My Life in Circles - Brandy Colbert - E-Book

My Life in Circles E-Book

Brandy Colbert

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Beschreibung

Ein vermisster Freund kehrt zurück - schließt sich der Kreis? Alles könnte wieder gut sein. Nachdem Theodoras bester Freund Donovan vor vier Jahren entführt wurde, brach ihre Welt zusammen. Jetzt geht es ihr endlich besser, sie kann wieder essen, trifft sich wieder mit ihren Freunden und geht mit Typen aus, die fast schon annehmbar sind. Mit Hosea z.B., der zwar seine eigenen kleinen Geheimnisse hat und vor allem leider bereits eine Freundin, sich aber der Anziehungskraft von Theo nicht entziehen kann und umgekehrt. Doch dann taucht plötzlich Donovan, ihr Kindheitsfreund, wieder auf. Und für Theo beginnt ein Albtraum. Noch einmal durchlebt sie die Erinnerung an Donovans Entführung und an den Mann, der ihn entführt hat. Denn sie weiß mehr, als sie sich und anderen zunächst eingestehen möchte.

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Seitenzahl: 428

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Brandy Colbert

My Life in Circles

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Nina Frey

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

I

1

Wär schön, ich könnte sagen, dass der Tag von Donovans Rückkehr von Beginn an etwas ganz Besonderes war, dass ich bereits aufwachte im Bewusstsein, dass sich an jenem Donnerstagabend im Okober etwas Außerordentliches ereignen würde.

Aber in Wahrheit ist es ein Tag wie jeder andere.

Ich gehe zur Schule, dann steige ich in den Zug und fahre zum Ballett.

Die Leute kriegen sich immer kaum ein darüber, wie schön das Tanzen doch sei. Lange Beine, die feinen Schläppchen, die kunstvoll gezwirbelten Haarknoten. Und da ist ja auch was dran. Unter anderem deshalb wollte ich unbedingt zum Ballett, damals als Dreijährige. Aber jede Wette, das sind genau die Leute, die noch nie einen Fuß in die Umkleidekabine eines Ballettstudios gesetzt haben. Denn wer einmal hinter die Kulissen geblickt hat, wird das Ganze danach mit völlig anderen Augen sehen.

In der Umkleide nämlich herrscht das pure Chaos.

Und heute bin ich auch noch spät dran, weil die Bahn sich nie an den Fahrplan hält, wenn ich dringend wo sein muss. Ich quetsche mich in eine freie Ecke bei den Schließfächern, lasse meine Jacke einfach fallen und streife mir hastig die Schuhe ab. Alle um mich herum sind schon mehr oder weniger umgezogen und schnattern wild durcheinander, nur ich bin die Einzige, die noch in Straßenklamotten steckt. Phil meinte mal, er würde zu gerne in der Garderobe Mäuschen spielen, und als ich begriff, dass das sein Ernst war, musste ich erst mal ziemlich laut lachen. Hier gibt es durch die Bank nur Körbchengröße A und knochige Hüften – wohl kaum das, was Phil so vorschwebt. Allerdings meinte er, das sei ihm egal, Hauptsache Titten.

Ich linse nach rechts, wo Ruthie Pathman auf der Bankkante kauert und schon in die Spitzenschuhe schlüpft. Ihr Rücken bildet eine perfekte Gerade und ihr festgezurrter Haarknoten lässt keine Locke entkommen.

»Wenn du mich anstarrst, wirst du auch nicht schneller fertig, Theo«, sagt sie, ohne mich dabei anzusehen.

»Nicht alle von uns haben das Glück, mal eben im eigenen Auto in die Stadt fahren zu können«, antworte ich, während ich mir die Strumpfhosen hochziehe. »Mein Zug hatte Verspätung.«

Aber ich zurre zu hastig – und plötzlich macht sich in der Mitte meines Oberschenkels eine Laufmasche breit. Na gute Nacht. Mag sein, dass irgendwo in meiner Balletttasche noch ein Ersatzpaar rumfliegt, aber dafür hab ich jetzt keine Zeit. Die anderen Mädchen ziehen schon im Gänsemarsch aus der Umkleidekabine, und ich hab noch nicht mal mein Trikot an.

Ruthie schiebt ihre Tasche ins Schließfach. »Da musst du dir schon eine bessere Ausrede einfallen lassen. Die Armes-Kindchen-Nummer zieht hier nicht.«

Sie krönt den Lieblingsspruch unserer Tanzlehrerin mit einem Zwinkern und lässt ihr Zahlenschloss zuschnappen. Bei bestimmten Lichtverhältnissen sieht Ruthie aus wie ein Engel, der einer von diesen Bibelillustrationen entsprungen ist – blasse Haut, weizenblonde Locken und seelenvolle blaue Kulleraugen. Aber engelhaft an ihr ist nur ihr Tanz. So zierlich sie auch sein mag: Ich kenne sonst niemanden, auch keinen Jungen, der schon in dermaßen viele Schlägereien verwickelt war wie sie. Und das will was heißen, wenn man bedenkt, wie überdurchschnittlich groß der Arschlochanteil an meiner Schule ist.

Sie geht aus der Tür und reckt dann den Kopf zurück in die Umkleide. »Du hast noch drei Minuten.« Sie grinst ein fieses Katzengrinsen und zieht die Tür fest hinter sich zu.

Mit unverschnürten Schuhbändern kann ich gerade noch durchkommen, aber meine Haare muss ich noch aufstecken, bevor ich im Ballettsaal erscheine, denn Marisa flippt schon aus, wenn nur eine Haarnadel rausragt. Hier läuft alles nach Vorschrift: festes schwarzes Trikot, blassrosa Strumpfhosen, kein fliegendes Haar. Ich bin so dermaßen geliefert. Ich grabsche mir den Klamottenberg, der sich zu meinen Füßen gebildet hat, und stopfe ihn in mein Schließfach. Den Anschiss wegen meiner Frisur muss ich einfach in Kauf nehmen, denn wenn ich jetzt nicht renne, stehe ich vor verschlossenen Türen.

Die Bänder meiner Spitzenschuhe verheddern sich mit jedem Schritt mehr um meine Knöchel und Fersen, als hätten sie es darauf angelegt, mich bei meiner Hetzjagd durch den Gang auf die Nase fliegen zu lassen. Nur Sekunden nach dem offiziellen Unterrichtsbeginn flattere ich gerade noch in den Saal, bevor Marisa die Tür für die nächsten anderthalb Stunden verriegelt. Denn wenn die Oberstufe trainiert, darf niemand zuschauen.

Genauso wenig Spaß versteht sie bei Unpünktlichkeit, mit der Folge, dass sie einem bei kaum zwei Minuten Verspätung nur die Tür aufmacht, um einen in Grund und Boden zu starren und wieder wegzuschicken. Wir haben schon längst verinnerlicht, dass man seine Armbanduhr besser nach den Uhren im Studio stellen sollte. Ich bin sonst nie zu spät und außerdem ihr Liebling, weshalb ich hoffe, mit einer Verwarnung davonzukommen. Aber heute lauert sie nicht neben der Tür. Stattdessen steht sie ganz hinten im Saal und geht mit einem Pianisten, den ich noch nie gesehen habe, das Notenmaterial durch. So vertieft wie sie ist, fällt ihr mein Zuspätkommen noch nicht mal auf. Mit einem Grinsen in Ruthies Richtung nutze ich die gewonnene Zeit, um die Bänder meiner Schuhe festzubinden und mein dickes schwarzes Haar zu einem annehmbaren Knoten aufzustecken.

Dieser Ort fühlt sich manchmal mehr nach Daheim an als mein richtiges Zuhause. In dem Studio gibt es drei Säle, und alle sehen gleich aus: Schwingböden, die den Aufprall dämpfen und unsere Füße und Gelenke schonen, beidseitig lange, hölzerne Ballettstangen, die von all den Händen schon ganz abgegriffen sind, und eine von oben bis unten verspiegelte Wand, in der man an guten Tagen aussieht wie die Schwanenkönigin und an schlechten wie ein aufgequollener Gummiball. Dies hier ist der einzige fensterlose Saal, und ich mag ihn am liebsten, weil einen hier nichts ablenkt.

