Mord in Sunset Hall - Leonie Swann - E-Book
SONDERANGEBOT

Mord in Sunset Hall E-Book

Leonie Swann

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eigentlich hat Agnes Sharp mit der Hüfte, dem Treppenlift und den Bewohnern ihrer umtriebigen Senioren-WG genug zu tun. Und dann ist da auch noch die Tote im Schuppen. Und die Tote im Nachbarsgarten. Ganz klar: das englische Idyll trügt, und ein perfider Mörder hat es auf alte Damen abgesehen! Kurzentschlossen machen sich die streitbaren Senioren samt Schildkröte auf Mörderjagd – eine Suche, die sie nicht nur auf das trügerische Parkett des örtlichen Kaffeetreffs führt, sondern auch in den dubiosen Lindenhof und schließlich tief in die eigene Vergangenheit. Denn auch Agnes und ihre Mitbewohner haben das eine oder andere Geheimnis zu hüten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 517

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Eigentlich hat Agnes Sharp mit der Hüfte, dem Treppenlift und den Bewohnern ihrer umtriebigen Senioren-WG genug zu tun. Und dann ist da auch noch die Tote im Schuppen. Und die Tote im Nachbarsgarten. Ganz klar: das englische Idyll trügt, und ein perfider Mörder hat es auf alte Damen abgesehen! Kurz entschlossen machen sich die streitbaren Senioren samt Schildkröte auf Mörderjagd – eine Suche, die sie nicht nur auf das trügerische Parkett des örtlichen Kaffeetreffs führt, sondern auch in den dubiosen Lindenhof und schließlich tief in die eigene Vergangenheit. Denn auch Agnes und ihre Mitbewohner haben das eine oder andere Geheimnis zu hüten …

Weitere Informationen zu Leonie Swann finden Sie am Ende des Buches.

Leonie Swann

Mord in Sunset Hall

Kriminalroman

Originalausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Leonie Swann

Copyright © dieser Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

CN · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25290-8V003

www.goldmann-verlag.de

www.penguinrandomhouse.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

For man is the strangest animal of all.

Borden Deal, The Cattywampus

PROLOG Kaltblütig

Hettie war heiß. Sie hatte zu viel Zeit auf ihrem Sonnenstein verbracht, und die Hitze des Nachmittages war ihr in den Panzer gefahren und schwirrte nun etwas aufdringlich in ihrem Kopf herum. Wie jeder verantwortungsvolle Kaltblüter musste sie sich daranmachen, wieder eine Balance herzustellen, und der richtige Ort dafür war traditionell die schattige Schlucht alter Blumentöpfe hinter dem himmelhohen Holz, wo Farne unbeaufsichtigt aus Ritzen rankten und Schnecken sich über feuchte Erde tasteten.

Hettie legte los, einen geschuppten Fuß vor den anderen. Über den Kiespfad, unter den Hortensien hindurch, vorbei am großen Stumpf.

Doch etwas war anders als sonst. Wo normalerweise das himmelhohe Holz aufragte, war diesmal nichts, ein großes, gähnendes Nichts, und dahinter Schatten. Wie alle Schildkröten hielt Hettie nicht viel von Neugier, aber dieses unbekannte Schattenreich zog sie an. Sie schob sich die Rampe hinauf, zögerte kurz an der Sonne-Schatten-Grenze und glitt dann weiter, hinein in die angenehme Kühle. Ihr Panzer streifte altes Holz, geglättet von der Zeit und unzähligen Großen Füßen. Sie roch die Großfüße auch jetzt, nah und unverkennbar, salzig und ledrig.

Im Prinzip hatte Hettie gegen Großfüße nichts einzuwenden, sie waren ihr immer mit Respekt begegnet und wurden manchmal begleitet von den Händen-die-Salat-hielten. Ermutigt kroch sie weiter, tiefer in die Schatten hinein.

Dort hinten. Aha.

Sie sah sofort, dass mit diesen Großfüßen etwas nicht stimmte. Anders als die meisten ihrer Artgenossen ruhten sie nicht flach und stabil auf dem Boden, sondern zeigten mit ihrem spitzen Ende nach oben, hinauf in den Äther, wo Sonnenlicht durch das Halbdunkel schnitt und Staubsterne tanzten.

Höchst ungewöhnlich. Auch war dieses Pärchen seltsam reglos. Krank, eindeutig. Hettie hatte noch nie einen kranken Großfuß zu Gesicht bekommen. Jetzt machte sich doch so etwas wie Neugier in ihr bemerkbar, oder wenn nicht Neugier, dann zumindest Appetit. Probehalber und etwas verwegen biss sie in einen der Großfüße. Der Fuß wehrte sich nicht, und Hettie biss triumphierend zum zweiten Mal zu, mehr aus Prinzip als aus Enthusiasmus. Ledrig und hart. Nicht ihr Geschmack. Doch wo sich Großfüße fanden, waren Hände-die-Salat-hielten meistens nicht fern. Sie beschloss, sich auf die Suche nach ihnen zu machen, und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass es jenseits der Großfüße weiterging, weiter und weiter, ein ganzes Reich von Hügeln, Tälern und Kurven.

Und tatsächlich: Dort hinten, tiefer im Dunkel, ruhte eine der Hände-die-Salat-hielten. Nur hielt sie keinen Salat, sondern schien zusammengekrümmt, einer toten Spinne nicht unähnlich.

Schildkröten sind im Allgemeinen ein eher ungeduldiges Volk, doch Hettie war eine Ausnahme. Sie konnte warten. Vor allem auf Salat. Sie fand einen bequemen Ort am Fuße der ungewöhnlichen Hügellandschaft. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Gemütlich, aber nicht beengend. Hier ließ es sich aushalten.

Als jedoch auch nach geraumer Zeit kein Salat aufgetaucht war, hatte Hettie genug von der Warterei. Außerdem war der anfangs angenehm temperierte Hügel neben ihr kälter und kälter geworden, ungemütlich kalt, und die Fliegen begannen ihr auf die Nerven zu gehen. Erst waren es nur zwei oder drei gewesen, und Hettie hatte sie nach Schildkrötenart ignoriert, aber mittlerweile kreiste dort oben eine ganze Wolke. Summte, sank und hob sich, umtanzte den Hügel und auch Hettie selbst. Als eine der Fliegen sich erfrechte, auf Hetties Kopf zu landen, und versuchte, aus ihrem Auge zu trinken, schob sich die Schildkröte entrüstet von ihrem Platz, wanderte durch eine seltsam klebrige, metallisch riechende Pfütze hindurch und wieder hinaus in die Nachmittagssonne.

1 Edwinas Kekse

Die Türglocke erklang, und Agnes Sharp unterbrach die Suche nach ihren dritten Zähnen, erfreut und verärgert zugleich.

Erfreut, weil sie die Türglocke überhaupt gehört hatte – ihre Ohren spielten in letzter Zeit nicht mehr so mit, und manchmal hörte sie nur einen hohen, nervenaufreibenden Ton, begleitet von Rauschen. Da war die Türglocke eine angenehme Abwechslung.

Andererseits würde es etwas peinlich sein, ohne die besagten Dritten die Tür zu öffnen, unartikuliert und zahnlos. Doch der Klingler musste abgewimmelt werden, bevor er auf die Idee kam, im Garten herumzuschnüffeln – Zähne hin oder her.

»Isch komme! Augenblick!«, brüllte sie in den Flur, dann machte sie sich auf. Aus dem Zimmer. Vorsicht Schwelle! Und dann die Treppe. Ein Schritt, eine Stufe, dann den zweiten Fuß nachholen. Ein schwindelerregender Moment ohne jede Balance, ein Atemzug, Mut sammeln für die nächste Stufe. Und so weiter. Sechsundzwanzig Mal.

Augenblick. Von wegen!

Es klingelte erneut.

Die Hüfte beschwerte sich.

Es klingelte schon wieder.

»Moment, verdammt noch mal!«

Als sie den ersten Absatz erreichte, hatte sich eine gehörige Wut in ihr aufgestaut, auf die Treppe, den Klingler, die abtrünnigen Dritten, aber auch auf ihre Hausgenossen. Wieso bekam immer sie die unangenehmen Aufgaben? Wie Treppensteigen. Oder Müllraustragen. Oder … überhaupt alles!

Edwina wäre die Stufen um einiges schneller hinuntergekommen, aber an der Tür war sie natürlich nutzlos. Bernadette saß in ihrem Zimmer und heulte sich die blinden Augen aus. Der Marschall war um diese Zeit meistens irgendwo im Internet, unerreichbar, mit dem Computer wie durch eine Nabelschnur verbunden. Und natürlich konnte man von Winston kaum erwarten, dass er sich ohne Treppenlift an den Abstieg machte.

Warum reparierte niemand den blöden Treppenlift?

Dann erinnerte Agnes sich daran, dass es ihre Aufgabe gewesen wäre, den Reparaturmann zu rufen, aber mit ihrem unberechenbaren Gehör und ihrer Abneigung gegen das Telefon hatte sie es immer wieder vor sich hergeschoben. Selbst schuld also, wie so oft dieser Tage.

Blieb als Sündenbock nur der Klingler, und auf den hatte sie nun eine Stinkwut.

Sie hatte die letzte Stufe gemeistert und schleppte sich, begleitet von einem Klingelstakkato, mit berechnender Langsamkeit auf die Haustür zu. War sie vielleicht taub? Was erfrechte sich der Flegel? Was wollte er überhaupt um diese Zeit? Und wie viel Uhr war es eigentlich?

Agnes fummelte kurz an dem Riegel herum, dann riss sie die Haustür auf. Gern hätte sie dem Klingler jetzt so richtig die Meinung gesagt, aber ihr fiel nichts ein.

»Na und?«, schnauzte sie. Es passte nicht so richtig, und sie ärgerte sich noch mehr.

