Mörderisches Ulm - Werner Färber - E-Book

Mörderisches Ulm E-Book

Werner Färber

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Beschreibung

In Ulm, um Ulm und um Ulm herum herrscht unheimliche Stimmung - ob Mord aus Notwehr, Psychose, Neurose, Ver- und Überdruss oder gar Lust am Töten, keiner ist mehr sicher! Ist die fitte Oma Mendle Opfer oder Täterin? Was findet der Hund von Carmen im Haus ihres Vaters? Flammt die alte Liebe zwischen Polizeiobermeister Joachim Wagner und Hannelore wieder auf oder wird sie durch einen grausigen Fund im Keim erstickt? Ulm hat doch mehr dunkle Seiten als man meinen könnte.

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Seitenzahl: 329

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Werner Färber

Mörderisches Ulm

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2022 (bereits erschienen 2015 im Gmeiner-Verlag unter dem Titel »Wer mordet schon in in Ulm, um Ulm und um Ulm herum?«)

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © auris – Fotolia.com

und © traveldia – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-7260-2

Widmung

All jenen, die mich bei meinen Recherchen unterstützt haben, ein herzliches Dankeschön! W. F.

Inhalt

Impressum

Widmung

Inhalt

1 – Leihwagen

2 – Tödliche Navigation

3 – Feine Nase

4 – Strohballenleiche

5 – Tod am Tierstein

6 – Männerfantasie

7 – Absturz

8 – Zwei Kinder unterm Baum

9 – Bis in den Tod

10 – Kollateralschaden

11 – Wer mordet schon in Ulm?

Freizeittipps

1 – Leihwagen

»Der Opa hat gemeint, ich soll Ihnen den Schlüssel für des Cabrio von der Frau vom Juniorchef geben«, mühte sich der Jüngste der Familie Schaufler auf Hochdeutsch, als er vom Büro seines Großvaters nach vorn an den Tresen kam.

Frau Mendle, eine alte Stammkundin des Autohauses Schaufler, die ihre 84 Jahre aufrecht und mit bewundernswerter Würde trug, lächelte nachsichtig.

Der pensionierten Gymnasiallehrerin für Deutsch und Englisch, die es vor über sechzig Jahren zunächst wegen des Studiums und später der Liebe wegen ins Schwäbische verschlagen hatte, war ein korrekter Umgang mit Sprache noch immer ein zu hegendes und pflegendes Gut. Auch kannte sie die Familienverhältnisse im Hause Schaufler bis ins Detail. Zum einen hatte sie die ersten beiden Generationen als Lehrerin unter ihren Fittichen gehabt und zum andern war Laupheim eine Stadt von eher überschaubarer Größe. Man konnte grundsätzlich davon ausgehen, dass nahezu jeder jeden kannte.

Der Junge war sichtlich nervös. Dem 16-Jährigen, der während der Ferien im Familienbetrieb sein Taschengeld aufbesserte, war vom Großvater die Aufgabe übertragen worden, sich am Empfang um die Begrüßung der Kunden zu kümmern und ihnen, sofern dies sein Wissensstand erlaubte, auch gleich weiterzuhelfen. Mit freundlicher Geste deutete er zur Tür. »Kommen Sie bitte mit nach draußen auf den Hof?« Auffällig langsam übernahm er die Führung. Einen schnelleren Schritt traute er der Frau, die einen eleganten Hosenanzug trug, nicht zu.

»Sie können ruhig schneller gehen«, sagte die Kundin. »Ich bin noch recht gut zu Fuß, Herr Schaufler.«

»Ach, sagen Sie doch einfach du. Ich bin der Konstantin.« Er beschleunigte seinen Schritt. Ein wenig.

Frau Mendles Herz machte tatsächlich einen kleinen Sprung, als sie das silbergraue Cabriolet von der Frau vom Juniorchef sah. Nachdem ihr dieses Modell zum ersten Mal im Straßenverkehr aufgefallen war, hatte sie auch von sich aus schon mit dem Gedanken geliebäugelt, es wenigstens einmal zur Probe zu fahren. Sie war sich sehr sicher, dass der alte Schaufler diesen flotten Flitzer bewusst als Ersatzfahrzeug für sie ausgewählt hatte. Ihre alte Limousine, die bereits in Jahresfrist ein Autokennzeichen mit H am Ende erhalten und damit Steuerfreiheit erlangen würde, sollte für zwei, drei Tage in der Werkstatt bleiben, um den wiederkehrend auftretenden Fehler in der Stromversorgung aufzuspüren und zu beheben. Offenbar setzte der geschäftstüchtige Seniorchef alles daran, ihr auf ihre alten Tage noch mal ein schickes Auto schmackhaft zu machen.

»Meine Mama ist grad auf Mallorca«, plauderte der Junge weiter und wählte bei der Aussprache des Namens der Ferieninsel die deutsche Version mit zwei l. »Da steht das Auto eh bloß aufm Hof rum und der Opa hat g’meint, dass er es genauso Ihnen überlassen kann, bis die Inspektion von Ihrem Auto fertig ist. Ich soll Sie fragen, ob Sie schon mal mit Automatikgetriebe gefahren sind.«

»Ja, einmal. Aber das ist lange her. Eine kleine Einführung wäre mir durchaus sehr recht.« Wie fast immer zog es Frau Mendle vor, nicht mit ihren wahren Fähigkeiten zu wuchern. Ihr Leben lang hatte sie stets lieber etwas tiefgestapelt, um die Leute dann mit detaillierten Kenntnissen und Fähigkeiten überraschen zu können. Im Grunde hielt sie sich für eine versierte Fahrerin und war von ihren Fahrkünsten höchst überzeugt, zumal sie seit Erwerb ihres Führerscheins in den sechziger Jahren unfallfrei geblieben war. Damals war an so einen Schnickschnack wie Servolenkung oder hektisch piepsende Parkhilfe noch gar nicht zu denken und der Fahrlehrer hatte ihr vorsätzlich ein Auto zugemutet, bei dem man Zwischengas geben musste, um die Zahnräder des Getriebes nicht zum Knirschen zu bringen, obwohl in seinem Bestand durchaus auch modernere Fahrzeuge gewesen waren. Er hatte gehofft, der jungen »Reigschmeckten«, also der Zugezogenen, aus dem Norden ein paar zusätzliche Fahrstunden aufbrummen und mehr Geld an ihr verdienen zu können. Er hatte sich getäuscht.

