Muschelkäfer morden nicht (eBook) - Johannes Wilkes - E-Book

Muschelkäfer morden nicht (eBook) E-Book

Johannes Wilkes

4,4

Beschreibung

Da will man endlich mal in Ruhe an der Nordsee Urlaub machen – und ist schon am ersten Ferientag wieder mit einer Leiche konfrontiert! Zwar sieht alles nach einem Badeunfall aus, doch Kommissar Mütze glaubt nicht daran. Zu viele seltsame Dinge passieren auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog. Wer setzt sein Baby um Mitternacht vor einem Hotelfenster aus? Welchen Kummer versucht Nora, die Inselprostituierte, in Whiskey zu ertränken? Wo ist die Kameratasche des toten Touristen, zu Lebzeiten begeisterter Vogelkundler und Fotograf, geblieben? Woher wissen die drei dubiosen Regenschirmmänner immer schon früher als alle anderen, dass das Wetter umschlagen wird? Und warum muss ein armer Muschelkäfer auf Reisen gehen? Mütze ermittelt zwischen Hafen, Dünen und Strand, während sein Lebensgefährte Karl-Dieter sich liebevoll um das Baby kümmert und im Stillen hofft, dass sich sein eigener Kinderwunsch vielleicht doch noch erfüllen wird …

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Johannes Wilkes

 

Muschelkäfer

morden nicht

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juni 2017)

 

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Elmar Tannert

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Konrad Wothe / Lookphotos

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-831-2

 

Inhalt

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Der Autor

 

Muschelkäfer sind lichtscheue Wesen. Sie lieben das dunkle Schimmern des Perlmutts im Inneren ihrer Wohnungen. Nur selten verlassen sie ihr Gehäuse und gehen auf Wanderschaft. Vorsicht, wenn sich eine Möwe zeigt! Möwen lieben Muschelkäfer. Fällt ein plötzlicher Schatten vom Himmel, herrscht höchste Gefahr, jetzt heißt es: Ab in die nächste Muschel! Was aber, wenn keine Muschel in der Nähe ist? Dann muss man im Zweifel in eine Ohrmuschel flüchten. Gut, dass der Mann, der da so regungslos am Strand liegt, keine Einwände dagegen zu haben scheint.

 

Samstag

»Wenn die bunten Fahnen wehen …«

Fröhlich pfiff Karl-Dieter ein Liedchen vor sich hin, während er über die Reling gebeugt zusah, wie Spiekeroog näherkam und Formen annahm. Die Laune des leitenden Bühnenarbeiters vom Theater Erlangen hätte nicht besser sein können. Seltsam, kaum hatte man das Festland verlassen, schaltete man bereits in den Urlaubsmodus um. Augenblicklich. Nicht nur ihm erging es so, alle Gäste auf der Spiekeroog II schienen bereits vom Inselvirus infiziert, es war, als hätte ein jeder seine Alltagssorgen am Kai von Neuharlingersiel an einen rostigen Ankerhaken gehängt, wo sie immer kleiner wurden und schließlich in der Ferne verschwanden. Beste Stimmung herrschte an Bord. Viele standen im Wind und ließen lustig ihre Haare flattern. Smartphones wurden gezückt und Fotos geschossen, ein Herr mit einer dicken Kamera hatte sein Teleobjektiv auf die Wellen gerichtet, über welche die Möwen hinwegglitten. Karl-Dieter tankte einen tiefen Zug frische Nordseeluft und pfiff: »Winde wehn, Schiffe gehn …«

Ungetrübte Inseltage lockten, und selbst das Friesenwetter, das oft so launische, spielte auf das Schönste mit. Die Sonne spazierte über einen makellos blauen Himmel, und auch für die nächsten zwei Wochen waren herrlichste Nivea-Temperaturen angesagt, darüber waren sich sämtliche Wetterfrösche einig. Urlaubsherz, was willst du mehr? Nur die drei Herren, die auf der hintersten Bank am Heck in zunehmend ausgelassenerer Stimmung auf ihren Tablet-PCs herumwischten und zugleich die Bierflaschen kreisen ließen, schienen den Wetterbericht nicht zu kennen. Warum sonst hatten sie ihre Regenschirme dabei?

Anders als sein Freund Karl-Dieter tat sich Mütze wie immer schwer, auf den Entspannungsknopf zu drücken. Während Karl-Dieter seine Haare vom Wind zerzausen ließ, war der drahtige Herr Kommissar eine Zeit lang unruhig an Deck auf und ab gelaufen und dann im Schiffsbauch verschwunden, um sich eine Bockwurst und eine Flasche Jever zu besorgen. Unweit von ihm zog eine junge Mutter ihr Baby aus dem Kinderwagen und nahm es liebevoll auf den Arm, um ihm das Meer zu zeigen. Sie sprach in einer weichen, sehr sanften Sprache zu ihm. Polnisch? Oder Russisch vielleicht? Dass es sich um einen Jungen handelte, hatte Karl-Dieter auf den ersten Blick erkannt. Karl-Dieter war Experte in Kinderfragen. Wahrscheinlich war er der einzige kinderlose Mann, der die Zeitschrift Eltern abonniert hatte, einen Strampler von einem Babybody unterscheiden konnte und wusste, dass »Alete pre« kein katalanischer Gebirgsort war. Als Mütze mit Bier und Würstchen zurückkehrte, war Karl-Dieter schon in das angeregteste Gespräch mit der jungen Mutter vertieft. Mütze schüttelte den Kopf. Keine Sekunde durfte man ihn alleine lassen!