»Äh, Frau Sharp?« Der Klingler äugte frech an ihr vorbei ins Haus. So ein verdammter Jungspund mit Beamtenbrille und Aktentasche unter dem Arm. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Agnes verschränkte die dünnen Arme, während der Jungspund mit einiger Verspätung ein gewinnendes Lächeln anknipste.

»Frau Sharp, ich habe wundervolle Neuigkeiten für Sie!«

Das hätte er besser nicht gesagt. Bisher hatte Agnes einfach vorgehabt, den Störenfried nach Plan abzuwimmeln, aber jetzt platzte ihr der Kragen. Wundervolle Neuigkeiten? Ausgerechnet heute? Das ging zu weit!

Sie versuchte sich trotz fehlender Zähne an einem freundlichen Alte-Dame-Lächeln – mit mäßigem Erfolg, wie sie dem zweifelnden Gesichtsausdruck des Vertreters entnahm. »Oh, für misch? Wie schön! Kommen Schie doch bitte in den Schalon!«

Das hatte der Klingler nur sich selbst zuzuschreiben!

»Noch einen Keksch?«

Wo in aller Welt waren bloß ihre Zähne?

Der Jungspund schüttelte stumm den Kopf. Er hatte ein einziges Mal in seinen Keks gebissen und saß seither kauend und seltsam verkrampft in dem ausgeleierten Ohrensessel. Agnes goss pissgelben Gesundheitstee in seine Tasse und studierte mit geheucheltem Interesse den Prospekt, den ihr der Eindringling in die Hand gedrückt hatte.

Der Besucher legte den angebissenen Keks zurück auf den Teller – ein kaltes Klacken wie Stein auf Stein. Edwinas Kekse wurden in der Regel sogar von den Mäusen verschmäht, aber für Anlässe wie diesen waren sie unbezahlbar.

»Chie wohnen allein hier?«, fragte der Jungspund mit vollem Mund.

Er wollte weder schlucken noch spucken, und so saß er fest.

Agnes dachte an Winston und die heulende Bernadette, an Edwina, die vermutlich gerade versuchte, mit Hilfe von Yoga ihre innere Balance wiederzufinden, an den Marschall und zuletzt an Lillith und seufzte tief.

Der Besucher nickte mitfühlend.

»Gerade für Leute wie Chie icht uncher Angebot perfekt! Wir verwalten Ihr Hauch, kümmern unch um die Vermietung. Wir kümmern unch um allech, während Chie auf dem Lindenhof einen goldenen Lebenchabend …«

Er verstummte und blickte seltsam starr an Agnes vorbei auf den Boden, wo gerade Hettie die Schildkröte mit gewohnter Eleganz vorbeizog.

Und auf dem Panzer – ihre Dritten! Vermutlich reisten sie schon eine ganze Weile per Schildkröte durchs Haus, ein körperloses, mobiles Grinsen. Genau das, was der Marschall so unter Humor verstand!

Agnes lehnte sich weit vor, angelte und bekam ihre Dritten zu fassen. Heureka! Rasch steckte sie sich das Gebiss in den Mund und strahlte den Jungspund mit Reihen makelloser Zähne an.

»Einen goldenen Lebensabend, sagten Sie?«

»Ohne finanzielle Sorgen!« Der Vertreter kapitulierte und stand auf. »Ich würde wirklich gern noch weiter plaudern, aber ich …«

»Sie wollen schon gehen? Wie schade. Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch …?«

Drohend hob Agnes einen zweiten Keks, aber der Jungspund war schon auf dem Weg zur Tür, und das war gut so.

Denn draußen im Holzschuppen lag Lillith, eine Kugel im Kopf und ein Lächeln auf den Lippen.

Es versprach ein anstrengender Tag zu werden.

Sie hielten ihre Krisensitzung im Sonnenzimmer im ersten Stock ab. So war es für Winston am einfachsten. Agnes hatte Tee gekocht und Edwina dazu gebracht, Kanne und Tassen die Treppe hinauf zu schaffen. Dazu gab es echte Kekse aus der Packung.

Agnes nahm prüfend einen Bissen – die Dritten saßen – und sah sich um. Neben ihr aufrecht und scharfäugig der Marschall, daneben Edwina mit verträumtem Gesichtsausdruck in einer ihrer unmöglichen Yogapositionen. Winston in seinem Rollstuhl sah einfach nur gefasst und traurig aus. Würdevoll wie der Weihnachtsmann. Der Halunke! Wie machte er das bloß?

Im Gegensatz zu Winston wirkte Bernadette so gut wie nie würdevoll, sondern immer ein wenig wie ein Mafiaboss, nicht zuletzt ihrer dunklen Brillengläser wegen. Sie hatte sich ein wenig beruhigt, aber es war eine Ruhe vor dem Sturm – oder, besser gesagt, zwischen zwei Stürmen. Mit Niederschlag.

Zu Agnes’ Rechter gähnte ein leerer Sessel.

»Der Reparaturservice für den Lift kommt morgen«, berichtete sie. Nachdem sie endlich zum Hörer gegriffen hatte, war es überraschend einfach gewesen, den Termin zu bekommen. »Der Marschall hat die Lebensmittel für die nächste Woche im Internet bestellt. Auch das Klopapier.« Der Marschall lächelte Agnes aufmunternd zu. Eine weitere Krise war abgewendet.

»Und was das Problem im Schuppen betrifft …«

»Sie ist kein Problem!«, unterbrach Bernadette. »Sie ist Lillith!«

»Nicht mehr«, sagte Agnes sanft. »Genau das ist das Problem.«

Bernadette gab einen unglücklichen Ton von sich.

»Es ist warm für die Jahreszeit«, fuhr Agnes fort. »Wir können nicht einfach nichts tun …«

»Wir setzen sie in den Lift!« Edwina strahlte. »In den Lift, nach oben, hinauf. In ihr Bett. Sanft und friedlich. Vielleicht erholt sie sich ja! Und wenn nicht … sanft und friedlich!«

»Sie erholt sich nicht«, sagte der Marschall entschieden. »Und was sanft und friedlich betrifft …«

»In der Tat!«, schnaufte Bernadette bitter.

»Wir könnten einfach die Polizei rufen«, warf Winston ein. Im Grunde war er ein ordnungsliebender Mensch. »In der Regel kümmert sich die Polizei um solche Dinge.«

»Das könnten wir tun«, sagte Agnes, »wenn wir nur wüssten, wo die Tatwaffe abgeblieben ist. Ohne die Tatwaffe …«

Drei Augenpaare richteten sich fragend auf den Marschall. Bernadettes dunkle Brillengläser reflektierten das Licht.

Der Marschall schien einen Augenblick verwirrt, dann verlegen. »Die Waffe … Sie war im Schuppen. Ich habe sie … und dann war ich im Dings … im Salon, und … ich muss gestehen …« Er bemühte sich um eine militärische Haltung, aber es klappte nicht ganz.

»Wir wissen nicht, wo die Tatwaffe ist«, wiederholte Agnes. »Und, nun ja, wenn die Polizei kommt und sie findet – sagen wir: irgendwo im Haus –, das könnte verdächtig aussehen.«

Edwina lachte perlend.

Bernadette schnaubte.

Winston nickte weise.

Niemand hatte etwas Nützliches zu sagen. Typisch.

Der hohe Ton erklang in Agnes’ Ohr. Sie nutzte das akustische Intermezzo, um nachzudenken. Wie lange konnten sie einfach so abwarten, ohne Lilliths Tod der Polizei zu melden? Einerseits war es sicher vorteilhaft, sie eine Zeitlang dort im Schuppen zu lassen, gerade bei dieser Wärme. Je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger würde es für die Polizei sein, sich einen Reim auf die Sache zu machen. Andererseits konnte es natürlich auch verdächtig wirken, wenn sie Lilliths Ableben zu lange für sich behielten. Sicher, die meisten Menschen im Ort hielten sie – völlig zu Unrecht – für einen Haufen seniler Hippies, doch irgendwann musste selbst ihnen auffallen, dass eine ihrer Hausgenossinnen fehlte. Wann genau? Nach einem Tag? Nach zwei Tagen?

Edwina sagte etwas. Sicher nichts Vernünftiges. Agnes trank einen Schluck Tee und wartete darauf, dass der hohe Ton sich vom Acker machte.

Bernadette zog sich die Sonnenbrille von der Nase, legte sich ein Taschentuch zurecht und wartete auf ihren nächsten Heulanfall.

Winston tätschelte ihr beruhigend das Knie.

Der Marschall sagte etwas zu Agnes, und sie tat, als würde sie ihn verstehen. Ein aufmerksamer Blick und ein knappes, aber ermunterndes Nicken sollten es eigentlich tun.

Dann war der Ton plötzlich verschwunden, und Agnes hörte noch das Wort »Regenschirm«, während der Marschall sie erwartungsvoll ansah.

»Nun ja«, sagte Agnes unsicher.

»Nur ein Schirm«, wiederholte der Marschall. »Das ist alles. Aber es ergibt wenig Sinn.«

»Wie konntet ihr nur!«, fauchte Bernadette. Ihre blinden Augen blickten ins Leere. Es war ein beunruhigender Effekt. »Einfach so. Ohne Abschied, ohne … alles!«

»Mit Abschied wäre es nicht gerade eine Überraschung gewesen, nicht wahr?«, erwiderte Agnes schärfer als geplant. Typisch Bernadette, aus der Sache so ein Drama zu machen! Sie waren sich doch alle einig gewesen! Es war nicht so, dass Lilliths plötzlicher Tod ihr nicht nachgegangen wäre, ganz im Gegenteil, aber manchmal musste man praktisch denken!

»Wir trinken jetzt alle unseren Tee«, sagte sie entschlossen. »Und nehmen unsere Tabletten. Und dann suchen wir sie!«

»Lillith?«, fragte Edwina erfreut.

