Neues aus der 1b - Thomas Stillbauer - E-Book

Neues aus der 1b E-Book

Thomas Stillbauer

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Beschreibung

Auf der Suche nach den letzten Abenteuern dieser Welt? Vergessen Sie Freeclimbing, Marsausflüge und Samstags-bei-Ikea – alles Kinderkram. Der wahre »Ernst des Lebens« findet immer noch in der Schule statt. Der Journalist Thomas Stillbauer wagt eine Zeitreise zurück auf die Schulbank. Als der größte Erstklässler der Welt berichtete er ein Jahr lang wöchentlich in der Rubrik »Neues aus der 1b«. Nun bilden seine Berichte und Erfahrungen den Grundstock für einen witzig-humorvollen, aber doch auch oft nachdenklich stimmenden Elternratgeber der besonderen Art: Grundschule authentisch und hautnah erlebt – so geht's unseren Abc-Schützen heute. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 180

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Thomas Stillbauer

Neues aus der 1b

Was machen eigentlich unsere Erstklässler?

FISCHER E-Books

 

Mit Zeichnungen von Kai Georg Wujanz

Inhalt

Hrvoje: »Ich bin erwachsen [...]Anpirschen Ein paar Vorworte für den SchulwegAnpirschen Ein paar Vorworte für den SchulwegBeschnuppern Eine Woche erster KlasseMontagDienstagMittwochDonnerstagFreitagChaosforschen Ein Blick in den SchulranzenDurchbeißen Die Sache mit den ZähnenEinkalkulieren Vom Umgang mit ZahlenExkurs: Mit Geld kalkulierenFestschreiben Viele Buchstaben, wenig AhnungGlauben machen Mein Gott – Religion!Hereinspazieren Die neue Umgebung – eine Einführung erster KlasseDer Schulhof – Ort des WandelsDas Treppenhaus – Ort der FluchtDas Klassenzimmer – Ort des GeschehensDie Turnhalle – Ort des AusgleichsDas Krankenzimmer – Ort der LegendenDas Sekretariat – Ort der unerfüllten WünscheDas Lehrerzimmer – Ort der Tugend und der SolidaritätInnehalten Freiheit und was man damit anfängtKommunizieren Lasst uns drüber redenLottchen doppeln Über Mädchen und JungenMutmaßen Elfte September und andere KatastrophenExkurs: Finger weg von Papas Streichhölzern!Nerven bündeln Lieber, guter WeihnachtsmannOrthographieren Ein Wort für FortgeschrittenePferde stehlen Expeditionen ins TierreichRumrennen Es lebe der SportSympathisieren Ein Freund, ein guter FreundExkurs: MitleidenTürmen Pisa und die FolgenUmziehen Das Jahr und seine ZeitenVernebeln Das Zeugnis, eine unheimliche SacheWiederkäuen Nicht so gut war eigentlich nixZu Herzen nehmen Bis bald, 1b – Ihr wart erste Klasse

Hrvoje: »Ich bin erwachsen geworden.«

Frau Mußmann: »Gestern?«

Hrvoje: »Nein, vorgestern.«

Anpirschen Ein paar Vorworte für den Schulweg

Es waren einmal viele Mütter und Väter. Gemeinsam nannten sie sich Eltern. Dann kamen ihre Kinder in die erste Grundschulklasse, und plötzlich wurden diese Kinder in rasendem Tempo größer und größer, schlauer und schlauer. Und die Eltern staunten: Was ging da vor sich? Aber immer, wenn die Mütter und Väter nachmittags fragten, wie es heute in der Schule war, sagten ihre Töchter und Söhne nur: »Gut.« Oder: »Normal.« Und widmeten sich wieder ihren Gameboys. Die Eltern aber blieben ratlos zurück. Wann ist ein Schultag gut, fragten sie sich. Und was halten Grundschüler heutzutage eigentlich für »normal«?

Hier ist die Antwort. Lesen Sie mal.