Seither hatte Frau Mendle von Lenkrad- über Knüppelschaltung, vom Familienauto über sportliche Flitzer bis zum schweren Wohnmobil nahezu alles gefahren, was vier Räder hatte. Selbst mit des Nachbarn altem Traktor war sie schon über die Felder gerumpelt. Lediglich mit einem Automatikfahrzeug hatte sie erst einmal zu tun gehabt.

»Dann setzet Sie sich doch gleich mal hinters Lenkrad.« Er ging zur Beifahrerseite.

»Ich habe keinen Schlüssel.«

»Sie müssen bloß am Griff ziehen.« Er klopfte mit der Hand auf seine Brusttasche. »Der hat keyless-go-Technik. Da reicht es, wenn man den Schlüssel bei sich hat.«

Frau Mendle wandte sich ein wenig ab, um ihr Schmunzeln über seine kindliche Freude an der Technik zu verbergen. Ihr eigenes Auto musste noch mechanisch aufgeschlossen werden. Sie stieg ein, schnallte sich an und bat um den Zündschlüssel.

»Drücket Sie bloß da drauf.« Er deutete auf einen runden Knopf, der sich an der Stelle befand, wo man normalerweise ein Zündschloss vermutete.

Frau Mendle drückte, ohne dass sich ein erkennbarer Effekt eingestellt hätte.

Konstantin platzte schier in seiner Rolle des Wissenden. »Erst müssen Sie den Schalthebel in die Stellung »D« schieben. Und dann treten Sie auf die Bremse.« Er zeigte in den Fußraum. »Das ist das linke, also das größere Pedal.«

Frau Mendle folgte den Anweisungen.

»So, jetzt drücket Sie den Knopf noch mal.«

Der Motor war so gut schallisoliert, dass man ihn noch immer kaum hörte.

»Sobald Sie jetzt von der Bremse gehen, fährt des Auto automatisch los und Sie brauchet bloß noch Gas geben.«

Obwohl ihr das fehlende »zu« beim Infinitiv einen Schauer über den Rücken rieseln ließ, gab Frau Mendle Gas. Und das ordentlich! Mit einem enormen Satz schnellte das Fahrzeug nach vorn. Zum Glück fand dieser Blitzstart auf dem einzigen Stellplatz des Hofs statt, an dem kein weiteres Auto Kühler an Kühler gegenüberstand. Die alte Dame schoss mit ihrem blass werdenden Beifahrer zwischen zwei Luxuskarossen über den Parkplatz und kam nach Überwindung eines Randsteins mit quietschenden Reifen nur wenige Zentimeter vor dem Maschendrahtzaun, der das Grundstück umschloss, zum Stehen. Zuckersüß lächelnd, meinte sie entschuldigend: »Tut mir leid. Der scheint ein paar PS mehr unter der Haube zu haben als meine alte Schabracke.«

Der junge Schaufler schluckte. »Sollen wir vielleicht tauschen und ich fahr ein Stück, um es Ihnen zu zeigen?«

»Mit sechzehn darfst du noch gar nicht fahren.«

»Auf dem Hof fahr ich schon, seit ich zehn bin.« Als ihm klar wurde, dass er das vor einer Fremden eigentlich gar nicht hätte sagen sollen, blickte er sie erschrocken an.

»Ich erzähl’s nicht weiter. Im Übrigen glaube ich, das Prinzip nun begriffen zu haben.« Sie brachte den Schalthebel in die Position R. »So fahre ich rückwärts?«, vergewisserte sie sich, obwohl sie wusste, dass sie richtig lag.

Bereits in ihren ersten Berufsjahren hatte sie erkannt, dass es oft sinnvoll war, mit ihren Fähigkeiten etwas hinterm Berg zu halten. Vor allem die Jugendlichen hatten es stets zu schätzen gewusst, wenn sie nicht immer vorgaukelte, alles hundertprozentig zu wissen. Sie hatte schnell gelernt, dass sie mit diesen kleinen Schauspieleinlagen Pluspunkte sammeln konnte. Und im Laufe ungezählter Fortbildungen in Darstellendem Spiel und zig Theater-Workshops hatte sie ihre Fähigkeiten im Rollenspiel ständig ausgebaut und verbessert.

Konstantin nickte. Seine rechte Hand krampfte sich am Türgriff fest, seine Linke presste eine Delle ins lederne Sitzpolster.

Frau Mendle kniff die zum roten Hosenanzug passend geschminkten Lippen aufeinander. Natürlich war ihr der Wagen im ersten Moment tatsächlich aus den Zügeln geraten. Doch nun kannte sie ja seine enorme Spritzigkeit und glaubte, diese durchaus kontrollieren zu können. Die Rolle der unsicheren alten Dame hinterm Lenkrad eines viel zu sportlichen Fahrzeugs machte ihr Spaß.

Sie lenkte den Wagen zur Ausfahrt des Autohofs und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. »Wie öffne ich das Dach?«

Der junge Schaufler deutete wortlos auf die betreffende Taste.

»Darf man das Dach auch während der Fahrt öffnen?«

»Ja«, krächzte er.

»Bis zu welchem Tempo?«

Der junge Schaufler nannte die entsprechende Geschwindigkeit.

Nach kurzem Kontrollblick auf den Tacho reckte sie sich nach der Taste und lenkte den Flitzer dabei über den Mittelstreifen, als wäre sie überfordert, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Der arme Junge neben ihr drückte mit den Füßen beinahe das Bodenblech durch.

Sie selbst konnte diese Spritztour genießen. Vor allem, als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten und zügig über die Landstraße rollten. Auf einem vierspurigen Abschnitt der Bundesstraße jagte sie das Cabrio kurzfristig, aber deutlich in den dreistelligen Bereich. Aus Rücksicht auf ihre Frisur und den wortkarg im Sitz klebenden Enkel der Laupheimer Autodynastie hielt sie sich im weiteren Verlauf der halbstündigen Probefahrt an die bestehende Geschwindigkeitsbegrenzung. Kaum hatten sie die Innenstadt wieder erreicht, klingelte ihr Mobiltelefon. Frau Mendle warf einen Blick in den Rückspiegel. »Moment bitte«, sagte sie zu ihrem Beifahrer, setzte den Blinker, hielt in zweiter Reihe an und fischte das Telefon aus ihrer Handtasche. »Meine Enkeltochter«, informierte sie Konstantin nach einem Blick aufs Display. »Hallo, mein Schatz!«, flötete sie strahlend, um sich im nächsten Moment mit ernster Miene kerzengerade aufzurichten. Selbst ihr jugendlicher Beifahrer erkannte sofort, dass etwas passiert sein musste.