»Die Pistole!«, sagte Agnes. »Winston und Bernadette suchen hier im ersten Stock. Im Zimmer des Marschalls natürlich, aber auch in den anderen. Überall. Edwina und ich suchen im Erdgeschoss, und der Marschall übernimmt den Garten!«

Sie blickte in eine Reihe langer Gesichter.

»Wie zu Ostern!«, rief sie aufmunternd.

»Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben!«, sagte Winston und grinste.

Sie suchten erst in der Küche, dann im Salon. Agnes ließ Edwina auf Leitern klettern und unter Sofas spähen und versuchte, dabei einen kühlen Kopf zu bewahren. Gemeinsam guckten sie in die Vasen auf dem Schrank, hinter die Bücher im Regal, in Töpfe und Kästchen und Dosen, hinter Kissen und unter Deckchen und sogar in die Blumentöpfe – und förderten eine Reihe interessanter Dinge zutage. Drei von Edwinas Keksen, hart und formstabil wie am ersten Tage, acht Lesebrillen (kein Wunder, dass nie eine zur Hand war, wenn man sie wirklich brauchte!), ein Hörgerät, einen Blutdruckmessapparat (hier steckte er also!) und jede Menge Pillen, listig in Ritzen und Spalten versteckt. Irgendjemand hier im Haus nahm seine Tabletten nicht wie vorgesehen. Agnes würde der Sache später nachgehen. Jetzt mussten sie erst …

Zum zweiten Mal an diesem Tag klingelte es an der Haustür.

Höchst ungelegen.

Edwina war schon dort und öffnete.

»Huhu!«, sagte sie.

Agnes eilte hinterher, so schnell es ging. Edwina am Empfang war selten eine gute Idee.

Von jenseits der Tür tönte eine gemessene Männerstimme.

»Die Polizei!«, rief Edwina aufgeregt. »Es ist die Polizei, Agnes! Denk doch, wie praktisch!«

Agnes legte einen weiteren Zahn zu. Die Polizei? Jetzt schon? Es war zu früh, viel zu früh! Sie hatten noch keinen Plan! Hatte vielleicht Bernadette …? Nein. Soweit sie wusste, hielt Bernadette nicht viel von der Polizei …

»Kommen Sie doch herein, Herr Kommissar!«, plapperte Edwina aufgeregt. »Wir suchen gerade …«

»… die Schildkröte!«, schnaufte Agnes, die es endlich zur Haustür geschafft hatte. »Wir haben unsere Schildkröte verlegt.«

Der Polizist guckte komisch und trat zögernd ein. Er trug eine Uniform. So weit, so schlecht.

»Frau Sharp? Agnes Sharp?«

»Ich bin Edwina«, korrigierte Edwina, aber der Polizist ließ sich davon nicht ablenken und blickte Agnes in die Augen, mit für ihren Geschmack viel zu kritischem Blick. Ihr wurde heiß.

»Sie sind die Hauseigentümerin? Frau Sharp, ich muss kurz mit Ihnen sprechen. In einer sehr ernsten Angelegenheit.«

Ernst! Auch das noch. Was sagen? So wenig wie möglich! Am liebsten hätte sie den Polizisten gleich im Flur abgefertigt, aber Edwina hatte ihn schon am Ärmel gepackt und in den Salon gezogen, wo nach ihrer Suchaktion alles voller Vasen, Töpfe und Dosen stand.

Zweifelnd blickte der Polizist auf den Pillenhügel und den Lesebrillenberg.

»Wir …«, sagte Edwina, und Agnes unterbrach sie hastig.

»Ist einfach ausgebüxt, das freche Ding. Wir haben überall gesucht!«

»In Töpfen?«, fragte der Polizist.

»Sie spielt gern Verstecken«, erklärte Agnes, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Setzen Sie sich doch bitte«, murmelte der Polizist mit Dienstmiene und deutete auf das Sofa, wo noch die Kekse lagen. »Was ich mit Ihnen zu besprechen habe, könnte für Sie beide ein ziemlicher Schock sein!«

»Wir sind nicht aus Zucker!«, sagte Edwina schnippisch.

Doch was der Polizist ihnen mitzuteilen hatte, war in der Tat ein ziemlicher Schock.

»Mildred Puck?«, fragte Agnes zum dritten Mal. Sie saß unbequem auf einem der steinharten Kekse. »Tot?« Ihr schwamm der Kopf. Mildred? Warum sprach der Mann von Mildred? Irgendetwas stimmte hier nicht!

»Erschossen«, sagte der Polizist. »Auf ihrer eigenen Veranda. Im Liegestuhl.«

»Was für ein Zufall!«, rief Edwina und klatschte die Hände zusammen.

»Ein Zufall ist es eher nicht«, erwiderte der Polizist. »Wir vermuten, dass der Täter heute Morgen durch den Garten eingedrungen und von Mildred überrascht worden ist. Ich muss Sie fragen, ob Ihnen heute irgendetwas Besonderes aufgefallen ist? Haben Sie etwas gehört – oder gesehen?«

»Aber …«, murmelte Agnes kopfschüttelnd. Die Mildred, die sie kannte, hatte schon seit Jahren niemanden mehr überrascht. Totaler … Pflegefall. Ihr wurde schwindelig. Mildred auch? Es ergab keinen Sinn!

»Ich möchte Sie wirklich nicht unnötig beunruhigen«, murmelte der Polizist und guckte verlegen auf die Pillen vor seiner Nase. »Aber wenn hier tatsächlich ein Täter versucht, alte und verletzliche Mitbürger auszurauben … Wir möchten Sie nur alle bitten, vorsichtig zu sein, sicherzustellen, dass Türen und Fenster immer gut verschlossen sind. Und wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt, bitte zögern Sie nicht …«

Er reichte Agnes seine Karte.

Agnes zögerte.

»Aber Mildred ist … Mildred war ein Pflegefall. Wir hingegen …«

Sie verstummte. Es war sinnlos, dem Polizisten den Unterschied zwischen einem apathischen Gemüse wie Mildred und ihrer aktiven kleinen Senioren-WG erklären zu wollen. Seufzend griff sie nach der Karte. Natürlich. Viel zu klein gedruckt. Ihre Chancen, im Notfall diese Nummer korrekt abzulesen und in den Telefonapparat einzutippen, standen etwa so gut wie die von Hettie der Schildkröte.

»Kekse?«, fragte Edwina und fischte ein Exemplar unter ihrer Jogginghose hervor.

»Nicht im Dienst«, sagte der Polizist mit dem Anflug eines Lächelns. Edwina verlor das Interesse, glitt vom Sofa und in eine ihrer Yogapositionen. Die Kobra, wenn Agnes sich nicht irrte.

Das Lächeln des Polizisten huschte davon.

»Es besteht kein Grund zur Panik«, sagte er. »Aber Sie sollten wachsam sein. Und wir sind für jeden Hinweis dankbar.«

»Natürlich. Das ist sehr aufmerksam von Ihnen.« Agnes merkte, wie wild ihr Herz pochte. Vielleicht war die Sache mit Mildred ja gar keine Katastrophe. Vielleicht war es eine Chance!

Edwina war mit ihrer Kobra fertig und wanderte in den Flur.

»War sie … gleich tot?«, fragte Agnes.

Der Polizist guckte wieder mit scheinbarer Faszination auf die Pillen, und der Art, wie er nichts sagte, entnahm Agnes, dass es kein schneller Tod gewesen war. Ganz und gar nicht.

Sie schauderte.

»Standen Sie einander nahe?« Der Polizist riss sich vom Anblick der Pillen los und sah Agnes an. Seine Augen waren rot und müde und irgendwie geschockt, und zum ersten Mal fühlte Agnes, dass er nicht nur Polizist war, sondern auch ein Mensch mit schlappen sandfarbenen Haaren und Bierbauchansatz. Sogar ein wenig bekannt kam er ihr vor. Dieser Tage war ihr bei manchen Leuten, als wären sie ihr schon einmal begegnet, so als gäbe es nur eine begrenzte Anzahl von Gesichtern auf der Welt, und irgendwann, wenn man nur lange genug lebte, hätte man sie alle gesehen.

»Wir kannten uns«, sagte sie leise. »Seit langer, langer Zeit.«

Der Polizist öffnete gerade den Mund, vermutlich, um etwas Mitfühlendes zu sagen, als aus dem Flur ein kleiner Triumphschrei erklang.

»Ich hab sie!«, jubelte Edwina.

Die Pistole! Agnes’ Herz hüpfte in ihrer Brust herum wie ein malträtierter Frosch.

Edwina! Nein!

Nicht jetzt!!

Der hohe Ton war zurück, und Agnes klammerte sich an die Sofalehne. Hilflos sah sie zu, wie der Polizist aus seinem Sessel aufsprang und zur Tür stürzte. Sie konnte nichts tun, nichts sagen, und die wunderbare Chance, die sich gerade geboten hatte, glitt ihr durch die Finger. Wie Sand. Wie Erbsen und Kuchengabeln und Kaffeebohnen. Wie ziemlich viele Dinge dieser Tage.

Dann war Edwina wieder zurück und plapperte ihr aufgeregt und unhörbar ins Ohr, und dann erschien der Polizist, strahlend, mit Hettie der Schildkröte in seinen großen Polizistenhänden.

Agnes erwachte, blinzelte und sah vier etwas verschwommene, aber eindeutig besorgte Gesichter über sich. Sie ordnete Farben und Formen, so gut es ging, und versuchte, sich zu konzentrieren.

Edwina.

Der Marschall.

Hettie die Schildkröte.

Und der Polizist.

Jemand hielt ihre Hand.

Agnes stöhnte. Der Polizist musste weg! Sie öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Sie rollte die Augen gen Marschall, dann zurück zum Polizisten. Einmal. Zweimal.

»Ich glaube, sie hat einen Anfall«, sagte der Polizist.

Der Marschall schien verstanden zu haben, was Agnes wollte.

