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Die New Yorker Antiquitätenhändlerin Jane Lindsay findet in einem alten Gebetbuch versteckt einen kostbaren Ring mit der Inschrift "Jane". Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf das Leben der Adeligen Jane Grey, die im England des 16. Jahrhunderts zur Königin ausgerufen wurde, bis sie - nach nur neun Tagen - von Mary, der Tochter von Heinrich VIII., verdrängt wurde. Fasziniert taucht Jane immer tiefer in das Leben ihrer Namensvetterin ein, was nicht ohne Folgen bleibt ...
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Seitenzahl: 475
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Über die Autorin
Susan Meissner ist eine vielfach ausgezeichnete Zeitungskolumnistin, Ehefrau eines Pastors und lehrt Journalismus an einer Highschool. Sie lebt mit ihrem Ehemann Bob und den vier gemeinsamen Kindern in Minnesota.
Fünf ihrer Romane wurden bereits erfolgreich ins Deutsche übersetzt: „Leih mir deine Flügel“, „Die Stimme meines Herzens“, „Die Weite des Himmels“, „Die Farben des Lebens“ und „Ein Garten voller Träume“.
Aus dem Englischen übersetzt von Antje Balters
Originally published in English under the title „Lady in Waiting“ by Susan Meissner.
Copyright © 2010 by Susan Meissner
Published by WaterBrook Press an imprint of The Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc.,
12265 Oracle Boulevard, Suite 200, Colorado Springs, Colorado 80921, USA, International rights contracted through:
Gospel Literature International, P.O. Box 4060, Ontario, California 91761-1003, USA
This translation published by arrangement with WaterBrook Press, an imprint of The Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc.
© 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar
1. Auflage 2013
Bestell-Nr. 816752
ISBN 978-3-96122-127-1
Umschlaggestaltung: Hanni Plato
Umschlagfotos: 816752 – Corbis, Peter Harholdt;
16752 – Corbis, Franz Xavier Winterhalter
Lektorat und Satz: Nicole Schol
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Für Bob,
den einen, für den mein Herz schlägt
In jedem Steinblock steckt eine Skulptur, und es ist Aufgabe des Bildhauers, sie zu entdecken.
Michelangelo
Inhalt
Jane
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Lucy
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Jane
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Lucy
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Jane
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Lucy
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Jane
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Lucy
Sechsunddreißig
Anmerkung der Autorin
Danksagungen
Jane
Upper West Side, Manhattan
Eins
Die Uhr auf dem Kaminsims war von exquisiter Qualität, auch wenn die Zeiger auf zwanzig nach zwei stehen geblieben waren. Soweit ich erkennen konnte, war sie aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt, und die schimmernde Patina vermittelte einen warmen Eindruck. In die Wirbel der Holzmaserung waren Rosenknospen eingeritzt, die die Uhr an beiden Seiten wie zwei Brautsträuße säumten. An der Oberseite war der Korpus abgerundet und glatt wie der verhangene Kopf einer Madonna. Als ich mit der Hand über die glatt polierte Oberfläche fuhr, fühlte es sich an, als berührte ich warmes Wasser.
Der Legende nach hatte die Uhr ursprünglich der jungen Frau eines Arztes aus Southampton gehört und war im Jahr 1912 genau in dem Augenblick stehen geblieben, als die Titanic gesunken und die Besitzerin der Uhr dadurch zur Witwe geworden war. Der einzige Trost der trauernden Frau war die Tatsache gewesen, dass ihre Uhr das furchtbare Schicksal ihres Mannes scheinbar vorausgeahnt hatte und ihr Begleiter war in dem Schmerz, der sie geradezu lähmte. Die Frau hatte nie wieder geheiratet und auch die Uhr nie reparieren lassen.
Ich hatte das Stück unbesehen für den Antiquitätenladen meiner Großtante gekauft, genau wie viele andere Stücke zuvor, die jetzt in den Schauvitrinen standen. In den anderthalb Jahren, die ich jetzt schon für das Warenangebot in dem Antiquitätenladen verantwortlich war, hatte ich die besten Stücke von irgendwelchen Haushaltsauflösungen und Ramschverkäufen alter Anwesen bekommen, auf die meine englische Auflösung eines Anwesens in Felixstowe aufgetrieben, und der Auktionator, so erzählte sie mir später, sei völlig unberührt gewesen von der traurigen Geschichte des schönen Stückes. Emma berichtete, der Mann hätte die Geschichte über die Herkunft der Uhr von einem Zettel abgelesen, und zwar in einem Tonfall, als würde er die Gebrauchsanweisung einer Waschmaschine vortragen.
Meine Mutter sah mir dabei zu, wie ich die Uhr jetzt auf den schwarz lackierten Sims über dem Marmorkamin stellte. Sie hielt eine Bleikristallvase mit Seidennarzissen in der Hand.
„Eigentlich müsste die Uhr ticken“, schmollte sie. „Die Leute werden sich fragen, warum sie nicht tickt.“ Sie stellte die Vase auf dem Kaminboden ab und trat dann zurück, wobei ihre Absätze ein klackerndes Geräusch auf dem Parkettboden machten. „Wenn sie ginge, hättest du sie wahrscheinlich schon längst verkauft. Hat Wilson sie sich schon angesehen? Du hast mir doch erzählt, er könne alles reparieren.“
Ich wischte ein Staubkorn vom Ziffernblatt der Uhr. Nein, ich hatte den Ur-Mitarbeiter des Ladens und inoffiziellen Universalmechaniker nicht gebeten, sie zu reparieren. „Es wäre aber nicht mehr dieselbe Uhr, wenn sie funktionieren würde“, wandte ich daher ein.