Wir sind zu zwölft in der Oberstufe, und die meisten von uns haben schon als Kinder zusammen getanzt. Neun Mädchen, drei Jungs – und das bedeutet Selbstbewusstsein und strotzende Egos bis dorthinaus. Caryns Auswärtsdrehung ist der Wahnsinn, und an manchen Tagen sterbe ich vor Neid über Elissas Arme oder die Sprungkraft, mit der Toby sich in die Luft schleudert. Dafür habe ich gute Füße – mein Fußgewölbe ist wie gemacht für Spitzenschuhe – und bin musikalisch, und auch wenn das jetzt eingebildet klingt, ich weiß, dass ich eine der besten Tänzerinnen unserer Gruppe bin.

Ruthie steht an der Ballettstange und dehnt sich die Oberschenkelmuskulatur. »Vom Aushilfspianisten gerettet. Reife Leistung.«

»Wo ist Betty?«, frage ich, als ich mich neben ihr einreihe. Auf meiner anderen Seite ist Kaitlins Platz. Sie sitzt ein, zwei Meter von der Stange entfernt und macht einen rechten Spagat. Ich sehe das Spiel ihrer Muskeln unter der Strumpfhose, als sie sich bis in die Zehenspitzen dehnt.

Ruthie zuckt die Achseln. »Keine Ahnung, aber wo haben sie bitte den Kerl da aufgetrieben? Der sieht irgendwie … bisschen siffig aus.«

»Snobistisch sind wir gar nicht, was?«

Doch dann sehe ich mich auch nach ihm um und … oha.

Ruthie beäugt mich neugierig. »Kennst du den oder was?«

Allerdings. Er geht mit mir zur Schule, in Ashland Hills, unserem kleinen Vorort von Chicago. Er ist eine Stufe über mir, im Abschlussjahrgang. Und er ist Phils Dealer.

»Ich glaub, der ist bei mir auf der Schule«, murmele ich und wende mich wieder der Stange zu, um besser nicht länger darüber nachzudenken, was der in meiner Ballettklasse zu suchen hat.

Endlich durchquert Marisa den Raum, um die Tür abzuschließen, und stellt sich vorne hin, bis sie unsere volle Aufmerksamkeit hat. Sie braucht nicht lange darauf zu warten, weil ihr ohnehin die Aufmerksamkeit immer zufliegt. Wir haben alle einen Heidenrespekt vor ihr, aber nicht weil sie so Furcht einflößend wäre oder eine so fiese Ballettlehrerin wie aus dem Bilderbuch, die durch den Raum patrouilliert und einen bei jedem Fehler erst mal piekst. Sondern vor allem, weil sie eine ehemalige Profitänzerin und das hier ihr eigenes Studio ist, und weil wir alle gesehen haben, wozu sie auf der Bühne fähig ist. Einmal bin ich über ihren Lebenslauf gestolpert, und wenn ich richtig rechne, dürfte sie jetzt so Mitte vierzig sein. Aber sie sieht kaum älter aus als auf der frühen Porträtaufnahme, als sie noch zwanzig war.

»Bevor wir heute loslegen, möchte ich euch noch unseren neuen Pianisten vorstellen.«

Neu? Marisa wählt ihre Worte immer mit Bedacht. Nie im Leben würde sie jemanden als »neu« vorstellen, der nur als Aushilfe eingesprungen ist. Als ich zu ihm hinschiele, liegt sein Blick bereits auf mir. Schnell schaue ich wieder zu Marisa. Bettys Mann sei erkrankt, erzählt sie. Alzheimer. Alles schweigt, weil jeder weiß, dass Betty schon seit Schultagen mit ihm zusammen ist. Sie haben keine Kinder, und Betty hat immer gemeint, in ihrem Leben zählten nur zwei Dinge: ihr Ehemann und das Klavier, und zwar in dieser Reihenfolge. Es ist schrecklich unfair, dass sie jetzt auf eines davon verzichten muss.

Josh Barley lässt bei den Neuigkeiten die Schultern hängen. Er ist Bettys Liebling, und das weiß er auch. Mit seinen roten Haaren und den Sommersprossen ist er auch ziemlich unwiderstehlich. Er hat so was Properes an sich, als würde er ständig Apfelküchlein essen oder am Gemeindepicknick teilnehmen.

»In der Zwischenzeit bitte ich euch, Hosea Roth zu begrüßen, den jüngsten Neuzugang in unserer Ballettfamilie«, sagt Marisa lächelnd. »Hosea hat einen bemerkenswerten musikalischen Hintergrund, und wir können uns glücklich schätzen, ihn hier zu haben.«

Ein bemerkenswerter musikalischer Hintergrund? Das ist entweder das bestgehütete Geheimnis der ganzen Ashland Hills Highschool, oder Marisa bindet uns da gerade einen gewaltigen Bären auf, denn ich habe noch nie mitgekriegt, dass er irgendein Instrument gespielt hätte. Hosea nickt uns kurz zu und lächelt so flüchtig, dass man es beinahe nicht mitkriegt. Sein dunkles Haar ist lang und hinten zusammengebunden. Er trägt die gleichen Klamotten wie seit Urzeiten: verwaschene Jeans, schwarzes T-Shirt und schwarze Stiefel mit fetter Sohle.

Wieder treffen sich unsere Blicke. Er kennt mich. Nicht besonders gut, aber manchmal sehen wir uns im Schulgebäude oder auf irgendwelchen Partys. Und einmal hab ich Phil begleitet, als der ein Päckchen bei ihm abgeholt hat, und Hosea hat unter seiner Pullikapuze hervor aus dem Fenster seines Hauses gespäht und mich auf dem Beifahrersitz von Phils Auto gesehen. Hosea macht zwar überwiegend in Pillen und Phil raucht gewöhnlich nur Gras, aber da sie befreundet sind, besorgt Hosea ihm das Gewünschte.

Bis jetzt haben sich bei mir Schul- und Ballettwelt nie überschnitten, bis auf ein paar Aufführungen, zu denen ich Sara-Kate eingeladen habe, weil sie so darum gebettelt hat. Aber jetzt ist Hosea hier, und ich hab keine Ahnung, wie ich das finden soll, und er stiert mich unbeirrt weiter an, bis ich klein beigebe und wieder wegschaue. Ruthie entgeht nichts und zieht ein schiefes Gesicht, als wir uns in der ersten Position zum Plié an der Stange aufreihen.

Ich tanze schon so lange, dass das Ballett mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Strecke ich die Beine, mache ich das automatisch bis in die Zehenspitzen, und ich achte immer auf meine Arme, meinen Rücken, meine Schultern – egal ob ich von einem Klassenzimmer zum anderen gehe, Geschirr spüle oder auch nur mit Mom auf dem Markt Äpfel raussuche.

Es gibt Leute, die ihre Erinnerungen mit Musik verbinden, aber bei mir hat so gut wie alles auf bestimmte Art mit Tanz zu tun. Fällt das Wort ›Windpocken‹, ist mein Hirn sofort voll mit Goldbordürenstoff, weil mir einfällt, wie ich mich als etwa Zehnjährige durch eine Aufführung gequält habe, wie ich ständig heimlich die Finger in den Stoff grub, weil ich nie hätte tanzen dürfen, wenn sie davon gewusst hätten. Und der leiseste Mentholhauch erinnert mich an damals vor zwei Jahren, als ich die Sehnenscheidenentzündung hatte und mir ständig den Knöchel mit der Stinksalbe eingeschmiert habe, um den Schmerz zu betäuben.

