite zu stellen. Diese Idee war gestern am Ende der Dienstbesprechung laut geworden, und Javier hatte sie nicht ernst genommen. Umso erstaunter war er nun, dass anscheinend innerhalb weniger Stunden eine deutsche Kollegin nach Málaga abgeordnet worden war. So etwas Überflüssiges! Je mehr Leute, desto mehr Chaos. Oder traute die Staatsanwältin ihm nicht zu, den Fall allein mit seinem Team zu lösen?

Es klopfte. Das war sie bestimmt schon.

„Adelante, bitte kommen Sie herein.”

„Buenos días”, hörte er eine junge Frauenstimme mit deutschem Akzent sagen. Die Tür ging auf. Im Rahmen stand die neue Kollegin: Anfang dreißig, lange blonde Haare, Jeans, weißes T-Shirt. Die Frau, die mit schnellem Schritt auf ihn zukam, strahlte nur so vor Tatkraft. Javier spürte, wie sehr ihn das provozierte. Er musste irgendetwas tun, um Zeit und Abstand zu gewinnen. Wenn er es nicht schaffte, die übereifrige Neue herunterzukühlen, dann würde sie ihn in einer wilden Stampede überrennen.

Angespannt machte er ein abwehrendes Handzeichen in Richtung der neuen Kollegin. Dann schaute er auf den Zettel, der vor ihm lag. Es war dieser Werbeflyer, auf dem er Inmas Adresse notiert hatte. Er tat so, als wäre es das wichtigste Dokument der Welt, und vermied es, hochzuschauen. Als Nächstes hob er den Telefonhörer ab und rief die erstbeste Nummer an, die er kannte. Seine Sekretärin. Die Oberkommissarin nahm ihm gegenüber Platz und wartete.

„Hallo, Sofía“, fing er an und überlegte sich einen Vorwand für den Pseudoanruf. Doch Sofía kam ihm zuvor.

„Hallo, Javier. Gut, dass du dich meldest. Blöd, das mit der Reporterin.“

„Schon in Ordnung. Unglücklich gelaufen.“

„Tut mir leid.“

„Sonst noch was?“

Sofía zögerte.

„Ja. Gerade haben sich die Kollegen in der Kaffeeküche über die neue deutsche Polizistin lustig gemacht. Sie haben sie wohl gestern Nacht im Club Norte tanzen gesehen. Ich habe gesagt, sie sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern. Aber vielleicht wäre es gut, wenn du auch mal mit den Kollegen reden würdest.“

„Danke.“

Javier legte die Stirn in Falten, fragte sich, wie er reagieren sollte. Er beschloss, erst einmal abzuwarten. Obwohl er noch in Gedanken versunken war, spürte er, wie die junge Frau ihn musterte. Er wusste, was sie sah: einen alten, schlecht gelaunten Mann mit grau meliertem Haar Anfang fünfzig. Automatisch setzte er sich gerade hin. Aber sie würde auch sehen, dass er in Form war, und vermutlich wusste sie bereits, dass er gut in dem war, was er tat. Seine Aufklärungsquote sprach für sich. Er stand auf und begrüßte die neue Kollegin mit festem Handschlag, denn so machten das die Deutschen, soweit ihm bekannt war.

Sie stellte sich ihm vor.

„Hola. Soy Sandra König de Alemania. Wie geht es Ihnen?“

Er konnte sich nur den Vornamen merken: Sandra. Sie sprach flüssig Spanisch, wenn auch mit einem starken deutschen Akzent.

„Darf ich Sie Sandra nennen?“, fragte er.

„Natürlich.“

„Haben Sie die Polizeidienststelle gut gefunden?“

„Ja, danke. Das war einfach, zumal Ihr Büro direkt unten im Erdgeschoss liegt.“ Sie machte eine kurze Pause.

„Sollen wir anfangen?“, fragte sie.

Javier nickte, und sofort packte Sandra ihr Tablet und ihr Handy samt allerlei Kabeln aus. Einen Moment später war die gesamte Tischplatte seines Schreibtischs belegt.

Eine andere Generation, dachte sich Javier, der sein Metier noch mit Papier und Pinnwand erlernt hatte.

Zuletzt legte Frau König einen sorgfältig gehefteten Papierstapel, den sie mit bunten Post-it-Zetteln, Fragezeichen und kleinen Bemerkungen versehen hatte, demonstrativ auf ihre Knie.