»Nein!« Frau Mendle war fassungslos. »Das ist ja …« – »Nein, pass auf, du bleibst, wo du bist!« Sie blickte auf die Uhr. »Ich bin in einer Viertelstunde bei dir.« – »Kommt überhaupt nicht infrage! In deinem aufgelösten Zustand steigst du nicht aufs Motorrad. Ich komme zu dir. Und dieser widerwärtige Kerl kann sich auf etwas gefasst machen.« – »Was?« – »Natürlich gehst du damit zur Polizei. Und ich gehe mit!« – »Versuche, dich erst mal zu beruhigen, vertritt dir die Beine. Ich beeil mich, bis gleich.« Sie drückte das Gespräch weg und atmete heftig aus. Die Anspannung hatte sie fast nur noch einatmen lassen.

Konstantin Schaufler blickte sie fragend an. »Ist was – passiert?«

»Das kann man sagen.« Entschlossen drehte sie sich halb zu ihm. »Du verstehst sicher, dass ich dir jetzt keine Details erzähle. Ich muss sofort zu meiner Enkeltochter. Das Autohaus liegt auf dem Weg. Ich setze dich ab und fahre dann alleine weiter.«

Konstantin legte skeptisch die Stirn in Falten. Was würde sein Opa sagen, wenn er sie weiterfahren ließe, ohne dass sie das übliche Übergabeprotokoll für den Wagen unterschrieben hätte?

»Ich rufe deinen Großvater von unterwegs an und sage ihm, dass du mir großartig geholfen hast.« Fast schien es, als hätte Frau Mendle seine Gedanken gelesen. Vielleicht hatte sie das wirklich. Auch in ihrer Zeit als Lehrerin hatte sie oft mit ihrem enormen Einfühlungsvermögen überraschen können. Vor allem die Jugendlichen im sogenannten schwierigen Alter. Gedankenlesen war ihrer Ansicht nach keine Kunst, sondern Übung. Man musste sich nur gegenseitig respektieren und akzeptieren. Und das war das Mindeste, was man von seinen Mitmenschen erwarten durfte.

»Grüße deinen Großvater von mir«, sagte sie, während sie den Wagen auf dem Seitenstreifen vor dem Autohaus zum Stehen brachte.

»Ähm, danke«, erwiderte er. »Den brauchet Sie zum Weiterfahren.« Noch immer zögerlich, fischte er den Autoschlüssel aus der Brusttasche und legte ihn in eine Mulde der Mittelkonsole.

»Keine Sorge. Ich passe darauf auf.«

Kaum hatte er die Tür geschlossen, bog sie in den fließenden Verkehr ein, um ihrer Enkeltochter beizustehen.

Der Liebe wegen war Melanie erst vor wenigen Wochen von ihrem Studienort in die Heimat ihrer Kindheit zurückgekehrt. Sie hatte sich in mehreren Architekturbüros um eine Stelle beworben. Und nun war ein Chef während eines ihrer Vorstellungsgespräche wohl übergriffig geworden. Völlig atemlos hatte Melanie der Großmutter soeben am Telefon erzählt, dass der Typ ihr angeboten hätte, bei einem gewissen Entgegenkommen in der Rangliste der Bewerber ganz weit nach oben zu schnellen. Eigentlich hätte sie jetzt schon aufstehen und gehen müssen. Sie fühlte sich von seinem Ansinnen jedoch dermaßen überrumpelt, dass sie ihn erst noch verblüfft fragte, wie er das denn meine. Daraufhin war er um den Schreibtisch herum zu ihr gekommen. Sie wäre doch eine höchst attraktive junge Frau, die Karriere machen wollte. Als sie sich nun doch endlich aufraffte, den Raum zu verlassen, wurde er handgreiflich und hielt sie zurück. Nachdem sie sich mit Mühe seinem Griff entwunden hatte, war sie panisch aus seinem Büro geflohen, ohne auch nur einen Gedanken an ihre Sachen zu verschwenden.

Das war der Ablauf, wie ihn Frau Mendle aus der hektischen Beschreibung ihrer Enkeltochter rekonstruieren konnte.

Unglaublich! Dass es immer noch solche Typen gab, die glaubten, bei jeder Gelegenheit ihre Schmutzfinger ausfahren zu müssen. Ihre Enkeltochter war vollkommen außer Fassung. So hatte Frau Mendle sie noch nie erlebt.

In der Ablage klingelte erneut das Mobiltelefon. Frau Mendle aktivierte den Lautsprecher. »Gib mir noch fünf Minuten, mein Schatz, dann bin ich bei dir!«, rief sie ohne Begrüßung.

»Was soll ich denn jetzt wegen meiner Sachen machen, Omi? Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich vor lauter Panik alles liegen ließ.«

»Dann holen wir uns die Sachen einfach wieder.«

»Bist du sicher? Der war voll sauer. Ich weiß nicht, wozu der imstande ist. Ich hatte richtig Schiss!«

»Ich bin am Ortseingang von Biberach. Wo steckst du genau?«

»In so einer Art Kantinenrestaurant in der Freiburger Straße.«

Während im Hintergrund die Espressomaschine fauchte, berieten Großmutter und Enkeltochter, wie sie vorgehen wollten. Melanie konnte sich nicht vorstellen, dass die Vorzimmerdame, die offensichtlich eher als Vorzeigedame fungierte, zu ihren Gunsten aussagen würde. Dadurch würde sie sicher selbst ihren Job aufs Spiel setzen. Auf Anraten ihrer Großmutter wollte Melanie dennoch nicht darauf verzichten, die Polizei einzuschalten.

»Wo genau hast du deine Sachen zurückgelassen?«

»Motorradjacke und Helm hängen am Garderobenständer im Vorraum. Die sind nicht das Problem. Aber meine Aktentasche hatte ich mit reingenommen und neben meinen Stuhl gestellt. Ich fürchte, wir müssen tatsächlich in sein Büro.«

»Müssen? Ich hatte nicht vor, diesem Subjekt meine Präsenz zu ersparen!«

»Das ist lieb gemeint.« Melanie legte ihre Hand auf die ihrer Großmutter. »Aber was ist, wenn der Typ auch dir gegenüber handgreiflich wird?«

»Gegenüber einer alten Dame? So einfältig kann ja wohl wirklich keiner sein. Im Übrigen weiß ich mich zu behaupten.«

»Wow!«, stieß Melanie beim Einsteigen ins Cabrio hervor. »Sag jetzt nicht, dass du dir den gerade gekauft hast.«

»Schaufler senior sähe das sicher gern. Auch hat mir die kleine Spritztour eben durchaus gefallen. Auf Dauer wäre das jedoch nichts für mich.« Sie richtete den Innenspiegel auf sich und zupfte die kastanienbraunen Haare zurecht. »Die Friseurkosten brächten mich um.« Sie blickte zu ihrer Enkeltochter und war froh, ihr mit dieser Bemerkung ein Lächeln entlockt zu haben. Sie nutzte den kurzen Weg zum Architekturbüro, um das Dach zu schließen, und stellte das Leihauto mangels einer freien Parkbucht in zweiter Reihe ab. Dass ihretwegen ein Auto nicht mehr wegfahren konnte, erschien ihr im Augenblick nebensächlich. Melanie sah sich um und stellte fest, dass es sich beim zugeparkten Auto um die nobelste Karosse weit und breit handelte. Sie war sich sehr sicher, dass dieser Umstand auch ihrer Großmutter nicht entgangen war. Obwohl ihr aufgrund der bevorstehenden Konfrontation fast schlecht war, konnte sie sich nicht verkneifen zu schmunzeln.