„Es wäre eine Uhr, die das tun würde, wozu sie da ist“, entgegnete meine Mutter energisch, beugte sich vor und zupfte eine der Narzissenblüten zurecht.
„Es ist aber nicht irgendeine Uhr, Mutter“, hielt ich ihr entgegen und trat jetzt ebenfalls einen Schritt zurück.
Meine Mutter verschränkte die Arme über ihrem teuren Hosenanzug. Hellblau war er, die Farbe von Babydecken und Rotkehlcheneiern. Es war ihre Farbe, ihr Markenzeichen.
„Hör mal, die Sache mit der ,Titanic‘ und der jungen Witwe – das mag ja alles stimmen, Jane, aber du hast dafür nicht den geringsten Beweis. Nie und nimmer wirst du die Uhr aufgrund dieser Geschichte verkaufen.“
Bei dem Gedanken, mich von der Uhr trennen zu müssen, stieg Traurigkeit in mir auf. So etwas kommt vor, wenn man im Verkauf arbeitet. Manchmal fällt es einem schwer, sich von dem zu trennen, was man erworben hat, um es wieder zu verkaufen.
„Ich überlege, ob ich sie nicht vielleicht selbst behalten sollte.“
„Aber wenn du dich nicht von den Waren trennen kannst, verdienst du nichts.“ Das flüsterte meine Mutter zwar nur ganz leise vor sich hin, aber ich hatte es trotzdem gehört. Das war ihre Art, mir mitzuteilen, was sie von meiner Arbeit im Laden ihrer Tante hielt – den sie geerbt hatte, als ihre Großtante Thea gestorben war –, ohne den Eindruck zu erwecken, dass sie sich einmischte.
Meine Mutter glaubt, dass sie sich große Mühe gibt, sich nicht einzumischen, und dass es ihr auch gelingt. Aber das ist auch eines ihrer Talente: sich einzumischen und zu glauben, sie täte es nicht. Meine jüngere Schwester Leslie treibt sie dadurch geradezu in den Wahnsinn.
„Möchtest du, dass ich sie wieder mit in den Laden nehme?“, fragte ich.
„Nein, das nicht! Sie passt ja perfekt dorthin. Ich wünschte nur, sie würde ticken“, sagte sie fast schmollend.
Ich griff nach der kleinen Kiste zu meinen Füßen, in der ich die Uhr mitgebracht hatte und außerdem noch ein paar alte Ausgaben von Shakespeares Werken, einige Zinnleuchter und eine Wedgewood-Vase. „Du kannst ja eine CD mit Soundeffekten kaufen und dann eine tickende Uhr als Endlosschleife laufen lassen“, scherzte ich.
Mit kindlicher Entschlossenheit im Blick drehte sie sich zu mir um und sagte: „Was meinst du, ob es wohl schwierig ist, so eine CD aufzutreiben?“
„Das war nur ein Scherz, Mama! Schau dir doch nur an, womit du dich dann zufriedengeben müsstest!“, meinte ich und deutete auf die Stereoanlagenattrappe, die sie in einem Lackphonoschrank hinter uns aufgebaut hatte. Meine Mutter verwendete nie echte Elektrogeräte in den Häusern, die sie zum Verkauf herrichtete, obwohl sie das bei der Klientel, mit der sie normalerweise zu tun hatte – reiche Immobilienmakler und ebenso wohlhabende Käufer und Verkäufer –, ganz bestimmt hätte tun können.
„Dann hole ich eben einen tragbaren CD-Player und verstecke ihn zwischen den Kissen am Kamin“, sagte sie achselzuckend und wandte sich dann dem angrenzenden Esszimmer zu. Der glänzende schwarze Esstisch war mit weißem Porzellan, hellgelben Leinenservietten, jeder Menge falschem Hähnchensalat, dunkelroten Plastiktrauben, Plastikcroissants und Petit Fours gedeckt. Ein Gesteck aus Weidenkätzchen schmückte die Tischmitte. „Findest du die Weidenkätzchen zu rustikal?“
Sie wollte, dass ich Ja sagte, und deshalb tat ich ihr den Gefallen.
„Mir gefallen sie dort auch nicht mehr“, meinte sie. „Ich glaube, wir tauschen sie lieber gegen die Vase mit Gerbera aus, die bei dir im Laden auf dem alten Sekretär vorne im Schaufenster steht. Ich weiß gar nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe, die hier zu kaufen.“ Bei diesen Worten griff sie nach den unglückseligen Weidenkätzchen. „Das Gesteck hier können wir auf den Tisch am Eingang stellen, auf dem unsere Visitenkarten liegen.“
Sie drehte sich zu mir um. „Du hast doch diesmal an deine Karten gedacht, oder? Es wäre dumm, sich all die Arbeit zu machen und dann nicht zu versuchen, dadurch auch neue Kunden zu gewinnen.“
Meine Mutter ging entschlossenen Schrittes mit den Weidenkätzchen nach vorn in den Eingangsbereich. Ich folgte ihr.
Dies war erst das zweite Haus, bei dem ich offiziell mit ihr zusammenarbeitete, um es für den Verkauf herzurichten. Beim ersten hatte ich noch keine Visitenkarten dabeigehabt, weil meine Mutter mich erst gefragt hatte, ob ich mitkommenund ihr helfen wolle, als sie praktisch schon unterwegs gewesen war. Sie hatte mir dann aber auch sofort mitgeteilt, dass ich niemals irgendwo hingehen dürfe, ohne Visitenkarten dabeizuhaben. Nicht einmal auf die Toilette. Und dann hatte sie mich abwartend angeschaut, als wolle sie mich auffordern, sofort meinen BlackBerry zu zücken und mir ihre Anordnung zu notieren.