„Fleißig“, sagte Javier mit ironischem Unterton.

„Ich habe die Zeit während des Flugs genutzt.“

„Was wissen Sie über den Fall?“

„Noch nicht viel.“ Dann fing sie an, die wichtigsten Fakten aufzuzählen: Thomas Schmittigs Teilnahme an der Bildungsreise und den Ausflug nach El Chorro.

„Dort fand die Wanderung zu dem Berg mit dem Namen … also, mit dem Namen …“

Sandra wühlte in ihren Unterlagen. Javier beobachtete sie bei ihrer Jagd auf den Namen „Geierberg“ und grinste innerlich, während er sie zappeln ließ.

„Einen Moment, wie hieß der Berg denn nur? Ach, hier steht es ja: Geierberg. Der befindet sich in der Nähe des Caminato del Rey.“

„Caminito.“

Sie wurde rot.

Javier fand sich selbst armselig. Warum hatte er es nötig, seine Kollegin auflaufen zu lassen? Vielleicht, weil sie ihn mit ihrer forschen Art an Ana erinnerte. Dann fiel ihm Sofías Bemerkung mit der Büroküche ein.

„Sandra, wir konnten Sie gestern Abend nicht erreichen.“

Sie starrte ihn an.

„Es gibt Neuigkeiten.“

„Stimmt. Ich hatte das Handy ausgestellt. Ich …“

Dann stockte seine neue Kollegin und änderte offensichtlich ihre Strategie.

„Und zwar?“ Ihr Tonfall klang ganz anders als eben.

„Zum einen hat man am Unfallort ein defektes Handy gefunden. Vermutlich gehört es Schmittig. Mit etwas Glück können unsere Spezialisten es reparieren. Noch kann ich nichts versprechen … Zum anderen hat sich einer der Notfallsanitäter bei uns gemeldet. Ihm ist noch etwas eingefallen. Herr Schmittig ist vor seinem Tod noch einmal zu Bewusstsein gekommen und hat nach einem ‚Frank‘ gefragt.“

Sandra dachte einen Moment lang nach.

„Hieß nicht einer der beiden Leiter der Studienreise mit Vornamen Frank?“

Javier nickte. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Sie haben recht. Einer der Dozenten heißt Frank. Frank Klausen und der andere …“

„… ist ein gewisser Johannes Fuhrmann.“

„Correcto.“ Der Comisario Principal schaute sie an. „Sie haben sich gut vorbereitet, Sandra.“

Sie ging auf sein Lob nicht ein.

„Woran genau ist dieser Schmittig gestorben?“ Sie wartete noch einen Augenblick, schien ein Wort zu suchen und stellte dann die nächste Frage. „Muss man von Fremdverschulden ausgehen?“

„Die Autopsie ist noch nicht beendet. Nach wie vor kann es alles drei sein: Unfall, Suizid oder Mord.“

„Und wie interpretieren Sie die letzten Worte von Herrn Schmittig? Glauben Sie, er meinte Frank Klausen?“

„Auch hier ist alles möglich: Das kann der Name des Mörders oder der eines Verwandten sein, oder vielleicht hat sich der Notfallsanitäter auch verhört und Herr Schmittig hat versucht, ihm etwas ganz anderes mitzuteilen. Vorausgesetzt, dass er noch klar im Kopf war.“

Sie schien ihm erst widersprechen zu wollen, es sich dann jedoch anders zu überlegen.

„Wie sollen wir denn weiter vorgehen?“

„Ich denke, wir sollten in alle Richtungen ermitteln. Wir sind auch dabei, die Aufnahmen der Sicherheitskameras vom Bahnhof El Chorro und vom Parkplatz am Geierberg auszuwerten. Ich halte es für das Beste, wenn wir uns aufteilen.“

„Ja, hört sich gut an.“

„Ich schlage vor …“

Javier musste über sich selbst lächeln. Sie hatte ihn bereits weichgekocht, jetzt gab er schon keine Befehle mehr aus, sondern machte lediglich Vorschläge.

„Ich schlage vor, dass ich mir den Tatort noch einmal genauer anschaue und den Ergebnissen der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin nachgehe. Eventuell gelingt es mir dann, den Tatverlauf so gut wie möglich zu rekonstruieren.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich dann um die Befragungen der Zeuginnen und Zeugen kümmern.“

Zeuginnen und Zeugen. Wirklich? Die neue Kollegin genderte? Aber Javier ließ sich nichts anmerken. Seine Tochter sprach genauso.