Schweigend warteten sie drinnen auf den Aufzug. Während ihrer überstürzten Flucht hatte Melanie die Treppe genommen.

»Sie haben Ihre Sachen vergessen«, schnappte die Vorzimmerfrau, als sie den Raum betraten.

»Deswegen bin ich hier. Meine Tasche ist noch im Büro.«

»Tut mir leid, Herr Birkhahn hat jetzt keine Zeit für Sie.«

Melanie rang nach Worten.

Ihre Großmutter trat einen Schritt vor den Schreibtisch. »Guten Tag, mein Name ist Mendle. Ich würde gern mit Herrn Birkhahn reden.«

Die Angesprochene antwortete, ohne den angestrengten Blick vom Computerbildschirm zu lösen. »Das geht jetzt nicht.«

Im selben Moment kam der Architekt in den Vorraum. »Sag mal, Tanja«, fragte er, ohne die Besucherinnen wahrzunehmen, weil ihm die deckenhohe Zimmerpflanze die Sicht versperrte, »weißt du, welcher Idiot da unten meinen Wagen zugeparkt hat?«

»Damit meint er wohl mich«, sagte Frau Mendle zu ihrer Enkeltochter.

Überrascht trat er aus dem Schatten der Pflanze. »Was wollen Sie noch hier?«, schnauzte er Melanie an.

Melanie schluckte. »Meine Tasche«, antwortete sie so fest, wie es ihre Gefühlslage erlaubte.

»Was für eine Tasche?«

»Die Tasche meiner Enkelin. Sie steht in Ihrem Büro neben dem Stuhl, auf dem sie gesessen hat, als Sie ihr an den Busen gegrapscht haben.«

Er spielte den Überraschten. »Ich verbitte mir solche absurden Anschuldigungen!« Er spielte schlecht.

»Wenn meine Enkelin sagt, dass Sie ihr unter die Bluse gegriffen haben, stimmt das auch.«

»Solche haltlosen Unterstellungen muss ich mir nicht anhören. Verlassen Sie meine Räume!« Mit jedem Wort war er lauter geworden.

Im Gegensatz zur Enkeltochter wich die Großmutter keinen Millimeter zurück. »Erst die Tasche.«

Drei schnelle Schritte und er war bei ihr, um sie Richtung Ausgang zu schubsen. Während sie rückwärts strauchelnd versuchte, das Gleichgewicht zu halten, beschimpfte er sie und Melanie auf unflätige Weise.

Reflexartig griff Melanie ihrer Großmutter von hinten unter die Arme und vermied so ihren Sturz. »Es macht keinen Sinn, mit diesem Arschloch zu reden, Omi.« Ehe sie jedoch Helm und Motorradjacke an sich nehmen konnte, hatte Herr Birkhahn schon beides vom Garderobenständer gerissen. Er eilte mit Melanies Sachen hinaus auf den Flur, schleuderte sie den Treppenschacht hinunter, um schließlich wutschnaubend an ihnen vorbei in sein Büro zurückzukehren. Krachend fiel seine Tür ins Schloss.

»Komm, es macht keinen Sinn.« Melanie zog ihre Großmutter hinter sich her. Zum zweiten Mal an diesem Tag wollte sie keine Sekunde länger in der Nähe dieses Mannes bleiben.

»Und deine Tasche?«, fragte Frau Mendle vor dem Aufzug.

»Ist ersetzbar!«, stieß Melanie hervor.

Unten angekommen, sammelten sie Jacke und Helm auf. Als sie das Gebäude verließen, schlug Melanies Tasche nur Zentimeter vor ihnen auf dem Gehweg auf. Die Beschimpfungen, die von oben auf sie herunterhagelten, waren eines Mannes mit Hochschulabschluss nicht würdig. Sie eilten zum Cabrio. Nur noch weg hier. So zittrig, wie sich Melanie noch immer fühlte, zog sie nicht einmal in Erwägung, aufs Motorrad zu steigen und selbst zu fahren.

Auch ihre Großmutter war im Moment nicht unbedingt die Ruhe selbst. Sonst hätte sie nicht zweimal ihre Handtasche nach dem Schlüssel durchsucht, ehe ihr wieder einfiel, dass sie nur am Türgriff zu ziehen brauchte, sobald sich der Hightech-Schlüssel in der Nähe befand.

Die beiden waren noch immer mit ihren Gurten beschäftigt, als Frau Mendle im Rückspiegel den cholerischen Architekten erkannte. Mit hochrotem Gesicht stürmte er auf sie zu. »Ich fasse es nicht. Wie dumm ist der Kerl denn?«

Mit Panik im Gesicht blickte Melanie nach hinten. »Mach schnell, Omi. Fahr los!«

Birkhahn brüllte laut genug, dass Frau Mendle ihn auch im Auto gut verstehen konnten. Sie solle ihre Scheißkarre wegfahren, ehe er den Wagen zu Klump trete. Sie presste den Startknopf. »Ist der Motor jetzt an oder nicht?«, fragte sie ihre Enkeltochter.

Ehe Melanie antworten konnte, griff ihre Großmutter nach dem Schalthebel, schob ihn um eine Position nach hinten, nahm ihren linken Fuß vom Pedal und drückte mit dem rechten das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Wie ein Geschoss raste der Wagen rückwärts. Ein dumpfer Schlag und der Architekt flog übers Auto hinweg durch die Luft.

»OMI!«

Frau Mendle brachte den Wagen am Ende des Parkplatzes zum Stehen. Mit ungläubigen Augen blickte sie zunächst auf ihre Enkeltochter, dann auf den Schalthebel, welcher die Position des Rückwärtsganges innehatte. »Was habe ich nur falsch gemacht?« Schließlich schaute sie nach vorn, wo Herr Birkhahn in etwa dreißig Metern Entfernung mit seltsam gekrümmten Gliedmaßen reglos auf dem Asphalt lag. Es machte den Anschein, als würde er nie wieder einer Frau unaufgefordert an den Busen greifen.

