Mörderisches Barcelona - Sylvia Floquet - E-Book
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Sylvia Floquet

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Beschreibung

Mord auf Katalanisch – Kriminalkommissarin Dolors Canovas hat alle Hände voll zu tun. Für alle Fans von Spanien, dem Mittelmeer und den Romanen von Catalina Ferrera und Isabella Esteban  »Schuld sühnt man nicht, man trägt sie«  Barcelona, Ende Juni, eine heiße schwüle Nacht. Völlig übermüdet steigt die Kriminalkommissarin Dolors Canovas morgens um drei in Sants, dem Hauptbahnhof von Barcelona, hinab in den U-Bahn-Bereich und erreicht ihren neuen Tatort:  eine junge Frau, die vor eine U-Bahn gestoßen worden war. Die Tote ist Mitglied des renommierten Tanzensembles Agita Danza, sie sollte im neuen Stück auch dessen neue erste Solotänzerin werden. Wer wollte den Tod der jungen Tänzerin? Während Dolors den Täter durch das sommerliche Barcelona jagt, bekommt sie auch noch einen neuen Kollegen, der neben Dolors′ Familie für allerlei Unruhe sorgt. 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1. Kapitel

Sonntag – 3.15 Uhr

»Vor die Metro, mare meva, wie gestört muss man sein, um jemanden vor die Metro zu stoßen?« Kopfschüttelnd setzte Dolors den Blinker und bog kurz darauf von der Carrer d’Olzinelles in den Passeig de Sant Antoni ein. Wann immer sie zu einem Tatort musste, drückte ihr der Magen, auch nach vierzehn Dienstjahren noch, aber ein Körper, der von einer herandonnernden Metro zerfetzt worden war, gehörte zu den Leichen, auf die sie am wenigsten treffen wollte.

Inzwischen leuchteten ihr in der Dunkelheit schon die großen, weißen Leuchtbuchstaben des Bahnhofs von Sants entgegen. Vor dem Eingang stand ein halbes Dutzend Einsatzfahrzeuge, deren hektisch hin- und herspringende Blaulichter sich in den hohen Glaswänden des Bahnhofs spiegelten. Die nächtlichen – oder sollte sie lieber sagen frühmorgendlichen? – Straßen der Stadt waren so leer, dass sie zügig vorangekommen war, und das auch ohne einen Höllenlärm zu veranstalten.

Dolors parkte ihren Dienstwagen, einen dunkelblauen Seat Ibiza, direkt neben den Patrouillenfahrzeugen der Mossos d’Esquadra, schaltete ihr Blaulicht aus und schnappte sich ihren Lederrucksack vom Beifahrersitz. Als sie die Wagentür öffnete, prallte sie auf eine Mauer so heißer, schwüler Luft, dass es ihr den Atem verschlug. Sie blies sich gegen die Stirn und fragte sich, was das für ein Sommer werden sollte, wenn es schon Mitte Juni so heiß war. Dann stieg sie aus, schloss den Wagen und lief zu den uniformierten Kollegen ihrer Einheit, die den Eingangsbereich bereits weiträumig abgeriegelt hatten. Sergi, einer der Älteren, ein großer, kantiger Mann, den sie schon ewig kannte, begrüßte sie mit einem knappen Nicken. Er hob das Absperrband für sie hoch. »Du warst auch schon mal schneller am Tatort.«

»Seit Mittwoch wohne ich mit den Kindern bei Anna.« Dolors schlüpfte unter dem Band hindurch. »Von der Eixample aus ist das hier leider alles andere als um die Ecke.«

»Wieder Eheprobleme?«

Dolors zuckte mit den Schultern. »Habt ihr eine Spur vom Täter?«

»Bisher nicht, soweit ich weiß.«

»Wohin genau muss ich?«

»Zur L5, Fahrtrichtung Vall d’Hebron.« Er zeigte zum linken Teil des Bahnhofgebäudes, in dem der Zugang zum Metro-Bereich lag, und wischte sich anschließend mit dem Uniformärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich hoffe, die Verstärkung rückt bald an. Mit dem ganzen Gleissystem hat der Bahnhof mehr Ein- und Ausgänge als ein Schweizer Käse. Bisher haben wir die Türen hier und auf der Rückseite abgeriegelt und natürlich die Zu- und Abgänge zum Bahngleis der L5. Einige Kollegen sind schon im Tunnel und befragen die Leute, die auf dem Bahngleis waren. Unter den Reisenden war ein pensionierter Polizist. Der hat dafür gesorgt, dass niemand in die Nähe der Unglücksstelle ging.«

»Man muss ja auch mal Glück haben, prima, danke.« Dolors nickte. »Wie viele Züge fahren eigentlich noch um diese unchristliche Uhrzeit?«

»Das checkt gerade ein Kollege. Der AVE und die Regionalzüge auf jeden Fall nicht. Aber dem Täter standen trotzdem noch reichlich Fluchtwege offen, denn außer mit der Metro kann er durch einen der Hauptausgänge oder durch die Gleistunnel geflohen sein.«

»Oder er versteckt sich noch irgendwo im Bahnhof.« Dolors warf einen nachdenklichen Blick auf das Gebäude und klemmte sich eine Strähne ihrer störrischen Locken hinter die Ohren. Dann sah sie wieder zu dem Kollegen auf. »Gib mir bitte Bescheid, wenn du mehr über die Fahrpläne weißt.«

»Mach ich.«

»Ich hoffe, die Verstärkung kommt bald«, rief sie ihm im Weitergehen zu und drückte die Eingangstür auf. Im gleichen Moment schossen drei Wagen der Mossos heran; Dolors drehte sich noch einmal um, zeigte Sergi den erhobenen Daumen und eilte weiter.

In der Stille der Nacht hallten die Absätze ihrer Schuhe im nahezu menschenleeren Bahnhofsgebäude eigenartig hell von den Wänden wider. Sie ließ die Fahrkartenautomaten hinter sich und lief weiter an den Geschäften entlang. Alle Eisengitter und Rollläden waren heruntergelassen, aber einige Leuchtreklamen waren so hell und die Schaufenster überdies so grell beleuchtet, dass es ihr nach dem Dunkel draußen in den Augen stach. Kurz darauf erreichte sie den Zugang zu den Metro-Gleisen. Während sie die Treppe ins Untergeschoss hinunterlief, merkte sie, wie die Luft immer heißer und stickiger wurde. Sauerstoff, hier fehlt Sauerstoff, pochte es in ihrem Kopf; auf ihrer Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm. Kaum war sie in der darunterliegenden Etage angekommen, sah sie links die Fahrkartenautomaten und rechts die durch Schleusen abgesperrten Durchgänge zu den Bahnsteigen. Hinter den Schleusen versuchten zwei uniformierte Kollegen, eine Gruppe von rund zehn, sichtlich stark alkoholisierten Halbstarken zu beschwichtigen. Wütend verlangten die jungen Leute, dass man sie nach Hause gehen ließe. »Ich hab genug von der verdammten Scheiße hier«, brüllte ein kleiner drahtiger Kerl mit fünffarbigen Haaren. »Erst kommt man nicht rein und dann nicht mehr raus. Und wenn die scheiß Metro sowieso nicht mehr fährt, wollen wir wenigstens mit dem Taxi weiter!«

Der Kollege erklärte dem jungen Mann, dass sie zuerst als Zeugen befragt werden müssten und dass keiner von ihnen wegkönne, ehe nicht alle Daten aufgenommen seien.