»Ach was, Anfall. Dem alten Mädchen war nur ein wenig heiß. So was kommt vor!«

Agnes ächzte dankbar.

»Ich glaube, sie will ein Glas Wasser«, sagte der Marschall. Der Polizist legte Hettie auf Agnes’ Brustkorb ab und stürzte aus dem Zimmer. »Wo ist die Küche?«

»Hinten links«, rief der Marschall, wohl bewusst vage. Agnes hörte, wie der Polizist draußen im Flur Türen aufriss. Sie fand ihre Zunge wieder.

»Er muss weg!«, zischflüsterte sie. »Jetzt gleich. Ich … es ist eine Chance!«

Hettie die Schildkröte versuchte, einen ihrer perlmutternen Blusenknöpfe zu verspeisen.

»Und wenn ich noch mal das Wort ›altes Mädchen‹ höre, gibt’s Ärger!«

Der Marschall grinste und ließ ihre Hand los.

Mit gerötetem Gesicht und einem Glas Wasser kehrte der Ordnungshüter zurück.

»Ich wollte sie wirklich nicht so schocken. Zunächst schien sie die Nachricht ganz gut aufzunehmen. Ich meine … wir dachten, es wäre das Beste, wenn die Nachbarn … Es ist ja tatsächlich ein wenig abgelegen hier, da sollte man schon vorsichtig … Sind Sie sicher, dass wir nicht den Arzt …?«

Seltsam, dass niemand mehr wirklich mit einem sprach, nur weil man auf dem Rücken lag – oder auf dem Bauch, in Hetties Fall. Alle sprachen über einen, buchstäblich, und Agnes guckte nach oben, wo Worte über sie hinwegsegelten, als wäre sie gar nicht da. Sie ließ sich Wasser einflößen und sah zu, wie der Marschall, Edwina und Hettie sich mit seltener Eintracht daranmachten, den Polizisten loszuwerden. Vermutlich war es Hettie, die mit ihrem ungehaltenen Fauchen schließlich den Ausschlag gab.

Der Polizist verteilte noch ein paar Visitenkarten und gute Ratschläge, dann ließ er sich vom Marschall und Edwina zur Tür bugsieren.

Hettie und Agnes sahen einander an.

»Das war knapp!«, seufzte Agnes.

Hettie zischte zustimmend.

Und dann …

Agnes war ein Mädchen mit dünnen, sonnengebräunten Gliedmaßen, weißen Socken und Zöpfen bis zum Po. Agnes mochte die Zöpfe nicht, die Jungen zogen daran. Die Mädchen hänselten sie.

Aber ihre Mutter ließ nicht mit sich reden.

Wenn sie hüpfte, hüpften die Zöpfe auch.

Doch nun hingen sie still.

Agnes stand unter einem wolkenlosen Sommerhimmel und sah zu, wie jemand auf einem Stein Feuerwanzen zerquetschte. Die Wanzen rannten aufgebracht hin und her, aber sie hatten keine Chance.

»Warum machst du das?«, fragte Agnes.

Die Sonne wärmte ihren Nacken. Ein Vogel sang. Agnes wollte nach Hause.

»Weil es leicht ist«, antwortete der Jemand.

Agnes riss die Augen auf und starrte in Hetties weises Schildkrötengesicht. Hettie war das jüngste Mitglied ihrer WG, gleichzeitig aber auch das vernünftigste. Manchmal gab das Agnes schon zu denken.

Sie lag noch immer auf dem Sofa, die Beine auf einem Kissen. Die Zöpfe waren längst ab. Agnes hatte nun andere Probleme. Sie versuchte, sich aufzurichten. Hettie fauchte.

»Könnte vielleicht jemand die Schildkröte …?«

Edwina hob Hettie hoch und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf den Panzer. Agnes bekam die Sofalehne zu fassen und zog. Jemand schob von hinten, und dann saß sie endlich aufrecht, wenn auch ein wenig schief.

Sie betastete ihre Frisur (natürlich verwüstet), seufzte und blickte in die Runde. Inzwischen hatte sich auch Bernadette zu ihnen gesellt und horchte mit schräg gelegtem Kopf Richtung Sofa. Der Marschall hatte sich einen Stuhl herangezogen, Edwina saß mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich, und Hettie, die endlich wieder festen Boden unter den Krallen hatte, zog mit Würde von dannen.

Agnes sammelte sich.

»Es gibt gute und schlechte Nachrichten«, sagte sie. »Mildred Puck ist tot.«

»Ist das die gute Nachricht?«, fragte Bernadette trocken. Sie hatte sich einen Teller Cremehütchen besorgt und saugte sie aus, eines nach dem anderen, wie ein Konfektvampir.

Die Frage versetzte Agnes einen kleinen Stich. Mildred und sie waren früher Freundinnen gewesen, beste Freundinnen. Aber natürlich war das lange her, und seitdem hatte Mildred eine Menge Zeit damit verbracht, sich überall gründlich unbeliebt zu machen.

»Die schlechte Nachricht ist, dass irgendein Einbrecher umgeht, der alten Leuten den Garaus macht«, korrigierte Agnes. »Und die gute Nachricht ist, dass er dazu eine Pistole benutzt!«

»Ah!«, sagte der Marschall.

»Arme Mildred«, sagte Edwina. »Wieso ist das gut?«

»Wir jubeln ihm Lillith unter!«, erklärte Agnes aufgeregt. »Versteht ihr nicht? Das ist ideal! Zwei alte Damen im Garten erschossen, praktisch gleichzeitig! Jeder wird denken, dass dieser Einbrecher auch Lillith auf dem Gewissen hat! Wir gehen jetzt in den Schuppen und finden sie. Wir machen ein bisschen Unordnung und laufen überall herum. Und dann rufen wir die Polizei!«

»Schon wieder die Polizei«, sagte Edwina gelangweilt.

»Guter Plan!«, schallte es von oben, wo Winston am Treppengeländer saß und zuhörte.

»Warum sollte ich mitmachen?«, fauchte Bernadette nicht ganz so gekonnt wie Hettie, aber trotzdem giftig. »Wo mich doch niemand …«

»Weil es im Gefängnis keine Cremehütchen gibt«, sagte Agnes. »Ganz einfach deshalb.«

Die Sache war dann doch um einiges komplizierter, als sie erwartet hatten. Die Polizisten holten Lillith nicht einfach ab, sondern spannten schwarz-gelbe Plastikbänder, gestreift wie Hornissen, machten Fotos, nahmen Proben und krochen durch den Garten. Agnes sorgte sich um ihre Hortensien.

Und die Fliegen! Die ganzen Fliegen! Agnes hatte nicht damit gerechnet, dass Lillith in der kurzen Zeit so viele Fliegen anziehen würde. Es war für sie alle ein echter Schock gewesen.

Jetzt stand Agnes verdattert im Flur und wünschte sich nichts sehnlicher als ein Nickerchen. Polizeibeamte eilten an ihr vorbei. Edwina und Hettie hatten sich davongemacht, der Marschall wurde im Garten befragt, und Winston äugte neugierig vom Treppengeländer herab. Bernadette hatte den häuslichen Taschentuchvorrat aufgebraucht und heulte nun im Salon Klopapier voll. Eine Polizeibeamtin half ihr dabei.

Agnes hatte nichts weiter zu tun, als im Weg zu sein. Sie lehnte sich erschöpft an den Türrahmen, als ein Schatten auf sie fiel.

»Hallöchen«, sagte eine unbekannte Stimme.

Agnes blinzelte ins Licht und blickte in zwei funkelnde grüne Augen, über denen die Krempe eines vorsintflutlichen Federhutes schwebte.

»Ich bin Charlie«, sagte der Federhut. »Die Neue! Fabelhaftes Haus!«

Agnes stöhnte. Die Neue! Das hatten sie in der Aufregung um Lillith und Mildred ganz vergessen!

In diesem Moment trugen zwei Polizisten eine Trage vorbei. Auf der Trage ein großer weißer Plastiksack, noch immer von hoffnungsvollen Fliegen umschwirrt.

»Oh«, sagte Charlie mit dem Federhut. »Ich komme wohl ungelegen.«

Agnes besann sich auf ihre guten Manieren.

»Nicht doch. Ich bin Agnes«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Und, äh, das war Lillith.«

»Ha!« Charlie griff nach der Hand und schüttelte sie herzhaft. »Es funktioniert also, was? Fabelhaft!«

Agnes versuchte sich an einem Lächeln.

»Willkommen in Sunset Hall!«

2 Indisch

Wieder einmal schien sich niemand sonst zuständig zu fühlen, und so war es Agnes, die zum dritten Mal an diesem Tage die Treppe in Angriff nahm, um Charlie ihr neues Zimmer zu zeigen. Die Sache dauerte. In ihrem Kopf schwirrten Lillith und Mildred. Mildred und Lillith.

Mildred. Lillith.

Lillith. Mildred.

Und tausend hungrige Fliegen.

Agnes’ Knie fühlten sich weich an.

Auf dem Treppenabsatz musste sie eine Rast einlegen.

»Der Treppenlift wird morgen repariert«, ächzte sie entschuldigend.

Charlie winkte ab und hakte sich ungefragt bei ihr unter. So ging es besser, und Agnes wusste nicht, ob sie dankbar oder verärgert sein sollte. Charlie roch ungewohnt, nicht nur nach gewaschenen Kleidern, Handcreme und Eau de Cologne, sondern fremder, überraschender. Echtes Parfüm, vermutete Agnes. Ein Hauch von Holz und Iris und darunter etwas anderes, bekannt, aber schwer zu fassen. Vielleicht einfach nur Mensch?

Oben am Geländer saß Winston und lächelte, warm und würdevoll wie der Weihnachtsmann.

»Viel los heute«, sagte er mitfühlend.

Agnes’ Hand schlüpfte verstohlen von Charlies Unterarm.