Spitzentanz erinnert mich an Trent. Mein erstes Paar Spitzenschuhe habe ich mit zwölf bekommen, und ein Jahr später wurde er mein erster Freund. In ihn habe ich mich fast so schnell verliebt wie in den Spitzentanz, und deshalb gehört für mich beides untrennbar zusammen. Einmal, als wir ein paar Wochen zusammen waren und in seinem Auto saßen, wollte er meine Spitzenschuhe sehen. Ich zog sie langsam aus meiner Balletttasche und legte ihm einen davon in den Schoß, sodass die Bänder wie seidige Wellen zwischen uns schwammen. Es war ein ganz neues Paar, noch völlig makellos, ein weiches, zartes Rosa auf seiner dunkelblauen Jeans. Er strich ganz verblüfft über den Satinstoff, sah mich an und sagte, sie seien hübsch, so hübsch wie ich. Manchmal jammerte ich wegen meiner schmerzenden Füße, und dann sagte er, ich solle es doch einfach lassen, wenn es so wehtue. Ich glaube, er hat nie kapiert, dass es all das wert ist, sogar die wunden Füße und Knöchel. Das Einzige, wofür er brannte, war offenbar ich.

In der ersten Zeit war ich an manchen Tagen so erschöpft vom Spitzentanz, dass ich gar keine Lust auf das Training hatte. Und manchmal hatte ich auch nicht richtig Lust auf das, was Trent und ich in seinem Auto machten. Oft hatte ich richtig Sehnsucht nach ihm und fühlte mich sexy, wenn er mich mit seinem nackten Oberkörper auf die Rückbank seines Autos presste und mir ins Ohr flüsterte, wie einzigartig ich doch sei. Aber manchmal wünschte ich mir, wir könnten wieder zurück zu den vorsichtigen Küssen und Berührungen, bei denen wir noch all unsere Kleider anhatten. In diesen Momenten war ich völlig verwirrt darüber, dass ich mich nach dem Sex mit ihm immer ein bisschen dreckig fühlte. Dabei machten wir es ja schon seit Monaten …

Wir dehnen und kräftigen Knöchel und Füße, während wir uns durch Tendu und Dégagé arbeiten, das Bein im Rond de jambe im Bogen kreisen lassen. Meine Lieblingsübung an der Stange ist das Grand battement. Da steckt so eine Wucht dahinter, wenn man das eine Bein so hoch wie möglich in die Luft wirft und es dann in einer völlig kontrollierten Bewegung zum Standbein zurückführt. Um es ganz richtig hinzukriegen, müssen beide Beine völlig gestreckt bleiben, während wir das Grand battement devant, à la seconde und derrière durchführen – nach vorne, zur Seite und nach hinten – und das in beide Richtungen.

Als wir an der Stange fertig sind, gehen wir in die Saalmitte, wo wir ähnliche Übungen wie vorher machen, doch weil wir jetzt aufgewärmt sind, brauchen wir die Stange als Stütze nicht mehr.

Als wir mit den schnelleren Schrittfolgen beginnen, sind meine Muskeln geschmeidig, meine durchgestreckten Beine kerzengerade und sicher im Auftritt. Ich halte mich an dem unsichtbaren Faden aufrecht, von dem Marisa immer spricht und dem ich meine hohen Sprünge und meinen langen, eleganten Hals verdanke. Und obwohl ich weiß, dass Hoseas Klavierspiel die Hintergrundmusik bildet, kann ich ihn dabei ausblenden und so tanzen, als wäre ich alleine im Raum. Ich spüre Marisas Blick auf mir. Findet sie etwa, ich sehe müde aus? Vorsichtshalber lege ich in mein nächstes Jeté noch mehr Kraft als in die vorigen.

Einen kurzen Seitenblick auf Hosea gestatte ich mir trotzdem. Er ist gut. Sogar sehr gut. Als spiele er schon so lange Klavier, wie ich tanze. Es ist die übliche klassische Musik, zu der wir schon seit Jahren tanzen, doch nun hat sie eine persönliche Note, die alles noch satter, noch bedeutungsvoller klingen lässt, als wäre jedes Stück eigens für unsere Ballettklasse komponiert worden. Das hätte ich nie von Hosea erwartet, und ich frage mich, ob er mit seinen Fähigkeiten absichtlich hinter dem Berg hält. So als wäre Klavierspielen nur was für Milchbubis, und diesen Stempel will man bloß nicht abkriegen.

Als Marisa den Unterricht beendet, bin ich völlig erledigt. Ich tanze an den Schultagen drei Abende die Woche und dann außerdem noch samstags. Danach bin ich immer schweißgebadet, meine Beine brennen, mein Atem geht schwer. Heute frage ich mich, wie fertig ich wohl aussehe, und verkneife mir beim Rausgehen den letzten Blick in Richtung Klavier.

 

Donnerstags bin ich nach dem Ballett immer mit Sara-Kate und Phil zum Essen verabredet. Mag schick klingen, aber wir treffen uns nicht in einem vornehm beleuchteten Restaurant mit weißer Tischdecke und schwerem Besteck, sondern in der hintersten Schmuddelnische des Casablanca, wo wir auf aufgeplatzten Plastikpolstern an einem Tisch mit klebrigem Zuckerspender sitzen.

Manchmal fahren wir vorher noch ein bisschen im Auto rum und rauchen ein Haschpfeifchen, bevor wir essen gehen. Heute wäre eigentlich der ideale Tag dafür: Die Winter hier sind beschissen, aber auf den Oktober in Chicago lass ich nichts kommen. Alles welkt und stirbt, schon klar, aber an den Blättern kann ich mich nicht sattsehen – dieses Gold und Weinrot und die feurigen Orangetöne, die an den Ästen leuchten. Mir gefallen auch die fetten Kürbisse, die vor den Haustüren stehen, und die herrliche Luft – kühl, aber nicht kalt, in der Sonne warm und frisch zugleich.

Aber heute fällt die kleine Extrarunde aus, weil Phil morgen einen Trigonometrietest hat und noch dafür lernen möchte. Sein kastiger Sedan und Sara-Kates graublauer Käfer parken schon vor dem Casablanca, als ich vom Bahnhof herkomme. Ich lasse mich gerade rechtzeitig in unsere Nische gleiten, um noch in den Genuss von Phils Ausführungen über die Vorzüge von Goodwill gegenüber kleinen Trödelläden zu kommen. Phil Muñoz hat zu allem eine Meinung, je abwegiger, desto besser.

»Wie war das Training?« Sara-Kate dreht sich regelrecht dankbar zu mir um. Phils trockene Predigten sind sogar ihr gelegentlich zu viel.

»Gut. Nur …«

»Nur was?« Sie schiebt sich eine fliederfarbene Strähne hinters Ohr und langt nach der Speisekarte, die zwischen den Ketchup- und Senfflaschen klemmt.

»Nur … ich war zu spät, wegen dem blöden Zug«, sage ich, während ich Tasche und Mantel auf dem freien Platz neben Phil verstaue.

Er hört kurz auf, in seiner Tasche nach dem Trigonometriebuch zu fischen, um mich durch seine Brille hindurch einer kritischen Musterung zu unterziehen. Aus einem bestimmten Winkel betrachtet, verschmilzt der dünne Goldrahmen fast mit seiner hellbraunen Haut. »Is ja ’ne Spitzengeschichte, Theo.«

Ich schneide ihm eine Grimasse. Dann rücke ich heraus: »Ich muss dich mal was fragen.«

»Die Antwort dürfte negativ ausfallen.«

»Das Risiko muss ich wohl eingehen.« Ich flüstere: »Holst du dein Gras immer noch von Hosea Roth?«

»Klar.« Phil guckt mich neugierig an. »Willst du etwa was kaufen?«

»Kommt gar nicht infrage«, mischt Sara-Kate sich ein und schüttelt so nachdrücklich den Kopf, dass ihr silberner Lippenring glitzert. »Der halbe Spaß besteht doch darin, sich bei Phil durchzuschnorren. Du darfst dir jetzt nicht plötzlich selbst was kaufen.«

»Mach ich ja gar nicht«, lache ich, denn der Blick, den Phil ihr zuwirft, ist einfach zu komisch. »Aber eine Freundin möchte vielleicht. Was kaufen, mein ich.«

»Pillen oder Gras?«

»Pilze«, sage ich, um ihn zu verwirren.