Plötzlich stieß einer von ihnen, ein großer Kerl mit strähnigem Haar und Bierdose in der Hand, den vor ihm stehenden Polizisten zur Seite, sprang auf eine der Absperrungen der Fahrtenkartenschleuse und kletterte darüber. Er landete direkt vor Dolors Füßen. Sie packte ihn am Arm.

»Keinen Schritt weiter!«, zischte sie ihn an und hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase. Der Typ sah sie hochfahrend an, wagte aber nicht weiterzugehen. Dolors warf einen raschen Blick zu dem jungen Kollegen. Er hatte sich wieder aufgerappelt, sprang nun ebenfalls über die Absperrung und legte dem Mann Handschellen an.

Dolors schulterte ihren Rucksack. »Die Daten und die Biografie von dem Kerl rahmen wir uns ein!« – Dann schwang sie sich auf die andere Seite der Fahrkartenschleuse und eilte weiter zu dem Gleis der L5.

Auch auf dem Bahnsteig gab es gestrandete Reisende. Sie warteten darauf, dass man sie zu dem Vorfall befragte, ihre Daten aufnahm und endlich gehen ließ. Ein junger Mann saß auf einer der Steinbänke und starrte auf die gegenüberliegende Wand, der Mann direkt neben ihm tippte etwas in sein Handy. Nicht weit von ihnen standen zwei Frauen, von denen die eine pausenlos auf die andere einredete. Erst beim Näherkommen sah Dolors, dass die andere Frau weinte. Noch ein Stück weiter lehnte sich eine elegant gekleidete Frau an die Schulter eines Mannes und verbarg ihr Gesicht in dessen Halsbeuge. Das Beben ihrer Schultern verriet, dass auch sie weinte.

Längs des ganzen Bahnsteigs sah Dolors das Absperrband, das den Zugang zum Gleisbereich und zum hinteren Tunnel abriegelte. Der Zug war zu einem Viertel eingefahren, die Tür zum Führerhaus stand offen. Eine Kollegin der Spurensicherung stieg gerade in ihren Schutzanzug, Eric war schon umgezogen und tütete einen kleinen, eckigen Gegenstand ein, den Dolors für ein Feuerzeug hielt. Pep, mit noch grimmigerem Gesicht als üblich, hob die Hand zur Begrüßung, sprang dann auf die Gleise und war kurz darauf vor dem Zug verschwunden. Beim Gedanken daran, was er dort vorfinden würde, bekam Dolors einen sauren Geschmack in den Mund. Sie wagte nicht, darüber nachzudenken, wo sie überall Körperteile finden würden und in welchem Zustand. Bei ihrer letzten Bahnleiche hatten große Teile der Toten unter dem Zug geklebt – von den Rädern zerschnitten, zermatscht und wieder hochgeschleudert …

»Dolors?«

Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Ah, Mariano.« Sie nickte ihm zu. Mariano war der dienstälteste Inspektor der uniformierten Brigade. Sie ging auf ihn zu. »Briefst du mich kurz?«

Mariano nickte. Während er Dolors unter dem Band durchgehen ließ, erklärte er ihr, dass sie gerade herausgefunden hatten, wer die Tote war. »Sie heißt Julia Toset Buxeda und ist gestern dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Wir haben auf den Gleisen eine Tasche mit ihren Papieren gefunden und, nun ja, den Kopf haben wir auch schon entdeckt. Trotz allem lässt sich noch eine starke Ähnlichkeit mit dem Passfoto erkennen.«

»Julia Toset Buxeda, Julia Toset Buxeda …« Dolors hatte das Gefühl, dass bei dem Namen etwas bei ihr klingeln sollte.

»Die Balletttänzerin.« Mariano warf ihr einen langen Blick zu, aus dem sie schloss, dass auch er erwartet hatte, dass sie mit dem Namen etwas anfangen konnte. »Vor drei Tagen hast du mir einen Artikel über sie in der Vanguardia gezeigt.«

Dolors tippte sich an die Stirn. »Ach ja, genau. Weil mir die Ballettlehrerin meiner Tochter von ihr erzählt hatte. Die neue erste Solotänzerin von Agita Danza …«

»Agita Danza?«, erklang es im gleichen Moment wie ein Echo wenige Schritte neben ihr.

Dolors drehte sich um und sah einen großen Mann, der mit federndem Schritt auf sie zukam. Sie krauste die Stirn. »Mal wieder einer, der nicht kapiert, wozu das Absperrband dient.«

»He, Chefin.« Mariano klopfte an ihren Arm. »Das ist der Neue!«

Dolors lag schon ihr übliches »Du sollst doch nicht Chefin zu mir sagen« auf den Lippen, da sie nur bis zu Manels Rückkehr die Leiterin ihrer Abteilung in der Comissaria Mossos D’Esquadra der Ciutat Vella war. Doch dann ging ihr auf, was Mariano eben noch gesagt hatte.

»Der Neue?«

»Wenn Sie so wollen, dann auch der Neue!« Grinsend streckte der Mann ihr seine Hand entgegen. »An und für sich heiße ich Xavi Martinez. Ich soll bis auf Weiteres Ihren Kollegen Manel Oriol ersetzen.«

»Aha«, machte Dolors und betrachtete den Mann. Jetzt, da er direkt vor ihr stand, empfand sie ihn als noch größer: Er überragte sie um mindestens einen Kopf. Mit einem Blick erfasste sie sein Äußeres: sportlich, dunkles, gewelltes Haar, Grübchen in den Wangen, ziemlich gut aussehend. Aus dem selbstsicheren Grinsen, mit dem der Neue ihr die Hand entgegenstreckte, schloss sie, dass auch er sich darüber im Klaren war, wie gut er aussah, und dass er es gewöhnt war, diese Tatsache auszunutzen. Dass er meinte, Manel ersetzen zu können, machte ihn ihr nicht sympathischer. Manel war mehr als nur ihr Vorgesetzter, er war zugleich ihr bester Freund, und niemand konnte ihn ersetzen. Leider konnte es noch Wochen dauern, bis er sich von seinem Herzinfarkt erholt haben würde. Wenn er überhaupt je wieder … Sie verbot es sich weiterzudenken. Im gleichen Moment registrierte sie, dass der Mann ihr noch immer seine Hand hinhielt. Notgedrungen wollte Dolors sie ergreifen, doch im gleichen Moment ließ er sie sinken. Sie zuckte mit den Achseln.