„Nein, da habe ich nichts gegen. Im Gegenteil. Das halte ich für eine gute Idee. Schließlich werden die Zeugen sich jemandem, der sie in einer ihnen vertrauten Sprache vernimmt, schneller öffnen. Aber nehmen Sie bitte alle Aussagen auf!“

„Natürlich. Hoffentlich besteht niemand auf einen Rechtsanwalt, das würde uns viel Zeit kosten.“

„Das glaube ich nicht. Im Moment wissen wir noch nicht einmal, ob es sich überhaupt um einen Mordfall handelt.“

„Ich werde auch noch versuchen, mehr über das Opfer herauszufinden. Ich arbeite diesbezüglich mit einer sehr kompetenten Kollegin in Deutschland zusammen.“

„Diesbezüglich“ und „einer sehr kompetenten Kollegin“. Waren das die Umgangsformen auf einer deutschen Polizeiwache, oder drückte sich die Kollegin immer so aus?

Sandra packte ihre elektronischen Geräte zurück in ihren Rucksack und war kurz davor, das Büro zu verlassen, als Javier seine Aufmerksamkeit ein letztes Mal auf sie richtete.

„Vale, in Ordnung. So machen wir das. Und … von mir aus dürfen Sie gern mein Büro für die Zeugenbefragung benutzen. Ich werde tagsüber demnächst vermutlich hauptsächlich unterwegs sein. Laden Sie also Ihre Landsleute ruhig in mein Büro vor, oder befragen Sie sie in ihrem Hotel.“

„Gracias.“

Javier schaute ihr nach. Eigentlich hatte er immer gedacht, dass er eine gute Menschenkenntnis besäße. Aber diese Sandra konnte er nicht einschätzen.

Kapitel 6

Dienstag, den 4. Juni, 11 Uhr

Sandra

Sandra machte einen Zwischenstopp in ihrer Pension und zog sich ihre blaue Dienstbluse mit der Aufschrift „Polizei“ an. Dann lief sie zum Palmen-Hotel, in dem die deutsche Reisegruppe einquartiert worden war. Ähnlich wie bei ihrem Besuch im Klub wurde sie auch in dem Hotel von einem Türsteher kritisch beäugt. Sandra zeigte ihm ihren Dienstausweis.

„Ich möchte das Zimmer des Toten untersuchen.“

„Der Tote aus El Chorro?“

„Genau. Thomas Schmittig.“

„Moment.“ Der Türsteher ging zur Seite und sprach in sein Handy. Dann wandte er sich wieder Sandra zu.

„Das Zimmer ist bereits weitervermietet worden. Der Comisario Principal hat es direkt nach dem Auffinden des Toten untersucht und freigegeben.“

Sandra ärgerte sich. Das hätte er ihr auch sagen können. Allerdings fiel so eine Zimmeruntersuchung streng genommen auch nicht in ihren Aufgabenbereich.

„In Ordnung. Ich würde dann gerne die deutsche Reisegruppe, welcher der Tote angehörte, verhören. Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?“

Ihr Plan war es, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studienreise nacheinander zu befragen. Zuerst den Leiter, um sich ein Bild von dem Programm zu machen, dann die Kursteilnehmenden, und zum Schluss würde sie den stellvertretenden Leiter, diesen Berühmte-letzte-Worte-Frank Klausen, genauer unter die Lupe nehmen.

„Auf dem Rooftop.“ Dann klingelte das Handy des Türstehers. „Entschuldigung.“ Er nahm einen Anruf entgegen und ging anschließend auf einen Gast mit viel Gepäck zu, der gerade dabei war, aus einem Taxi zu steigen.

Großartig, dachte Sandra. Und wie sollte sie nun zu diesem Rooftop kommen? Schicke Hotels waren nicht gerade ihre Welt. In Köln kümmerte sie sich vor allem um das trotz aller innovativen Maßnahmen immer noch trübselige Milieu rund um den Eigelstein. Sie lief den dunklen Gang hinter der Rezeption entlang, bis sie einen Aufzug fand. Das Rooftop, also die Dachterrasse, hörte sich nach oberster Etage an. Seltsamerweise funktionierte der Knopf aber nicht. Aus irgendeinem Grund konnte sie den Fahrstuhl nicht rufen. Nachdem sie es noch zweimal probiert hatte, las sie die kleine Plakette. „Bitte die Schlüssel-PIN eingeben. Nur für Hotelgäste.“ Genial. Sie drehte sich zu dem Türsteher um, doch der war immer noch mit dem Besucher beim Taxi zugange. Sie wandte sich ein wenig vom Fahrstuhl ab und warte. Als zwei Hotelgäste den Lift nahmen und ihre Schlüssel-PIN eingaben, schloss sie sich ihnen unauffällig an.