Er verzieht das Gesicht. »Schräg. Was ist denn das für eine Freundin? Wohl nicht an unserer Schule, denn da kommt ja wohl keiner an Hosea vorbei.«

»Eine Freundin aus dem Ballett. Sie ist auf ’ner anderen Schule.«

»Ich kann gerne mal für dich fragen.«

»Nee, ist schon gut.« Auweia, was würde Hosea nur denken, wenn er wüsste, dass ich mich hier nach ihm erkundige? »Sie hat gemeint, die Kerle in der Stadt sind alle entweder Nieten oder Widerlinge, und sie sucht einfach nur wen, bei dem das entspannt läuft.«

»Entspannter als Hosea geht schlecht.« Phil hebt eine Augenbraue, als müsse das ja wohl jeder wissen. »Wenn er selbst nichts auftreiben kann, dann findet er wen.«

»Nein, nein, schon gut.« Ich krame ziellos in meiner Tasche herum, damit mir Phil die Lüge nicht an den Augen abliest. »Wahrscheinlich hat sie’s eh nicht ernst gemeint.«

Sara-Kate zwirbelt ihren Strohhalm zwischen den Eiswürfeln herum. »Ich glaub, ich hab Hosea, seit ich ihn kenne, keine zwanzig Worte sprechen hören.«

»Wahrscheinlich lässt ihn Klein nicht zu Wort kommen.« Phil schlägt sein Buch auf der Seite mit den Lernempfehlungen auf.

»Warum sind die überhaupt befreundet?«, frage ich und knöpfe meine Strickjacke bis oben zu. Sie fusselt schon, weil sie so oft gewaschen wurde, und das leuchtende Grün ist längst ein trübes Olivbraun, aber für die Abstecher ins Casablanca habe ich sie trotzdem stets in der Tasche. Hier ist es immer eiskalt: Im Sommer ist die Klimaanlage viel zu stark eingestellt und im Winter wird an der Heizung gespart.

»So schwierig ist die Antwort nicht.« Phil zuckt die Achseln und schiebt sich eine dunkle Haarsträhne aus den Augen. »Hosea hat den Stoff. Klein hat das Geld.«

»Hosea ist ja ganz süß«, meint Sara-Kate nachdenklich und saugt an ihrem Strohhalm, »aber die schwarzen Stiefel kann ich nicht ab. Sehen irgendwie brutal aus.«

Die ältliche Kellnerin namens Jana, die uns schon seit meiner Ankunft missmutig beäugt, kommt herbeigeschlurft, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Sie hasst uns, aber irgendwie hat sie jedes Mal gerade Schicht, wenn wir kommen. Vielleicht hasst sie uns auch deshalb. Sie tappt widerwillig mit ihrem abgelatschten Tennisschuh auf den Boden, während sie uns das Tagesangebot runterleiert, und seufzt ungeduldig, als Sara-Kate zu lange zwischen den frittierten Gürkchen und den Zwiebelringen als Grillkäse-Beilage schwankt. Phil bestellt sich ein Chili con Carne.

Über die lasche Linsensuppe hier zerreißt sich zwar jeder das Maul, aber bei der weiß ich wenigstens genau, was ich kriege. Sie ist nur deshalb auf der Speisekarte gelandet, weil sich mal jemand über fehlende vegetarische Gerichte beschwert hat, und entweder können die Köche sie nicht anständig zubereiten oder sie wollen nicht. Sie ist komisch mehlig und schmeckt nach nichts, aber wenigstens muss ich mir keine Gedanken darüber machen, ob da wohl Sahne oder Käse drin ist.

Auf dem Rückweg zum Tresen bittet irgendwer Jana, den Fernseher lauter zu stellen, und da fällt es mir auf. Dass jeder hier, ob auf einem Barhocker oder in einer Nische, ob Kellner, Abräumer oder Burgerbrater, auf die Mattscheibe oben in der Ecke starrt. Normalerweise laufen da Soaps, Baseballübertragungen oder miese Fernsehfilme.

Aber heute kleben aller Augen auf den Sondernachrichten auf dem Bildschirm, und unsere Blicke schließen sich an. Zuerst glaube ich, dass mich die Erschöpfung nach dem Training eingeholt hat und ich nicht mehr ganz klar sehe. Denn als ich zur Nachrichtensprecherin blicke, springt die Kamera von ihrem Gesicht zum Bild meines alten besten Freundes.

Meines toten besten Freundes.

Donovan.

Ich stehe auf und gehe nach vorne zur Theke, völlig leer im Kopf, ohne Sara-Kate und Phil zu beachten, die mir sofort nachfolgen. Donovans Name fällt noch ein, zwei Mal im Jahr – am Jahrestag seines Verschwindens, oder wenn wieder mal jemand mit einem falschen Hinweis ankommt. Wenn etwa jemand glaubt, ihn in einem Burger King in Vermont gesichtet zu haben, oder in der Kassenschlange eines Freizeitparks in Utah. Mir ist schon vor langer Zeit klar geworden, dass ich die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm besser aufgeben sollte. Er war mein bester Freund, aber jeder weiß, dass Kinder, die länger als vierundzwanzig Stunden verschwunden sind, mit aller Wahrscheinlichkeit entführt und missbraucht oder umgebracht wurden, oder beides.

Aber diesmal ist alles anders. Die glänzenden Lippen der Nachrichtenfrau sind zu einem Lächeln gedehnt, und sie verhaspelt sich ständig, stolpert über den hastig zusammengestoppelten Text. Er lebt, heißt es. Sie haben Donovan gefunden.

Meine Ohren verabschieden sich als Erste. Ich höre keine Stimmen mehr, nur noch dieses Fiepsen, grell und unbarmherzig, und habe keine Ahnung, ob Sara-Kate und Phil und die anderen im Lokal das auch hören, weil meine Augen an diesem Schulfoto kleben, einem aus unserem letzten gemeinsamen Jahr. Ich habe das gleiche Bild und bewahre es in meinem Nachttisch auf, nicht bei den Fotos von meinen anderen Klassenkameraden. Es so auf dem Bildschirm zu sehen fühlt sich an, als hätte wer mein Tagebuch geklaut und führe es jetzt aller Welt vor.

Erst jetzt nehme ich wahr, was um mich herum passiert. Die Stille. Dass zum allerersten Mal überhaupt in diesem Schuppen absolut jeder den Mund hält. Dass alle nur zum Fernseher schauen, sich dann mit offenen Mündern anblicken. Dass Sara-Kate weiter nach vorne geht, um einen besseren Blick zu bekommen, und dass Phil mir den Rücken reibt und mich aus riesigen dunklen Augen mustert.

Donovan lebt.

»Die haben diesen Jungen gefunden«, sagt Jana und ihre Hände umkrallen den schwarzen Kaffeekannengriff.

Ich versuche, mich aufrecht zu halten, aber diese Beine, dieselben Beine, auf denen ich bis nach New York tanzen würde – die können nicht mehr. Die sind aus Wackelpudding, und wenn Phil mich nicht hielte, würde es mich jetzt voll auf den Boden legen. Diese Mischung aus Erleichterung und Verwirrung und Euphorie ist zu gewaltig, als dass ich ihr standhalten könnte. Ich breche in Tränen aus, lehne mich an Phil und lasse die Tränen immer weiter strömen, bis er und Sara-Kate mich auf meinen Wackelbeinen nach draußen führen.

Nach draußen an die frische Herbstluft, wo ich zum ersten Mal seit Minuten wirklich Luft hole, wo ich es laut sage, um mich selbst davon zu überzeugen:

»Donovan lebt.«

Donovan ist zu uns zurückgekehrt.

2

In meiner Nachbarschaft ist der kollektive Wahnsinn ausgebrochen.

Die Pratts – Donovans Familie – wohnen zwei Häuser weiter von uns, weshalb unsere Straße gesperrt ist. Ich stehe an der Ecke und weise mich dem Polizisten aus, versuche, mit Zitterhänden meine Papiere rauszuziehen und gleichzeitig einen Blick darauf zu erhaschen, was da hinten passiert. Von diesem Tag habe ich oft genug geträumt, aber in meiner Version stand Donovan auf der Treppe vor seiner Haustür und hat auf mich gewartet, genau wie ich all die Jahre auf ihn gewartet habe. Mit meiner Version hat das hier nichts zu tun.