»Am Freitag habe ich den ganzen Tag im Präsidium auf Sie gewartet«, erklärte er ihr, »und sowohl Laura, die wohl Ihre rechte Hand ist, als auch ich haben Ihnen mehrere Nachrichten auf Ihrem Handy hinterlassen …«

Als er es sagte, erinnerte sie sich daran. Ja, sie hatte einige Nachrichten abgehört, dann aber vergessen zurückzurufen. Ihr Verhalten war ihr unangenehm. Trotzdem brachte sie keine Entschuldigung über die Lippen. Es war zu heiß, zu früh, zu alles.

»Agita Danza«, wiederholte er. »Wäre nett, wenn Sie mich aufklären würden.«

»Agita Danza ist das bekannteste Tanzensemble von Barcelona, sie räumen derzeit alle Preise ab«, erklärte sie. »Die Tote war seit einigen Tagen deren neue erste Solotänzerin, was einen ziemlichen Wirbel verursacht hat, zumal die Presse gleichzeitig ihre Herkunft ausgeschlachtet hat: vom Aschenputtel zum Dancingstar. Die Leser lieben solche Storys ja. Sie kam aus recht einfachen Verhältnissen und hatte sich den Ballettunterricht hart erkämpfen und zum großen Teil sogar selbst bezahlen müssen. Die Ballettlehrerin meiner Tochter hat mir einiges über sie erzählt.«

»Wenn sie das hier überlebt hätte, wäre sie allerdings die längste Zeit Balletttänzerin gewesen.«

»Davon gehe ich auch aus, ja.« Dolors wandte sich wieder Mariano zu. »Ist sonst noch etwas zur Person bekannt?«

Mariano verneinte.

»Was wissen wir über den Täter?«

»Nur dass er flüchtig ist.« Mariano hob die Schultern. »Fahrgäste gab es in dem Zug keine, weil es eine Leerfahrt war. Aber selbst wenn, hätten sie ohnehin nichts sehen können.«

»Und wer sind diese Halbstarken, die noch von den Kollegen oben festgehalten werden, und die Leute hier?«

»Die waren alle auf dem Bahnsteig, als die Securityleute nach dem Vorfall hergerannt sind. Der Zugführer hatte den Notruf ausgelöst.«

Dolors hob die Augenbrauen. »Und wo ist er jetzt?«

»Den kannst du erst später befragen; er steht unter Schock, ist dann kollabiert und jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»In welches?«

»Ins Hospital de Barcelona in der Diagonal 660«, warf der neue Kollege ein.

Dolors sah ihn an, die schnippische Bemerkung auf der Zunge, dass sie Barcelonenca genug sei, um zu wissen, wo das Hospital de Barcelona lag. Doch sie hielt sich zurück, immerhin gab er sich Mühe und machte seinen Job – was weit mehr war, als man über die beiden vorherigen Aushilfen sagen konnte. Sie atmete tief durch, gab sich einen Ruck und streckte ihm die Hand hin. »Entschuldigen Sie meine wenig nette Begrüßung. Aber Manel ist … na ja, und drei Uhr morgens ist nicht wirklich meine Uhrzeit. Allerdings wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie nicht sagen würden, dass Sie Manel ersetzen.«

»Ich wollte Ihnen nicht …«

»Schon gut.«

Er ergriff ihre Hand. »Na dann – Xavi Martinez.«

»Dolors Canovas.«

Sein Händedruck war, gemessen an der Hitze, die hier unten herrschte, erstaunlich trocken und angenehm fest. Sie wies mit dem Kinn auf die gestrandeten Reisenden des Bahnsteigs. »Hatten Sie schon Zeit, die Zeugen zu befragen?«

»Ich habe damit angefangen, ja, aber offenbar sind die Leute erst nach unten gekommen, als schon alles passiert war. Aber noch hoffe ich, dass einer von ihnen jemanden zur Tatzeit hat weglaufen sehen …«

»Heißt das, dass unser Opfer, abgesehen vom Täter, wahrscheinlich ganz allein auf dem Bahnsteig war?«

»So sieht es bisher aus, ja.«

»Und woher wissen wir, dass sich die Frau nicht einfach selbst vor den Zug geworfen hat?«

»Die Information haben wir vom Zugführer, ein Mann namens Antonio Perez. Bis zur Ankunft des Rettungsdienstes ist einer der Kollegen der Brigade bei ihm geblieben, um ihn zu beruhigen. Der Mann war völlig aufgelöst. Er hat immer wieder gestammelt, dass die Frau gestoßen worden sei.«

Dolors sah erstaunt zu ihm auf. »Wie lange sind Sie denn schon hier, um all das zu wissen?«

Verlegenen rieb sich Xavi die Stirn. »Als ich nach Barcelona versetzt wurde, habe ich mir ein Zimmer übers Internet gemietet. Das hatte sich alles sehr sympathisch angehört, aber leider sind meine Mitbewohner in Wahrheit eine ziemliche Katastrophe: Ab Mitternacht liegen sie stockbesoffen auf dem Sofa und grölen Lieder. Gestern hat es mir gereicht, und ich bin in ein Hotel gezogen, tja, und das liegt zufällig hier genau um die Ecke.«

»Ah, gut. Nun, dann können Sie gern mit Ihrer Befragung weitermachen. Ich schaue derweil, ob Pep mich schon in den Tunnel lässt«, sagte Dolors und versuchte sich zu wappnen, wogegen sie sich nicht wappnen konnte.

Dolors hatte sich gerade von Peps neuer Praktikantin Füßlinge und einen der Anzüge von der Spurensicherung geben lassen, als sie bemerkte, dass Pep schon wieder zurückkam, sodass sie die Kleidung erst einmal wieder beiseitelegte. Sie ging zum Gleisbereich und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm zu hochzuhelfen, was er jedoch mit einer unwirschen Handbewegung abtat. »Mach mich nicht älter, als ich eh schon bin.«

Dolors trat einen Schritt zurück.

»Schöner Mist«, schimpfte er, kaum dass er neben ihr stand. »Die Leichenteile sind noch weiter verstreut, als wir befürchtet haben. Manchmal werden die Körper einfach nur zur Seite geschleudert, aber die hier hat es ordentlich zerfetzt. Ich brauche mehr Licht da unten. So bringt das alles nichts.«

»Soll ich den Gerichtsmediziner lieber erst später einbestellen?«

Er bejahte. »Der würde mir momentan nur im Weg stehen. Erst mal müssen wir alles dokumentieren. Wir haben auch schon mit dem Fotografieren angefangen. Wenn du den in einer Stunde aus dem Bett holst, reicht das immer noch.«

»Alles klar, dann bitte ich nur den Staatsanwalt her. Soweit ich weiß, hat Biel heute Bereitschaft.«

Pep schob seine Brille zur Nasenspitze und warf ihr einen prüfenden Blick aus seinen mausgrauen Augen zu. »Hast du so wenig zu tun, dass du die Bereitschaftslisten auswendig lernst?«

»Ach was, purer Zufall.« Sie lachte auf und strich sich über den Arm. »Ich habe Biel gestern am Kaffeeautomaten getroffen, da hat er es mir erzählt.« Dieses Treffen war allerdings kein Zufall gewesen. Sie hatte ihn abgepasst, weil sie von ihm die Telefonnummer seiner Schwester haben wollte, die Immobilienmaklerin war. Leider hatte ihr sein Vitamin B nicht geholfen: Es gab in Barcelona einfach keine bezahlbaren Wohnungen. »Hast du sonst noch etwas für mich?«