»Das ist Charlie«, sagte sie. »Die Neue. Und das ist Winston. Er sitzt momentan fest.«

»Hallöchen«, sagte Charlie, und Winston zog sich einen imaginären Hut vom kahlen Haupt.

»Das Zimmer ist hinten links«, erklärte Agnes und schob sich langsam, aber entschlossen an den beiden vorbei. Sie wollte endlich ihr Nickerchen.

»Fabelhaft«, sagte Charlie.

Die Tür schwang auf, und Agnes blinzelte.

Es war das Lieblingszimmer ihrer Mutter gewesen, und manchmal meinte Agnes sie dort am Fenster stehen zu sehen, eine schlanke Silhouette mit geradem Rücken und Hochsteckfrisur. Veilchen und Sonnenlicht, ein hauchzartes Teeservice auf dem Erkertischchen und manchmal, wenn sie Glück hatte, der Duft von Kokosmakronen.

Aber diesmal wollte sich der Zauber nicht so recht einstellen. Agnes guckte mit Charlies Augen und sah den Staub auf dem Kaminsims und die von der Sonne ausgeblichenen Flecke auf dem Teppich. Das Bett war frisch bezogen, Gott sei Dank, aber es hätte sich wirklich jemand die Mühe machen sollen, ein paar frische Blumen … Nur: ohne Lift und in der ganzen Aufregung?

»Eigenes Badezimmer, Schreibtisch, Sitzecke«, erklärte sie überflüssigerweise. »Wie abgemacht.«

»Hmmm«, sagte Charlie und nahm ihren Federhut ab. Das Haar darunter war weiß und seidig wie Schwanendaunen. Und lang. Bis zum Po. Es hätte ein paar ordentliche Zöpfe abgegeben.

»Ein bisschen Farbe vielleicht …«, murmelte sie, warf ihren Hut Richtung Garderobenständer und traf. »Und natürlich Zimmerpflanzen. Das kriegen wir schon! Fabelhaft!«

»Es hat einen schönen Blick auf den Garten«, sagte Agnes defensiv und zog die Vorhänge auf. Staub tanzte im Sonnenlicht. Gemeinsam blickten sie hinunter auf ein Labyrinth aus Hornissenband und einige Polizisten, die in weißen Imkeranzügen darin herumturnten. Agnes erspähte eine geknickte Hortensie.

»Ah«, seufzte sie. »Normalerweise … ist es idyllisch.«

»Kommt das häufiger vor?«, fragte Charlie neben ihr. Ihre roten Fingernägel tippten prüfend auf das Fensterbrett.

»Ich hoffe nicht«, murmelte Agnes, aber tief im Inneren hatte sie das ungute Gefühl, dass sie schon bald mehr von dem Hornissenband sehen würden, im Garten, im Haus, überall. Und die Fliegen … Sie schauderte, wedelte mit den Händen und zog die Vorhänge entschlossen wieder zu. »Du willst dich sicher frisch machen«, sagte sie, nickte freundlich und machte sich auf in Richtung Nickerchen.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Charlie hatte sich aufs Bett fallen lassen, streckte alle viere von sich und zeigte dabei schockierend viel Knie.

»Ich hoffe, du fühlst dich wohl hier in Sunset Hall!«, sagte Agnes.

»Sunset Hall!«, wiederholte Charlie. Es klang spöttisch, aber auch freundlich. »Mehr Sunset als Hall, würde ich sagen. Genau wie ich!«

»Es ist, was es ist!«, erwiderte Agnes vielleicht etwas zu scharf. Im Grunde hatte Charlie recht!

»Um vier gibt es Tee!«, mahnte sie.

Natürlich dauerte es doch um einiges länger, bis sie sich alle im Sonnenzimmer um einen etwas malträtiert aussehenden Hefezopf versammelt hatten.

Die Polizei war schließlich abgezogen und hatte einen Haufen gelbes Hornissenband und gute Ratschläge zurückgelassen. Der Marschall wirkte nach seinem Gespräch mit den Polizisten blass und grau, ausgesaugt wie ein Cremehütchen. Bernadette hatte sich endlich ausgeheult und horchte mit beinahe forscher Miene in die Runde. Edwina zerstocherte ihren Hefezopf. Winston schenkte Tee aus. Charlie saß im roten Kimono unter ihnen wie ein Paradiesvogel und plauderte. Von ihren Sommern in Südfrankreich. Von ihrem dritten Ehemann, dem Hallodri. Von Krankenhäusern, die das Allerletzte waren. Wieso plapperte sie die ganze Zeit? Die Nerven, vermutete Agnes. Der Umzug nach Sunset Hall war für jeden Neuzugang ein gewaltiger Schritt.

Endlich schob Charlie sich doch ein Stückchen Hefezopf in den Mund, kaute und schluckte ohne Enthusiasmus, und Agnes ergriff ihre Chance. Jemand musste der Neuen schließlich die Hausregeln klarmachen

»Wir essen meistens alle zusammen«, sagte sie schnell. »Im Esszimmer normalerweise, es sei denn, der Treppenlift ist kaputt und Winston …« Sie merkte, dass sie Gefahr lief, sich zu verheddern, und versuchte es erneut. »Frühstück holt sich jeder selbst aus der Küche, je nachdem, wann er aufsteht. Nicht vorher. Natürlich nicht.« Frustriert starrte Agnes auf ihre Serviette. In ihrem Kopf waren die Gedanken säuberlich aufgereiht, einer nach dem anderen, wie Perlen auf einer Schnur, aber auf der Zunge schienen sie sich immer häufiger zu verdrehen. Das Außen und das Innen. Die beiden entfernten sich mehr und mehr voneinander. Sie schwieg verärgert.

»Oder sie«, sagte Charlie mit vollem Mund.

»Meistens sie«, gab Agnes zu. »Es gibt eine Liste mit kleineren Hausarbeiten, außerdem haben wir eine Zugehfrau.«

»Silvy«, sagte Winston anerkennend.

»Sie backt auch für uns«, warf Edwina ein und deutete auf den formlosen Hefezopf. »Ich backe auch!«

Der Marschall verdrehte die Augen.

Bernadette stöhnte.

»Mittwochs kommt ein Physiotherapeut …« Agnes versuchte, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. »Vor allem für Winston, aber jeder kann …«

»Ha!«, sagte Winston.

»Manchmal kocht sie …«, ergänzte Edwina.

»Am Freitag gibt es Fertigpizza«, sagte Bernadette. »Oder wir bestellen Fish & Chips aus dem Pub.«

»Wir besprechen, was wir einkaufen«, erklärte Agnes. »Und was wir kochen. Wir besprechen alles.«

Ein plötzliches Schweigen stülpte sich über den Tisch wie eine Käseglocke. Es gab in letzter Zeit eine Menge Dinge, die sie nicht ausreichend besprochen hatten.

Eine gehörige Menge.

Draußen ertönte eine Hupe, dann folgte ein tiefes, markerschütterndes Bellen.

»Ha!«, sagte Charlie. »Thomas und Brexit! Fabelhaft!«

Thomas erwies sich als junger, unverschämt gut aussehender Sonnenbrillenträger. Weißes Hemd, gesunde Bräune, zerrissene Jeans. Normalerweise hielt Agnes nicht viel von Jeans, geschweige denn zerrissenen Jeans, aber hier … Während sich der mobilere Teil ihrer Gruppe daranmachte, den Besucher persönlich in Augenschein zu nehmen, beobachtete Agnes vom Fenster aus, wie der Märchenprinz pflichtbewusst Koffer um Koffer neben der Haustür aufreihte, während drinnen in seinem Lieferwagen ein grauer Orkan tobte. Der Wagen bebte.

Dann war Charlie auf der Veranda, dicht gefolgt vom Marschall und Edwina.

»Darling!« Charlie breitete die Arme aus, und Thomas ließ von den Koffern ab, eilte auf sie zu und gab ihr ein Küsschen. Ein KÜSSCHEN. Eher schon einen ausgewachsenen Schmatz auf die Wange. Agnes klebte an der Scheibe.

»Ist einer von denen für mich?« Edwina hüpfte auf der Veranda herum wie ein kleines Kind.

Charlie deutete auf Edwina. »Edwina. Marschall.« Dann, mit ausladender Geste: »SUNSETHALL!«

Von ihrem Fenster aus sah Agnes den Marschall nicht, aber er musste irgendwo dort unten im Schatten der Haustür stehen. Sie konnte es sich gut vorstellen. Hände hinter dem Rücken. Skeptisch. Militärisch.

»Sehr schön!« Der Jungspund hob den ersten Koffer an. »Sieht doch ganz gut aus! Soll ich sie gleich auf dein Zimmer …«

»Würdest du, Darling?«

Die Blicke der beiden trafen sich einen Moment, und etwas bewegte sich in ihren lächelnden Gesichtern. Etwas wie Traurigkeit.

»Das ist es also?«, sagte Thomas leise. »Du bist dir sicher …?«

Charlie schien zu nicken, dann warf sie plötzlich die Hände in die Luft.

»Fabelhaft!«

Von ihrem Fenster aus beobachtete Agnes, wie Koffer um Koffer durch die Haustür wanderte, vermutlich die Treppe hinauf, vermutlich in Charlies Zimmer. Was in aller Welt hatte Charlie in diesen ganzen Koffern? Agnes konnte es sich lebhaft vorstellen: Federboas. Pelzmäntel. Spitzenblusen. Diamantbroschen. Parfumfläschchen. Nagellack.

Sie musste an Lillith denken, die auch eines Tages mit Koffern angekommen war, begleitet von ihrer miesepetrigen Tochter. Irgendwas musste mit ihren Sachen geschehen. Würden sie abgeholt werden? Jemand musste sich mit der Tochter in Verbindung setzen – oder machte so etwas die Polizei?

Eine plötzliche Stille holte sie zurück in die Gegenwart.

Der Kofferstrom war abgerissen, der Platz vor dem Haus leer.

Dann Stimmen auf der Treppe.

Im Flur.