Die Polizeibeamten, die sämtliche Reifenspuren akribisch vermessen und den Hergang zu Protokoll genommen hatten, waren bei der Befragung von Frau Mendle äußerst einfühlsam vorgegangen. Die verstört wirkende alte Dame hatte ihnen vom ersten Moment an leidgetan und sie hatten fürsorglich auch ihretwegen einen Krankenwagen gerufen.

Dagegen hatten sie für das Unfallopfer, das sich laut späterem Obduktionsbefund beim Sturz auf die Straße das Genick gebrochen hatte, nach Melanies detaillierter Beschreibung ihrer beiden Besuche in seinem Büro nur fassungsloses Kopfschütteln übrig.

Natürlich hatte dieser Unfall mit Todesfolge ein gerichtliches Nachspiel. Der vorsitzende Richter war ebenso ein Schüler der ehemaligen Lehrerin gewesen wie ihr Rechtsbeistand und der zuständige Staatsanwalt. Bei so einer nahezu überwältigenden Ausgewogenheit war niemand auf die Idee gekommen, einen Befangenheitsantrag zu stellen, und die Angelegenheit wurde mit der gebotenen Sorgfalt verhandelt.

Neben anderen Zeugen war auch die Vorzimmerdame des toten Architekten geladen. Die ganz in Schwarz gekleidete Zeugin, im Moment arbeitslose Bürokraft, wollte Melanies Anschuldigungen jedoch weder bestätigen noch abstreiten und beharrte darauf, nichts gesehen und gehört zu haben. Der Inhaber des Autohauses, Schaufler senior, wurde ebenso befragt wie dessen Enkelsohn. Ob es denn wirklich sinnvoll und angemessen gewesen wäre, wollte der Richter neben anderen Dingen wissen, einer 84-Jährigen so eine Waffe anzuvertrauen.

Der alte Schaufler verstand die Frage nicht. »Waffe? Wie kommen Sie darauf, ein Auto als Waffe zu bezeichnen?«

Der Richter zögerte seine Antwort hinaus, indem er länger als nötig in seinen Aufzeichnungen blätterte. Die vielen Unfälle mit Toten und Verletzten, die er im Laufe seiner zahlreichen Berufsjahre schon zu beurteilen hatte, hatten ihn zum überzeugten Fahrradfahrer und Nutzer des ÖPNV werden lassen. »Nun ja, allein die Höchstgeschwindigkeit dieses – Autos – dürfte wohl zumindest an der Obergrenze des Vernünftigen liegen. Sie hatten also keinerlei Bedenken, Frau Mendle dieses Vehikel anzuvertrauen?«

»Nein. Ich wollte lediglich einer treuen Kundin einen Gefallen tun und ihr etwas Besonderes bieten.«

Im Gegensatz zum souverän auftretenden Großvater flatterten Konstantin Schaufler die Nerven. Er schwitzte, als wäre er derjenige, der wegen des Unfalltodes vor dem Richter stand.

Ein wenig komisch wäre ihm Frau Mendles Fahrweise schon vorgekommen, meinte er. Ja, er hätte tatsächlich Angst gehabt, als er neben ihr auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Und sie hätte in der Tat Probleme im Umgang mit der Automatik gehabt.

»Und weshalb sind Sie nicht zu Ihrem Großvater gegangen und haben ihm gesagt, dass er ihr das Auto besser nicht anvertrauen sollte?«

»Aber da war doch die Sache mit ihrer Enkeltochter.« Er nickte mit dem Kopf in Melanies Richtung. »Das war scheint’s eilig. Frau Mendle hat mich einfach abgesetzt. Ich konnt’ da echt gar nichts machen.«

Der Richter nickte. »Wirkte sie irgendwie – aufgeregt?«

Konstantin blickte zu Frau Mendle, die schweigend vor sich auf den Tisch starrte. »Ich glaub schon. Doch, schon, sie war arg aufgeregt.«

»Ich danke dir.« Der Richter beendete die Befragung.

Frau Mendle wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die allerdings zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. In seiner Urteilsbegründung betonte der Richter, die 84-Jährige hätte in der Folge des Ereignisses und während der Verhandlung große Betroffenheit gezeigt. Den Führerschein würde sie allerdings selbst nach Ablauf der Bewährungszeit nicht wiedererhalten.

Frau Mendle nickte und sagte kaum hörbar: »Ich habe das Schreiben, dass ich künftig auf meinen Führerschein verzichten möchte, bereits selbst in die Post gegeben, Harry. Verzeihung, Herr Richter.«

Im Vorraum schloss Melanie ihre Großmutter mit Tränen in den Augen in die Arme. »Ich bin so froh. Der Gedanke, dass du ins Gefängnis gemusst hättest …« Melanie legte ihrer geliebten Omi die Hände auf die Schultern und betrachtete sie sorgenvoll. Nein, das war nicht mehr die kraftvolle und dynamische alte Dame, wie man sie bis vor Kurzem gekannt hatte. Allein das mausgraue Kostüm, in dem sie vollkommen gegen ihren gewohnten Stil zu diesem Termin erschienen war, sprach Bände. Auch wäre es vor dem Unfall undenkbar gewesen, sie ohne Rouge und Lippenstift anzutreffen. Und beim Friseur war sie offensichtlich ebenfalls seit Wochen nicht mehr gewesen. Die stets sorgfältigst nachgefärbten Haare waren gleich mehrere Zentimeter über der Kopfhaut grau. »Meinst du denn wirklich, dass du weiterhin so ganz ohne Auto klarkommst?«

Frau Mendle hakte sich bei ihrer Enkeltochter unter, wandte sich zum Ausgang und marschierte überraschend kraftvoll los. »Ich glaube nicht, dass ich es noch einmal brauchen werde. Schließlich ist dein letztes Bewerbungsgespräch ja ohne widerwärtige Übergriffe und dazu auch noch erfolgreich über die Bühne gegangen.«

Melanie fand die thematische Verknüpfung zwischen der autolosen Zukunft ihrer Omi und ihrem eigenen Arbeitsplatz, den sie schon seit zwei Wochen innehatte, sonderbar. Wurde ihre geliebte Omi etwa alt? Hatten sie der Unfall und das Warten auf die Verhandlung mehr belastet, als sie zugeben wollte? Möglichst unauffällig betrachtete sie ihre Großmutter von der Seite. Immerhin konnte sie wieder lächeln. Sie wirkte durchaus zufrieden. Das durfte sie auch sein. Schließlich war nun alles überstanden. Und für ihr Alter schritt die alte Dame noch immer recht wacker einher.