Er schüttelte den Kopf, woraufhin Dolors gehen wollte. Doch als sie den ersten Schritt machte, packte er sie am Arm und zeigte mit dem Kinn auf den Neuen, der unweit von ihnen mit der Befragung der Zeugen fortfuhr. »Scheint diesmal ein Netter zu sein. Auf jeden Fall ist er sehr viel mehr auf Zack als seine beiden Vorgänger.«

»Warten wir es ab. Im Moment interessieren mich die Überwachungsvideos weit mehr als der Neue.« Sie sah sich um und suchte die Kameras, fand sie auch auf Anhieb. »Weißt du zufällig, wo die Aufnahmen sind? Ich habe gehört, dass die Sicherheitsfirma schon wieder mit ihrem Büro umgezogen ist.«

»Frag mal Núria.«

»Die neue Praktikantin?«

Pep nickte. »Aufgewecktes Mädel.« Er zeigte auf eine junge Frau, die damit beschäftigt war, einen Rucksack aus einer der Mülltonnen zu ziehen und einzutüten. »Sie hat auf der Herfahrt erwähnt, dass ihr Ex-Freund bis vor Kurzem beim Sicherheitsdienst des Bahnhofs gejobbt hat.«

Núria konnte Dolors tatsächlich weiterhelfen. Sie kannte die neue Adresse, und zu Dolors’ Erleichterung war das Sicherheitszentrum nicht, wie sie es schon oft erlebt hatte, auf der Suche nach einer günstigeren Miete an den Stadtrand gezogen, sondern nur wenige Straßen weiter.

»Soweit ich mitbekommen habe, hat der Sargento schon einen seiner Männer hingeschickt, um die Daten zu sichern«, meinte Núria.

Dolors nickte zufrieden, hatte aber trotzdem nicht vor, sich allein auf dessen Recherche zu verlassen. Zuerst wollte sie auf direktem Weg dorthin gehen, dann besann sie sich und suchte den Neuen, um ihm zumindest Bescheid zu geben, wo er sie finden konnte, falls er sie brauchte. Ein bisschen mehr Freundlichkeit und Kollegialität konnte nach ihrem bisherigen Auftreten nicht schaden. Sie entdeckte ihn bei den jungen Männern, die eben auf der Bank gesessen hatten, und winkte ihn zu sich. Er machte den beiden Zeichen, dass sie gehen konnten, und wandte sich dann Dolors zu.

»Und?«, fragte sie. »Waren noch hilfreiche Aussagen dabei?«

Er verneinte. »Sie sind leider ebenfalls erst gekommen, als alles schon vorbei war, und haben auch niemanden weglaufen sehen. Eine der jungen Frauen da drüben hat zwar ebenfalls nichts von dem Vorfall selbst gesehen, meinte aber, als sie runtergekommen ist, sei eine dunkel gekleidete Gestalt im Tunnelbereich verschwunden. Die andere beharrt darauf, dass da niemand war, sondern auf der anderen Seite jemand über die Treppe weggelaufen sei. Mehr als die Hosenbeine habe sie nicht mehr sehen können, und die seien hell gewesen.«

»Nun denn«, brummte Dolors. »Ich wollte mich ohnehin gerade auf den Weg zum Übertragungsraum der Sicherheitsfirma machen. Danach sollten wir wissen, wer wann wo war und wohin er oder sie gelaufen ist. Immerhin haben beide jemanden gesehen, was die Aussage des Zugführers bestätigen könnte, dass die Frau nicht freiwillig vor den Zug gesprungen ist.«

»Soll ich mitkommen? Alle wichtigen Daten habe ich schon aufgenommen. Die Kollegen wissen ja, dass die Leute erst weggehen können, wenn wir das Video gecheckt haben.«

Dolors wollte ihn zuerst abwimmeln, nickte dann aber doch. Bei der Auswertung der Videobilder konnte ein weiterer Beobachter nur von Vorteil sein.

»Wieso wurde der Alarm eigentlich nur vom Zugführer ausgelöst und nicht von der Sicherheitsfirma, die hier die ganze Videoüberwachung macht?«, fragte Xavi, kaum dass sie losgegangen waren. »Die müssen das Ganze doch auf ihren Monitoren gesehen haben …«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, erwiderte Dolors und warf ihm einen zustimmenden Blick zu. »Und damit haben wir schon die Frage, die wir ihnen stellen müssen.«

2. Kapitel

Sonntag – 4.05 Uhr

Beim Verlassen des Bahnhofs fragte Dolors Sergi nach den nächtlichen Fahrplänen, die dieser aber noch nicht alle zusammengestellt hatte. Anschließend ging sie mit Xavi über den Bahnhofsplatz. Dort hatte sie das Gefühl, von Schritt zu Schritt stärker in einen Kokon aus Stille einzutauchen. Kein einziger Wagen fuhr an ihnen vorbei, selbst von den Obdachlosen, die bis in den späten Abend vor dem Bahnhofsbereich anzutreffen waren, war nichts zu sehen. Als sie die Plaça dels Països Catalans überquert hatten und in die Carrer d’Enric Bargés eingebogen waren, spürte Dolors, dass in der nächtlichen Stille das Schweigen zwischen ihnen gewichtig zu werden drohte. Sie wollte Xavi gerade erklären, dass sie gleich am Ziel waren, da räusperte er sich und meinte: »Dieser Manel, also Ihr Vorgesetzter … Warum haben Sie eigentlich gemeint, dass ich nie mehr sagen soll, dass ich ihn ersetze? Ich meine, ich habe schon kapiert, dass ich Ihnen damit auf die Füße getreten bin, aber warum?«

Dolors blieb stehen und sah zu ihm hoch. Ihr war bewusst, dass sie überreagiert hatte. Er konnte nicht wissen, dass sie, abgesehen von ihren Kindern, an keinem anderen Menschen so sehr hing wie an Manel, und welche Angst sie hatte, ihn zu verlieren – aber sie wusste nicht, worauf er mit seiner Frage abzielte: Hatte er tatsächlich nicht verstanden, dass es ihr um das Wort ersetzen gegangen war? Oder war er nur schlicht neugierig und wollte herausfinden, welche Beziehung zwischen ihr und Manel bestand?

»Jetzt schauen Sie schon wieder so«, meinte Xavi. Er lachte auf und fuhr sich dabei mit allen zehn Fingern durchs Haar.

»Schauen? Wie schaue ich denn?« Plötzlich schlug Dolors’ Herz bis zum Hals.

»Verletzt«, sagte Xavi schlicht. »Sie sehen verletzt aus.« Er lachte erneut auf. »Oh Mann, ich werde nie lernen, im rechten Moment den Mund zu halten – und auch nicht, warum Frauen immer jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen.«

»Was hat denn sprachliche Korrektheit damit zu tun, dass ich eine Frau bin? Die kann man ja wohl auch von Männern erwarten.«

»Ja, so war das nicht gemeint, also, vergessen Sie das einfach, die Frage, meine Kommentare, alles!« Er hob die Hände und zauberte ein entschuldigendes Lächeln ins Gesicht, das sie jedoch nicht besänftigte.