„Ich habe Karten dabei“, sagte ich also jetzt, griff in die Tasche meiner Caprihose und holte ein paar der Hochglanzfirmenkarten heraus. Sie waren mit der Aufschrift „Amsterdam Avenue Antiquitäten“ und dem Firmenlogo bedruckt – drei verschnörkelten A, die wie ein keltischer Ewigkeitsknoten ineinander verschlungen waren. Ich gab sie ihr, und sie legte sie auf einen Silberteller neben ihre eigenen Visitenkarten. „Sophia Keller – Innenausstattung und Home Staging“. Die Weidenkätzchen sahen vor der hohen jutefarbenen Wand wirklich wunderschön aus.
„So, das sieht schon besser aus!“, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. Dann drehte sie sich um und begutachtete noch einmal den Gesamteindruck des großen Raums im Erdgeschoss. Die Eigentümer des zum Verkauf stehenden Stadthauses waren in die Hamptons gezogen und verkauften ihre Immobilien in Manhattan, um mit dem Erlös einen sorgenfreien Ruhestand finanzieren zu können. Die Hälfte aller Dekorationsgegenstände – Bücher, Vasen und gerahmte Drucke – waren Leihgaben aus Tante Theas Antiquitätenladen. Meine Mutter, die seit zwei Jahren Immobilien für den Verkauf herrichtete, hatte mich ein paar Monate zuvor in ihre Firma aufgenommen, als sie gemerkt hatte, dass sich ein Haus, das mit hübschen, echten Antiquitäten dekoriert ist, schneller und leichter verkaufen lässt als eines, in dem nur Reproduktionen zu sehen sind.
„Du und Brad, ihr solltet aus diesem winzigen Apartment an der West Side ausziehen und das hier kaufen. Die Eigentümer verschenken es ja praktisch.“
Das sagte sie in einem Tonfall, der nach einer Reaktion meinerseits verlangte, aber ich ließ ihre Bemerkung einfach in den Sonnenstrahlen verfliegen, die in den Raum fielen und uns liebkosten. Es war eine Bemerkung, auf die ich nichts zu entgegnen wusste.
Meine Mutter ließ ihren Blick durch die beiden großen Räume schweifen, die sie eingerichtet hatte, und verzog missmutig das Gesicht, als er auf den Kaminsims mit der stummen Uhr fiel.
„Nun, dann werde ich eben später noch einmal zurückkommen müssen“, sagte sie in die Stille hinein. „Der Besichtigungstermin ist gleich morgen früh.“ Sie drehte sich um und meinte: „Komm, ich bringe dich noch zurück zum Laden.“
Wir traten hinaus in die Aprilsonne und gingen zu ihrem Lexus, der auf der gegenüberliegenden Seite vor einer Reihe von Stadthäusern geparkt war, die genauso aussahen wie das, welches wir gerade verlassen hatten. Als wir losfuhren, wurde das Schweigen im Auto bedrückend, und ich holte mein Handy aus der Handtasche, um nachzuschauen, ob mir irgendwelche Anrufe entgangen waren. Auf dem Hinweg hatte ich ein geschäftliches Telefonat mit Emma geführt. Es war dabei um eine Kiste mit alten Büchern gegangen, die sie auf einem Flohmarkt in Cardiff erstanden hatte. Das Gespräch hatte die gesamte Fahrtzeit vom Laden bis zu dem Stadthaus gedauert, und mir wäre es am liebsten gewesen, wenn ich jetzt wieder so ein geschäftliches Gespräch mit jemandem hätte führen können. Meine Mutter würde nämlich bestimmt nach Brad fragen, wenn das Schweigen noch länger andauerte. Mein Handy zeigte jedoch leider keinen Anruf in Abwesenheit an, und ich begann, mir das Hirn nach einem Gesprächsthema zu zermartern. Plötzlich fiel mir ein, dass ich meiner Mutter noch gar nicht von der neuen Verkäuferin erzählt hatte, die ich für den Antiquitätenladen eingestellt hatte. Ich holte also Luft, um ihr von Stacy zu erzählen, aber da war es bereits zu spät.
„Und, was hast du so von Brad gehört?“, fragte sie munter.
„Es geht ihm gut.“ Meine Antwort kam so schnell, dass es klang, als hätte ich sie eingeübt. Meine Mutter wandte den Blick kurz von der Straße ab und sah zu mir herüber, um dann ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf die Straße zu richten. Vor ihr fuhr ein Taxi los und schnitt sie, woraufhin sie auf die Hupe drückte. Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Was meinst du denn, wie lange er noch in New Hampshire bleiben wird?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn. „Ihr wollt doch sicher nicht ewig zwei Haushalte führen, oder?“
Ich atmete hörbar aus. „Es ist ein wirklich guter Job, Mama. Ihm gefallen die Abwechslung und die neuen Aufgaben, und außerdem ist er doch auch erst seit zwei Monaten weg.“
„Das mag ja sein, aber es ist doch für euch beide sicher ziemlich anstrengend und umständlich, zwei Haushalte zu führen, ganz zu schweigen von den Kosten und den langen Trennungen.“ Sie hielt inne, aber nur für einen kurzen Moment. „Ich verstehe einfach nicht, wieso er nicht etwas Entsprechendes hier in New York finden konnte. Bieten denn nicht alle großen Kliniken in etwa die gleichen Stellen für Radiologen? Das hat mir jedenfalls dein Vater erzählt, und der muss es doch schließlich wissen.“
„Dass es überall ähnliche Jobs an Kliniken gibt, muss doch nicht unbedingt heißen, dass auch die passenden Stellen frei sind, Mama.“
Sie trommelte auf dem Lenkrad herum. „Ja, aber dein Vater hat gesagt …“
„Ich weiß, dass Vater meint, er hätte Brad helfen können, auf Long Island etwas zu finden, Mama, aber Brad wollte nun mal genau diesen Job. Und ich will dir ja auch nicht zu nahetreten, Mama, aber die Leitung des technischen Dienstes stellt nun mal keine Radiologen ein.“
Wahrscheinlich hätte ich mir diese Anmerkung lieber verkneifen sollen. Wahrscheinlich würde sie nämlich meinem Vater jetzt erzählen, was ich gesagt hatte, und zwar nicht, um ihn zu verletzen, sondern nur, um ihrem Frust darüber Luft zu machen, dass sie mich nicht davon hatte überzeugen können, dass sie recht hatte und ich unrecht. Trotzdem würde es ihn verletzen.