Es gibt Angebote, die kann man nicht ausschlagen. Zwei Wochen Spiekeroog »für umme«, wie man im Pott zu sagen pflegt. Weil Mütze und Karl-Dieter nach dem Tod der Meerjungfrau auch bei ihrem zweiten Spiekeroogurlaub einen Mörder hatten jagen müssen, hatte ihnen der Inselbürgermeister die Reise spendiert. Herzlich hatten die Freunde über das Foto auf dem Geschenkgutschein gelacht. »Garantiert leichenfreie Inseltage!« hatte jemand mit Muscheln in den Sand gelegt. In Mützes Lachen hatte sich allerdings eine Spur Melancholie gemischt. Wenn ihm bei ihren ­bisherigen Spiekeroogaufenthalten etwas gefallen hatte, dann wohl doch gerade die Leichen …

Das Schiffshorn ließ seinen dumpfen Bass ertönen, die Spiekeroog II fuhr in den kleinen Inselhafen ein. Rasch strömten die Reisenden zu einem Pulk zusammen, als wollte keiner auch nur eine einzige Inselsekunde verpassen. Mütze und Karl-Dieter hielten sich zurück. Sie waren ja nun schon echte Inselprofis und wussten, dass man an Land ohnehin noch auf das Gepäck warten musste, das in silbernen Kastenwagen vom Schiffskran geschwenkt wurde. Etwas enttäuscht war Karl-Dieter, dass man die sich selbst ausklappende Brücke abmontiert und durch einen einfachen langen Steg ersetzt hatte. Als Bühnentechniker hatte ihn die Konstruktion des Zauberwerks seit der ersten Spiekeroogfahrt fasziniert, eine sich wie von Geisterhand mehrfach und in verschiedenen Ebenen auseinanderfaltende Mechanik. Nun ging es stattdessen über eine schlichte Gangway, die man mit der Hand herangerollt hatte. Wieder einmal war zu erkennen, wie wohlerzogen der Spiekeroog-Tourist war. Selbst die Kleinsten warteten geduldig, keiner drängelte oder quengelte. Karl-Dieter war überzeugt: Würde die ganze Menschheit aus Spiekeroogurlaubern bestehen, man würde leben wie im Paradies.

»Vergiss die Schlange nicht!«, gab Mütze zu bedenken.

»Ach, du wieder«, erwiderte Karl-Dieter, »siehst überall das Verbrechen lauern!« Dann huschte ein verschmitztes Grinsen über sein rundliches Gesicht: »Und außerdem: ­Etwas Verführung ist doch das Salz in der Suppe.«

Die Freunde gingen als Letzte von Bord. Als sie die ­Brücke verließen, drückte ein wettergegerbter Mann mit Moritzfrisur Karl-Dieter einen Zettel in die Hand.

»Was steht denn drauf?«, wollte Mütze wissen.

»Es gibt etwas Neues auf Spiekeroog«, las Karl-Dieter, indem er seinen Arm in die Länge streckte. »Bei leicht schwankender Atmosphäre und mit Live-Musik ein gutes Essen genießen. Das können Sie nur im Hafen Spiekeroogs auf dem ehemaligen Fahrgastschiff Spiekeroog III.«

Die Freunde sahen sich um. Weiter hinten, an der Einfahrt zum Jachthafen, in dem einige Dutzend Segelschiffe an den Stegen dümpelten, lag tatsächlich eine alte Fähre vertäut. An Bord ging es über einen langen Steg, an dem ein Transparent angebracht war, »Schiffsrestaurant« stand darauf. Schick essen auf einem alten Kahn, warum nicht? Doch jetzt mussten sie sich um ihr Gepäck kümmern. Der Container mit der 13 schwebte als Letzter an Land. Mütze wollte gerade ihre Koffer hervorziehen, als hinter der Schwenktür drei Köpfe mit blauvioletten Haaren auftauchten.

»Überraschung!«

Mütze schaute verdutzt, Karl-Dieter aber strahlte übers ganze Gesicht. Das gab’s doch nicht! Das ABC-Geschwader! Die drei rüstigen Seniorinnen aus Bottrop, die sie von ihrer ersten Spiekeroogreise her kannten. Na so was! Das war tatsächlich eine Überraschung! Herzlich begrüßten die drei Alten Karl-Dieter und überschütteten ihn mit Zärtlichkeiten, um sodann ihre Kussattacke auf Mütze auszuweiten. Nur mühsam konnte er sich dagegen zur Wehr setzen. Es war ein Fehler, die Dienstwaffe daheim gelassen zu haben, dachte er sich grimmig, und die Stirn des knallharten Kommissars verdüsterte sich. Wie um alles in der Welt kamen die alten Hexen hierher? Ob Karl-Dieter davon gewusst hatte?

»Iwo!«, lachte das ABC-Geschwader. »Der Inselbürgermeister hat es uns verraten. Stellt euch vor, wir haben unseren Reisetermin extra vorgezogen, um unseren Urlaub mit euch verbringen zu können! Nicht wahr, da seid ihr platt!«

Mütze sagte nichts. Überhaupt nichts. Er gab sich keine Mühe zu verbergen, was er von diesem Empfang hielt. Ein Möwenschiss auf seiner Schimanski-Jacke hätte ihn weniger verstimmt. Mürrisch nahm er seinen Koffer und wollte Richtung Dorf stürmen, doch die Alten protestierten auf das Lebhafteste.