„Hola“, begrüßte sie die Hotelgäste selbstbewusst und gesellte sich auch ohne die Hilfe des Türstehers zu ihnen in die Fahrstuhlkabine. Oben angekommen war das Sonnenlicht so intensiv, dass ihre Augen unwillkürlich zu blinzeln begannen. Doch nach ein paar Tränchen hatten sie sich an die Helligkeit gewöhnt.

Was für ein Ausblick: Unter ihr spiegelte sich die Sonne auf dem tiefblauen Mittelmeer. Und oben, rechts neben ihr, befand sich ein einladend kühler Pool, umgeben von Liegestühlen und einer Strandbar, aus welcher chillige Musik ertönte. Sandra schloss die Augen und genoss die warme Sonne auf ihrem Gesicht. So schön.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Eine Kellnerin sprach sie an.

„Ja, vielleicht schon.“ Sie war so beeindruckt von der Pracht um sie herum, dass sie einen Moment brauchte, um zur Polizeiarbeit zurückzufinden. Dann zeigte sie ihren Ausweis.

„Ich suche Johannes Fuhrmann. Man sagte mir, er wohne hier zusammen mit seiner Reisegruppe.“

„Ja, das stimmt. Ich habe ihm gerade Kaffee gebracht. Er ist auf seinem Zimmer. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Die Angestellte fuhr mit Sandra zwei Etagen mit dem Fahrstuhl nach unten. Als sie ausstiegen, sagte sie etwas zu dem Reinigungsteam, das gerade dabei war, sich um die Wäsche zu kümmern, und klopfte dann an eine Zimmertür ganz hinten im Gang.

„Herein.“

Sandra bedankte sich bei der Angestellten und steckte sich ihr Polizeiabzeichen an ihr Shirt, bevor sie das Zimmer betrat.

„Herr Fuhrmann?“ Im selben Moment sah sie, wie ein großer, schlanker Mann Ende dreißig, Anfang vierzig auf sie zukam.

„Polizei“, sagte er. „Gut, dass Sie kommen.“ Dann stand er vor ihr. Brille, Vollbart.

„Sandra.“

„Johannes.“

„Das ist ja eine Überraschung.“

„Allerdings.“

„Wie geht es deinem Bruder?“

Sandra atmete tief durch. Warum musste sie in ihrem Leben ausgerechnet noch einmal auf diesen Scheißkerl treffen? Sandra spürte, wie eine Woge der Wut in ihr hochschlug. Es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen. Ganz ruhig bleiben.

„Lass uns anfangen.“ Sie nahm am Hotelschreibtisch Platz und gab ihm ein Zeichen, sich ihr gegenüber niederzulassen. Javiers Büro wäre ihr für die Zeugenaussagen zwar lieber gewesen, aber sie hatte es für psychologisch geschickter befunden, das Erstgespräch in einem Umfeld zu führen, das den Reisenden vertrauter war.

„Du hast nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme, oder?“

„Nein. warum sollte ich? Willst du etwas trinken?“

Sie spürte, wie sie erneut von Wut überrollt wurde.

„Dafür haben wir keine Zeit. Also lass uns mit deinen Personalien beginnen.“

„Wie du meinst. Johannes Fuhrmann. Geboren am 12. März 1986 in Köln.“

Sandra wartete.

„Was noch?“

„Familienstand. Beruf.“

„Geschieden.“ Er zögerte. „Ich habe den Namen meiner Frau angenommen.“

„Aha.“ Deswegen hatte sie ihn nicht am Namen erkannt. Früher hatte er Kleiwer geheißen. Johannes Kleiwer. Einer von Roberts Freunden. Ein gut aussehender Dreckskerl.

„Keine Kinder.“ Johannes nahm einen Schluck Kaffee. „Ich habe BWL studiert und biete seit fünf Jahren zusammen mit Frank Kurse für Menschen an, die sich beruflich neu aufstellen wollen.“

„Geht’s auch etwas genauer?“

„Na klar. Kleinunternehmer. Existenzgründer. Es gibt so viele, die sich selbstständig machen möchten. Junge Start-upper, aber auch Ältere, die in der Mitte des Lebens noch einmal neu anfangen wollen, ihrem Leben noch einmal eine andere, eine selbstbestimmte Wendung geben wollen.“

Er hörte sich an wie ein zu Fleisch und Blut gewordener Werbeprospekt.