Ich werde bis zu unserer Auffahrt eskortiert, und mehrere Beamte müssen die Reporter fernhalten, während ein anderer Polizist mich zur Haustür bringt und lächelnd abwartet, bis ich es heil reingeschafft habe, bevor er wieder die Verandatreppe runtereilt.

Unser Haus ist völlig ruhig, das komplette Gegenteil der knallenden Fensterläden und gebrüllten Fragen und dem Gebrumm zu vieler Stimmen da draußen auf der Straße. Ich sauge die Stille in mich auf.

»Mom?«, rufe ich.

Aber ich weiß schon, dass sie nicht da ist. Sie hat eine Teilzeitstelle in der Forschungsabteilung der Bibliothek, und heute ist ihr langer Tag. Dad wird auch frühestens in einer halben Stunde hier sein. Ich habe keine Ahnung, was ich mit mir anfangen soll, und so pflanze ich mich einfach mit bis obenhin zugeknöpftem Mantel aufs Sofa und warte.

Genau dreißig Minuten später höre ich, wie die Garagentür langsam aufgeht, mein Vater reinfährt und die Tür wieder quietschend runterzittert. Dann höre ich seine eiligen Schritte, das Klicken der Lichtschalter, als er sich auf der Suche nach mir den Weg durchs dunkle Haus bahnt.

»Hier bin ich«, sage ich, als er an der Wohnzimmertür vorbeihastet.

Er macht sofort kehrt und kommt rein ins Zimmer, stellt sich vor mich hin und kratzt sich am Kopf. »Hast du meine Nachricht gehört? Mom und ich haben ein paarmal versucht, dich anzurufen.«

Leicht benommen sieht er aus, die silberne Krawatte mit den winzigen schwarzen Tupfen hängt etwas schief. Die Krawatte hab ich ihm letztes Jahr zum Vatertag geschenkt. Er verwendet alles, was ich ihm schenke. Sogar der unförmige Stiftebecher, den ich in der dritten Klasse in Kunst getöpfert habe, steht noch auf seinem Schreibtisch in der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in der Innenstadt von Chicago.

»Ach so?« Ich glaube, ich habe nur einmal kurz wegen der Uhrzeit aufs Handy geguckt. Von einem Klingeln oder Mailboxnachrichten habe ich gar nichts mitgekriegt. »Tut mir leid. Da war so viel anderes los.« Ich mache eine Geste in Richtung des Trubels jenseits des Vorhangs.

Er lächelt vorsichtig. »Kannst du laut sagen. Ganz schöner Zirkus da draußen. Aber was hältst du davon, wenn wir den Paparazzi die Stirn bieten und Essen gehen, sobald deine Mutter heimkommt? So zur Feier des Tages.«

»Ich hab schon gegessen«, sage ich und kralle meine Finger in die beiden Polster neben mir.

Dann wird mir bewusst, dass das gar nicht stimmt, weil die Linsensuppe es nie an meinen Tisch geschafft hat. Ob Jana uns das Essen wohl noch bringen wollte und sie sauer war, weil wir einfach so abgehauen sind, ohne die Bestellung zu canceln?

»Können wir nicht lieber hierbleiben?« Ich sehe ihn an, knete dabei meine Hände im Schoß. »Ich will Nachrichten sehen.«

Dad platzt fast vor Energie. Er will raus. Er nestelt sich unablässig am Kragen herum und starrt zu den Fenstern. Aber dann lächelt er wieder, diesmal breiter. »Klar doch, Schatz. Hast recht. Es ist besser, wir bleiben alle hier.«

Und so findet Mom uns auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzend, wie wir dieselbe Geschichte auf zwei verschiedenen Sendern verfolgen. Sie setzt sich auf meine andere Seite, und als unsere Blicke sich treffen, muss ich schnell wegschauen, weil in ihren Augen Freudentränen stehen und ich nicht will, dass meine eigenen bei dem Anblick gleich wieder losfließen. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher richte, legt sie ihre Hand auf meine.

Der siebzehnjährige Donovan Pratt ist nach vierjähriger Gefangenschaft nach Illinois heimgekehrt.

Eilmeldung: Teenager aus Chicagoer Umland nach jahrelanger Entführung gerettet.

Anwohner bezeichnen seine Rückkehr als Wunder.

Der Sender bringt diese Art von Nonstop-Berichterstattung, bei der man sich normalerweise irgendwann abwendet, weil einem das Ganze schon zu den Ohren herauskommt. Doch ich sauge alles in mich auf, finde immer noch ein Lückchen, um frische Informationsfitzelchen unterzubringen. Die Berichte sind vage. Alle Nachrichtensprecher machen Andeutungen in Richtung Missbrauch und kramen vergleichbare Entführungsfälle der Vergangenheit hervor, auch niemals aufgeklärte. Sie berichten, wo Donovan gefunden wurde: in einem Frühstücksbuffet in Las Vegas, zusammen mit der Person, die ihn vermutlich all die Jahre festgehalten hat. Es war ein paar Minuten nach neun, sagt der Sprecher mit dem vollen Haarschopf und dem müden Blick.

Kurz nach neun hatte ich gerade die zweite Stunde. Chemie. Mir schnürt sich der Hals zu, als ich zu rekonstruieren versuche, ob ich währenddessen irgendwas gespürt habe. Hab ich nicht. Ich war geistig irgendwo abgetaucht, wie an jedem anderen Wochentag auch.

Ein paar Sender zeigen einen Zeitstrahl, um sein Leben zu illustrieren. Sie setzen schicke Grafiken und kräftige Farben ein, aber letztlich läuft es doch immer auf dasselbe raus: dreizehn Jahre lang eine normale Kindheit in Ashland Hills, dann vier Jahre in der Gewalt eines Fremden. Ich warte und warte, aber die Identität des Entführers wird nicht enthüllt. Ein Verdächtiger wurde verhaftet, mehr wissen wir nicht.

»Du solltest dich langsam mal bettfertig machen«, sagt Mom gegen elf ganz sanft.

Abseits der großen Nachrichtensender ist die Berichtwelle etwas abgeflaut. Ab jetzt wird nur noch wiedergekäut, aber ich fürchte trotzdem, etwas zu verpassen, wenn ich jetzt ins Bett gehe. Ich möchte wissen, wer ihn gefangen gehalten hat. Was ihm angetan wurde.

»Morgen früh wird er immer noch hier sein«, sagt meine Mutter, als könne sie meine Gedanken lesen.

Irgendwie schwebe ich rauf in mein Zimmer, und schon liege ich unter der Decke. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Wie kann jemand Tag für Tag da sein, jahrelang, und dann plötzlich nicht mehr? Wie kann jemand so lange weg sein und dann einfach zurückkehren, an einem Donnerstag, als sei das immer so geplant gewesen? Ich werde es erst glauben, wenn ich ihn sehe.

Donovan war als Kind ziemlich unerschrocken. Nach dem Motto: erst reden, dann Gehirn einschalten. Aber es war immer etwas dran an dem, was er sagte. Wie damals in der Geschichtsstunde in der sechsten Klasse. Die hatte mir schon die ganze Woche bevorgestanden, weil wir gerade den amerikanischen Bürgerkrieg durchnahmen und es nichts Ätzenderes gibt, als das einzige schwarze Kind in der Klasse zu sein, wenn der Lehrer über Sklaverei redet.

Meistens verschwende ich keinen Gedanken daran, was für eine Exotin ich in dieser Stadt bin. Die Rassentrennung in Chicago ist heftig und mein Vorort ist fast vollständig weiß, aber meine Mitschüler behandeln mich nicht groß anders als jeden anderen auch. Wir sind schon so ewig zusammen in der Schule, dass sie vergessen zu haben scheinen, dass meine Haut dunkler ist als ihre – bis irgendwas sie darauf stößt. Und die Diskussion über Sklaverei ist eine dieser Gelegenheiten. Das kann in zwei mögliche Richtungen gehen: Entweder ruft der Lehrer einen auf, weil man ja der Experte sein muss, oder sie meiden einen und konzentrieren sich auf die blonden, blauäugigen Mitschüler.