»Kommt gar nicht infrage, Herr Kommissar«, riefen sie, »schauen Sie, was wir für Sie haben!«

Kichernd zogen sie einen Bollerwagen hervor und wuchteten, ehe Mütze und Karl-Dieter sich’s versahen, deren Koffer hinein. Dann rieben sie sich die faltigen Händchen und schauten die Freunde triumphierend an, als wollten sie sagen: »Traraaa! Damit habt ihr nicht gerechnet!« Fröhlich griffen sie sich die Deichsel und zogen in bester Stimmung los. Mütze warf Karl-Dieter einen wütenden Blick zu, doch der Freund hob nur unschuldig die Schultern, und so folgten die beiden schweigend dem seltsamen Gespann. Agatha, Bertha und Cecilia waren alte Schulfreundinnen, die vielleicht letzten Trümmerfrauen des Ruhrgebiets. Sie hatten alles schon erlebt und waren durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Stets waren sie munter wie drei Wanne-Eickeler Stallkaninchen. Warum auch nicht? Sie hielten es mit den Bremer Stadtmusikanten: »Etwas Besseres als den Tod findest du überall«.

Kaum hatte man den Deich erklommen, der die Wattseite von der Insel trennte, als von Westen eine dicke schwarze Wolke aufzog. In Windeseile rollte sie über den blauen Abendhimmel, schob sich vor die Sonne, und tatsächlich platschten kurz darauf dicke Tropfen vom Himmel. Alles beeilte sich, ins Dorf zu kommen, nur die drei ausgelassenen Herren von der Fähre klappten fröhlich ihre Schirme auf und schritten weiter gemütlich voran.

 

Die Gemeinde hatte die Freunde in der Linde einquartiert, dem schönen alten Inselhotel. Lieber hätte Karl-Dieter wieder die gemütliche Ferienwohnung an der alten Inselkirche bezogen, aber der Bürgermeister hatte gemeint, nichts da, das komme überhaupt nicht infrage, zwei so verdiente Kriminalisten gehörten in das erste Haus am Platze! Mütze hatte nicht widersprochen, obwohl er es als arg übertrieben, ja, höchst unpassend ansah, seinen Freund ebenfalls in die Riege der Kommissare erhoben zu sehen. Das Angebot mit der Linde aber erfreute ihn, konnte er doch auf diese Weise Karl-Dieters Kochkünsten entkommen. Nicht dass Karl-Dieter schlecht kochte, ganz im Gegenteil. Er kochte in letzter Zeit nur sehr gesund, zu gesund für Mützes Geschmack. In der Linde aber hatte Mütze freie Auswahl. US-Beef Classic Burger mit Fritten und BBQ-Ketchup statt Tofu-Schnitzel an Karotten-Pinien-Salat.

 

American Burger mit Fritten, dazu ein kühles Pils aus dem Norden! Behaglich streckte Mütze seine Füße aus. Er hatte seinen Seelenfrieden wiedergewonnen, nachdem Karl-Dieter ihm versprochen hatte, dem ABC-Geschwader konsequent aus dem Weg zu gehen. Die drei Alten mochten noch so putzig sein und ihm – ja doch! – noch so sehr geholfen haben, den Tod der Meerjungfrau aufzuklären und zudem – auch das war leider wahr – den Mord von Strandkorb 513. Aber Urlaub war Urlaub, und das hieß, sich von allem zu befreien, was einen beengte. Einzig aus diesem Grund hatte sich Mütze auch auf die Sache mit den Handys eingelassen. Karl-Dieter hatte am Abend vor ihrer Abreise mit geheimnisvoller Miene einen Schuhkarton hervorgezogen, den er mit Strand und Meereswellen bemalt hatte. »Urlaub bedeutet auch Urlaub vor den modernen Quälgeistern«, hatte Karl-Dieter verkündet und Mütze tatsächlich dazu überreden können, auch sein Handy in die Schachtel zu legen.

»Und noch was muss hinein.«

»Und was bitte?«

»Deine Dienstwaffe!«

»Wirst sehen«, hatte Karl-Dieter beim Verschließen der Schachtel gemeint, »damit ist der Grundstein für den erholsamsten Urlaub aller Zeiten gelegt.«

 

Nachts gehen auf Spiekeroog früh die Lichter aus. Nur noch der Strahl des Leuchtturms von Wangerooge streift dann über die Insel und lässt die Dünenkämme matt erglänzen, die Dünen und die weißen Schaumkronen der Wellen, die sich vor den Stränden brechen. Eine einsame Nachtmöwe ließ sich in niedriger Höhe über den Wassersaum treiben. Als sie auf der Höhe des dreieckigen Seezeichens mit dem Kreis auf der Spitze ankam, krächzte sie verwundert und kämpfte mit ein paar kräftigen Schlägen gegen den Wind, um das Wasser an dieser Stelle besser in den Blick nehmen zu können. Was war denn das? Noch dazu zu dieser Zeit? Rücklings und mit ausgebreiteten Armen trieb ein nackter Mensch im Meer und spielte toter Mann. Verwundert flog die Möwe weiter. Kraa-kraa, auf was für Ideen die Menschen manchmal kommen!

 

Sonntag

Der erholsamste Urlaub aller Zeiten! Ja, auf Spiekeroog konnte man herrlich entspannen. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich alles zu Fuß fortbewegte, in gepflegter Langsamkeit, die sich wie ein flauschiges Badetuch auf die Seele legte. Selbst ein Jogger fiel hier unangenehm auf. »Ein erholsamer Urlaub beginnt beim Frühstück«, dachte sich Mütze, als er zum dritten Mal am Büfett vorbeispazierte und sich beherzt seinen Teller volllud. Besonders in die Wurstabteilung schlug er eine kräftige Schneise. Seit Karl-Dieter seinen Gesundheitsfimmel hatte, sah es beim häuslichen Frühstück aus wie bei militanten Veganern.