»Mich hat das Wort ›ersetzen‹ gestört. Weder Sie noch sonst jemand kann Manel ersetzen. Kein Mensch kann durch einen anderen ersetzt werden. Genau aus diesem Grund bin ich bei der Mordkommission.« Und dann ging sie weiter – und ärgerte sich noch mehr. Diesmal über sich selbst. Was ging ihn an, warum sie bei der Mordkommission war? Niemanden ging das etwas an, niemanden. Zum Donner, sie musste lernen, das alles irgendwann einmal zu vergessen. Zwanzig Jahre waren lang genug, oder nicht?

Zwei Straßenzüge weiter erreichten sie das sechsstöckige Gebäude, in dem das Büro der Sicherheitsfirma untergebracht war. Als Dolors sich nach Xavi umdrehte, sah sie, dass er recht weit zurückgefallen war und seinen Schritt auch jetzt, da sie stehengeblieben war, nicht beschleunigte. Sie wandte sich zum Haus, suchte den Namen der Sicherheitsfirma und drückte auf den Klingelknopf. Während sie wartete, hörte sie plötzlich ein jämmerliches Maunzen. Sie schaute sich um und sah, dass unter dem grünen Müllcontainer am Straßenrand eine kaum drei Monate alte, erbärmlich magere Katze hockte. Trotzig maunzte sie sie weiter an und lockte damit drei weitere Katzenjunge hervor.

»Wenn Sie im Hotel wohnen, haben Sie sicher keine Verwendung für die da«, meinte sie zu Xavi, der allmählich bei ihr ankam.

Er folgte ihrem Blick, ging zur Mülltonne und zog den Deckel so weit auf, bis er einrastete. »Senyores i Senyors – der Tisch ist gedeckt!«

Sofort sprang die erste Katze auf die Motorhaube des davor geparkten Wagens und von da in die Tonne. Dolors verdrehte die Augen und wollte noch einmal die Klingel betätigen, aber im gleichen Moment ertönte ein Summton – und sie musste die Tür aufdrücken. Noch ehe sie dazu kam einzutreten, hörte sie Xavi sagen: »Ich gebe gern zu, dass ich im zwischenmenschlichen Umgang bisweilen ungeschickt bin und meine Lösungen nicht immer allen gefallen«, er wies mit dem Kinn zu den Katzen, die sich eifrig über die Mülltüten hermachten, »aber mir liegt wirklich an einer guten Zusammenarbeit – und nur so war mein ersetzen gemeint: Manchmal tritt an die Stelle von etwas Liebgewonnenem etwas Neues – in dem Fall ich. Der Neue.« Er zwinkerte ihr zu. »Können wir das so stehenlassen?«

Dolors nickte.

Im ersten Stock wartete ein junger Mann, der sie fragte, ob sie zur Polizei gehörten. Als Dolors dies bejahte und ihren Dienstausweis zeigte, strahlte er, als kämen sie im Auftrag von Pablo Motos, dem bekannten Moderator von El Hormiguero, um ihn einzuladen, der Shootingstar seiner nächsten Talkshow zu werden. Offensichtlich sah er schon vor sich, wie er dort Motos, seinen drei Ameisen-Marionetten und natürlich den Fernsehzuschauern in allen Einzelheiten von seinem großen Mordfall berichtete. Damit er nicht auf die Idee kam, ihnen Fragen zu stellen, setzte Dolors einen grimmigen Blick auf und sah, dass sich auch Xavis Miene verschloss – was sie beruhigte und ein Stück mehr mit ihm versöhnte. Tatsächlich erreichten sie mit ihrer zweifachen Misslaunigkeit ihr Ziel: Als der Mann ihnen nach der dritten Abzweigung in den weitläufigen Fluren bedeutete, dass sie angekommen waren, und eine Tür öffnete, hatte er keine einzige Frage gestellt.

»Oriol, die Inspektoren sind da!«, rief er in den Raum.

Sofort drehten sich der als Oriol angesprochene Mitarbeiter der Sicherheitsfirma und Dolors’ uniformierter Kollege zu ihnen um. Dolors kannte ihn, aber sein Name wollte ihr nicht einfallen, sodass sie es unterließ, Xavi und ihn einander vorzustellen. Ihr Kollege empfing sie mit düsterer Miene. »Es ist unfassbar: Ausgerechnet die Aufnahmen der Tatzeit fehlen.«

»Wie – die fehlen?« Dolors furchte die Stirn.

Der Kollege bat den Angestellten der Sicherheitsfirma, einen ältlichen, sichtlich gestressten Mann mit schweißglänzender Glatze, ihm noch einmal den Filmausschnitt zu zeigen, der den Bahnsteig zur vermeintlichen Tatzeit zeigte. Während der Mann die betreffende Stelle suchte, traten Dolors und Xavi näher an das gut zwei Meter breite Arbeitspult des Mannes heran. Mit seinen zahlreichen Bedienfeldern, Tasten, Reglern und kleinen Displays erinnerte es an den Aufnahmeraum eines Fernsehstudios. Über dem Pult befanden sich mehr als ein Dutzend Monitore, die in drei Reihen übereinander angeordnet waren. Die oberen und mittleren Monitore zeigten im Minutentakt wechselnde Darstellungen von verschiedenen Bereichen des Bahnhofs. Auf den unteren waren vor allem Grafiken, Schaubilder und Tabellen zu sehen. Plötzlich sprang auf einem der unteren Monitore das Bild um, der Bahnsteig der L5 erschien. Dolors sah Eric und Núria im Bild. Er bedeutete ihr, mit ihm in den Tunnel zu gehen. Dolors verfolgte, wie sie losliefen; auch an der darunter erscheinenden Uhrzeit erkannte sie, dass dies eine aktuelle Aufnahme war. Kurz darauf änderte sich nach kurzem Flackern das Bild wieder: Wo eben noch ein einziger Gleisbereich zu sehen war, tauchten vier verschiedene Aufzeichnungen gleichzeitig auf.