Mr Hammond war vom alten Schlag und scherte sich um nichts. Er erzählte irgendetwas über die Auswirkungen, die die Jim-Crow-Gesetze heute noch haben, und kaum hatte er seine Frage fertig formuliert, schaute er auch schon mich an und sagte: »Theo, vielleicht hast du ein Beispiel für uns, wie sich die Jim-Crow-Gesetze noch jetzt, Jahrzehnte später, auf dich oder deine Familie auswirken?«

Ich spürte Blicke auf mir, und ich spürte Blicke, die mir lieber auswichen. Es war so mucksmäuschenstill im Raum, dass ich in der Reihe vor mir Macy Wilkins’ Magen knurren hörte. Und so sehr ich es mir auch wünschte: Mr Hammond wurde in dem Moment nicht vom Boden verschluckt und verschwand nicht auf schnellstem Wege in die Spezialhölle für taktlose Lehrer.

Ich saß einfach nur da und zermarterte mir das Hirn nach einer nicht allzu pampigen Antwort, als mir einfiel, dass ich dieses Jahr ja gar nicht das einzige schwarze Kind in der Klasse war. Donovan saß am andern Ende des Zimmers, und ich musste ihn noch nicht mal ansehen, um zu wissen, dass er innerlich kochte.

Aber nie hätte ich erwartet, dass er etwas sagen würde.

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, hörte ich von hinten: »Warum haben Sie Theo aufgerufen, Mr Hammond?«

Unser Lehrer wandte verwirrt den Blick von mir. »Bitte, Donovan?«

Ich linste zu ihm hinüber. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl, die Unterarme ganz ruhig vor sich auf dem Tisch, Hände flach ausgebreitet. Seine braunen Augen waren schmal, und sein Kinn mit dem Grübchen hatte er weit vorgereckt.

»Ich habe gesagt, warum haben Sie Theo aufgerufen? Sie hat sich nicht gemeldet.«

Mr Hammonds Gesicht wurde ganz knittrig. »Würdest du die Frage gerne beantworten?«

»Nein. Ich denke, keiner von uns beiden sollte darauf antworten müssen.« Donovans Stimme war ruhig, aber aus seinen Augen sprühte Gift.

»Nun, Donovan«, sagte Mr Hammond zögerlich, während erst sein Hals, dann die Wangen und dann seine Stirn in einem faszinierenden Rotton entflammten. »Ich habe gefragt, weil ihr vielleicht eine … einzigartige Perspektive zu bieten habt, da eure Vorfahren so stark involviert waren.«

Und dann war Donovan der Kragen geplatzt. »Das ist doch Bockmist! Warum fragen Sie nicht Joey oder Leo oder sonst irgendwen in der Klasse nach deren Perspektive?« Inzwischen hatte er sich weit über den Tisch gehängt, umklammerte die Kante, als verhinderte die allein einen echten Tobsuchtsanfall. »Meinen Informationen nach waren deren Vorfahren auch stark involviert. Ihre genauso!«

Er wurde wegen seiner Frechheit zum Rektor geschickt, aber dem Grinsen nach zu urteilen, das er mir im Rausgehen zuwarf, schien ihm das die Sache völlig wert zu sein. Ich zwinkerte ihm rasch ein Danke zu. Während der gesamten Bürgerkriegseinheit rief Mr Hammond weder ihn noch mich noch ein einziges Mal auf.

Donovan war unerschrocken – aber wie lange hält man das durch? Während ich unter meiner Decke liege und in die Luft starre, geht mir nur noch im Kopf herum, ob vier Jahre wohl gereicht haben, um ihn kleinzukriegen.

Nachdem das mit der Entführung passiert war, tat ich mich schwer mit dem Schlafen. Immer wieder stand ich mitten in der Nacht auf und huschte zu meinen Eltern ins Schlafzimmer, um zu fragen, ob ich bei ihnen bleiben könnte.

»Was ist los, Liebling?«, fragte Mom dann immer und setzte sich im Bett auf, mit dem seidenen Tuch, das sie sich nachts immer eng um die Haare wickelt.

Ich war damals dreizehn, eigentlich viel zu alt, um noch zum Trösten ins Elternbett zu flüchten. Ich konnte ihnen nicht erzählen, dass ich stets im Hinterkopf hatte, dass so etwas auch mir passieren könnte, wenn es einem so tollen Menschen wie Donovan passierte.

Aber sie zeigten immer Verständnis. Dad sagte einfach: »Kannst nicht abschalten, hm?«, und dann nickte ich und kroch zwischen ihnen ins Bett, umgehend beruhigt von ihrem rhythmischen Atmen, dem vertrauten Zimmergeruch, der Wärme ihrer Laken.

Aber das war vor vier Jahren, und jetzt ist Donovan wieder da. Kein Grund also, sich zu fürchten – wenn ich nicht gerade darüber nachdenke, wer ihn gekidnappt hat. Aber selbst das würde nichts ausmachen, weil der Mensch ja in Untersuchungshaft ist. An diesen Menschen hab ich in den letzten Jahren so oft gedacht. Mann oder Frau? Alt oder jung? Schwarz wie Donovan und ich, oder weiß wie alle anderen hier? Ich denke an die seitenlange Liste im Internet, auf der Chicagos Sexualverbrecher aufgeführt sind, daran, dass die meisten nichts miteinander gemein haben als das Bedürfnis, anderen wehzutun.

Ich döse ein wenig weg, wache aber gegen zwei Uhr morgens wieder auf. Ich muss mal. Ich bleibe eine Weile auf der Toilette sitzen und frage mich, ob die letzten Stunden nur ein Traum waren. Vielleicht habe ich einfach nur in meiner Nische im Casablanca gesessen und meine Chemiehausaufgaben fertig gemacht, während Phil sein Trigonometriezeug gelernt und Sara-Kate ihr Gedicht für Englisch verfasst hat. Vielleicht hab ich ja diese mehlige Linsensuppe gegessen und vielleicht ist Donovan doch keine zwei Häuser von mir entfernt?

Meine Mutter wartet im Flur, als ich rauskomme.

»Mama.« So hab ich sie nicht mehr genannt, seit ich ein kleines Mädchen war. »Mama, haben sie ihn echt gefunden?«

Sie streckt die Arme nach mir aus und wir schmiegen uns aneinander. Meine Nase presst sich in ihre Achselhöhle. Sie legt ihre Wange auf meinen Kopf.

»Ja«, raunt sie mir ins Ohr. Ihre Stimme klingt schläfrig, aber vor allem klingt sie zufrieden. »Er ist zurück.«

3

Die meisten an meiner Schule behandeln den Freitag ohnehin wie einen freien Tag, doch die Nachricht von Donovans Rückkehr macht die allgemeine Unruhe noch ein bisschen schlimmer, und so streicht die Rektorin die zweite Stunde und beruft stattdessen eine Vollversammlung ein.

Bevor es losgeht, stehle ich mich nach draußen, um mich mit Sara-Kate und Phil hinterm Sportplatz auf eine Tüte zu treffen.

Sie stehen zwischen der Tribüne und dem Zaun, der das Ende des Schulgeländes markiert, und bei ihnen sind auch Klein und Hosea. Klein steht fast jeden Morgen hier. Wetten, der bringt nicht mehr zusammen, wann er zuletzt einen Schultag unbekifft durchgestanden hat.

Er entdeckt mich als Erster. Man merkt es kaum, aber er richtet sich etwas auf, reckt das Kinn ganz leicht in die Luft.

»Wie läuft’s, Langbein?« Er macht mir Platz, seinen grünen Augen entgeht keine meiner Bewegungen.

Er riecht wie eine Rasierwasserfabrik, und was immer das für eine Marke ist, stinkteuer ist sie bestimmt. Genau wie jeder verdammte Textilfetzen, den er am Leib trägt, und das glänzende Auto, mit dem er heute Morgen zur Schule gekommen ist.

»He, degradier meine beste Freundin nicht zum Objekt«, sagt Sara-Kate mit trägem Grinsen. Ein Windstoß weht uns entgegen und sie schlingt die Arme um ihr Vintage-Cocktailkleid. Es ist dünn und auf stylische Art ramponiert – eigentlich müsste sie erfrieren in dem Teil. Aber Sara-Kate glaubt nicht an Mäntel, solange es nicht unter Null hat, und selbst dann nur ab und an.