Der Frühstücksraum war gut gefüllt. Großeltern scherzten mit ihren Enkeln, junge und ältere Paare hatten sich die Plätze an der Fensterfront gesichert, zwei sportlich aussehende Eltern saßen mit ihren blonden Zwillingsmädchen am Nachbartisch. Überhaupt dominierte das Familiäre. Alles trug legeren Freizeitlook ohne jede steife Etikette. Wer aus dem üblichen Publikum he­rausstach, das war außer Mütze und Karl-Dieter – gleichgeschlechtliche Partner waren auf Spiekeroog noch die Ausnahme – die Gruppe hinten im Eck, drei Herren, die fleißig dem Schampus zusprachen und dabei immer wieder in kollektives, fast konspirativ anmutendes Gelächter ausbrachen.

»Die drei von der Fähre gestern, die mit den Schirmen«, bemerkte Karl-Dieter zwischen zwei Löffeln Joghurt.

»Den Schirm können sie heute getrost zu Hause lassen«, sagte Mütze, »Sonnenschein pur ist angesagt, und zwar mindestens für die nächsten drei Tage, wenn nicht gar für die nächsten zwei Wochen.«

 

Im Gang, der zum Frühstücksraum führte, spickte Uwe Nielsen täglich den Computerausdruck des aktuellen Drei-Tage-Wetters an die Pinnwand. Uwe Nielsen war der Geschäftsführer der Linde, ein schlanker, wettergebräunter Mann, der den Gästen stets mit gleichbleibender Freundlichkeit begegnete und einen kollegialen Stil zu seinem Team pflegte. Die Telefonnummer der Linde hatte Mütze in der Erlanger Polizeidirektion hinterlegt. Man konnte ja nie wissen.

Lächelnd brachte Willi, der gemütliche, eigentlich längst berentete Oberkellner die zweite Kanne Ostfriesentee an den Tisch und für Mütze ein frisch gebrutzeltes Spiegelei mit kross gebackenem Schinken. Alles war perfekt, dennoch spürten Mütze und Karl-Dieter, dass ihnen etwas fehlte. Sie vermissten ihre Smartphones. Auch Karl-Dieter. Mit der Zeit hatten sie es sich angewöhnt, in jedem freien Moment einen Blick darauf zu werfen, selbst wenn es keinen vernünftigen Grund dafür gab. So schnell gerät man in Abhängigkeiten, seufzte Karl-Dieter still. Umso richtiger war es gewesen, die Dinger daheim gelassen zu haben. Eine kleine Entziehungskur hatte noch niemandem geschadet.

 

Nun aber hinaus in die Natur! Über das Tagesprogramm brauchte man sich nicht zu verständigen, nicht auf Spiekeroog. Schien die Sonne, gab’s nur eins: ab zum Strand! Und die Sonne tat wirklich ihr Bestes und brannte schon jetzt in dieser frühen Stunde flirrendheiß vom Friesenhimmel. Mit geduckten Köpfen traten die Freunde unter der alten Linde hindurch hinaus ins Freie. Die niedrig ansetzenden Verzweigungen des ehrwürdigen Baumes hatte man nicht gewagt zu kappen, so wurde jeder halbwegs ausgewachsene Mann gezwungen, beim Passieren eine Verbeugung zu machen. Und diese Respektsbezeugung hatte sich die Linde wirklich verdient. Sich auf solch sandigem und salzigem Boden zu behaupten war eine Meisterleistung, dazu noch dem ständigen Meereswind standzuhalten, der alle Zweige scharf nach Osten kämmte und keinen Widerstand duldete. Karl-Dieter liebte die Linde. Nie ging er an ihr vorbei, ohne ihr sanft den Stamm zu tätscheln.

Doch jetzt ging ihm anderes durch den Sinn. Wie sah denn das aus! Glaubte Mütze allen Ernstes, sich so unter die Menschen wagen zu können? »Moment«, rief Karl-Dieter, stellte die Badetasche, in der er alle ihre Strandutensilien verstaut hatte, auf eine der Bänke, die so einladend vor der Veranda standen, und begann mit konzentriertem Blick in Mützes Ohrmuscheln herumzufingern. Mütze protestierte vergeblich, Karl-Dieter aber ließ keine Einwände gelten: »Es geht doch nicht, dass du mit Sonnenmilch in den Gehörgängen herumläufst!«

Während Mütze Karl-Dieters Behandlung ungeduldig ertrug, fiel sein Blick auf einen Elektrokarren, der gerade um die Ecke bog, um Richtung Hafen weiterzufahren.

»Hast du das gesehen?«, fragte er Karl-Dieter.

»Was denn?«

»Die Orangenkiste!«

Karl-Dieter blickte dem Elektrokarren hinterher und erbleichte.

Die Orangenkiste. Mit ihr hatte es eine besondere Bewandtnis. Um die Urlauber nicht zu erschrecken, transportierte man die Inseltoten als Apfelsinenladung getarnt zum Hafen und dort weiter auf die Fähre. Notwendige ­Tarnung. Wie sah denn das aus, wenn man einen Sarg an Bord schwenkte, hoch über die Köpfe der Gäste hinweg?