Bekanntlich ist ein Erstklässler allein relativ unproblematisch in der Handhabe. Ein kleiner Fisch sozusagen. Da ähnelt er ein wenig dem Piranha draußen im Badesee: bisweilen bissig, aber durchaus zu bändigen, wenn die Taktik stimmt (Schlüsselwörter: »Süßigkeiten«, »länger aufbleiben«). Bitte? Sie behaupten, im Badesee gebe es keinen Piranha? Da fragen Sie mal einen Schwarm Erstklässler. Die werden Sie schon vom Gegenteil überzeugen. Gemeinsam sind sie nämlich ein ganz anderes Kaliber. Um mehr als zehn Erstklässler auf einmal im Zaum zu halten, wurde sogar ein eigener Berufszweig erfunden: die Grundschullehrerin. Und für mehr als 100 Erstklässler am selben Ort gibt es nur noch eine Instanz, der sie gehorchen: den Schulhausmeister.

Die Geschichten in diesem Buch beschreiben die Abenteuer einer deutschen Grundschulklasse auf der Suche nach Sinn und Unsinn. Gemeinsam entdecken wir unseren allerersten Buchstaben (das i), unsere allererste Zahl (die 1), unser allererstes Haustier (Mer Schwainchen) und unsere allererste Klassenlehrerin (Frau Mußmann). Wir reisen in eine Welt, in der rote und blaue Schnellhefter regieren, Radiergummis verschwinden, Affen Anton heißen und Giraffen Gabi.

In unserer Klasse besprechen wir Kinder auch, was uns außerhalb der Schule so begegnet. Schlangen in freier Wildbahn beispielsweise. Und Pferdeäppel. Zum Glück gibt es in dieser Klasse, wie auch sonst in Deutschland, Kinder aus vielen verschiedenen Ländern. So erzählen wir Erstklässler zum Beispiel manches aus Kroatien, Griechenland oder der Türkei. Am meisten aber erzählen wir über das Leben, wie es für Menschen ist, die noch nicht alles hundertprozentig genau wissen.

Wir sind zu der Zeit, da dieses Buch entsteht, zwischen sechs und acht Jahren alt. (Beziehungsweise zwischen sechs und achtunddreißig; aber das ist eine Ausnahme.) Und wir stammen aus ganz unterschiedlichen Familien – ein Vater macht nach Angaben seines Sohnes die Toiletten bei der Frankfurter Müllabfuhr sauber, ein anderer fährt Brot mit dem Auto zur Kundschaft, wieder andere Eltern sind Lehrer und Weltreisende. Außerdem gibt es in unserem näheren Umfeld einen Onkel, der unglaublich schnell rennen kann.

Wir Kinder sehen da erfreulicherweise überhaupt keinen Unterschied. Uns stört es auch gar nicht, dass einer aus unserer Klasse viel größer ist als die anderen. Und viel älter. Er arbeitet eigentlich als Zeitungsredakteur und hatte in den Sommerferien die merkwürdige Idee, mit ziemlicher Verspätung (30 Jahre) eine Schulklasse zu wiederholen, sich noch einmal einschulen zu lassen – der größte Erstklässler der Welt zu werden. Er hat sich in den Kopf gesetzt, von jenem geheimnisvollen Ort zu berichten, den Eltern nicht kennen, obwohl ihre Kinder dort den größten Teil ihrer Zeit verbringen.

Während seiner Fortbildung stellte der Riesen-Schulanfänger fest: Am Anfang war die Schultüte. Dann kam Pisa. Und mittendrin wir armen Erstklässler. Von Leistungsstudien und ähnlich verschärften Bedingungen hatte uns vorher niemand etwas verraten. Aber nach einem Jahr Probezeit kann man sagen: Wir haben eigentlich alles ganz gut hingekriegt. Aus uns wird mal was. Was auch immer.

Wer mag, kann daraus Rückschlüsse auf die Ergebnisse der Pisa-Studien über Bildung und Einbildung ziehen und sich fragen: Wer, um alles, hat das politisch zu verantworten, was an dieser Schule vor sich geht? Viel Spaß dabei. In Deutschland regieren, während unsere Klasse 1b ihre ersten Buchstaben lernt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Davor waren es CDU und FDP. Aber Bildungspolitik ist Landespolitik. Die Schwarzburgschule, die hier beispielhaft für viele Schulen in Deutschland beschrieben ist, liegt in Frankfurt am Main, Hessen – und Hessen wird zu 1b-Zeiten von CDU und FDP regiert. Davor machten es SPD und Grüne, davor wiederum schon einmal CDU/FDP, und traditionell galt Hessen stets als Bastion der Sozialdemokraten.

Alles klar?