„Tut mir leid, Mama“, fügte ich also rasch hinzu. „Bitte erzähl ihm nicht, dass ich das gesagt habe, okay? Ich möchte das alles nicht schon wieder aufwärmen.“
Aber sie war noch nicht fertig. „Dein Vater ist seit siebenundzwanzig Jahren an der Klinik, und er kennt dort sehr viele Leute.“ Die letzten drei Worte betonte sie mit einem herausfordernden Blick in meine Richtung.
„Das weiß ich, Mama. Aber darum geht es doch gar nicht. Es ist nur so, dass Brad sich genau so einen Job immer gewünscht hat. Er arbeitet dort mit Krebspatienten, und genau das möchte er.“
„Aber der Job ist in New Hampshire!“
„Na ja, Connor ist ja auch in New Hampshire!“ Sogar in meinen Ohren klang es erbärmlich, den Studienort unseres Sohnes als Begründung für die Tatsache anzuführen, dass mein Mann und ich derzeit in gewisser Weise getrennt lebten. Connor hatte mit all dem nun wirklich nichts zu tun. Und außerdem wohnte er über eine Autostunde von Brad entfernt.
„Und du bist hier“, sagte meine Mutter betont gleichmütig. „Wenn Brad unbedingt aus der Stadt rauswollte, dann hätte es sicher jede Menge ruhigere Kliniken in unmittelbarer Nähe gegeben. Und auch jede Menge kranker Leute.“
Da war ein Unterton in ihrer Stimme, unterschwellig, aber trotzdem unüberhörbar, der mir deutlich signalisierte, dass es hier keineswegs um kranke Menschen und Krankenhäuser und die Entfernung zwischen Manhattan und Manchester ging. Es war, als ahnte sie, was ich ihr und meinem Vater in den vergangenen Wochen zu verschweigen versucht hatte.
Mein Mann wollte nicht aus der Stadt weg, sondern einfach nur weg.
Zwei
In den ersten paar Wochen nach Brads Auszug wachte ich manchmal mitten in der Nacht auf und dachte nicht mehr daran, dass ich ja jetzt allein in dem Doppelbett lag. Instinktiv rutschte ich dann weiter auf Brads Seite, und mir wurde jedes Mal seltsam schwindelig, wenn ich merkte, dass er ja gar nicht da war. Dann klammerte ich mich am Bettlaken fest, so, als wolle ich nicht fallen.
In den ersten Wochen passierte das jede Nacht, und ich lag danach immer stundenlang wach und konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, warum Brad unbedingt Abstand von mir wollte und warum mich sein Wunsch und dessen praktische Umsetzung so eiskalt erwischt hatten. Nach etwa drei Wochen wachte ich dann nachts nicht mehr mit diesem Schwindelgefühl auf, sondern ich wachte einfach nur auf – manchmal um zwei Uhr morgens, manchmal auch erst um drei – und konnte dann bis zum Tagesanbruch nicht wieder einschlafen.
Ich hatte wirklich nicht gewusst, dass Brad in unserer Ehe keine Luft bekam. Das war der Teil an der ganzen Sache, der mir so unheimlich vorkam, wenn sich Nacht für Nacht der Schlaf davonmachte. Brad hatte das Gefühl gehabt, ersticken zu müssen, und ich hatte es nicht bemerkt. Manchmal hielten mich Zweifel wach, manchmal war es Trauer, manchmal Wut – und manchmal war es auch eine Mischung aus allen dreien.
An dem Morgen, als Brad mir sagte, dass er gehen würde, saßen wir an unserem Küchentisch. Die Teile der Sonntagszeitung lagen verstreut zwischen unseren Kaffeetassen, und der Duft des Omeletts, das ich uns gemacht hatte, hing noch in der Luft. Zwiebel, Paprika und Frühstücksspeck. Es war Mitte Februar, aber die Sonne hatte an jenem Morgen schon ein wenig Kraft, und ihre Strahlen ergossen sich vom Balkonfenster aus über unsere Schultern, als wollten sie hereingebeten werden. Brad sagte meinen Namen. Ich blickte auf und dachte, dass er vielleicht noch Kaffee wollte, doch er sah nicht mich an, sondern schaute zur Wohnungstür.
„Es gibt ein Stellenangebot für einen Radiologen in einer Klinik in New Hampshire“, sagte er.
Ein paar Sekunden verstrichen, bevor mir klar wurde, dass es hier um etwas ging, das ihm wichtig war. „New Hampshire?“
Er schaute auf seine Kaffeetasse und strich mit dem Daumen über den Henkel.
„Ja, in Manchester. Es ist eine Stelle in der Diagnostik, wo ich mit den Onkologen zusammenarbeiten würde, und ein Teil des Jobs ist auch Forschungsarbeit. Man hat mir diese Stelle angeboten.“
Er hob ganz langsam den Kopf, und unsere Blicke begegneten sich.