»Geh du schon mal zum Strand, ich komm nach!«

»Aber Mütze …«

Widerspruch war zwecklos, das war Karl-Dieter klar. Also trottete er alleine los, auch wenn er sich heimlich ärgerte. War jetzt schon jeder Tote auf Spiekeroog verdächtig? Neunundneunzig Komma neun Prozent aller Menschen sterben eines natürlichen Todes, an Herzinfarkt, Altersschwäche oder einer Gräte. Warum sollte es dem armen Menschen, der in der Orangenkiste lag, anders ergangen sein? Auch in einem Paradies wie Spiekeroog konnte einen der Tod ereilen. Was war daran verdächtig? Karl-Dieter war überzeugt, in Erlangen wäre Mütze niemals einem Leichenwagen gefolgt. Weshalb ausgerechnet jetzt?

 

»Badeunfall«, sagte Max, der schlaksige Inselarzt, »nicht so selten, wie man meint.«

»Die Unvernunft der Leute ist grenzenlos«, ergänzte Ahsen. Der Inselpolizist freute sich sichtlich, seinen alten Kollegen Mütze wiederzusehen.

»Weiß man schon, wer der Mann ist?«

»Ein Volker Vickermann aus Schwerte. Gestern erst angereist, logierte in der Windrose, kleine Pension hinter der Künstlerherberge. Ist an seinem ersten Urlaubstag losgezogen und beim Baden ertrunken.«

»Gibt es Zeugen?«

»Nein, ist weit draußen im Osten bei der Dreiecksbarke passiert. Die Kleider des Toten lagen noch am Strand, mit dem Perso in der Tasche.«

Alle Toten wurden zunächst in der weiten Halle am Kai zwischengelagert, bevor man sie auf die letzte Fahrt ­schickte. Mütze trat näher an die Apfelsinenkiste heran. Der Deckel stand offen. Typische Wasserleiche, kein schöner Anblick. Wie alt mochte der Mann sein? An die fünfzig vielleicht, etwa in Mützes Alter. Deutlich zu jung, um sich von der Welt zu verabschieden. Auch sah er nicht unsportlich aus, und gestern hatte doch kein großer Wellengang geherrscht. Der Inseldoc schien die Gedanken des Kommissars zu erraten.

»Kann selbst erfahrenen Schwimmern passieren. Das eiskalte Wasser, ein Krampf in der Wade, aufsteigende Panik, und aus ist es.«

»Verletzungszeichen?«

»Nicht die geringsten. Vielleicht hatte er vor dem Bad noch ein Bierchen getrunken, gefährliche Kombination.«

»Hm, was passiert jetzt mit ihm?«

»Wird in seine Heimat überstellt. Seine engste Angehörige, eine Nichte, haben wir schon benachrichtigt.«

»Keine Leichenschau?«

»Aber Mütze, was wollen Sie! Tod durch Ertrinken, vielleicht auch ein Herzinfarkt, läuft doch auf das Gleiche hi­naus.«

 

Wo steckte Karl-Dieter? Mütze mäanderte suchend durch die Herde von Strandkörben. Es war ihm äußerst unangenehm, in all die fremden Körbe blicken zu müssen, aber wie sollte er ihn anders finden? Was für eine dumme Idee mit den Handys! Eine kleine SMS, und er wüsste die Strandkorbnummer. Am Badestrand herrschte bereits das lustigste Leben. Mütze musste den Bocciaspielern ausweichen, die mit Schwung ihre farbigen Wasserkugeln warfen, musste aufpassen, nicht von einem tieffliegenden Drachen angefallen zu werden oder spielenden Kindern ihre Strandburgen zu zerstören.

»Huhu! Hier sind wir!«

Aus einem Strandkorb winkten ihm drei alte Damen zu. Das ABC-Geschwader! Auch das noch. Seine Laune sank tief unter den Meeresspiegel.

»Suchen Sie Ihren Freund? Na, kommen Sie schon, er sitzt hier gleich ums Eck!«

»Es ging nicht anders«, flüsterte Karl-Dieter ihm zu, »wirklich! Es war der einzige freie Strandkorb.«

Mütze schaute finster. Zufall oder nicht, dieser Strandkorb war schlimmer als eine Strandburg voller Gören aus Castrop-Rauxel! Zwar hatte Karl-Dieter das Strandmöbel mit viel Mühe so gedreht, dass man die Alten nicht im Blick hatte, dennoch, allein das Gefühl, in der Nähe des Geschwaders zu sein, ließ Mützes Blutdruck steigen. Karl-Dieter schüttelte darüber den Kopf. Wie konnte man die brutalsten Mörder eiskalt zur Strecke bringen, zugleich aber vor drei harmlosen Seniorinnen die Flucht ergreifen wollen?

»Und?«, fragte Karl-Dieter rasch, um auf ein anderes Thema zu lenken.

»Und was?«, gab Mütze brummig zurück.

»Na, die Apfelsinenkiste.«

»’Ne harmlose Wasserleiche.«

»Oje«, entfuhr es Karl-Dieter.

»Wir haben alles gehö-hört«, erklang es fröhlich. Das ABC-Geschwader! Lachend tauchte es vor den Freunden auf und hielt den beiden eine geöffnete Tupperbox hin, in denen prallgefüllte Windbeutel so dicht gequetscht waren, dass die Sahne die Teigdeckel hob.

»Kleine Begrüßungsüberraschung! Selbstverständlich hausgemacht!«

Die Freunde verspürten arge Hemmungen zuzugreifen, wenngleich aus völlig unterschiedlichen Motiven. Was in Mütze vorging, lag auf der Hand. Er hatte entschieden keine Lust, auch nur eine überflüssige Minute mit den drei alten Schachteln zu verbringen. Karl-Dieter, der die drei ins Herz geschlossen hatte, zögerte aus einem anderen Grund. Er hatte diesen Tag wie jeden anderen auch kalorientechnisch generalstabsmäßig durchgeplant; gönnte er sich jetzt einen Sahnewindbeutel, musste dieser beim Abendessen wieder mühsam eingespart werden.