Der rüstigen Seniorin war die Reaktion der Enkeltochter nicht entgangen und sie ärgerte sich über ihre eigene Bemerkung. Hätte sie mal lieber den Mund gehalten. Allerdings schien Melanie vor lauter Freude über die Freiheit der Großmutter die eindeutige Zweideutigkeit ihrer Aussage nicht einmal wahrgenommen zu haben. »Ich glaube, ich habe große Lust, mich heute mal wieder so richtig schick zu machen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Begleitest du mich zum Friseur? Vielleicht schieben sie eine treue Kundin ja spontan dazwischen.«

Die letzte Fahrt

Ein Senior mit gut achtzig Jahren

steuert sein Auto übers Land.

Die Leidenschaft, sehr schnell zu fahren,

treibt ihn übern Fahrbahnrand.

Auf dem Acker, der gestoppelt,

kommt koppheister er zum Halt.

’s lag am Tempo, welches doppelt

so hoch war wie der Senior alt …

2 – Tödliche Navigation

Karin Schultheiß hatte sich den Frühjahrsurlaub gänzlich anders vorgestellt. Ein kleiner Abstecher in die Karibik wäre die Erfüllung ihrer Träume gewesen. Raus aus der Kälte, ab in den Sommer, 12 Sonnenstunden pro Tag und endloser Sandstrand. Aber der Herr Gemahl hatte sich ja unbedingt aus nostalgischen Gründen für dieses Jahrgangstreffen in der schwäbischen Provinz anmelden müssen. Zum ersten Mal in ihren über dreißig Ehejahren hatte sie nachgegeben und eingewilligt, an so einer Zusammenkunft teilzunehmen. Wenigstens bei diesem runden Jubiläum könnte sie doch auch mal dabei sein, hatte ihr Edwin in dem ihm eigenen mäkeligen Ton gemeint. Um des lieben Friedens willen und nach dem ihm abgerungenen Versprechen, im Herbst in die Karibik zu fliegen, hatte sie schließlich klein beigegeben und sich auf den Ausflug in die Umgebung seiner Kindheit und Jugend eingelassen.

Kaum waren sie angekommen, bestätigten sich ihre Vorahnungen und -urteile bis ins Detail. Der erste Treffpunkt der Sechzigjährigen war der Friedhof gewesen, wo sich der Jahrgang nebst Anhang versammelte, um der Toten zu gedenken. Entgegen der Ankündigung ihres Gatten war höchstens die Hälfte der Anwesenden, die kaum mehr verband als der Geburtsort Ehingen und das Geburtsjahr, mit Partner gekommen. Die wenigen, die ihre Lebensabschnittsgefährten, Gattinnen oder Gatten dabeihatten, waren niemals aus dem Ort ihrer Kindheit weggezogen. Und wiederum die Hälfte dieser eher sesshaften Spezies hatte sich auch noch jahrgangsintern verheiratet. Kein Wunder also, dass sich Karin Schultheiß fühlte wie das fünfte Rad am Wagen, als die anderen in der Vergangenheit schwelgten und sie sich nur noch ausklinken wollte. Natürlich wurde bei dieser Gelegenheit zu viel gesoffen und der Geräuschpegel stieg parallel zum Alkoholkonsum ins Unerträgliche. In angetrunkenem Zustand versicherten die Jahrgangsgenossinnen und -genossen einander, dass das damals doch alles nicht so gemeint gewesen und alles längst Schnee von vorgestern wäre. Worauf man wiederum einen Grund hatte, erneut gemeinsam anzustoßen.

Statistisch betrachtet war es wenig verwunderlich, dass auch diese Jahrgangsrunde einen Polizisten hervorgebracht hatte, der weit nach Mitternacht die Auswärtigen auf den neuesten Stand brachte, welche Promille-Sträßchen sie zu nutzen hätten, um auf ihren jeweiligen Wegen in Hotels und Pensionen den Kontrollen seiner Kollegen zu entgehen.

Selbst nach diesem Auftakt hätte der Frühjahrsurlaub für die Zwangsmitreisende durchaus noch einen entspannten Verlauf nehmen können. Schließlich zeigte sich die raue Alb von ihrer besten Seite und für Anfang Mai war es angenehm warm. Als sie jedoch nach dem Frühstück zu ihrer Rundreise durchs Schwäbische aufbrechen wollten, sprang das Auto nicht an. Während Edwin Schultheiß Batterie und Anlasser in hilfloser Weise weiterquälte, empfand seine Frau Karin die zunächst angenehme Wärme, die durch die Scheiben ins Wageninnere drang, bereits wieder als lästig.

»Hast du getankt?«, fragte sie.

»Ja, doch«, grummelte er. »Du warst dabei.« Er versuchte es ein weiteres Mal. Der Anlasser mühte sich redlich, schaffte es jedoch nicht, den Motor in Gang zu setzen. »Ich ruf den Fonse an.« Er kramte in der Hosentasche nach seinem Telefon.

»Was rufst du an?« An den Umstand, dass ihr Mann nach jedem Kontakt zu süddeutschen Freunden höchst seltsam redete, hatte sich Karin auch nach dreißig Jahren des Zusammenlebens nicht gewöhnen können.

»Den Fonse. Den Alfons. Das ist der mit der Kfz-Werkstatt.«

Karin Schultheiß verdrehte die Augen. »Ach, der Aufreißer.« Wie hatte sie den feisten Typen, der ausschließlich von Swingerclubs und anderen halbseidenen Einrichtungen erzählt hatte, nur vergessen können? Edwin hatte wortlos neben ihr gestanden, als ihr der widerliche Kerl beim Abschied an den Po gefasst hatte. Und ausgerechnet dieser Typ sollte ihnen nun helfen? »Na, prima.«

Gegen Mittag verstauten sie ihre Gepäckstücke im Kofferraum eines Mietwagens. Ihr eigenes Auto stand vor Fonses Werkstatt auf dem Hof. Der Weiberheld war tatsächlich sofort zur Stelle gewesen und hatte sie abgeschleppt. »Ich richt’ euch die Karre in den nächsten Tagen tipptopp her«, versprach er und ließ es sich nicht nehmen, sie nach Ulm zu einem Autoverleih zu bringen, mit dem er in solchen Fällen immer zusammenzuarbeiten pflegte. Vom Rabatt, den Fonse für seine Kunden angeblich immer rausschlug, war nichts zu merken. Aber davon wollte sich Edwin seinen Urlaub nicht verderben lassen. So einen Mietwagen für ein paar Tage konnten sie sich schon noch leisten. Er vereinbarte mit Fonse, sich per Telefon über notwendige Arbeiten und die sich ergebenden Kosten zu verständigen. Edwin setzte sich ans Steuer des geliehenen Fahrzeugs und betrachtete die Armaturen, als säße er das erste Mal in einem Auto.