 

Übrigens: Der größte Erstklässler der Welt hat die Schwarzburgschule nicht nach naturwissenschaftlichen Kriterien ausgewählt oder nach der Lesekompetenz, die wir seit Pisa so sehr fürchten und ehren. Nein, die Schwarzburgschule liegt praktisch vor seiner Haustür – das war das wichtigste Kriterium. Denn Erstklässler sollen doch sicher in die Schule kommen.

Beschnuppern Eine Woche erster Klasse

Wer Kinder richtig verstehen will, sollte selbst eins sein. Also rein ins Klassenzimmer – den Betrieb von innen kennen lernen. Lassen Sie sich einschulen, seien Sie eine Woche am Stück Erstklässler. Dann klappt’s auch mit dem neuen Job als Berater Ihres Nachwuchses auf dem Weg zu einer erfolgreichen Karriere als Schüler. Die erste Schulwoche ist eine der schönsten. Allein schon deshalb, weil sie erst am Dienstag richtig losgeht. Und so funktioniert es:

Montag

Ich bin ein Wunderkind. Morgen ist mein erster Schultag – und ich kann schon lesen und schreiben, Schnürsenkel allein zubinden, Fingernägel an der rechten Hand schneiden und eine Flasche Bier mit dem Feuerzeug öffnen. Das wird Frau Mußmann, meine Klassenlehrerin, sicher umhauen. Die Schultüte ist gepackt, das Kinderzimmer verwüstet, der Wecker gestellt, um 10 Uhr bringt mich meine Mama hin. Darin hat sie Erfahrung. Schwarzburgschule, wir kommen.

Dienstag

So fühlt es sich also an, wenn man merkt: Das muss der größte Tag in meinem Leben sein. Ich werde eingeschult und bin einen Meter riesiger als meine Klassenkameraden. Allerdings gibt es eine erste Enttäuschung zu verkraften: Alle waren schon einmal in der Schule. Zum Spielvormittag. Nur ich nicht.

In der Turnhalle singen die Großen aus der zweiten Klasse das Schwarzburgschulenlied vor. Refrain: »Wir Schwarzburgschulenkinder, wir sind da-ha-ha.« So was schweißt natürlich unheimlich zusammen. Anschließend gehen wir Schwarzburgschulenkinder aus der 1b zum ersten Mal in unseren Klassenraum und kriegen Namensschilder. Aljoscha zeigt mir, was eine Harke ist, und liest meinen Namen (mit Nachnamen!) vor. Da fragt man sich: Was will so ein komplett gebildeter Mensch eigentlich noch in der Schule?

»Hab ich mich auch gefragt«, sagt Aljoscha. Aber in Mathematik, gesteht er, gebe es noch ungefähr zwei, drei Dinge, die er gern klären würde.

Ruhe jetzt, es folgt harter Schulalltag. Lektion eins: Bedienung eines Schnellhefters. Alle haben einen roten Schnellhefter dabei (nur ich nicht), in den ein Informationsblatt mit den Schulzeiten für diese Woche geheftet werden muss. Damit die Sache nicht so babyleicht ist, teilt Frau Mußmann noch Klarsichthüllen aus. Die Aufgabenstellung: Informationsblatt in die Klarsichthülle, Klarsichthülle anschließend in den Schnellhefter. Svenja erweist sich als Expertin in der Handhabung von Klarsichthüllen und mäandert durch den Klassenraum, ihr Fachwissen weiterzugeben. Einer von uns legt den ersten astreinen Mit-dem-Stuhl-Umkipper seiner Schullaufbahn hin. Anschließend noch einmal offiziell die Frage aller Fragen.

Frau Mußmann: »Warum seid ihr in der Schule?«

Alle: »Um zu lesen lernen!«

Sehr witzig – drei Minuten später ist klar: Heutzutage kann offenbar jeder Erstklässler längst lesen (sicherlich auch auf Englisch, Suaheli und Klingonisch), und jeder kann bereits ein i schreiben. Gut, für Eleni, David oder Adriana ist das ja auch kein Kunststück. Die haben schließlich ein i im Vornamen. Ich hingegen werde bereits gehänselt: »Hähääää, du hast ja nur lauter die gleichen Bonbons in deiner Schultüte.« Voll fies.