»Vielleicht sehen wir ja in der 4-Quadrantendarstellung mehr von dem Vorfall«, murmelte der Sicherheitsbeamte. »Irgendwo müssen die Frau und der verdammte Zug ja zu sehen sein. Das gibt es doch nicht!«

Dolors versuchte, die verschiedenen Überwachungsbereiche zuzuordnen. »Ich nehme an, das hier sind die Schleusen, durch die man muss, wenn man zur L5 runtergeht, stimmt’s? Und die beiden anderen Felder zeigen den Gleisbereich der L5. Und das alles vor der Tatzeit?«

Der ältliche Mann nickte. »Auf dem vierten sehen wir den anderen Zugang.«

Dolors zeigte auf einen olivfarbenen Rucksack, der aus einem Mülleimer herausschaute. »Ich will wissen, wer das Ding in welchem Zusammenhang weggeworfen hat«, raunte sie Xavi zu. »Und was drin ist.«

Xavi nickte, ohne den Blick von den Monitoren zu wenden. »Und das, was wir jetzt sehen, haben die Kameras wann genau aufgenommen?«

Der Mann zeigte auf die weiße Zahlenreihe am unteren Bildrand. »Das hier war um zwei Uhr zwölf Minuten und acht Sekunden, neun Sekunden, zehn Sekunden –«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach Dolors sein Gemurmel. Die ganze Zeit über war der immer gleiche Ausschnitt zu sehen, und die Zahlen konnte sie selbst ablesen. Als drei Minuten verstrichen waren, murrte sie: »Sind Sie sicher, dass dies hier eine reale Aufnahme ist? Das wirkt eher wie ein Standbild.«

»Natürlich sind das richtige Aufnahmen, die Kamera läuft doch. Das sieht man nicht nur an der Uhrzeit, die ständig weiterläuft.« Er schaltete von der 4-Quadranten-Darstellung zurück auf das Vollbild. Unter der Datums- und Uhrzeitenfolge waren nun noch andere Zahlen zu sehen. »Jedes Video hat zusätzlich zur Uhrzeit noch einen Timecode, das sind die Zahlen hinter der Sekundendarstellung, die ständig weiterlaufen. Pro Sekunde zählt der Computer fünfundzwanzig Bilder oder fünfzig Halbbilder. Sie sehen ja, wie das weiterläuft.«

»Aber da tut sich doch nichts«, mischte sich nun wieder Xavi ein. »Selbst wenn man davon ausgeht, dass um diese Uhrzeit kaum noch jemand unterwegs ist – zumindest Senyora Toset und der Täter müssen ja unten gewesen sein. Um exakt diese Uhrzeit«, er tippte auf die Zeitanzeige des Monitors, »ist die Metro eingefahren, die Senyora Toset erfasst und getötet hat. Aber davon ist nichts zu sehen.«

»Deswegen wollte ich Sie gerade anrufen«, unterbrach der uniformierte Kollege, von dem Dolors auf einmal wieder der Name einfiel: Mirco hieß er, Mirco Pujol. »Wenn man weiterschaut, sieht man ständig nur dieses Bild, dann flackert es kurz, und plötzlich laufen zwei junge Männer zum rechten Gleisbereich, wie aus der Luft gefallen tauchen die da auf – und dann füllt sich der Bahnsteig, bis man zu den Aufzeichnungen kommt, auf denen wir selbst zu sehen sind.«

»Das Flackern kann schon mal vorkommen«, warf der Sicherheitsbeamte ein. »Allerdings passiert das seit gestern häufiger, bestimmt irgendein Wackelkontakt.«

»Warum ist der nicht sofort behoben worden?«, fragte Dolors.

Der Sicherheitsbeamte wurde rot. »Gemeldet haben wir das schon, aber es flackert ja, wie gesagt, erst seit gestern, und am Wochenende – nein, wegen eines kurz auftretenden Wackelkontaktes kommt niemand her. Ist sowieso ein Wunder, dass uns das aufgefallen ist. Sie sehen doch selbst, wie viele Monitore hier hängen – und wie schnell die zwischen den verschiedenen Kameras hin- und herspringen, damit wir jeden Bereich einmal direkt vor Augen haben.«

»Flackert nur diese eine Kamera oder auch noch andere?«, fragte Dolors.

»Bisher ist mir das nur bei denen im Bereich der L5 aufgefallen. Wenn es irgendwo einen Alarm gibt, zeigen mir die Monitore sofort automatisch sämtliche Kamerabereiche an, die diese und die unmittelbar angrenzenden Bereiche abbilden.«

»Gut, dann schauen wir uns genau die noch mal an.« Dolors nickte ihm auffordernd zu.

»Aber das haben wir ja eben schon«, stotterte der Sicherheitsbeamte und führte ihr den betreffenden Abschnitt wieder vor. Und dieses Mal war es nicht anders: Keine Bewegungen im Gleisbereich der L5, nirgends eine Menschenseele, plötzlich ein Flackern und dann das, was Mirco Pujol schon erwähnt hatte: Zwei junge Männer rannten sichtlich aufgeregt zum rechten Rand des Bahnsteigs …

»Nach so einem Flackern löst Ihr System keinen Alarm aus?«, wollte Dolors wissen.

»Nur, wenn der Bildausfall mindestens dreißig Sekunden anhält.«

Dolors kaute auf ihrer Unterlippe und sah, dass auch Xavi angestrengt nachdachte. Schließlich meinte er: »Und diesen Bildwechsel nach dem Flackern haben Sie wirklich nicht bemerkt?«

»Den hätte ich wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn ich da gewesen wäre.«

»Was soll das heißen: wenn Sie da gewesen wären?« Dolors’ Stimme wurde lauter. Sie registrierte, dass auch Xavi aufmerkte.

Der Mann wurde rot wie der Alarmknopf auf seinem Pult. Schnaufend zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit den Schweiß von Stirn und Glatze. »Aber sobald der Zugführer den Alarm ausgelöst hat, bin ich sofort hergelaufen!«

»Das heißt, dass Sie wo waren?«, fragte Xavi.

»Auf der …« Er keuchte. »Oh Mann, manchmal muss man halt mal!«

»Na super«, entfuhrt es Dolors. Sie tauschte einen Blick mit Xavi. Vor Ärger biss er sich auf die Unterlippe. Dann hatte er sich wieder im Griff.

»Fassen wir zusammen«, sagte er dann. »Ein interner Kontrollalarm wird erst nach dreißig Sekunden Bildausfall ausgelöst, aber den gab es bei keiner der Kameras. Die Wackelkontakte treten seit gestern gehäuft auf. Aufgefallen ist das Ihnen und Ihren Kollegen erst gestern Abend – und zwar nur im Bereich der L5. Richtig?«

Der Mann bejahte.

»Damit haben wir schon mal etwas, womit wir anfangen können«, murmelte Dolors, »denn ein Zufall ist das sicher nicht, dass genau in dieser Zeit ein Mord passiert.«

3. Kapitel

Sonntag – 5.15 Uhr

Eine Viertelstunde später waren Dolors und Xavi auf dem Weg zum Krankenhaus. Wenn ihnen die Videoaufzeichnungen nicht weiterhelfen konnten, dann musste es eben ihr wahrscheinlich einziger Augenzeuge tun: der Fahrer der U-Bahn. Während Dolors ihren Wagen aus der Parklücke lenkte, bat sie Xavi, ihr Handy aus ihrem Rucksack zu holen und Marianos Nummer unter den Kontakten zu suchen. »Ruf ihn bitte an und sag ihm, dass uns das Video keinen Schritt weitergebracht hat. Die Leute im Bahnhof müssen warten, bis wir mit dem Zugführer gesprochen haben.«

»Danke für das Du!« Xavi schmunzelte. Erst da fiel Dolors auf, dass sie ihn geduzt hatte. Warum aber auch nicht? Unter den Kollegen duzten sie sich ohnehin alle, und so unsympathisch wie zu Anfang war er ihr mittlerweile nicht mehr. Sie sah kurz zu ihm hinüber und meinte grinsend: »Ich als die Ältere darf das.«

Er lachte. »Unterschätz mich nicht, ich bin auch schon zweiunddreißig und trage nur deswegen diesen Zehn-Tage-Bart, weil ich sonst am Einlass der Disco immer meinen Personalausweis vorlegen muss.«

»Jetzt nicht wirklich, oder?« Dolors warf ihm einen skeptischen Blick zu und versuchte, ihn sich ohne Bart vorzustellen. Dann lachte er schon wieder.