„Und du hast sie angenommen?“ Gedankenfetzen wirbelten durch meinen Kopf. Ich wusste gar nicht so recht, welche Frage ich ihm eigentlich stellen wollte. Warum erzählst du mir das?, schien da für den Anfang ganz angebracht, aber er redete weiter, bevor ich mich für die passende Frage entscheiden konnte.
„Nun, sie sind auf mich zugekommen, nachdem sie meine Artikel im ,Journal‘ gelesen hatten. Sie hätten mich gern in ihrem Team.“
Vielleicht hätte ich etwas Bestätigendes sagen sollen, hätte deutlich machen sollen, wie stolz ich darauf war, dass man ihn auserwählt hatte, aber ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass Brad sich tatsächlich für diesen Job entscheiden könnte und wir aus New York weggehen müssten. Ich fragte mich schon, wie ich meiner Mutter und Tante Thea beibringen sollte, dass ich das Antiquitätengeschäft aufgeben müsse. Thea, die in einer betreuten Seniorenwohnanlage in Jersey City untergebracht war, würde wahrscheinlich darauf bestehen, dass dann meine Mutter wieder die Geschäftsführung übernahm, denn sie vertraute nur Blutsverwandten. Und darüber wiederum würde meine Mutter wahrscheinlich nicht besonders begeistert sein, denn Antiquitäten waren nicht ihr Ding. Und schon allein der Gedanke an meinen Umzug, daran, all das zu verlassen, was mir vertraut war, beunruhigte mich.
„Aber das ist in New Hampshire – weit weg“, sagte ich.
Er strich erneut über den Henkel seiner Tasse. „Es wäre ein Riesenschritt auf der Karriereleiter für mich“, fügte er hinzu und starrte weiterhin auf den Tisch hinab.
Meine Gedanken wanderten zu meinen Eltern. Sie würden einen solchen Wechsel wahrscheinlich als kometenhaften Aufstieg betrachten, selbst wenn es bedeutete, dass wir Manhattan würden verlassen müssen. Auf jeden Fall würde mein Vater es so sehen. Meine Eltern vergötterten Brad; das war schon immer so gewesen. Sie würden sicher nicht ausflippen, wenn ich ihnen erzählte, dass wir wegziehen würden, aber meine Mutter wäre wahrscheinlich verärgert darüber, dass ich dann den Laden nicht mehr würde führen können …
„Und willst du dir die Sache denn mal anschauen?“, fragte ich schließlich.
Meine Frage stieß auf ein Schweigen, das mir endlos vorkam. Und als Brad dann endlich aufblickte, wusste ich es.
Er hatte den Job bereits angenommen.
Ich stieß mit dem Ellbogen gegen meine Kaffeetasse, sodass ein kleiner Schwall Kaffees herausschwappte und den Sportteil der Zeitung besprenkelte. „Du hast schon Ja gesagt? Ohne es dir auch nur anzuschauen?“
„Ich war vergangene Woche zu einem Vorstellungsgespräch da. Sie haben mir den Flug bezahlt …“
Ich empfand eine Mischung aus Beschämung und Überraschung, die mich erröten ließ. Brad war wahrscheinlich an einem Tag nach New Hampshire und wieder zurückgeflogen, an dem ich davon ausgegangen war, dass er eine Zwölfstundenschicht hatte.
„Warum hast du mir nichts davon gesagt?“, murmelte ich.
Er schob seine Tasse von sich weg. „Weil ich mir die ganze Sache allein ansehen wollte.“
Die Luft im Raum schien zu stehen. „Aber warum?“
Brad strich sich mit der Hand über sein noch unrasiertes Gesicht. „Weil … weil ich da schon wusste, dass ich dich nicht bitten würde, meinetwegen irgendwelche Veränderungen in deinem Leben vorzunehmen.“
Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. „Was soll denn das heißen?“
Doch ich wusste es schon. Es sollte heißen, dass er allein nach New Hampshire gehen wollte.
Er stieß beim Ausatmen einen Seufzer aus wie jemand, der um eine Erklärung für etwas gebeten wird, das eigentlich sonnenklar ist. „Ich glaube, es ist Zeit, dass wir ehrlich sind“, sagte er, und es klang so, als hätte er diese Situation schon hundertmal durchgespielt. „Ich glaube, wir brauchen eine kleine Auszeit.“
Mein erster Gedanke war, dass er einen Scherz machte. Aber über so etwas macht man keine Scherze. Das Schlimmste war jedoch, dass er offenbar glaubte, ich wüsste Bescheid. Er glaubte, dass ich es ebenfalls für nötig hielt, ein bisschen Abstand zu bekommen. Dass ich auch der Meinung sei, unsere Ehe stecke in einer Sackgasse. Dass ich ebenfalls glaubte, eine vorübergehende Trennung würde uns guttun, und dass ich nur so getan hätte, als wäre mir das nicht ebenfalls klar. Er musste schon eine ganze Weile so empfunden haben. Und ich hatte keine Ahnung gehabt.
Augenblicklich kamen mir die Tränen. Zwei davon lösten sich und liefen mir übers Gesicht. Brad wandte den Blick ab.
„Eine Auszeit wovon?“, flüsterte ich. „Brauchst du eine Auszeit von mir?“
„Jane …“, setzte er an, und plötzlich überfiel mich der Gedanke, dass er eine Affäre haben könnte, mit einer solchen Wucht, dass mir schwindelig wurde.
„Gibt es eine andere?“, platzte es aus mir heraus. „Gibt es eine andere Frau? Hast du eine Affäre?“
„Nein.“
Die Antwort kam sehr schnell, aber auch mit derselben müden Stimme.