»Stimmt was nicht?«, fragte Karin.

»Was? Nein. Wieso?« Er schüttelte den Kopf. »Ich verschaffe mir nur einen Überblick.«

»Worüber?«

»Nun ja. Ich hatte noch nie so viele Knöpfe in einem Auto. Schau mal, sogar am Lenkrad sind welche.« Er legte zärtlich die Hand auf den Schaltknüppel. »Wow. Sechsganggetriebe.«

»Zu der jungen Frau am Tresen sagtest du noch, du bräuchtest keine Einweisung.«

»Stimmt ja auch. Ist ja trotzdem nur ein Auto.«

Karin atmete tief durch. Ihr war klar, weshalb er keine Einweisung hatte haben wollen. Vor seinem virilen Freund und dem jungen Ding vom Autoverleih hatte er sich keine Blöße geben wollen. »Kennst du den Weg?«, fragte sie, als er den Zündschlüssel drehte und der Wagen problemlos ansprang.

»Ich denke schon. Hab schließlich in Ulm meinen Zivildienst abgeleistet.« Dass dieser Zivildienst inzwischen satte 40 Jahre zurücklag, schien seiner Ansicht nach keine Rolle zu spielen.

Karin nickte. »In so kurzer Zeit hat sich in Ulm garantiert nicht viel verändert. Schon gar nicht in der Verkehrsführung.« Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Vorahnungen fortzuatmen. Die Orientierungsfähigkeit ihres Mannes war erfahrungsgemäß sehr gering und sie hatte wenig Hoffnung, das anvisierte Ziel vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Edwin wollte unbedingt an den Limes, den er als Zehn- oder Elfjähriger im Rahmen eines Klassenausflugs besucht hatte. Mit Zwischenstopp in Königsbronn sollte es in Richtung Aalen weitergehen. Wo auch immer das liegen mochte.

Als sie zum dritten Mal durch dieselbe Straße eines am Hang liegenden Wohngebietes fuhren, bemerkte Karin spitz, wie hilfreich es war, dass Edwin sich in Ulm so gut auskannte.

»Die haben überall Einbahnstraßen angelegt, die es früher nicht gab. Wenn ich erst mal aus der Stadt raus bin, finde ich den Weg.«

»Zu dumm, dass sich die Stadt so hartnäckig weigert, dich aus ihren Fängen zu entlassen.«

»Es wäre hilfreicher, wenn du einen Blick auf die Landkarte werfen würdest, anstatt andauernd spitze Kommentare abzugeben.«

Karin reckte sich nach der Landkarte auf der Ablage, drehte und wendete sie einmal hin und her, sparte sich allerdings die Mühe, das Ding zu entfalten. »Super Maßstab. Der hilft uns in der Stadt so richtig weiter.«

Edwins Blick tanzte zwischen Rückspiegel, Straße und Mittelkonsole hin und her. »Die Kiste hat bestimmt ein Navi?«

Sie hob skeptisch die Augenbrauen. »In dieser Preiskategorie?« Wenn schon Mietwagen, hätte sie gern ein Modell der Oberklasse genommen. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht.«

»Es war immerhin nur die drittgünstigste«, korrigierte er sie.

»Weil sie in den unteren Klassen nichts da hatten.«

Er drückte eine Taste, das Display zeigte die Eingabemaske für das Navigationssystems. »Ha!«

»Was, ha?«

»Der Wagen hat ein Navi! Gib mal Königsbronn ein.«

»Ich kenne mich mit so was nicht aus.«

»Bei einem Navi braucht man sich nicht auszukennen. Die sind so programmiert, dass sie sich intuitiv bedienen lassen. Absolut idiotensicher.«

»Ein Grund mehr, dass du das übernimmst.«

»Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich sitze am Steuer und sollte mich eventuell auf den Verkehr konzentrieren.«

»Männer und Multitasking.«

Mehr als einen genervten Blick hatte er für diese Bemerkung nicht übrig.

»Im Übrigen könntest du in aller Ruhe navigieren, wenn ich fahren dürfte. Aber nein, du musstest ja den läppischen Aufpreis für die zweite Fahrberechtigung einsparen.«

»Das gibt’s doch nicht!«, knurrte Edwin, nahm jedoch nicht Bezug auf die Worte seiner Frau, sondern meinte den dicht auffahrenden Hintermann.

»Wie wär’s, wenn du mal eben anhältst, damit wir uns orientieren können und nicht weiter im Kreis fahren.« Sie zeigte auf eine freie Parkbucht in etwa 30 Metern Entfernung. »Auf dem Seitenstreifen ist eine Lücke!«

Er setzte die Fahrt mit unverminderter Geschwindigkeit fort.

»Wieso hast du nicht angehalten?«

»Ich kann nicht mit fünfzig in so eine kleine Lücke brettern. Wenn ich anhalten soll, musst du mir das früher sagen. Im Übrigen bin ich mit dem Modell noch nicht hundertprozentig vertraut. Das Sechsganggetriebe ist ungewohnt.«

»Dann fahr eben langsamer.«

»Ich fahre dem Verkehr angepasst.« Er warf einen Blick in den Rückspiegel. »Und wenn ich so einen idiotischen Drängler im Kofferraum habe, kann ich nicht einfach ausscheren.«

»Irgendwas ist ja immer.«

An der nächsten roten Ampel versuchte sich Edwin doch selbst am Navigationsgerät. »Siehst du? Ganz einfach«, sagte er, nachdem er einige Male aufs Geratewohl auf den Tasten herumgedrückt hatte. »Schon kann man den Ort eingeben.«

»Grün.«

Gleich mehrere Verkehrsteilnehmer hinter ihnen hupten. »Was!«, rief Edwin aggressiv, als könnten ihn die Insassen der anderen Fahrzeuge hören. »Mach du weiter.«

Karin beugte sich vor, um das Display zu studieren. »Ahlen mit h?«

Edwin zeigte sich überrascht. »O, die gnädige Frau lässt sich doch noch herab, mir zu helfen.« Er hatte tatsächlich nicht mit diesem Anflug von Kooperationsbereitschaft gerechnet.