»Okay, das mit dem Ausweis war geschummelt, so schlimm ist es dann doch nicht. Aber fast.«

Dolors war froh, dass sich die Spannung zwischen ihnen gelegt hatte. Zweiunddreißig – sie hätte Xavi in der Tat für jünger gehalten. Ohne dass sie einen Grund dafür hätte nennen können, beruhigte es sie, dass er nur fünf Jahre jünger als sie war. Sie hörte, wie er mit Mariano sprach, dann wandte er sich an sie. »Mariano fragt, ob wir auf alle Fälle zurück nach Sants kommen.«

Dolors atmete tief durch. »Nein, nur wenn wir auch hilfreiche Auskünfte bekommen. Sag ihm, wir melden uns, sobald wir mehr wissen. Wenn auch der Zugführer nichts Verwertbares für uns hat, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Leute nach Hause zu schicken. Die Personalien haben wir zwar, aber wenn der Mörder unter ihnen ist, wird er danach sicher nicht brav zu seiner Meldeadresse gehen.«

Xavi gab alles an Mariano weiter und wandte sich wieder ihr zu. »Ich soll dir ausrichten, dass die Leiche gleich in die Gerichtsmedizin gebracht wird und du dich an Pau halten musst, der bekäme sie auf den Tisch. Außerdem will der Staatsanwalt, dass du ihn anrufst.«

»Biel?«

Xavi fragte nach und nickte.

»Okay, aber mach du das bitte, Xavi. Seine Nummer ist ebenfalls in meinem Handy gespeichert. Bitte ihn um einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung des Opfers. Und ruf bitte noch in der Gerichtsmedizin an und sag Pau, er möge uns Bescheid geben, wenn er irgendwas Aufschlussreiches an den Leichenteilen entdeckt. Wir müssen auch noch Pep bitten, einen seiner Spezialisten zu schicken, um sich dieses Überwachungssystem anzusehen. Da stimmt was nicht.«

Xavi übernahm alle drei Anrufe. Kurz darauf erreichten sie das Krankenhaus und fragten sich zum Zimmer des Zugführers durch. Schon von Weitem sahen sie den Beamten, der sich vor dessen Zimmer positioniert hatte. Xavi hatte ihn aus Sicherheitsgründen angewiesen dazubleiben. Dolors fragte den jungen Beamten, ob er wisse, welcher Arzt für den Zugführer zuständig sei. Verlegen zuckte er mit den Schultern. »Wenn ich das eben richtig mitbekommen habe, ist gerade Schichtwechsel.«

Nach drei Versuchen fand Dolors zumindest eine Krankenschwester, die mit dem Fall vertraut war. Sie erklärte ihr, dass es dem Patienten so weit gut ginge, sie aber ausdrückliche Anweisung habe, niemanden zu ihm zu lassen.

»Anweisung von wem?«, fragte Dolors. Sie rieb sich den Nacken, der mit einem Mal schmerzte. »Hören Sie …« Sie ließ ihren Blick über den Kittel der Krankenschwester gleiten. »Also, Schwester Paula, im Bahnhof von Sants halten wir ein Dutzend Leute fest, weil wir den Mörder einer jungen Frau suchen. Wie es aussieht, ist Senyor Perez der Einzige, der Angaben zum Täter machen und damit dazu beitragen kann, dass die Leute endlich in ihre Betten kommen. Mit wem muss ich sprechen, damit wir mit Senyor Perez reden können?«

»Selbst wenn Sie zu ihm könnten, würde Sie das nicht weiterbringen«, mischte sich ein Mann hinter Dolors ein. Sie drehte sich um. Er reichte ihr die Hand und stellte sich als Dr. Fuente vor. »Wir mussten Senyor Perez ein starkes Beruhigungsmittel spritzen. Er hatte im Krankenwagen einen Nervenzusammenbruch.«

»Das tut mir leid für den Mann«, erwiderte Dolors, »aber wir brauchen –«

»Was Sie brauchen, ist nicht mein Problem«, unterbrach der Arzt sie. »Als Arzt bin ich einzig und allein für Senyor Perez’ Wohl zuständig, und der braucht im Moment absolute Ruhe.«

Dolors musterte den Mann. Er war kaum größer als sie, hatte schütteres graues Haar, ein offenes Gesicht und warme braune Augen – und wirkte nicht halb so stur, wie er sich gerade gebärdete. Sie beschloss, es mit einem Lächeln zu versuchen. »Ich will die Verfassung, in der Ihr Patient ist, gar nicht herunterspielen, aber je mehr Zeit nach einem Mordfall verstreicht, desto geringer werden die Chancen, brauchbare Zeugenaussagen zu bekommen, und die benötige ich in diesem Fall ganz besonders dringend. Senyor Perez ist wahrscheinlich der Einzige, der den Täter –« Sein erneutes Kopfschütteln brachte sie zum Verstummen. Sie seufzte. »Okay, dann erklären Sie mir wenigstens, warum wir nicht zu ihm können.«

»Um dem Mann Zeit zu geben, mit dem allem fertig zu werden.« Er atmete tief durch. »Hören Sie, das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Ganz unabhängig davon, ob ein Mord oder ein Selbstmord vorliegt, kommt es bei einem solchen Unglück im Kopf eines Zugführers fast immer zu einer Verwischung der Täter- und Opferrolle. In seinen Augen ist nicht der Selbstmörder oder der Mörder schuld am Tod der Person, sondern er wegen seines vermeintlichen Unvermögens, rechtzeitig gebremst zu haben. Genau das führt dazu, dass viele Betroffene nach einem solchen Vorfall unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leiden.« Der Arzt wies mit dem Kinn zum Krankenzimmer. »Viele Lokführer haben dem Menschen, den sie überfahren haben, in die Augen sehen müssen, sie haben seine Angst, seine Verzweiflung gesehen. Glauben Sie mir, da werden Sekundenbruchteile zu Ewigkeiten und lassen einen nie wieder los. Auch Senyor Perez hat vorhin immer wieder gewimmert: Wie sie mich angesehen hat, wie sie mich angesehen hat. Ich bitte Sie: Er braucht diese Ruhe. Außerdem bezweifle ich, dass Sie nach dem Beruhigungsmittel, das wir ihm gespritzt haben, noch viel Brauchbares aus ihm herausbekommen.«

Dolors presste die Lippen zusammen. Sie hasste es, so ausgebremst zu werden, trotzdem hatte sie den Argumenten des Arztes nichts entgegenzusetzen. »Und wann lässt die Wirkung des Medikaments nach?«

»Kommen Sie am Mittag wieder, gegen halb eins, dann sollte er ansprechbar sein – zumindest wenn wir ihm nicht erneut etwas zur Beruhigung geben müssen.«

»Um halb eins?« Dolors sah ihn ungläubig an. »Das sind noch sieben Stunden! Und an wie viel wird er sich dann überhaupt noch erinnern können?«

Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Wenn die Natur gnädig wäre, an gar nichts. Aber das wird leider nicht der Fall sein.«

»Bei Ihrem ›leider‹ vergessen Sie das Opfer und deren Angehörige«, knurrte Xavi.