„Soso, und da kommst du ins Spiel.“ Sandra musste sich zwingen, die Ironie aus ihrer Stimme herauszuhalten.

„Ja. Es geht um Wirtschaftsmathematik und Rechnungswesen. Das Erstellen eines Businessplans, der Hand und Fuß hat.“

Okay, das klang logisch.

„In diesem Sinne bin ich selbst Unternehmensgründer. Ich vermarkte unsere Seminare als Bildungsreise und doziere über die Grundlagen der Existenzgründung. Frank kümmert sich um Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation.“

„Was kann ich mir darunter vorstellen?“

„Du hast ihn noch nicht kennengelernt, oder?“

Sandra reagierte nicht, wollte sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen.

„Sag mir doch einfach, was Herr Klausen macht.“

„Nun“, wieder hatte sie den Eindruck, dass Johannes ihrem Blick auswich. „Ich bin dafür zuständig, dass die Zahlen stimmen, aber mit Wörtern da habe ich es nicht so.“

Jetzt schaute er ihr direkt ins Gesicht. Sandra war baff. Das aus seinem Mund zu hören, hätte sie nicht erwartet. Johannes Kleiwer war immer ein von sich selbst eingenommener Macher gewesen, der niemals eine Schwäche gezeigt hatte.

„Frank kümmert sich somit um kommunikative Belange, persönliche Ansprache und so etwas. Du weißt schon …“

„Nein, weiß ich nicht. Ich kann mir darunter immer noch nichts vorstellen.“ Natürlich verstand sie ihn, aber sie wollte ihn noch ein wenig länger schmoren lassen. Es dem Mistkerl heimzahlen. Egal wie.

„Er gibt die Rhetorikseminare.“

„Rhetorikseminare. Soso.“

Jetzt hätte sie loslegen können und ihn mit spöttischen Kommentaren über Selbstdarstellung, Managergehabe und Meinungsmache überhäufen können, aber sie verkniff es sich. Schließlich lief das Audio mit.

„Und wer ist für die Exkursionen zuständig?“

„Eigentlich Isabel, Isabel Santos. Aber sie ist kurzfristig erkrankt, und wir mussten Ersatz suchen. Das war gar nicht so einfach, denn wir brauchten jemanden, der ebenso gut Deutsch wie Spanisch spricht. Und da haben wir uns für Carola entschieden. Sie hat hier in Málaga eine Sprachschule und unterrichtet Deutsch. Vor allem jedoch ist sie gut vernetzt und kennt sich eigentlich aus.“

„Aber?“

„Aber sie arbeitet das erste Mal für uns, und darum unterlaufen ihr Fehler.“

„Zum Beispiel?“

„Bei der Exkursion. Die, bei der Tom den Unfall hatte.“

„Du nennst deinen Klienten Tom?“

„Ja, wir duzen uns alle. Das gehört zum Programm. Franks Idee.“

„Okay, verstehe. Und nun zurück zur Exkursion. Was ist schiefgegangen?“

„Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber weißt du, dass diese Gegend um die Stauseen herum sehr bekannt ist? Der sogenannte alte Königspfad hat den Ruf gehabt, einer der gefährlichsten Wanderwege in Spanien zu sein. Mittlerweile nicht mehr. Er ist jetzt sehr gut abgesichert. Man erhält auch Helme und so. Vor zwei Jahren haben Frank und ich unsere Seminarteilnehmer die Tour des Caminito del Rey machen lassen.“

Seine Augen wurden groß und verträumt.

„Also, den Blick auf die Stauseen werde ich nie vergessen. Atemberaubend, sag ich dir. Aber man muss schon trittsicher sein … Doch vor zwei Jahren hat ein Teilnehmer so unter Höhenangst gelitten, dass wir ihn kaum zurückgelotst bekamen. Daher bieten wir jetzt nur noch die harmlose Tour zum Geierberg an.“

Von wegen harmlos, dachte Sandra giftig, sagte aber nichts.

„Es geht darum, mutig zu sein, aus der Komfortzone herauszugehen, sich Ziele zu setzen und sie zu erreichen.“