»Nun, nun, die Herren, frisch zugegriffen«, rief das ABC-Geschwader, »nur keine falsche Bescheidenheit.«

Was tun? Die Freunde fügten sich in ihr Schicksal und zogen je einen Windbeutel heraus.

»Nun erzählen Sie schon, Mütze«, drängten die Alten, »Sie wissen doch, die biologische Uhr tickt, in unserem Alter kann jede Sekunde zählen.«

Anstelle des schweigenden Mütze, der lustlos am Windbeuteldeckel lutschte, antwortete Karl-Dieter.

»Man hat einen Toten aus dem Meer gezogen.«

»O Gott, das ist ja fürchterlich«, sagten die Alten im Chor. Das Blitzen in ihren Augen aber verriet, dass sie in keiner Weise geschockt waren, sondern nur umso neugieriger. »Wer war denn der Täter?«

»Nein, nein«, beeilte sich Karl-Dieter klarzustellen, »nur ein Badeunfall.«

»Ein Unfall?« Die Alten schienen arg enttäuscht. »Und warum hat Mütze dann damit zu tun?«

Mütze rollte die Augen zum Himmel, über dem die Sonne steil emporgestiegen war. Warum konnten nicht alle Omas sein wie Karl-Dieters Tante Dörte? Einfach lecker kochen, beim Essen höchstens mal fragen, ob man ein weiteres Schnitzel wünsche, und unaufgefordert frisches Bier aus dem Keller holen. Dieses nervige Geschwader, es war nicht zum Aushalten!

»Sie verschweigen uns doch nichts?«, fragten die Alten und hoben schelmisch die gichtigen Finger.

»Wer kommt mit ins Wasser?«, rief Mütze, stopfte sich den Windbeutel in den Mund und lief los.

 

Während sich alles am Strand vergnügte, lag die Wasserleiche einsam in der vernagelten Orangenkiste, nur ein kleiner Muschelkäfer leistete ihr Gesellschaft. Nachdem er die schützende Ohrmuschel verlassen hatte und über Hals und Brust südwärts gekrabbelt war, versuchte der Käfer, den aufgedunsenen Bauch zu erklimmen, rutschte dabei jedoch dauernd ab. Gut, dass er immer wieder ein Härchen zu fassen bekam! Schon begann das Krabbeltierchen erneut, sich hinaufzuhangeln.

Bald würde die Flut so hoch gestiegen sein, dass die Fähren wieder ablegen konnten. Dann würde man die Kiste aus der Halle rollen, an Bord schwenken und den Toten auf seine letzte Fahrt schicken. In Neuharlingersiel würde man die Leiche in den pietätvollen Räumlichkeiten von Dirk Dirksen, dem erfahrenen Bestattungsunternehmer, in einen ordentlichen Sarg umbetten und in die Heimat nach Schwerte bringen. Auf der Beerdigung würden ein paar Tränen kullern und ein einsames Muschelkäferchen würde drei Füße unter der Erde seine Festlandsverwandten begrüßen. Niemand aber würde je erfahren, auf welch heimtückische Weise sein neuer Freund ums Leben gebracht worden war. Und warum.

 

Als sich Mütze nach dem Bad fernab der Strandkörbe in die Sonne knallte, machte Karl-Dieter einen Spaziergang entlang des Spülsaums. Er liebte es, mit nackten Füßen über den Strand zu laufen, achtete aber sorgfältig darauf, dort ­entlangzugehen, wo der Sand durch das ablaufende Meerwasser gehärtet war. Durch den trockenen Sand zu stauben war ihm zu mühsam, und außerdem verbargen sich dort scharfe Muschelreste, welche gemein in die Fußsohlen pikten.

Noch unangenehmer war nur das Wandern durch den Schlick. Das Gefühl, wie sich die braune Soße durch die Zehenzwischenräume drückte, eventuell noch der unfreiwillige Kontakt mit einem Wattwurm, brrr! Auch mied Karl-Dieter die Stellen, wo das ablaufende Wasser den Sand zu Wellenmustern geformt hatte, was zwar schön aussah, aber beschwerlich zu laufen war.

Am meisten jedoch hasste er es, in eine Qualle zu treten. Zwar gab er mordsmäßig acht, dass ihm dieses Malheur nicht passierte, dann aber zog das Meer mit seinen immer wieder neuen Wellenbildern alle Aufmerksamkeit auf sich, und schon war man wieder in so einen Glibberkuchen getreten. Angeekelt machte Karl-Dieter dann einen kurzen Sprung, wischte panisch wieder und wieder den betroffenen Fuß über den Sand, um auch wirklich noch den kleinsten Rest dieser hässlichen Strandgelatine abzustreifen, und schwor sich, seinen Blick künftig wieder fest auf den Boden zu richten. Das tat er dann auch, aber nur so lange, bis das lockende Rauschen der Wellen wieder übermächtig wurde und sein Blick erneut über die ewig gleiche und doch ewig neue Wasserlandschaft wanderte.

Aus der Tasche zog er nun einen kleinen Reclam-Band: Die schönsten Gedichte vom Meer. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, bei jedem Urlaub ein Gedicht auswendig zu lernen. Mit einem kleinen Post-it-Zettelchen hatte er sein Lieblingsgedicht markiert, es stammte von einem Dichter namens Max Dauthendey.

 

Wir gehen am Meer im tiefen Sand,

Die Schritte schwer und Hand in Hand.