Sie reicht mir einen halb gerauchten Joint. Ich sehe auf den ersten Blick, dass Phil den gebaut hat. Er ist der Experte. Phil macht nichts Halbes. Wenn schon Kiffer, dann wenigstens mit Stil, mit perfekt gedrehten Joints und Feuerzeugen, die einen nie im Stich lassen.

»Ich behandle sie nicht wie ein Objekt«, sagt Klein aufgeräumt. »Was kann ich denn für Theos Vorzüge?«

Seine Augen gleiten von meinem Hals abwärts, bleiben an meinem rosa Seidenoberteil mit dem Peter-Pan-Kragen hängen. Das Stück hat mir Sara-Kate zum Geburtstag geschenkt und ich hänge daran, auch wenn ich flach wie ein Brett bin und darin aussehe wie eine Fünfjährige, was Kleins notgeilem Röntgengestarre noch eine besonders perverse Note gibt. Ich knöpfe mir den Mantel bis zum Hals zu.

»Könnten wir bitte nicht über Theo sprechen, als stünde sie nicht direkt neben euch?« Ich nehme einen tiefen Zug und sehe mich in der Runde um. Wer ist jetzt dran? Hoseas Blick streift meinen und diesmal schauen wir beide weg.

Ob er wohl glaubt, ich hätte Sara-Kate und Phil von seinem Job im Ballettstudio erzählt?

Der Rauch durchzieht mich auf neblige, vertraute Weise, gleitet durch meine Brust und entspannt mir die Schultern. Ich schließe kurz die Augen, um diesen glücklichen Moment für später abzuspeichern, wenn wir die Crumbaugh und die Vollversammlung über uns ergehen lassen müssen. Sie wird da oben stehen, weil sie immer ganz vorne dabei sein muss, wenn sich irgendwas Besonderes ereignet. Sie ist die schlechteste Vertrauenslehrerin der Welt – nie einen guten Ratschlag auf Lager, dafür eine Rampensau.

Klein stupst Hosea an, doch sein Blick klebt auf dem Joint zwischen meinen Fingern. »Also, was ist das jetzt für eine bescheuerte Versammlung?« Jetzt echt mal, der kann einfach nie die Klappe halten.

»Überhaupt nicht bescheuert«, sagt Phil. Er schiebt sich das Haar aus der Stirn. Langsam wird es so richtig lang, lockt sich über den Kragen wie bei einem grenzverwahrlosten Altrockstar. Phil könnte problemlos mit der Zeitmaschine ins Jahr 1972 reisen und würde dort kein bisschen auffallen. »Die ist sogar höchst notwendig. Ich hab gehört, wie so ein Unterstüfler gefragt hat, wer denn dieser Donovan sei. Ich hätte ihm eine reinhauen können.«

»Vielleicht ist er ja erst in die Stadt gezogen.« Sogar völlig stoned ist Sara-Kate noch bereit, an das Beste im Menschen zu glauben.

»Für so eine Ignoranz gibt’s keine Entschuldigung«, entgegnet Phil. »Das war doch überall in den Nachrichten.«

Er nimmt sich den letzten Fitzel des Joints und nuckelt versunken am Filter. Heute widerspricht er ausnahmsweise nicht nur um des Widersprechens willen. Auch er war Donovans Freund. Eine Zeit lang waren wir ein richtiges Trio, haben uns die Schwarze Brigade genannt, weil es um uns herum nicht gerade viele Kids gab, die aussahen wie wir. Als wir uns im Kindergarten kennenlernten, hatte ich noch nicht kapiert, dass Phil Mexikaner ist, bis ich seine Mutter mal auf Spanisch schimpfen hörte. Seine Haut ist nur geringfügig heller als meine, und ich hatte damals noch nicht begriffen, dass die Geschichte dunkler Haut so unterschiedlich ist wie ihre Farbabstufungen. Ich wusste nur, dass wir drei anders waren.

Klein seufzt. »Dann mal los. Ich muss noch pissen.«

Er geht vorweg zu dem zweistöckigen, steingrauen Gebäude, gefolgt von Phil in seiner froschgrünen Cordhose und der fröstelnden Sara-Kate in ihrer knallroten Netzstrumpfhose. Sollte die Schulverwaltung jemals Uniformen einführen oder die bestehende Kleiderordnung tatsächlich ernst nehmen, läge auf der Hand, wer besonders gearscht wäre.

Hosea zieht noch einmal an seiner Zigarette, passt auf, dass der Rauch mich nicht im Gesicht trifft, und wirft sie zu den anderen Kippen auf den Boden, um sie mit dem Stiefel auszutreten. »Hab gehört, du willst Psilos.«

»Was?«

»Pilze?« Seine Mundwinkel zucken ganz leicht.

Ich mache den Mund auf und wortlos wieder zu. Phil, du Mistkerl …

»Nee, das war für eine Freundin … keine von hier. Die hat aber nur so rumgefragt.«

Er betrachtet mich, als würde er nicht recht schlau aus mir. Ich bin völlig überrascht, wie seine Augen von so nah aussehen. Ein ganz sattes, klares Grau. Wie Stahl, nur weicher. Er schiebt sich die Hände in die Bauchtasche seines Kapuzenpullis und sagt: »Meld dich, falls sie doch will. Ich kann da was anleiern.«

»Ah … okay, klar. Danke.«

Er macht sich auf zum Schulgebäude, aber ich bleibe, wo ich bin, und schaue ihm nach. Er hat einen ruhigen Gang und langes Haar, das unglaublich geschmeidig und chaotisch zugleich aussieht. Er ist größer, als ich dachte. An die eins neunzig – mit breiten Schultern, die er beim Gehen nach vorne beugt, als würde er sich am liebsten einrollen. Ich stehe und schaue so lange, dass er sich nach mir umdreht. »Kommst du?«

Auf dem Weg nach drinnen reden wir nicht. Wir gehen nebeneinander, aber nicht sehr dicht, weil er ja eine Freundin hat. Ellie Harris. Sie ist sonst immer in seiner Nähe, und ich frag mich sowieso, wo sie und Trisha gerade stecken. Keine Ahnung, ob die beiden nur zwangsweise beste Freundinnen sind, weil sie halt mit Hosea und Klein zusammen sind, oder ob sie sich wirklich mögen.

Kaum sind wir im Schulhaus, gebe ich ihm ein paar Schritte Vorsprung. Ich bin völlig zugenebelt, und alles um mich herum geht einen Zacken zu schnell, alle eilen in dieselbe Richtung. Die Lehrer versuchen, die Menge ansatzweise unter Kontrolle zu halten, aber wir sind einfach in der Überzahl. Meine Reflexe sind beschissen, und ich komme ins Straucheln, als ein paar Zehntklässler rechts und links an mir vorbeistürzen, um sich gewaltsam einen Weg durch die Schülertrauben zu bahnen. Ich gerate ins Schlingern, doch ein kräftiges Händepaar bewahrt mich vor dem Sturz.

»Theo? Alles klar?«

Bryn Davenport. An den Schultagen Strickjacken und Khakiröcke, und an den Wochenenden regelmäßig so zu mit Wodka, dass sie reihern muss. Ich hab ihr einmal das Haar zurückgehalten. War nicht so schlimm. Auch besoffen ist sie immer superhöflich. Sie muss sich an die fünfzehn Mal bei mir bedankt haben, als wir so auf dem Boden von Victoria Martinos Badezimmer saßen.

»Schon gut«, sage ich. »Nur etwas verlangsamt heute Morgen.«

»Gott, kannst du’s fassen, dass Donovan zurück ist?« Bryn fährt sich durch den schwarzen Lockenbob. »Ich hab gedacht, wir sehen ihn nie wieder.«

»Mhm«, mache ich. Sprechen ist zäh wie Sirup. In mir ist Nebelhausen. Megabreit. »Hab ich wohl auch nicht mehr dran geglaubt.«

Donovan und ich haben uns schon über die Highschool unterhalten, als wir noch nicht mal in der Sechsten waren. Wir haben einander geschworen, niemals die Sorte Freunde zu werden, die nicht mehr miteinander reden, sobald sie an eine neue Schule kommen und neue Leute kennenlernen.