Wie sich herausstellt, sieht ein großes I aus wie ein Baum, wenn es neben einem etwas kleineren Igel auftaucht. Beides kann man außerdem bunt anmalen, wenn man ein Mäppchen und tolle Buntstifte dabei hat, so wie alle in meiner Klasse – fast alle. Haldun hat ausgezeichnete, top-angespitzte Stifte, bemerkt aber trocken: »Ich hab keine Braun.«

Macht nichts, wer keine Braun hat, malt eben den Baum blau, den Igel rot und den Apfel grün.

Ich male dem Igel mit meinem Kugelschreiber eine Brille und karierte Vordersocken. Tihi! Und gucke mir das Klassenzimmer an. Da entsteht an der Seitentafel ein prima Regenbogen, ein bisschen lila und blau ist er schon. Drei Fenster zum Schulhof. Drei Computer. Die kommen aber erst ein bisschen später dran. Überall Bücher, noch mehr Buchstaben an den Wänden. Zwei Rechenschieber, ein Gymnastikball. Und über meinem Kopf eine Europakarte, auf der Deutschland unter anderem mit einer Fabrik, Reagenzgläsern und einem Schwein charakterisiert ist. Weißrussland dagegen hat vier Schweine und drei Kartoffeln zu bieten, Dänemark eine Kuh und eine Nixe. Belgien: ein Bier.

So, wer mit dem Igelbild fertig ist, darf in der Bauecke spielen. Au weia, und ich habe erst Brille und Vordersocken. Es blinkt über der Tür. Frau Mußmann lässt uns gehen, genug für heute. Klarsichthüllenfachfrau Svenja hat ihren Igel auch noch nicht ganz fertig. Den kann sie ja morgen zu Ende malen, schlägt Frau Mußmann vor.

Svenja souverän: »Vielleicht.«

Tja, wir Schwarzburgschulenkinder, wir sind da-ha-ha.

Mittwoch

Irgendwann, wenn Magdalena Managerin des Jahres ist, Aljoscha den Grimme-Preis in der Sparte Alleinunterhalter erhält, wenn Ken eine Ausstellung seiner Werke im Museum of Modern Arts eröffnet und wenn Svenja im Fernsehen als Klarsichthüllen-Queen auftritt, dann werde ich auf den Fernsehapparat zeigen und rufen: »Schaut hin: Das sind meine Schulkameraden! Mit denen bin ich in die erste Klasse gegangen. Ich wusste doch, dass die was auf dem Kasten haben!«

Und das Pflegepersonal wird mir den Mund abwischen, mich in mein Zimmer zurückrollen und sagen: »Is ja in Ordnung, Alterchen, sicher sind Sie mit diesen 30 Jahre jüngeren Menschen in die Schule gegangen, und jetzt Obacht, dass Sie nicht wieder Ihre Zähne in die Suppe von Herrn Radschuweit legen.«

Zurück in die Schule. Ken hat heute Geburtstag und schmeißt eine Runde Haribo für alle. Tommy ist mit einem Tag Verspätung neu in der Klasse und muss aus Gründen der Kurzsichtigkeit in der ersten Reihe sitzen, wodurch Eleni auf Halduns Platz rückt und Haldun sonstwohin umziehen muss, was er ausdrücklich missbilligt. Hrvoje fragt Frau Mußmann, ob der Lange da hinten (der ohne Mäppchen und roten Schnellhefter) jetzt etwa das ganze Jahr kommen wolle. Da bleibe ich vollkommen gelassen, bewundere insgeheim seinen coolen Vornamen und nehme mir vor, bei meiner nächsten Einschulung Dpzegmpft zu heißen oder so ähnlich.

Thema des Tages: Was war gestern in unseren Schultüten?

David: »… und ein Lineal und – und – und eine Schere und ein Faulenzermäppchen und ein Spinnenbuch …«

Eleni: »… und ein Fußballbuch und ein Schulbuch und ein Lutscher und Stickers, die hab ich in den Kühlschrank gelegt …«

Frau Mußmann: »Moment mal: Du hast die Stickers in den Kühlschrank gelegt?«

Eleni: »Neeeeee – an den Kühlschrank geklebt!«

Alle: »Pffffthuahuahua.«

Lukas: »… und Comics, Süßigkeiten …«

Ich: »… und Socken und lauter die gleichen Bonbons …«

Nico: »… und Süßigkeiten und eine Kassette, aber die Kassette war ganz unten drinne, und die war Bibi Blocksberg …«