„Du hast keine Affäre?“ Ich hätte ihm gern geglaubt, hatte aber gleichzeitig auch Angst davor, es zu tun.
„Nein, ich habe keine Affäre.“
Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich, er hätte Ja gesagt. Ich wünschte, er hätte eine Affäre gehabt, denn dann hätte es wenigstens jemanden gegeben, auf den ich hätte wütend sein können. Jemanden, dem ich die Schuld hätte geben können. Mir liefen weiter die Tränen. Brad griff nach der Schachtel mit Taschentüchern auf dem Küchentresen, nahm eines heraus und hielt es mir hin. Ich ignorierte es und wischte mir mit dem Ärmel meines Bademantels die Tränen ab.
„Ich verstehe das alles nicht“, sagte ich.
Er warf das Taschentuch auf den Tisch. „Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du glaubst, bei uns wäre alles in Ordnung, oder? Eigentlich hätte es gar nicht nötig sein müssen, es so deutlich auszusprechen. Ich wollte dir jedenfalls nicht wehtun.“
„Was hast du denn geglaubt, wie ich mich fühlen würde, wenn du mir das sagst?“ Feindseligkeit stieg in mir auf, die von Schmerz und Fassungslosigkeit herrührte. „Was hast du denn gedacht, wie ich mich fühlen würde, wenn du mir sagst, dass du mich verlassen willst?“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich dich verlassen will, sondern dass wir eine Auszeit brauchen.“
„Aber Tatsache ist doch, dass du mich verlässt.“ Ich legte die Hände in meinen Schoß, damit sie ruhiger wurden.
„Ich glaube einfach, dass es uns beiden guttun würde, eine Zeitlang getrennt zu leben, um zu sehen, ob es überhaupt noch etwas gibt, das uns zusammenhält.“
Mein Gesicht brannte, als hätte er mich geohrfeigt. „Was sagst du denn da?“
„Ich glaube, dass Connor das Einzige ist, was uns noch verbunden hat. Sein Auszug war im Grunde der letzte Nagel im Sarg unserer Ehe. Seitdem ist es nicht mehr wie früher, und ich glaube, das weißt du auch.“
Ich machte den Mund auf, um zu protestieren, aber ich fand keine Worte. In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich nicht genug unternommen hatte, um mit der Leere fertigzuwerden, die entstanden war, als Connor seine Siebensachen gepackt hatte, um in Dartmouth zu studieren. Und Brad auch nicht. In den vergangenen anderthalb Jahren war es mir oft so vorgekommen, als würden wir zwischen Connors Semesterferien und seinen Besuchen zu Hause die Luft anhalten. Brad war damit offenbar ganz anders umgegangen – zum Beispiel, indem er sich ein Leben ohne mich ausgemalt hatte. Aber was er da vorschlug, wollte mir einfach nicht einleuchten.
„Wie soll uns denn eine Trennung dabei helfen, herauszufinden, was uns noch zusammenhält?“, fragte ich.
„Wenn wir zusammen sind, bekommen wir es ja offenbar auch nicht heraus“, antwortete er.
Auch das saß. Ich griff nach den Taschentüchern, und er gab mir eines.
„Sollten wir es nicht erst noch mal mit einer Eheberatung versuchen?“, fragte ich
Er zögerte kurz. „Vielleicht. Nach einer Weile. Im Moment brauche ich einfach mehr Raum. Für mich. Und ich glaube, den brauchen wir beide.“
Ich nahm den französischen Kaffeebereiter, stand auf, ging in die offene Küche und stellte die Kanne so fest auf den Küchentresen, dass der Kaffee überschwappte.
„Jane?“
„Und für wie lange?“ Ich stand mit dem Rücken zu ihm.
„Das … das weiß ich noch nicht.“
„Und was ist mit Connor? Was sollen wir ihm sagen?“
„Wir sagen ihm nur so viel, wie er unbedingt wissen muss. Dass ich ein tolles Stellenangebot in New Hampshire bekommen habe und für eine Weile dorthingehe, um herauszufinden, ob wir uns beide einen Umzug vorstellen könnten.“
Ich drehte mich um und sah ihn an, meinen Ehemann, den Radiologen, dessen Aufgabe darin bestand, ins Innere der Menschen zu schauen. „Willst du das wirklich?“
Er schloss die Augen, als hätte ich die falsche Frage gestellt und er müsse jetzt erst eine Antwort suchen, die zu der Frage passte. „Ja, ich muss das tun.“
Eine ganze Weile schwiegen wir beide. Dann erzählte er mir systematisch, so als hätte er es eingeübt, dass er eine möblierte Wohnung in der Nähe seiner neuen Klinik gemietet habe, dass das Memorial-Krankenhaus, in dem er jetzt noch arbeitete, bereits über alles informiert sei und einer frühzeitigen Vertragsauflösung zugestimmt habe, sodass er bereits am folgenden Dienstag seine neue Stelle antreten könne. Er fragte mich, ob er den Wagen mitnehmen könne, obwohl er sowieso ihm gehörte. Dann meinte er, wir könnten die Zeit der Trennung ja nutzen, um herauszufinden, wohin wir eigentlich innerlich unterwegs seien.
„Und was soll ich meinen Eltern sagen?“, fragte ich. Meine Wangen waren nass von den Tränen, die geflossen waren, während er mir erzählt hatte, was bereits alles geregelt war.