Das Meer geht ungeheuer mit,

Wir werden kleiner mit jedem Schritt.

Wir werden endlich winzig klein

Und treten in eine Muschel ein.

Hier wollen wir tief wie Perlen ruhn.

Und werden stets schöner, wie die Perlen tun.

 

War das nicht wunderbar? Wenn er es sicher konnte, wollte er es Mütze bei einem gemeinsamen Sonnenuntergangsspaziergang am Strand aufsagen. »Wir gehen am Meer im tiefen Sand, die Schritte schwer und Hand in Hand …«

Von Zeit zu Zeit bückte er sich, weil ihm eine besonders schöne Muschel aufgefallen war, die er auflas, vom Sand befreite und sanft in seine Jackentasche gleiten ließ. Ihm war die Idee gekommen, ihr Bad, das ohnehin neu gefliest werden musste, mit einem Band von Muscheln zu schmücken. Auch rund um den Spiegel sollten sich die Muscheln entlangziehen. Er hatte schon mit dem Fliesenleger gesprochen, es würde nicht ganz billig werden, aber es war zu machen. Mütze hielt die Mehrausgabe natürlich für verzichtbar, er brauche keinen Inselkitsch im Bad.

Inselkitsch! Was war an Muscheln bitteschön kitschig? Wenn etwas kitschig war, dann Mützes lorbeerbekränzter BVB-Aufkleber neben dem Handtuchhalter. Mütze hatte eben keinen Sinn für Romantik, wahrscheinlich war das mit seinen Kommissar-Genen unvereinbar. Ein Kriminaler musste durch und durch nüchtern sein, das war wohl nun mal so, dachte Karl-Dieter seufzend und kniete sich zu einer beige-weißen Herzmuschel nieder. Vielleicht war auch das mit dem Gedicht keine so gute Idee. Selbst im Urlaub konnte man nicht so mir nichts dir nichts aus seiner Haut schlüpfen. Kommissar blieb Kommissar.

Karl-Dieter musste wieder an die Wasserleiche denken. Zum Glück war es ein Unfall, sonst würde auch aus diesem Urlaub kein Urlaub werden. Sie waren jetzt das dritte Mal auf der Zauberinsel. Das erste Mal hatten sie den Mordfall der Meerjungfrau lösen müssen, das zweite Mal das Verbrechen vom Strandkorb 513. Das musste reichen. Endlich mal entspannen und das gleich vierzehn Tage lang. Und Primaklima.de meldete nichts als Sonnenschein, hatte das ABC-Geschwader triumphierend kundgetan und auf seinem iPad herumgewischt, nur ein paar harmlose Schönwetterwolken seien zu erwarten. Was für Aussichten!

 

Synchron hatten sie sich in die Sessel fallen lassen, die vor der Oll Kark aufgestellt waren. Die Freunde hielten im Urlaub an der schönen Angewohnheit fest, vor dem Abendessen noch einen kleinen Drink zu nehmen. Mütze bestellte sich ein Jever und Karl-Dieter einen italienischen Prosecco. Und fünfzehn kleine französische Minisalamis als Appetitmacher. Er hatte in der Brigitte gelesen, dass man durch eine kleine Vorspeise den Hunger bei der Hauptmahlzeit entscheidend reduzieren konnte und so in Summe Kalorien sparte. Das musste am Insulinausstoß liegen oder an diesen kleinen Magendrüsen, die den Appetit steuerten. Außerdem konnte er sicher sein, dass Mütze ihm mindestens zehn der Würstchen wegschnappen würde, sodass er mit seinem Diätplan – Windbeutel hin, Windbeutel her – noch im grünen Bereich lag.

Sie wollten gerade anstoßen, als Ahsen, der Inselpolizist, vorbeigeradelt kam. »Bin dienstlich unterwegs!«, rief er mit wichtiger Miene und hob nur kurz den Arm ohne anzuhalten.

»Wahrscheinlich hat eine Oma vergessen, ihren Kaffee zu bezahlen«, lachte Mütze.

»Oder ein Bollerwagenrowdy hat Fahrerflucht begangen«, grinste Karl-Dieter und hob sein schlankes Glas, in dem herrlich die Perlen aufstiegen.

»Auf Spiekeroog!«

»Auf Spiekeroog!«

 

Zum Abendessen hatte ihnen Ramona die Erste, eines der Feenwesen der Linde, einen schönen Ecktisch im Kap Hoorn reserviert. Kap Hoorn nannte sich die linke Veranda, die mit ihren nostalgisch bunten Fensterscheiben die Abendsonne einfing. Karl-Dieter stupste Mütze sanft unter dem Tisch an und deutete diskret zum angrenzenden Raum hinüber, der dem Kartenspiel diente. Auch Mütze musste schmunzeln. Dort saßen die drei Regenschirmherren im Kreis vereint um den Spieltisch. Statt Karten jedoch hatte ein jeder von ihnen einen Tablet-PC vor sich, auf dem er intensiv herumfingerte; gelegentlich stieß einer einen Kommentar aus, den die anderen lustig beantworteten.

»Vielleicht spielen sie Internetskat?«, frotzelte Mütze.

»Geht nicht«, kicherte Karl-Dieter.