Tommy: »… und pau … go … te … ren …«

Alle: »Hä?«

Tommy (lauter): »Ich kann nicht lauter sprechen, weil ich Halsweh habe, (noch lauter:) und ein Digimon war auch in meiner Schultüte.«

Hrvoje: »Welche Farbe hat das Digimon? Sind da auch Dinosaurier drauf?«

Ich: »?«

(Internet: »Digimon: Digital Monsters«)

Aljoscha: »… und Süßigkeiten und ein Stempel. Und zum Geburtstag hatte ich …«

Frau Mußmann teilt Din-A4-Bögen aus, mit Schultüten drauf. Ausmalen. Alle haben Filzstifte dabei. Und Buntstifte. Wer mit Filzstift malen will, darf mit Filzstift malen, wer mit Buntstift malen will, malt mit Buntstift. Ich male mit Kuli.

Aljoscha: »Immer in der Schule« – heute ist wohlgemerkt unser zweiter Schultag – »gebe ich mir ganz besondere Mühe.«

David: »Die Schule ist der beste Platz, den man sich denken kann. Das ist mein Lieblingsplatz, die Schule.«

Ken: »Ich auch!«

(Den drei gelehrigen Schülern wachsen Engelsflügel, Chorgesang hebt an.)

Aljoscha: »Leise! Die Schultüten singen!«

Alle horchen an ihren Arbeitsblättern. Falscher Alarm – der Gesang kommt von nebenan. Die Nachbarklasse überholt uns offenbar in Sachen musische Bildung. Sofort dagegenhalten!

Ken: »Wann machen wir Rechnen? In der zweiten Klasse?«

Frau Mußmann: »Nein, in der ersten natürlich.«

Magdalena: »Erst mal muss man ja in der ersten Klasse was machen.«

Nenad: »Mann, bis zur zweiten Klasse, weißt du, wie lang das dauert?«

Das dauert eine Menge Schultüten. Weitermalen.

Lukas: »Mein Opa ist mal im Schlaf gestorben.«

Daniel: »Meine Lieblingskatze war auch tot.«

Ken hat bereits alle vier Schultüten fertig. Andere feilen immer noch am Dekor für Tüte Nummer eins. Da zeigt sich, wer schwätzt und wer arbeitet.

David: »Mein Radiergummi kann auch …«

Aljoscha: »… Buntstifte wegradieren.«

David: »Ja.«

Frau Mußmann sieht sich die Schultütenbilder an und schreibt bei Ken »toll« drunter. Mir schreibt sie nichts drunter. Na ja. Ken hat ja auch heute Geburtstag. Pause. Alles rennet, rettet, kicket, nur ich hänge verklemmt in der Ecke rum und finde den im Bayern-Trikot doof und werde von Ken als Klettergerüst missinterpretiert.

Anschließend Frühstück. Einige singen dazu locker das Alphabet rauf und runter. Streber.

Frau Mußmann (liest vor): »Der kleine Brüllbär geht zur Schule. Ihm gefällt am besten die Pause.«

Jakob: »Ich weiß schon, wie das heißt, wenn man nicht zur Schule geht: schwänzen.«

Das weiß er nämlich von Tick, Trick und Track. Was er noch nicht weiß: Mit dem Buchstaben i sind wir längst nicht fertig. Frau Mußmann schreibt lauter Wörter an die Tafel, in denen so ein frecher, kleiner Buchstabe ausfindig zu machen ist – und die ganze Klasse kräht die Wörter schon hinaus, noch ehe sie zu Ende geschrieben hat.

Frau Mußmann (resigniert): »Ich bin hier überflüssig. Die können alles schon.«

Logisch. Wir Schwarzburgschulenkinder, wir sind da-ha-ha.

Donnerstag

Mir träumte vergangene Nacht, 17 Digimons hätten meine Schultüte gefressen, und alle trugen gelbe Mützen. Nur ich nicht. Frau Mußmann schickte die Digimons zur Strafe in einen roten Schnellhefter, in den Svenja 17 Klarsichthüllen installiert hatte. Dann blinkte es.