Dolors legte ihm die Hand auf den Arm. Trotzdem verstand sie ihn nur zu gut: erst kein einziger Zeuge am Bahnhof, dann der fehlende Videoausschnitt und jetzt nicht einmal die Aussage des Zugführers. Aber mit dem Arzt herumzustreiten, brachte sie nicht weiter, sondern würde alles nur noch weiter komplizieren.

»Bis Mittag also.« Sie nickte dem Arzt zu und zog Xavi mit sich fort.

4. Kapitel

Sonntag – 5.50 Uhr

Als sie das Krankenhaus verließen, hörte Dolors, wie Xavi ruckartig Luft holte und sie mit einem einzigen kräftigen Schnaufen wieder ausstieß. Unwillkürlich berührte sie ihn an der Schulter. »Meine andalusische Großmutter hat immer gesagt: Wenn man die Dinge nicht ändern kann –«

»– ist Vergessen die beste Änderung«, beendete Xavi grimmig ihren Satz. »Meine Großmutter hat das auch ständig gesagt, und mit keinem anderen Sprichwort konnte sie mich mehr zur Weißglut bringen, weil es einen doch nur dazu bringen soll kleinbeizugeben. Ganz ehrlich, auch eben … Warum musstest du so schnell nachgegeben? Es ist doch gar nicht gesagt, dass die psychischen Folgen für den Zugführer dramatischer ausfallen, wenn wir sofort mit ihm reden. Vielleicht befreit ihn das sogar ein Stück weit. Über etwas zu reden, kann schließlich auch Therapie sein. Jetzt hätte er uns noch Hinweise geben können, an die er sich in ein paar Stunden nicht mehr erinnert. Und was, wenn die Sache mit diesem Mord gar nicht beendet ist? Wir haben keine Ahnung, wer der Täter ist, wissen nichts über sein Motiv und darum auch nicht, was er oder sie als Nächstes tun wird. Was, wenn morgen die nächste Tänzerin vor einen Zug gestoßen wird oder ein Mitwisser, den der Täter auch noch beseitigen muss? Und das alles nur, damit der Zugführer ausreichend Zeit hat, sich auszuruhen – und alles zu vergessen?«

Das letzte Wort spuckte Xavi regelrecht aus. Dolors ließ ihn bewusst ein paar Mal durchatmen, ehe sie etwas erwiderte. »Du hast doch gehört, was der Arzt über die Ruhigstellung des Mannes gesagt hat. Wenn wir ohnehin nichts Brauchbares aus ihm herausbekommen können – wozu dann einen Aufstand machen?« Sie machte ihm Zeichen weiterzugehen. »Komm, wir nehmen uns Julias Wohnung vor. Vielleicht bringt uns wenigstens das in der Zwischenzeit ein Stück weiter.«

Auf dem Weg zum Wagen rief sie Mariano an und bat ihn, die Wartenden heimzuschicken. Außerdem fragte sie ihn, ob Pep noch vor Ort sei und ob man das Handy von Julia Toset Buxeda gefunden habe. Er verneinte. »Aber einige von Peps Leuten sind noch da und nehmen die Überwachungskameras unter die Lupe.«

Anschließend rief sie Biel an, erfuhr, dass der Durchsuchungsbefehl für Julia Toset Buxedas Wohnung vorlag, und bestellte gleich darauf auch die Spurensicherung dorthin.

»Kommt zur Plaça de Mossèn Clapés, Ecke Avenguida Meridiana«, erklärte sie Pep. »Wir erwarten euch.«

 

Der Hauseingang zu Julia Tosets Wohnung lag neben einem Friseursalon, in dessen Schaufenster als einzige Dekoration ein verschrammtes, ehemals wohl weißes Regal mit verschiedenen Haarpflegeprodukten stand. Dolors parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einer Platane. Sie stiegen aus, überquerten die Straße und umliefen die zahlreichen Vespas und anderen Kleinkrafträder, die auf dem Platz vor dem Haus abgestellt waren. Hinter ihnen dröhnte der Verkehr der Meridiana, der mehrspurigen, nördlichen Haupteinfallsstraße von Barcelona. Dolors fand den Geräuschpegel sehr hoch und das noch mehr angesichts der Tatsache, dass es so früh am Tag und überdies Sonntag war. Jeder Barcelonese, der eine Wochenendwohnung am Meer oder in den Bergen hatte, hatte sich mit Sicherheit vor der Hitze dorthin geflüchtet.

Das Viertel, das etwas tiefer als die Meridiana lag, wirkte, als sei es noch im tiefen Schlaf. Ein marokkanischer Straßenkehrer fegte gähnend ein paar Papierschnipsel in seine orangefarbene Abfalltasche. Zwei Katzen jagten sich spielerisch über die am Straßenrand geparkten Autos hinweg; jedes Mal, wenn sie auf ein Dach sprangen, ertönte ein dumpfes Ploppen. Weitere Zeichen von Leben gab es nicht.

Wann immer Dolors in diese Gegend verschlagen wurde, fand sie, dass Sant Andreu gewiss nicht zu den schönen Barrios der Stadt gehörte, es sich hier aber sicher dennoch gut leben ließ. Trotz der bis zu achtstöckigen Wohnblocks hatte es sich einen behaglichen, fast dörflichen Charakter bewahrt. Dolors wäre jede Wette eingegangen, dass die Menschen hier einander noch beim Namen kannten. In den Erdgeschossen der Wohnblocks reihten sich schlichte Lädchen aneinander, Bäcker, Krämer, Obst- und Gemüsehändler, dazwischen ein Versicherungsvertreter, ein Schreibwarengeschäft und der unvermeidliche Tabakladen. Dolors wusste, dass hier vor allem Arbeiter und kleine Angestellte wohnten, einfache, aber ordentliche Leute in – sofern es das in diesen scheinbar endlos dauernden Krisenzeiten überhaupt geben konnte – gesicherten Positionen, die höchste Gewähr für Ruhe und Angepasstheit. Dass es eine Tänzerin gerade hierher gezogen hatte, wunderte sie, umso mehr bei jemandem wie Julia, die auf dem Foto, das sie neulich von ihr in der Zeitung gesehen hatte, einen recht abgehobenen, geradezu sphärischen Eindruck auf sie gemacht hatte mit ihrer hochgewachsenen, fast feenhaften Gestalt, dem wehenden Haar und diesem eigenartig entrückten Blick aus ihren tiefblauen Augen …

»Keine sehr glamouröse Umgebung für eine Primaballerina«, murmelte Xavi, als würde er Dolors’ Gedanken erraten.