Brad erhob sich. „Was haben denn deine Eltern damit zu tun?“
„Ich muss ihnen doch irgendetwas sagen.“
„Sag ihnen, dass ich schuld bin.“
Er wollte an mir vorbei, um die Küche zu verlassen – vermutlich, um zu packen –, aber ich streckte meine Hand aus und berührte ihn am Arm, sodass er stehen blieb.
„Aber du hast letzte Nacht mit mir geschlafen“, flüsterte ich.
Als er darauf nichts entgegnete, schaute ich zu ihm auf. Er blickte auf meine Hand, die auf seinem Arm lag, und wartete, dass ich losließ.
Er sagte zwar nichts, aber plötzlich wusste ich, was er dachte.
Was wir in der letzten Nacht zusammen erlebt hatten, war der körperliche Rest unseres Einsseins. Er hatte es geprüft und für nicht mehr ausreichend befunden.
Wir hatten zweiundzwanzig Jahre lang im selben Haus gelebt, ein Auto geteilt, dieselben Freunde gehabt und in einem Bett geschlafen. Und es war Connor gewesen, der die losen Fäden miteinander verknüpft hatte.
Ich ließ meine Hand sinken.
Ich hatte die Anzeichen dafür, dass Brad sich in unserer Ehe nicht mehr wohlfühlte, wirklich nicht bemerkt. Es hatte sie mit Sicherheit gegeben, aber ich hatte sie übersehen. Meine beste Freundin Molly, an deren Schulter ich mich am Tag nach Brads Auszug ausweinte, meinte, ich hätte mich vielleicht mit der Arbeit in Theas Antiquitätenladen abgelenkt, weil ich nicht gewusst hätte, was ich mit diesen Anzeichen anfangen sollte. Also hätte ich einfach so getan, als wären sie gar nicht da. Doch so war es nicht. Ich hatte diese Anzeichen wirklich nicht bemerkt.
Als Brad weg war, blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich damit auseinanderzusetzen. Die Zeichen, die ich nicht bemerkt hatte, waren nämlich zu den Gründen geworden, weshalb er gegangen war. Sein leeres Bett drängte mich Nacht für Nacht zum Grübeln, während der Rest von Manhattan schlief. Wenn es dann Morgen wurde, schleppte ich mich völlig benebelt in den Laden. In der Woche nach Brads Auszug arbeitete Stacy noch nicht fest für mich, sodass nur ich und der sehr direkte Wilson dort waren. Wilson war ein pensionierter Geschichtslehrer, Liebhaber bunter Hawaii-hemden, Reparatur-Autodidakt und neben mir Theas einzige weitere Vollzeitkraft.
„Haben Sie einen Kater?“, fragte er mich am ersten Morgen nach Brads Auszug, weil er über meinen schwankenden Gang erschrocken war.
„Nein, Wilson. Ich habe nur nicht gut geschlafen.“
„Tut mir leid. Ich mache Ihnen erst mal einen Kaffee.“
„Danke.“
„Ist mir ein Vergnügen. Wissen Sie, wenn Sie nicht so viel raffinierten Zucker konsumieren würden, dann lägen Sie nachts auch nicht dauernd wach, Jane.“
Ich zog ganz langsam meinen Mantel aus und hängte ihn an den Kleiderständer auf dem Gang bei der Kasse. „Wahrscheinlich haben Sie recht.“
Er starrte mich an. „Das war doch nur ein Scherz, Jane. Möchten Sie einen Donut zum Kaffee? Ich habe nämlich auf dem Weg hierher welche gekauft.“
Bei Kaffee und Donuts vertraute ich mich Wilson dann an. Ich erzählte ihm, dass Brad einen Job in New Hampshire angenommen hätte und fürs Erste allein dort hinziehen wolle.
„Er hat Sie also verlassen“, sagte Wilson und wischte sich die Cremefüllung des Donuts aus den Mundwinkeln.
„Nein, nicht direkt. Aber genau so fühlt es sich an.“
Er stand auf und warf die Donutverpackung in den Müll. Inzwischen war es fast neun, also Zeit, den Laden zu öffnen. „Es fühlt sich genau so an, weil es auch genau so ist“, sagte er.
Ich knipste eine Tischlampe an der Kasse an. „Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich nicht zu Ihnen komme, wenn ich mal Mitgefühl brauche, Wilson.“
Er ging mit dem Schlüsselbund in der Hand zur Ladentür. „Ach so, das wollten Sie also. Sie wollten Mitgefühl? Wo kriegt man das denn hier in New York?“ Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.
„Sagen Sie mir doch bitte noch mal, warum Thea Sie eingestellt hat?“, rief ich ihm zu und genoss das kleine Lächeln, das er mir entlockt hatte. Es fühlte sich gut an zu lächeln, auch wenn es nur für fünf Sekunden gewesen war.
Wilson kam wieder zurück zu mir, und als er näher kam, konnte ich seinen Lieblingspfeifentabak im Stoff seines Hawaiihemdes riechen. Die vielen Falten in seinem fünfundsiebzigjährigen Gesicht verzogen sich, als er grinste.
„Natürlich, weil ich ihr Liebhaber war.“
In diesem Moment ging das Telefon. Er nahm das Gespräch entgegen, und im nächsten Augenblick kam eine Gruppe von Kunden herein. Später hatte ich dann nicht mehr den Mut, ihn zu fragen, ob das ein Scherz gewesen sei.
Meine Mutter und ich erreichten den Laden, wo sie in zweiter Reihe parkte, während ich hineinrannte, um die Gerberavase für sie zu holen. Die Spätvormittagssonne wärmte die belebte Straße, und Autos flitzten links und rechts an ihr vorbei. Jemand hupte, als ich die Beifahrertür von außen öffnete und die Vase auf dem Boden des Wagens abstellte.