Agnes hastete zurück zum Tisch. Sie wollte nicht beim Fenstergucken ertappt werden. Ihre Mutter hatte das nie gemocht, und vermutlich mochten die Leute es heutzutage auch nicht.

Spionieren. Niemand mochte einen Spion. Außer Edwina natürlich. Edwina war früher selbst so etwas wie ein Spion gewesen.

Als die Tür aufflog, warf sie sich in den nächstbesten Stuhl.

Charlie natürlich. Und der unermüdliche Jeansträger.

»Das Sonnenzimmer«, erklärte Charlie. Thomas hatte die Sonnenbrille abgenommen und nickte pflichtbewusst. »Mein Enkel Thomas. Das ist Agnes. Sie hat das alles hier organisiert. Tolles Projekt!« Wieder zeigte der Finger, und Agnes musste sich aus dem mühsam erkämpften Stuhl bemühen, um Thomas zu begrüßen. Organisiert? Ha! Da kannte Charlie sie schlecht!

Sie hatte es mit dem Begrüßen vermutlich etwas übertrieben, denn Thomas streifte ihre schüttelnde Hand behutsam ab.

»Ich mach mich dann mal vom Acker, Oma …«

Charlie nickte. »Natürlich, Darling. Tausend Dank. Und vergiss Brexit nicht!«

Thomas lachte. »Als ob!«

Acker? Was für ein Acker? Und Brexit? Wer konnte schon Brexit vergessen? Die beiden sprachen eine Sprache, die Agnes nicht wirklich verstand, und sie merkte, wie sie sie beneidete. In letzter Zeit kam es ihr so vor, als müsste sie um jedes bisschen Verstanden-Werden kämpfen, und hier schien alles einfach vor sich hinzuplätschern wie ein Bach. Doch dann war der hilfsbereite Enkel auch schon aus der Tür, »vom Acker«, wie Agnes vermutete, und Charlie sah ihm mit feucht glitzernden Augen nach.

Irgendwann hatte Agnes es doch in ihren Ohrensessel geschafft und die Augen geschlossen, aber die rechte Stimmung für ein Nickerchen wollte sich nicht einstellen. Draußen im Flur war wieder irgendwas los, sie hörte Stimmen, Schritte, Lachen. Edwina gab einen kleinen, entzückten Schrei von sich.

Agnes überlegte, ob sie nach dem Rechten sehen sollte. Sie war müde, zu müde für den Weg zur Tür, womöglich sogar zur Treppe. Lass die anderen kreischen! Sie war genau da, wo sie hingehörte. Sie würde einfach sitzen bleiben, bis … was es an diesem Abend wohl zu essen gab? Und wer war mit dem Kochen dran? Hoffentlich nicht Edwina! Lillith womöglich? Sie würden den Essensplan umschreiben müssen – von Lillith war kulinarisch nicht mehr viel zu erwarten …

Und dann saß Agnes auf einmal wieder hoch im Apfelbaum. Die kühle Nachtluft kitzelte Gänsehaut auf ihre nackten Arme. Sie spähte nach unten, wo die ersten Falläpfel wie bleiche Beulen aus dem schwarzen Rasen wuchsen.

Die Angst war überall, im Mondlicht, das sich in ihrem Nachthemd fing, viel zu weiß; in der rauen Rinde unter ihren Händen; im Wind, der die Blätter in Aufruhr versetzte; in ihrem Atem, zu schnell und zu laut; sogar im Lied der Nachtigall.

Leise, leise!

Keine Bewegung!

Kein Ton!

Denn dort unten, unter den Apfelbäumen, ging ein Monster um.

»Agnes, wir gehen zum Inder!«

Agnes riss die Augen auf, rang einen Moment lang mit einem Kissen und spähte in einem Anflug von Panik nach Indern, aber da war nur Edwina in ihrem blauen Ausgehmantel mit strahlenden Augen und geröteten Wangen.

Inder! Was für ein Unsinn!

»Kommt nicht in die Tüte!«, wollte sie sagen, aber stattdessen hauchte sie einfach: »Huh!«

Hinter Edwina war ein haariges Gesicht aufgetaucht, leuchtend weiße Zähne, eine feuchte, flexible Nase und überraschend seelenvolle Augen.

Agnes überlegte, wie schnell sie es wohl zur Badezimmertür schaffen würde – nicht schnell genug! Der Wolfshund fegte an Edwina vorbei – meine Güte, er reichte ihr bis zur Schulter! – und machte sich daran, den Teppichboden einer eingehenden Schnüffelinspektion zu unterziehen.

»Sie gibt uns einen aus!«, erklärte Edwina. »Wir nehmen ein Taxi!«

»Einen aus?«, murmelte Agnes. Die schnüffelnde Nase kam näher.

»Sie hat gesagt, wir sollten ihren Einstand feiern!«

»Feiern?«

»Ehrlich gesagt mag ich einfach keinen kalten Braten. Schon gar nicht an meinem ersten Abend. Seid ihr so weit?«

Charlie, wieder mit dem unmöglichen Federhut. Natürlich!

Etwas Feuchtes berührte Agnes’ Hand, und sie zuckte zusammen. Wo eben noch ihr Kissen gewesen war, lag nun ein riesiger grauer Hundekopf, schwarze Nase voran, Fell nach allen Seiten.

Agnes hörte sich lachen. Es klang leicht hysterisch.

Dann schnellte eine rosa Zunge zwischen scharfen Zähnen hervor und leckte ihre Hände. Es kitzelte. Es war eine ziemlich feuchte Angelegenheit. Agnes hörte mit dem Lachen auf und ertappte sich bei einem echten Lächeln. Es machte Spaß, geleckt zu werden. Es war irgendwie … lebendig.

Vorsichtig streckte sie die Hand aus, berührte das Fell. Seidig, auf eine borstige Art, und warm.

Weiter hinten am Hund wedelte es.

»Er mag dich!«, sagte Edwina neidisch. »Gehen wir jetzt?«

Agnes besann sich auf die jüngste Krise und ließ widerwillig von dem Hundekopf ab. Braune Augen blickten sie vorwurfsvoll an, dann war der Wolfshund wieder unterwegs, immer der Nase nach. »Wir können nicht einfach zum Inder gehen«, sagte Agnes. »Nicht an dem Tag, an dem sie Lillith abgeholt haben! Habt ihr das schon wieder vergessen? Wie sieht das denn aus?«

»Ich war noch nie beim Inder!« Edwina stampfte mit dem Fuß auf, und Agnes hätte sie gern darauf hingewiesen, dass sie früher einmal mit einem Inder verheiratet gewesen war – nicht immer besonders erfolgreich. Aber wozu?

»Ah! Hm. Das ist natürlich …« Wenigstens Charlie schien einzusehen, dass die Sache mit dem Inder keine so glückliche Idee gewesen war, und errötete unter ihrem Federhut. »Ich wollte nicht … Es ist nur, ich habe sie ja gar nicht gekannt … Wir warten lieber ein bisschen, was?«

»Und kalter Braten ist …« Agnes verstummte. Sie hatte Charlie darauf hinweisen wollen, dass kalter Braten zu ihren kulinarischen Höhepunkten gehörte, aber der Hund hatte sich ihr Kissen geschnappt und schüttelte es knurrend hin und her. Agnes hielt den Atem an.

»Brexit!« Charlies Stimme klang plötzlich scharf wie ein Peitschenhieb, und der Hund ließ sofort von dem Kissen ab, sprang mit einem gewaltigen Satz über den Sofatisch und pflanzte sich vor Charlie auf sein felliges Hinterteil.

»Das ist Brexit!«, erklärte Charlie stolz. »Er ist einfach noch ein bisschen verspielt!«

»Ah«, murmelte Agnes ratlos. Für sie war Brexit etwas, das Tag für Tag bis zum Abwinken im Radio stattfand. Haarig, sicher, aber nicht so haarig.

»Aber …« Sie zögerte. Wer hatte entschieden, dass Charlie so einfach ihren Riesenhund mitbringen konnte? Wie um alles in der Welt sollten sie alle mit ihm fertigwerden? Bernadette, die nicht sehen konnte? Winston im Rollstuhl? Der Marschall, der einfach mit einer Pistole in den Garten hinausmarschiert war und sich nun an nichts mehr erinnern konnte? Und Edwina, die nur Yoga und Blödsinn im Kopf hatte? Manchmal war es sogar eine Herausforderung, Hettie der Schildkröte den nötigen Respekt einzuflößen, und so ein großes Tier …

»Brexit!«, wiederholte Agnes missbilligend.

Der Hund hechelte sie freundlich an.

»Brexit kommt!«, erklärte Charlie im Brustton der Überzeugung. »Man muss mit der Zeit gehen! Am Ball bleiben und so … Brexit liebt Bälle!«

Und dann aßen sie natürlich doch indisch, allerdings nicht stilvoll beim Inder, sondern klammheimlich im Sonnenzimmer, aus Plastiknäpfen und Aluminiumschalen. Charlie hatte kurzerhand für sie alle etwas bestellt.

»Das ist nicht indisch!«, beschwerte Edwina sich zum hundertsten Mal und rollte mit der Gabel Kichererbsen über ihren Teller.

Agnes platzte der Kragen. »Ist es doch!«

Dann kam sie sich kindisch vor. Es war nicht Edwinas Schuld, dass sie nicht mehr alle Tassen … Warum ließ sie sich immer wieder provozieren? Sie hätte es besser wissen sollen!

»Vorzüglich!«, murmelte Winston zum hundertsten Mal, ergriff Charlies Hand und deutete einen Kuss an. »Was für eine wundervolle Köchin du bist!«

»Schmeichler!« Charlie zwickte Winston in die Wange, wie einen Schuljungen, und Agnes guckte mit gemischten Gefühlen hinunter auf ihr Curry.