»Ich kann’s auch lassen.«

»Aalen mit Doppel a«, lenkte er ein. »Nein, warte, gib als Ziel lieber Königsbronn ein.«

Karin tippte mehrmals auf einen der vier Richtungspfeile, bis das K hervorgehoben war, und drückte auf o.k. »Hey, so geht das.«

»Sag ich doch. Intuitiv eben.«

Sie verdrehte die Augen. »Wo find ich jetzt das verdammte Ö?«

»Umlaute sind immer am Ende.«

»Ach, tatsächlich.« Sie tippte weiter. »Ist ja irre. Jetzt bietet er mir schon eine ganze Reihe von Orten an, die alle mit ›König‹ beginnen. Hast du gewusst, dass es einen Ort gibt, der ›Königswusterhausen‹ heißt?«

»Ja, hab ich. Wir wollen aber nach Königsbronn.«

»Ist ja schon gut.« Sie tippte weiter. »Jetzt will das Ding eine Straße.«

»Dann gib Schulstraße ein.«

»Kennst du da jemanden von früher?«

»Quatsch. Aber eine Schulstraße gibt’s ja wohl in jedem Ort.«

Sie tippte weiter. »Tatsächlich. Jetzt wollen sie eine Hausnummer. – Wozu? Wollen die ein Bewegungsprofil von uns erstellen?«

Edwin schlug mit der Hand aufs Lenkrad. Er wollte nur eine Ausfallstraße finden und raus aus Ulm und seine Frau war zu dämlich, ein Navigationsgerät zu programmieren. »Gib fünf ein. Oder sieben.«

»Geht auch neun?«, fragte Karin spitz. Sie hasste es, wenn Edwin diesen belehrenden Ton anschlug. Da versuchte sie, ihm einen Gefalle zu tun und ein Navigationsgerät zu programmieren, das überflüssige Details wissen wollte, und ihm fiel nichts Besseres ein, als sie anzupampen. In diesem Augenblick schwor sie sich bei allem, was ihr heilig war, dass dies der letzte Urlaub mit ihm sein würde. Schweigend drückte sie so oft auf dieselbe Taste, bis das Navi zu ihrer Überraschung auf die zunächst geforderte Eingabe eines Stadtteils verzichtete und unvermittelt eine Karte mit vorgezeichneter Route im Display erschien. Schweigend lehnte sie sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was jetzt?«, fragte Edwin.

»Bitte sehr.« Sie deutete aufs Display.

»Gibt’s vielleicht auch Ton?«

»Weiß ich nicht. Du bist der Intuitive.«

Erleichtert, bei seiner Suche nach einem Ausweg aus der Stadt endlich Unterstützung zu erhalten, begnügte sich Edwin zunächst mit der im Display rot hervorgehobenen Route. Schon bald fühlte er sich jedoch gestresst, den kleinen Bildschirm ständig mit dem realen Straßenverlauf abgleichen zu müssen. Deshalb ließ er seiner Intuition am nächsten Ampelhalt erneut freien Lauf und fand die Taste, um die Ansage zu aktivieren. »Demnächst rechts abbiegen«, ordnete eine freundliche Frauenstimme an. Triumphierend blickte er nach seiner Frau auf dem Beifahrersitz. Mit noch immer vor der Brust verschränkten Armen starrte sie nach vorn. Er fuhr los. »Jetzt rechts abbiegen.« Sich das Grinsen verkneifend, folgte er den Anweisungen. »Den nächsten Kreisverkehr an der vierten Ausfahrt verlassen.«

»Pf«, machte Karin, die sofort erkannte, dass dies eine unsinnige Vorgabe war. Würden sie die vierte Ausfahrt nehmen, führen sie dahin zurück, woher sie gekommen waren.

»Was?«

Sie schwieg. Ihr Mann verfügte ja über Intuition. Nachdem er auf die Falschinformation hereingefallen war, lächelte sie zufrieden.

»Bitte bei nächster Gelegenheit wenden.«

»Was soll das jetzt?«, fragte er ungehalten. »Weshalb schickt mich die Tucke in dieselbe Richtung, aus der wir gekommen sind?« Alle Verkehrsregeln missachtend, änderte er die Fahrtrichtung um 180 Grad.

»Den nächsten Kreisverkehr an der vierten Ausfahrt verlassen«, lautete erneut die Ansage.

Karin war gespannt, was Edwin machen würde. Er fuhr einmal ganz herum, ein zweites Mal ganz herum, ignorierte die zwischenzeitlichen Ansagen und suchte nach Intuition. Schließlich wählte er die erste Ausfahrt.

»Dem Straßenverlauf drei Kilometer folgen.«

Er schüttelte den Kopf. »Die erzählt vielleicht einen Scheiß.« Er rückte sich auf dem Sitz zurecht. »Trotzdem sind wir jetzt richtig. Das ist die B 10. Hier müssen wir raus. So viel weiß ich noch.«

»Toll.«

Daraufhin hatte sich das Ehepaar lange Zeit nichts mehr zu sagen. Das beharrliche Schweigen wurde gelegentlich von der weiblichen Stimme unterbrochen. Was sollten sie einander auch mitteilen? Edwin wusste, dass er auf einer Straße war, die er kannte. Karin wurde derweil einmal mehr von aufkommenden Rückenschmerzen abgelenkt, die sie wie immer auf Unzulänglichkeiten in ihrer unmittelbaren Umgebung zurückführte. Diesmal schob sie die Schuld den ungewohnten Autositzen zu.

Dass sie diese Schmerzen stets bekam, wenn sie sich aufregte oder ärgerte, war ihr nicht bewusst. Und da sie mit ihrem Gatten jemanden an ihrer Seite hatte, über den sie sich sowohl oft als auch heftig ärgern konnte, waren ihr diese Schmerzen leider sehr vertraut.

»Demnächst rechts abbiegen und der A 8 folgen.« Edwin wunderte sich, dass ihn die Frau vor dem Autobahnkreuz Unterelchingen auf eine Route schickte, die er selbst nicht gewählt hätte.

»Warum nehmen wir nicht die A 7 in Richtung Würzburg?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Er musste nicht zu Karin hinübersehen, um zu wissen, dass ihre Mimik aufgrund der sinnlosen Konversation Geringschätzung widerspiegelte. »Was?«, bellte er.

»Ich habe nichts gesagt.« Karin versuchte, das Stöhnen, zu dem sie von einem weiteren dolchartigen Stich im Lendenwirbelbereich genötigt wurde, zu unterdrücken. Sie löste den Gurt, beugte sich ächzend nach ihrer Handtasche im Fußraum, um eine Tablette zu nehmen. Sie entschied sich für zwei.