»Und warum nicht?«

»Es fehlt das vierte Gerät für den Stock.«

 

Das Abendessen hatte köstlich geschmeckt. Karl-Dieter hatte ein Wolfsbarschfilet auf Gemüse genossen, Mütze ein Steak mit Bratkartoffeln vertilgt. Die 250-Gramm-Variante natürlich und schön blutig, wie es sich für einen Kommissar der alten Schule gehörte. Zum Abschluss hatte ihnen Ramona die Zweite noch einen Portwein serviert. Anschließend waren die Freunde zu einem Abendspaziergang ­aufgebrochen. Welch anheimelnder Anblick, wenn der grüne Ortskern im Dämmerlicht lag und es aus den weißen Sprossenfenstern der Inselhäuser freundlich herausleuchtete. Vor der Eisdiele zogen zwei kleine Jungen ihr Schwesterchen im Bollerwagen im Kreis, während sich die Eltern gegenseitig mit dem Eislöffel fütterten. Karl-Dieter musste an das letzte Jahr denken. Damals hatte er vorgehabt, Mütze zu überreden, gemeinsam ein Kind zu adoptieren. Aber gerade als er den Mut dazu aufgebracht hatte, war Ahsen dazwischengeplatzt. Und daheim in Erlangen hatte Karl-Dieter in den letzten Monaten still resigniert. Jeder zarte Vorstoß in Richtung Kinderwunsch war von Mütze niedergebügelt worden, manchmal sogar ziemlich grob. Nichts würde es werden mit seinem größten Lebenstraum, stellte Karl-Dieter mit Bitternis fest. Vielleicht aber gelang ihm zumindest eines. Vielleicht gelang es ihm, diese traurige Erkenntnis in sein Leben zu integrieren, ohne darüber depressiv zu werden. Nein, zu Depressionen neigte er nicht, nur zu einer gewissen Schwermut, einer sanften Melancholie, die wohl allen differenzierten Menschen eigen ist. Denn wie soll es gelingen, diese Welt stets heiter zu betrachten, ohne zugleich die Augen vor den Realitäten zu verschließen? Glücklich kann doch nur derjenige sein, der nicht so genau hinschaut.

Nachdem die Freunde noch einen Gang zum alten Inselbahnhof gemacht hatten, schlugen sie einen Bogen Richtung Hafen und erfreuten sich an dem blinkenden Lichterspiel am Festland, wo unzählige Windmühlen ihre roten Signale aussandten. Im Hafen hingegen herrschte vollkommene Ruhe. Nur hinten auf dem Schiffrestaurant, der Spiekeroog III, brannte noch Licht, und man sah schemenhafte Gestalten, die sich im Küchenraum bewegten. Auch dort wurde jetzt wohl klar Schiff gemacht. Was Mütze und Karl-Dieter nicht sehen konnten: Ganz hinten an den äußersten Kaianlagen lag versteckt eine Transportfähre, an Bord ein Stapel mächtiger Stahlrohre, bereit, an Land gehievt zu werden.

Als die Freunde in den Ort zurückkehrten, war es endgültig Nacht geworden. Im Blanken Hans, der Kneipe für die Jugend, hockten noch einige Gäste an den Tischen, sonst schien alles zu Bett gegangen zu sein. Am Pavillon vor dem Rathaus aber kam ihnen noch ein älterer Herr entgegen, ein kleiner Grauschopf, der seine Prinz-Heinrich-Mütze tief in die Stirn gezogen hatte. Man wollte mit einem wechselseitigen »Moin!« aneinander vorübergehen, als der Alte Mütze unvermittelt beim Arm packte.

»Auf Spiekeroog ist nichts, wie es scheint, Herr Kommissar!«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Mütze erstaunt. Woher kannte ihn der Alte?

»Schauen Sie doch mal zum Rathaus hinauf. Fällt Ihnen was auf?«

»Was meinen Sie?«

»Finden Sie’s heraus«, sagte der Alte mit grimmigem Lachen und verschwand in der Dunkelheit.

 

Montag

Wie spät war es? Zwei Uhr? Drei Uhr? Und was war das für ein Geräusch gewesen? Da, schon wieder! Als würde jemand kleine Steinchen an die Scheibe werfen. Mütze schien nichts gehört zu haben. Er ratzte nach seinen sieben Jevern gemütlich vor sich hin. Karl-Dieter erhob sich und ging zum Fenster. Jetzt war alles wieder still. Der Garten der Linde lag in vollkommener Dunkelheit. Mühsam öffnete er das Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Niemand war zu sehen. Doch was war das? Ein klägliches Geräusch drang an Karl-Dieters Ohr, ein leises Wimmern, unbeschreiblich traurig, gefolgt von einem hilflosen Schreien. Kein Zweifel, da war jemand in Not, in höchster Not! Augenblicklich rüttelte er Mütze wach, der wie ein Blitz aus den Federn fuhr. Auch Mütze hörte das Wimmern und stürmte im Pyjama aus dem Zimmer, in abenteuerlichen Sätzen die altehrwürdige Treppe hinunter und hinaus zum Garten, Karl-Dieter hinterher. Unter ihrem Fenster stand ein Bollerwagen. In dem Bollerwagen lag ein Kind.

 

»Aber das ist doch nur der kleine Niko«, sagte Karl-Dieter und drückte das Baby beruhigend an sich, während Mütze mit zornrotem Gesicht im Zimmer auf und ab tigerte.

»Du bringst ihn augenblicklich zurück«, zischte er.

»Wohin denn?«, erwiderte Karl-Dieter. »Hast du den Zettel denn nicht gelesen? Ist doch nur für wenige Tage, dann ist Irina wieder zurück.«

»Diese Irina wird von mir was zu hören kriegen!« Mütze konnte sich nicht beruhigen. »Uns ihr Balg aufzuhalsen! Wir werden den Hotelier rufen und das Jugendamt benachrichtigen, augenblicklich!«