»Was ist das für eine Geschichte mit dem Hund?«, raunte sie dem Marschall zu. »Wer hat ihr denn gesagt, dass das in Ordnung ist?«

»Na ja«, murmelte der Marschall, »wir haben Hettie, und ich dachte …«

»Hettie ist eine ziemlich kompakte Angelegenheit«, zischte Agnes. »Brexit hingegen …«

»Ich dachte, es ginge um einen Hamster«, gab der Marschall zu. »Sie hat gefragt, ob sie ihren goldigen kleinen Freund mitbringen kann …«

Er schaute so betreten drein, dass Agnes einen Moment lang versucht war, ihn ebenfalls in die Wange zu zwicken. Stattdessen schüttelte sie missbilligend den Kopf. Charlie war erst ein paar Stunden hier und hatte es schon geschafft, die Dinge in Unordnung zu bringen, nicht nur draußen auf dem Esstisch, wo sich eine unanständige Menge von Plastikmüll stapelte, sondern auch drinnen in ihrem Kopf. Sie seufzte tief.

»Es wird schon irgendwie gehen!«, sagte der Marschall beschwichtigend.

»Hm?«

»Na, mit Brexit!«

»Das sagen sie im Radio auch«, murmelte Agnes. »Ich persönlich glaube kein Wort davon!«

Plötzlich sprang Bernadette auf, schwankte ein bisschen und hob ihr Glas mit Mangolassi. Sie war zu stürmisch, und das Lassi schwappte über und tropfte auf den Tisch.

»Auf Lillith!«

»Auf Lillith!« Auch die anderen hoben das Glas. Mehr Lassi schwappte, und bei Agnes stellte sich wieder der hohe Ton ein.

Sie überlegte, ob wohl drüben in dem großen Haus jemand auf Mildred anstieß. Wahrscheinlich war es nicht.

Ausgerechnet Mildred! Das gab ihr zu denken. Versonnen schaufelte sie mehr Reis und scharfe Soße auf ihren Teller. War es tatsächlich ein gewöhnlicher Einbrecher gewesen, der ihrer Nachbarin den Garaus gemacht hatte? Streng genommen hätte er doch einfach an ihr vorbeimarschieren können, und Mildred, die nach ihrem Schlaganfall in einem Rollstuhl vor sich hinvegetierte, hätte nicht das Geringste dagegen unternehmen können. Wozu also die Gewalt? Und warum war der Täter nach dem Mord nicht richtig eingebrochen? Niemand hatte etwas von einem echten Einbruch gesagt!

Agnes nippte nachdenklich an ihrem Lassi und lauschte dem hohen Ton.

Sie musste zugeben, dass sie sich auf die Beerdigung freute.

Später am Abend, als das Plastikgeschirr den Abfalleimer füllte und Agnes vom Curry unangenehm aufstieß, holte der Marschall feierlich das schwarze Buch aus dem Tresor. Sie saßen schweigend, während Charlie ihren Namen eintrug und den Fragebogen ausfüllte. Anschließend unterschrieben sie einer nach dem anderen, zuerst Charlie, dann Winston mit einem eleganten Schnörkel, der Marschall mit zwei zackigen Buchstaben, Bernadette breit, beschwingt und ein wenig über die Seite hinaus. Edwina malte einen Schmetterling.

Agnes rang einen Moment lang mit dem Stift, aber dann bekam sie ihn doch in den Griff und unterzeichnete. Ihre Unterschrift kam ihr krakelig vor und fremd.

Charlie saß still und ein wenig blass am Tisch und fand ausnahmsweise einmal nicht alles fabelhaft. Bernadette trat auf sie zu – feierlich, aber auch ein wenig sinister mit ihrer Gangstersonnenbrille – und zog sie in eine schlecht gezielte Umarmung.

»Jetzt bist du eine von uns!«

Agnes und der Marschall blickten einander an. Der Marschall nickte fast unmerklich.

Nur Agnes sah, dass seine Hand zitterte, als er Lilliths Namen aus dem Register strich und das Buch zurück in den Tresor legte.

3 Bessere Kekse

Am nächsten Morgen sah alles schon viel rosiger aus. Agnes wurde vom Gesang einer Lerche geweckt und lag, noch in Schlaf gewickelt, einen Moment einfach nur da. Nichts. Kein Ton, keine Probleme, kein Hornissenband im Garten. Sie war einfach Agnes, und für den Augenblick reichte das. Dann streckte sie sich, und die Hüfte machte sich bemerkbar. Nicht einfach nur Agnes also. Die alte Agnes. Jeden Morgen war das ein kleiner Schock. Wie konnten achtundsiebzig Jahre einfach so an ihr vorübergesegelt sein? Oder waren es siebenundachtzig? Besser nicht darüber nachdenken!

Vorsichtig manövrierte sie sich mit Hilfe des Bettpfostens in eine vertikale Position. Kühle Morgenluft kitzelte ihre Unterarme. Das war gut. Sie konnten eine kurze Ruhepause von der ewigen Wärme gut gebrauchen. Wärme brachte Fliegen, und von Fliegen hatte Agnes fürs Erste genug.

Die Vorhänge bauschten sich ominös im Wind, und auf einmal war sie hellwach. Alte, halbvergessene Dinge stiegen vom Grund ihres Erinnerungsteichs auf, und sie konnte nicht einfach auf ihrer schmerzenden Hüfte sitzen und nichts tun. Das ging ganz und gar nicht! Sie gab sich einen Schubs. Nackte Füße berührten kühlen Dielenboden. Es fühlte sich genau so an, wie es sich zu Schulzeiten angefühlt hatte, oder später, als sie schon verlobt gewesen und zu den unmöglichsten Zeiten mit einem Kopf voller wirrer Gedanken aufgewacht war. Ermutigt vom vertrauten Dielenboden stand Agnes auf und tappte zum Fenster, um die wild wehenden Vorhänge unter Kontrolle zu bekommen. Dann zuckte sie zusammen: Unten im Garten stand ein dunkler Schatten und blickte zu ihr herauf: Brexit, das Maul voller Hornissenband!

Ha! Sollte ihr recht sein! Je früher das blöde Band aus ihrem Garten verschwunden war, desto besser. Sie winkte wohlwollend zu dem Hund hinunter.

Brexit wedelte.

Agnes öffnete den Kleiderschrank, um einfach irgendetwas … und zögerte. Sie hatte jahrelang immer einfach irgendetwas aus dem Schrank gezogen, egal, solange es nur sauber, klimatisch angebracht und einfach anzuziehen war. Röcke mit Elastikbund, schlabberige Pullis und Strickjacken – aber das schien ihr jetzt nicht mehr gut genug. Nicht mit Charlie, die in roten Kimonos durch das Haus stolzierte und Knie zeigte. Agnes’ Finger berührten eine Jacke aus feinem grünem Samt – zu warm natürlich –, dann ein zartes fliederfarbenes Kleid, das sie schon seit Ewigkeiten … doch nein, den Reißverschluss würde sie nie im Leben in den Griff bekommen. Außerdem hatten sie erst gestern Lillith und die abscheulichen Fliegen aus dem Schuppen abgeholt, da konnte Agnes schlecht in Pastelltönen aufkreuzen. Ihre Hand forschte weiter und fand schließlich einen respektablen schwarzen Rock mit Druckknöpfen und eine Bluse mit schwarzer Spitze. Sie kämpfte eine Weile mit den runden und seltsam unkooperativen Blusenknöpfen, dann hatte sie es geschafft. Im Badezimmer wusch sie sich Gesicht und Hände, kämmte sich das seltsam fedrig gewordene Haar und steckte es mit ein paar Klemmen in Form. Ihre Dritten hatten die Nacht in einem Desinfektionsbad verbracht und grinsten sie vom Waschbeckenrand ermutigend an. Agnes spülte sie sorgfältig ab und brachte sie in Position. Versuchte ein Lächeln. Seltsam, wie gut man mit fremden Zähnen lächeln konnte! Was noch? Parfüm? Hatte sie überhaupt noch …

Sie tappte hinüber zum Schreibtisch und hebelte mit einiger Mühe die oberste Schublade auf. Na also! Chanel No. 5! Aber bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass die Flasche leer war, vertrocknet, verflogen, verpufft, verduftet. Chanel hatte längst das Weite gesucht. Dafür entdeckte Agnes eine kleine goldene Lippenstifthülse. Mit diesem Fund ging es zurück ins Bad. Sie schraubte den roten Lippenstiftkegel nach oben und malte los. Ihr Herz klopfte. Sie konnte ihre schweren Zöpfe wieder fühlen und den missbilligenden Blick der Mutter, aber auch den Nervenkitzel, prickelnd wie Schaumwein. Als sie mit dem Malen fertig war, presste sie die Lippen zusammen. Dann tupfte sie sich einen Hauch Rot auf die Wangen und rieb mit der Hand nach.

Na also! Sie fühlte sich gut!

Auf dem Weg aus dem Zimmer wagte Agnes einen kurzen Blick in den Spiegel: eine schmale, welke Dame in Schwarz, ein bisschen wie Trockenfisch, aber auch fast elegant, mit schöner Bluse, komischer Frisur und überraschend roten, etwas unregelmäßigen Lippen. Ihre Augen guckten wach und sogar ein wenig forsch unter faltigen Lidern hervor – und es waren noch immer ihre Augen, die Augen des Mädchens mit den Zöpfen. Blau und forschend. Das war gut so. Diesmal würde sie es kaum bis auf einen Apfelbaum schaffen, da sollte es helfen, wenigstens einen wachen, kühlen Blick zu bewahren.

Agnes war mit sich zufrieden.

Sie schaffte es ohne Zwischenfall die Treppe hinunter und hinkte leise in die Küche. Normalerweise war sie die Erste am Frühstückstisch, und genau so mochte sie es. Ruhig. Ungestört. Sie setzte den Kessel auf, und dann blickte sie ohne großen Optimismus in den Kühlschrank. Es war schon ein paar Tage her, dass Sylvie eingekauft hatte, und alle interessanten Lebensmittel waren verschwunden. Früchte. Joghurt. Schinken.