Eines muss mal dazugeschrieben werden. Nicht nur in Frankfurt am Main, sondern auch in Gnotzheim, Ebernhahn, Zeulenroda und vielen weiteren bedeutenden Städten lässt die Zahl der Schulklassen insgesamt stark nach, weil es immer weniger Kinder gibt, um die Klassen zu füllen. Trotz allem hat die Schwarzburgschule, die ja eine der besten Schulen von der ganzen Welt ist, im letzten Moment beschlossen: Wir starten mit vier ersten Klassen statt dreien. Daher sind wir nur etwa 20 Kinder in der 1b, was das Lernen erleichtert, haben jedoch in der ersten Woche noch nicht die üblichen Fibeln und Rechenbücher zur Hand, was aber wurst ist; wahrscheinlich kennen meine Klassenkameraden sämtliche Standardwerke sowieso schon auswendig.

Gut. Kleine Erzählrunde zur Auflockerung: Was haben wir denn gestern Nachmittag gemacht? Jede Menge. Hrvoje sollte einen Drachen befreien, scheiterte daran, ergatterte ersatzweise jede Menge goldene Bananen. Das nennt man Nintendo. Nico naschte, Jakob spielte mit Papa Lego und Playmobil, Eleni machte gar nix, und ich besorgte mir einen leuchtend roten Schnellhefter sowie super-duper Filzstifte.

Hohohoho.

»So, holt eure Filzstifte raus«, sagt Frau Mußmann.

Hohohoho.

»Und diesmal nicht den roten Schnellhefter, sondern den blauen, bitte.«

Schönen Dank auch.

Heute lernen wir drei Dinge: erstens Einsen schreiben, zweitens die Klasse 2a kennen, drittens wo rechts und links ist.

Erstens. Eine Eins zeichnet sich dadurch aus, dass man Stift beziehungsweise Tafelkreide zunächst kurz nach oben führt und dann lang nach unten. Das sehen einige von uns im Prinzip ganz anders, lassen sich aber von Frau Mußmann anhand eindeutiger Beweise auf einem Arbeitsblatt flugs überzeugen. Schließlich ist Frau Mußmann seit 28 Jahren in dieser Schule, und wir haben erst vor drei Tagen hier angefangen. Selbstverständlich gibt es trotzdem bei uns in der Klasse bereits die besten Einser-Schreiber landauf, landab. »Nenad hat das super gemacht«, lobt Frau Mußmann. »Und Nico: eine Eins schöner als die andere.« Und Magdalena: »Tolle Eins!«

Ich bekomme kein Lob. Ich hatte kein Arbeitsblatt.

Zweitens. Wir dürfen zum Zeitvertreib zweimal den Flur rauf- und runterrennen (Goldmedaille: David), dann kommt auch schon die Klasse 2a zu Besuch. Und hier kommt ihre Lehrerin – hoppla: Frau Füssel. Die war auch mal meine Lehrerin, in meinem ersten Leben als Grundschüler, damals, Heinrich-Seliger-Schule. Sie hat sich in den vergangenen 30 Jahren praktisch nicht verändert und behauptet, von mir ließe sich das so nicht sagen.

Drittens. Natürlich wissen wir alle schon, wo rechts ist. Gern heben wir zum Beweis die rechte Hand. Okay, rechts und links ist auch immer Ansichtssache. Wenn Frau Füssel unbedingt will, dann heben wir halt die andere rechte Hand. Na gut, die aus der Zweiten dürfen uns ein rotes Bändchen um das angeblich rechte Handgelenk binden. Wir werden das später überprüfen. Nur so zur Sicherheit.

In der Pause auf dem Schulhof erleidet eine Fußballspielerin beim fairen Zweikampf um den Ball eine schmerzhafte, aber nicht lebensgefährliche Blessur. Der beteiligte Gegenspieler kümmert sich rührend um sie. Nachdem er das entscheidende Tor geschossen hat.

Überhaupt muss die Pause unbedingt mal gewürdigt werden. In anderen Schulen ein absolutes Wurst-Käse-Szenario. Bei uns nicht. Wir lustwandeln über den Schulhof, erörtern das Leben in all seinen Facetten, tanken Energie und Inspiration. Mit anderen Worten: Es geht drunter und drüber. Aber ohne Butterbrot, Knoppers, Bifi und Milchschnitte – die gibt’s hinterher ganz gemütlich im Sitzen. Frau Mußmann liest uns dazu was vor.