»Aber was ist, wenn wir uns dann total satthaben?«, hab ich damals gefragt. Ich baumelte kopfüber von seinem Bett runter und berührte mit dem Scheitel fast den Boden, während ich gleichzeitig an einer wachsartigen Erdbeerlakritzstange leckte.

»Wir haben uns dann nicht satt, T«, kam es von der anderen Bettseite. Meine Füße waren ganz nah bei seinem Ohr, und umgekehrt. »Wir kennen uns jetzt schon das ganze Leben. Fast. Was soll da so groß anders werden?«

»Weiß nicht.« Ich sah mich in seinem Zimmer um: oben die blaugraue Tapetenbordüre mit den fetten tanzenden Baseballbällen drauf, die dazu passende flusende Tagesdecke und die verblichenen Vorhänge, das Comicregal an der anderen Wand, neben dem Schreibtisch. Langsam war er eigentlich zu alt für das alles – bis auf die Comics, aus denen er sicher nie rauswachsen würde –, aber ich glaube, irgendwie scheute er davor zurück, um eine neue, erwachsenere Zimmereinrichtung zu bitten. Genau wie ich nicht daran denken mochte, dass das wohl das letzte Jahr war, in dem ich noch ungeniert mit Puppen spielen konnte.

»Was ist, wenn du dann eine Freundin hast und die mich nicht mag?«, sagte ich und ließ meine Zehen genau neben seinen Ohren knacken. »Oder du sprichst nicht mehr mit mir, weil sie nicht erfahren soll, dass du bis zur Dritten am Daumen genuckelt hast?«

»Stimmt nicht!«, sagte er zu laut und schubste meine Beine so heftig zur Seite, dass ich beinah vom Bett gekippt wäre. »Außerdem weiß ich auch Dinge über dich.«

»Ach ja? Etwa das mit Mister Frosch?« Ich knabberte an der Lakritzstange. »Na und? Hockt der halt auf meinem Bett. Ich veranstalte ja jetzt keine Picknicks mit ihm oder so.«

»Ach was, ich erzähl einfach, wie laut du immer schnarchst.«

»Tu ich nicht!« Ich stützte mich auf die Ellbogen, aber alles, was ich erkennen konnte, war sein Oberkörper rechts neben mir, in einem dunkelblau-orangen Chicago-Bears-Shirt. »Der Einzige, der hier schnarcht, bist du. Und außerdem sabbert.«

»Wenigstens stellen mir meine Eltern kein Nachtlicht ins Zimmer, nur für den Fall.« Er lachte, ich boxte ihn in den Oberschenkel, und dann beendeten wir das Thema, weil ich ihn um die Lakritzpackung bitten musste, an die ich nicht rankam.

»Aber T, mal im Ernst, das geht alles klar mit uns, oder? Egal ob Highschool, Freundin, Freund … Stimmt’s?« Seine Stimme klang schwach, als wäre er sich nicht sicher, ob er das überhaupt hätte sagen sollen. Als sei es ihm zu ernst damit und er sich nicht sicher, ob ich ihn damit aufziehen würde.

»Na klar«, habe ich gesagt, und ein paar Sekunden blieben die Worte in der Luft hängen, wie ein mündlicher Vertrag. Und dann: »Wer würde es bitte sonst mit dir aushalten?«

Als Donovan verschwand, standen wir am Beginn der Mittelstufe. Die Schüler, die erst nach der Siebten hergezogen sind oder von der Privatschule kamen – wie Sara-Kate und Klein –, kennen ihn daher nur aus den Erzählungen anderer oder den Nachrichten. Komischer Gedanke, dass Sara-Kate über einen so wichtigen Teil meiner Vergangenheit so wenig weiß, dass sogar Bryn Davenport der Situation hier näher ist als sie.

Damals schien uns die Highschool noch ewig weit weg, es ist kaum zu glauben, dass ich jetzt hier sein soll und Donovan es nie so weit geschafft hat. Ich frag mich, ob er da, wo er war, zur Schule gegangen ist … oder ob er rund um die Uhr eingesperrt war, vielleicht an ein Möbelstück gekettet, wenn sein Entführer aus dem Haus musste.

»Tut mir leid«, sagt Bryn mit einem sorgenvollen Blick auf mich. »Ist wohl alles ein bisschen heftig für Freitagmorgen, hm?«

»Nein, nein.« Ich schüttle meinen benebelten Schädel. Ziehe träge am Saum meines Oberteils. »Ich hab nur gerade an den Politiktest nachher gedacht. Den hatte ich völlig vergessen.«

»Komm, ist doch nur Jacobsen.« Bryn lächelt mir flüchtig zu und berührt noch einmal sanft meinen Arm, lässt ihre Hand kurz liegen, als sei sie sich nicht sicher, ob ich alleine stehen kann. Sehe ich wirklich so high aus? Ich brauch einen Spiegel. »Wenn du’s in den Sand setzt, gibt der dir noch eine Chance. Wir sehen uns in der fünften Stunde!«

Dann saust sie davon, hinein in die Menge, und fährt gegen zwei fleischige Footballer die Ellbogen aus. Klein und unerschrocken, das ist sie.

Wir drängeln uns alle in die muffige, höhlenartige Turnhalle, unsere Schuhe quietschen auf dem glänzenden Basketballfeld. Gefühlte zehn Minuten lang halte ich nach Sara-Kate und Phil Ausschau, bis ich sie endlich entdecke. Ich hole einmal tief Luft und klettere auf die Holztribüne empor, gerate unterwegs nur einmal ins Schwanken. Dabei stütze ich mich auf Joey Thompson, aber bei seinen breiten Schultern fällt ihm das vielleicht noch nicht mal auf.

Ich versuche, mich neben Phil zu setzen, aber der weigert sich zu rücken. Er unterbricht nur kurz sein Gespräch mit Sara-Kate, um auf den freien Platz neben ihr zu deuten. Na spitze. Ich steige über Phils Füße, dann über Sara-Kates, bevor ich mich neben Klein hinplumpsen lasse. Auf der anderen Seite von ihm sitzt Hosea. Seine Augen liegen kurz auf mir und dann wieder nicht, und irgendwie kommt mir das fast wie ein Verlust vor.

Klein beugt sich zu mir und sein Rasierwasser bringt mich noch unter die Erde, doch wenn ich aufpasse und nur durch den Mund atme, merkt er mir nichts an. Eigentlich möchte ich an ihm vorbeigucken und mit Hosea sprechen, ihn fragen, wie er ein so guter Pianist geworden ist.

Klein grinst mich an. »Du kommst heut Abend zu meiner Party, oder?«

Wenn er jetzt noch Wodka und ein, zwei Pillen intus hätte, wär das hier Baggern der schmierigsten Sorte.

Ich halte mit meinem Ekel mühsam hinterm Berg und sage: »Denk schon«, während ich meine Fingerknöchel knacken lasse, einen nach dem anderen.

Ich schaue Hilfe suchend zu Sara-Kate und Phil, aber es nützt nichts. Phil beschwert sich über all die Zeit, die er mit Trigonometrietest-Sorgen vergeudet hat, wo der jetzt wegen der Versammlung einfach mir nichts, dir nichts verschoben wird. Sara-Kate hat ihre netzbestrumpften Beine übereinandergeschlagen und nickt. Das macht sie gut, fast könnte man glauben, sie habe Mitleid.

»Wir wollen feiern, dass euer Freund wieder da ist.« Klein rückt mir noch mehr auf die Pelle und raunt: »Nicht groß nachdenken, Langbein. Mach’s einfach.«

»Wie geht’s Trisha so?«, frage ich absichtlich laut.

Neben Klein ertönt ein leises Lachen, und ich kann mir das Lächeln nicht verkneifen. Hosea anzusehen bringe ich allerdings nicht fertig. Stattdessen gucke ich nach vorne, wo die Rektorin und die Vertrauenslehrerin versuchen, alle zum Schweigen zu bringen, damit sie loslegen können.