Es würde ein langweiliges Frühstück werden. Agnes griff sich Butter und Marmelade, goss den Tee auf, steckte Brot in den Toaster – und sah sich auf einmal Aug in Aug mit Brexit.

Er war aus dem Garten zurück und sah hungrig aus.

»Oh!«

Wie groß er war!

»Geh weg!«, flüsterte Agnes.

Brexit hechelte hoffnungsvoll.

»Wir haben keinen Schinken mehr«, sagte Agnes wahrheitsgemäß.

Brexit ließ sich nicht entmutigen.

Agnes schnitt eine Scheibe Toast ab und warf sie ihm in den Rachen.

Schnapp. Weg.

Der Schwanz wedelte.

Sie begann, eine neue Scheibe abzuschneiden, doch dann besann sie sich eines Besseren. Im Radio warnten sie vor Lebensmittelnotständen durch Brexit, da konnte sie doch nicht alle ihre Vorräte an den Hund verfüttern. Also richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf – und die lag immerhin noch um die zwanzig Zentimeter über der des Wolfshundes – und dachte an das, was Charlie getan hatte.

»Brexit, Platz!«

Brexit warf ihr einen Blick zu, überrascht oder vorwurfsvoll, das konnte sie nicht sagen, und machte sich tatsächlich auf dem Küchenboden lang – eine ausgedehnte, fellige Berglandschaft zu ihren Füßen.

»Brav!«

Agnes warf ihm zur Belohnung noch eine zweite Scheibe Toast zu und überlegte, dass Brexit vielleicht wirklich ein guter Mitbewohner war – der Einzige im Haus, der tat, was man ihm sagte! Sie goss Milch in den Tee und butterte ihren Toast. Als sie sich zum Essen hinsetzen wollte, stand plötzlich Edwina in der Tür.

»Du bist bunt!«, sagte sie und klatschte die Hände zusammen. »Bunt und schwarz!«

Bunt war schamlos übertrieben. Schließlich war es nur ein bisschen Lippenstift. Agnes wollte sie mit Toast zum Schweigen bringen, aber Edwina war schon zurück im Flur.

»Agnes ist bunt und schwarz!«, rief sie. »Bunt und schwarz!«

Ihr ruhiges Frühstück konnte sie sich jetzt abschminken! Der Marschall kam im Morgenmantel durch die Tür gestürzt, sah sie am Tisch sitzen, hustete. Langsam, aber systematisch tastete sich Bernadette in die Küche, wie eine Schnecke mit unsichtbaren Fühlern. Charlie wehte im roten Kimono herein.

»Das ist alles?«, fragte sie gelassen. »Nur ein bisschen Lippenstift?«

»Lippenstift?«, wiederholte Bernadette missbilligend. Wie konnte sie etwas missbilligen, das sie gar nicht sah? Sollte sie sich doch an die eigene Nase fassen, sie mit ihrem dicken Hintern und den ewigen Cremehütchen!

Agnes spürte, wie sich zu dem gemalten Rouge echte Röte gesellte. Sie stand auf.

»Ich gehe aus!«, sagte sie mit Nachdruck. »Hinüber zu den Pucks! Jemand sollte ihnen unser Beileid aussprechen. Jemand, der ein bisschen präsentabel aussieht!« Es war ihr gerade erst eingefallen, aber auf einmal kam es ihr vor wie eine hervorragende Idee.

»Aber wir gehen nie zu den Pucks!«, rief Edwina aus. »Niemand geht zu den Pucks!«

»Es ist eine Ausnahme!« Mit leisem Bedauern verabschiedete Agnes sich von ihrem Frühstück und bewegte sich, verärgert und ermutigt zugleich, Richtung Haustür. Vielleicht konnte sie ein paar Dinge in Erfahrung bringen, etwas entdecken, das die Polizei übersehen hatte!

Sie holte ihren Gehstock aus dem Schirmständer. Normalerweise war ihr der Gehstock peinlich, aber jetzt fühlte er sich richtig an. Wie eine Waffe. Ein Schwert, ein Degen, ein Dolch! Agnes trat hinaus auf die Veranda und knallte die Haustür hinter sich zu.

Getrieben von Entschlossenheit und einer gehörigen Portion Wut schaffte sie es über die Veranda, den Pfad entlang, vorbei an ihren geliebten Hortensien und bis hin zum Gartentor. Dann merkte sie, wie schnell ihr Herz klopfte und wie rasch ihr Atem ging. Sie fühlte sich schwindelig. Ihr linker Fuß war unzufrieden, die Hüfte in Aufruhr. Agnes erlaubte sich eine kleine Rast und blickte zurück zum Haus.

Ihrem Haus.

Dem Haus ihres Lebens.

Sunset Hall.

Das Haus hatte sein Leben nicht als Sunset Hall begonnen. Als Agnes hier aufgewachsen war, hatte es sich noch optimistisch Morning Cottage genannt, doch vor ein paar Jahren, als ihre WG entstanden war, hatte irgendjemand aus dem Dorf das Namensschild mit roter Farbe übermalt. Sunset Hall. Irgendein Flegel. Es hatte eine Gemeinheit sein sollen, aber irgendwie hatte es Agnes und ihren Mitbewohnern gefallen. Man musste seinen Schwächen ins Auge sehen, sie zu Stärken machen. Sicher – sie waren vielleicht nicht mehr taufrisch, aber das hieß nicht, dass sie hier in diesem Haus nicht noch einen ansehnlichen Sonnenuntergang hinbekommen konnten!

Also hatten sie die rote Farbe nicht weggeschrubbt, sondern stattdessen den neuen Namen beim Amt angemeldet. Er passte gar nicht schlecht zum Haus, fand Agnes. Robust. Warm. Dramatisch. Sie mochte die Art, wie ihr Zuhause im Grün nistete, eine fette, zufriedene Ente von einem Haus, umgeben von Zypressen und Apfelbäumen, Birken und Holundersträuchern.

Wie hoch die Bäume inzwischen waren – und wie tief die Schatten unter ihnen! Ein stattlicher Blauregen schmiegte sich um die Fassade, und die Fenster reflektierten den Himmel.

Alle bis auf eines.

Eines der Fenster im ersten Stock schien dunkler als die anderen.

Dort stand jemand.

Jemand blickte ihr nach.

Agnes wirbelte herum – oder wollte wirbeln. Heraus kam eher ein Torkeln. Warum mussten sie ihr nachstarren, nur weil sie mal ein bisschen Lippenstift trug? Besonders freigeistig war das jedenfalls nicht!

Entschlossen kehrte sie dem Haus den Rücken und folgte ihrem Gehstock, über die Straße und dann querfeldein, hinein in den Park. War hier früher nicht ein Pfad gewesen? Niemand schien ihn noch zu benutzen. Natürlich nicht.

Sie mühte sich durch Gras und aufdringliche Sträucher, rutschte, fing sich dank des Gehstocks und merkte dabei zu ihrem Ärger, dass sie noch ihre Pantoffeln trug – altrosa mit einer roten Wollbommel. Nicht gerade Trauerkluft, und zum Querfeldeingehen taugten sie auch nicht!

Aber Agnes war schon zu weit gekommen, um aufzugeben. Sie beschloss, die Pantoffeln zu ignorieren, und mühte sich weiter, einen flachen Hang hinauf, dann unter Kiefern entlang. War sie als Kind wirklich in ein paar Minuten von Haus zu Haus gelaufen, mit fliegenden Zöpfen, oft fünf, sechs, sieben Mal am Tag?

Dieser Tage schien die Reise sich eine kleine Ewigkeit hinzuziehen, doch am Ende sah Agnes das große Haus zwischen Bäumen auftauchen. Keine Ente, eher ein majestätischer und ziemlich unzufriedener Schwan. Wieder fühlte sie ihr Herz klopfen, nicht nur von der Anstrengung, sondern auch vor Aufregung. Unbehagen? Angst? Vielleicht sogar Freude? Sie war sich nicht sicher.

Sie folgte einem gepflegten Kiesweg und schleppte sich schnaufend ein paar makellos weiß gefegte Treppenstufen hinauf. Die Tür war nicht mehr rot und fröhlich, wie sie früher gewesen war, sondern schwarz, aber es gab noch immer den Messinglöwen mit Ring im Maul, der ihr heute wie damals zuzuzwinkern schien.

Zögernd und freundlich berührte Agnes die Löwennase, ein Gruß an einen alten Freund, dann klopfte sie und horchte in das Haus hinein, ein Haus, in dem sie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gewesen war.

Noch mal klopfen.

Sie schluckte. Ihre Entschlossenheit hatte sich klammheimlich davongemacht. Sie wäre gern weggelaufen, aber so, wie die Dinge standen, hätte sie es wahrscheinlich nicht einmal die Marmorstufen hinab geschafft, bevor jemand öffnete.

Also pflanzte Agnes den Gehstock vor sich hin und wartete.

Der Geist von Mildred Puck öffnete die Tür.

Agnes war auf den Anblick vorbereitet gewesen, und trotzdem war es ein Schock: dasselbe Gesicht, müde und gefurcht, aber noch immer mit einem Hauch früherer Schönheit. Dasselbe Haar, kinnlang, rabenschwarz und glänzend. Nicht mehr echt natürlich, und dennoch … Dieselben dunklen Augen, wie tiefe, tiefe Brunnen. Doch das Gesicht hatte nichts von Mildreds Gehässigkeit. Es war sanft, fast verträumt.

Und erschrocken.

Ein Geistergesicht.

»Agnes!« Fast tonlos.

Mildreds Geist rang die Hände.

»Hallo, Isobel«, sagte Agnes leise. »Kann ich reinkommen?«

Isobel blickte hilflos hinter sich, in den Flur, wie um jemanden um Erlaubnis zu fragen.

»Ich …«