Nach der Pause wieder oben im Klassenraum angekommen, fehlt uns einer. Frau Mußmann geht ihn suchen – und ich darf so lang das Vorlesen übernehmen! Mit Geschichten vom kleinen Brüllbär und Susi Säbelzahn! Aber bei der Gelegenheit müssten mal zwei Fragen geklärt werden. Wo wir doch jetzt unter uns Grundschülern sind.

Aljoscha: »Warum gehst du immer noch in die erste Klasse und wie alt bist du?«

Ich: »Weil ich was für die Zeitung über uns Erstklässler schreiben will und 37.«

Aljoscha: »Ach, du bist Reporter? Das hätt ich nie gedacht.«

Hm. Wie muss ein Reporter aussehen?

Zum Schluss für heute malen wir noch einmal, was in unseren Schultüten war.

Aljoscha: »Hattest du auch was drin in der Tüte?«

Ich: »Ja. Socken.«

Aljoscha: »So-ho-ho-hocken!« (Lacht sich kaputt.)

Ich: »Und Kaubonbons.«

Aljoscha: »Gut.«

Ich: »Uff.«

Aljoscha: »In meiner Schultüte hätte ich gern ein echtes Eichhörnchen gehabt, eine echte Schlange, einen echten Hasen, eine echte Schildkröte …«

David: »… und ein echtes Digimon.«

Na, da wär aber mal was los in der Schultüte.

Daniel: »Frau Mußmann, ich muss ma.«

Ja, auch wir Schwarzburgschulenkinder müssen ma-ha-ha.

Freitag

Eine kurze Geschichte über das Leben.

Von Thomas Stillbauer, Klasse 1b.

Wenn man ungefähr sooo groß ist, darf man in die Schule gehen. Das ist cool.

Dann, wenn man schon soooo groß ist oder sogar sooooo, darf man wieder raus. Das ist ziemlich cool.

Wenn man 37 ist, muss man sich ganz schön anstrengen, um noch einmal eine Woche in die erste Schulklasse gehen zu dürfen. Und wenn die Woche vorbei ist, dann ist das total uncool. Schluchz. Fast wie eines dieser Unhappy-Ends in amerikanischen Filmen, die einen zwingen, die Telefonnummer des Regisseurs zu recherchieren und ihm einmal deutlich die Meinung zu sagen: »Hören Sie mal, warum können die am Schluss nicht glücklich und zufrieden zusammenleben, wenn sie nicht gestorben sind, you unromantic man, you?!«

Aljoscha: »Warum kommst du am Montag nicht mehr?«

Ich (mit brüchiger Stimme): »Weil ich ja schließlich arbeiten gehen muss.«

Aljoscha: »Aber besuchst du uns mal?«

Ich (mit gebrochenem Herzen): »Ja! Ganz bestimmt, (leiser:) jeden Tag.«

Hrvoje schenkt mir eine Waffel. Zum Abschied, und weil alle Frühstück dabeihaben, nur ich nicht. Ich falle ihm weinend um den Hals. (Falle ich natürlich nicht, aber in einem amerikanischen Spielfilm würde ich ihm um den Hals fallen, weinend, und die Lehrerin würde sagen: »Thomas, du darfst am Montag wieder kommen«, und die Schultüten würden dazu im Chor singen. Nämlich.)

Jetzt aber an die Arbeit. Gestern war Elternabend, und deshalb haben heute alle Kinder Trinkbecher dabei (außer einem, aber der braucht von morgen an sowieso keiiiinen meeheehr, Verzeihung, schneuz), und Magdalena heißt ab sofort Megi. In den roten Schnellhefter, der ebenfalls einen neuen Namen hat (»Elternbriefkasten«), muss ein Blatt hinein, auf dem steht, wer nächste Woche in die Frühgruppe geht und wer in die Spät-. Eleni hilft David beim Schnellheften, besteht aber grundsätzlich auf einer Tatsache: »Ich bin keine Mama.«

Ein roter Schnellhefter lässt sich übrigens auf zwei verschiedene Arten schließen:

Möglichkeit a): Metallklammern nach außen biegen, Hefter zuklappen und 24-mal mit dem Ellenbogen drüberfahren, wenn noch was nach oben absteht, oder

Möglichkeit b): Metallklammern nach innen biegen, zuklappen und 114-mal mit den Fingerspitzen drüberfahren, dazu aber rhythmisch di-di-di-di singen.