„Vergiss nicht, dass wir nächste Woche Leslies Geburtstag bei uns feiern. Und schlaf dich um Himmels willen mal richtig aus. Du siehst nicht gut aus, Jane“, rief sie und fügte dann noch hinzu, dass meine Schwester sich zu ihrem vierzigsten Geburtstag keine schwarzen Luftballons, keine Antifalten-creme und auch keine Haftcreme fürs Gebiss wünschte. Ich versicherte ihr, dass ich im Laden bestimmt etwas Passendes für meine Schwester finden würde, das keinerlei Anspielung auf ihr fortgeschrittenes Alter enthielte.
„Schade, dass die alte Uhr in dem Stadthaus nicht funktioniert!“, schrie mir meine Mutter noch zu, als erneut ein Auto ihretwegen hupte. „Die würde ihr bestimmt gefallen.“
Ich schlug die Tür zu und half ihr, sich wieder in den Verkehr einzufädeln.
Die Uhr gehörte mir.
Drei
Wilson kochte im hinteren Teil des Ladens gerade frischen Kaffee, als ich das Geschäft betrat. Stacy stand mit einer Kundin an der Schmuckvitrine und zeigte der gut gekleideten Frau eine glänzende Taschenuhr mit einer Gravur in französischer Sprache. Ich hörte, wie Stacy die wunderschönen Worte vorlas, und dankte dem Himmel einmal mehr dafür, dass ich sie als neue Mitarbeiterin hatte gewinnen können. Stacy war Missionarstochter und sprach vier Sprachen fließend, unter anderem Französisch und Italienisch. Sie absolvierte gerade ihr Masterstudium an der Universität von New York und arbeitete zwanzig Stunden pro Woche als Verkäuferin für mich. Als ich zu Wilson ging, erzählte Stacy der Frau gerade, dass die Inschrift auf der Uhr „Was nie bezweifelt wird, wird nie bewiesen“ bedeutete. Wilson, der zu seinem bananengelben Hawaii-Hemd ein Tweedjackett trug, sah aus, als könnte ich ihn alles fragen und er wüsste darauf entweder die Antwort oder könnte mich davon überzeugen, dass es gar nicht wichtig sei, darauf eine Antwort zu finden.
Als ich bei ihm ankam, deutete er mit dem Kopf in Stacys Richtung und flüsterte: „Diderot.“
„Was?“
„Die Gravur auf der Uhr. Diderot war ein französischer Philosoph aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Radikaler. Die Kaffeemilch ist alle.“ Er reichte mir eine Tasse Kaffee. „Schon seltsam, so etwas in eine Uhr eingravieren zu lassen.“
„Muss wohl ein Fan gewesen sein“, sagte ich und trank einen Schluck von meinem Kaffee. Wilsons Kaffee war immer stark und schwarz, das perfekte Gegenmittel gegen meinen allmorgendlichen Durchhänger.
„Wahrscheinlich hat er sich die Uhr selbst geschenkt“, witzelte Wilson, und wir mussten beide lachen.
Er deutete auf ein paar große Pakete, die am Hintereingang standen und mit britischen Briefmarken frankiert waren. „Die sind gekommen, während Sie weg waren.“
Das waren Emmas jüngste Einkäufe für uns. Sie hatte mir morgens am Telefon mitgeteilt, dass die Pakete wahrscheinlich im Laufe des Tages eintreffen würden, und mich außerdem darüber informiert, dass sie keine Zeit gehabt hätte, deren Inhalt zu sichten und zu sortieren. Die Sammlung von alten Kleidungsstücken, die sie auf demselben Trödelmarkt erstanden hatte, sei eine wahre Fundgrube, aber alles sei in wirklich erbärmlichen Zustand. Sie hätte leider auch keine Zeit gehabt, meinen Teil der Sachen zu sortieren. Ich dürfe also nicht ihr die Schuld geben, wenn die Dinge in schlechtem Zustand seien. Sie hätte für alles zusammen 200 Pfund bezahlt und die Kosten zwischen uns geteilt.
„Soll ich die Kisten für Sie öffnen?“, fragte Wilson.
Ich bückte mich, um das Zollsiegel etwas genauer anzusehen, das auf der ersten Kiste klebte. Emma hatte auf dem Aufkleber „Bücher, Zierdosen und Schmuckkästen“ angekreuzt und den Wert jedes Gegenstandes mit zehn Dollar bemessen. Die Kisten sonderten einen strengen Geruch ab. Schimmel.
Der Geruch von Kummer und Reue.
In meiner Kindheit und Jugend hatte ich nichts mit Antiquitäten zu tun, denn meine Mutter mochte keine alten Sachen. Alles in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, war modern. In dem Augenblick, in dem die Einrichtung anfing, sich altmodisch anzufühlen, erfand meine Mutter das Haus neu. Neue Möbel, neue Wandfarben, neue Vorhänge, neue Bilder an den Wänden, immer in passenden Farben und sehr trendig. Als Innenausstatterin konnte sie meinem Vater die ständigen Veränderungen zufriedenstellenderklären, meistens jedenfalls. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass es nicht funktionierte. Das war, als mein Vater eines Abends nach einem langen Arbeitstag in der Klinik nach Hause kam und meine Mutter seinen Lieblingssessel durch einen klobigen Angebersessel ersetzt hatte. Da platzte ihm der Kragen. An jenem Abend gab es Streit. Heftig und lange. Leslie und ich versteckten uns in Leslies Zimmer und spielten ein Würfelspiel, während meine Eltern über den Sessel stritten.
Am Ende bekam meine Mutter dann doch wieder ihren Willen. Ich weiß auch nicht, wie sie es schaffte, aber irgendwie überzeugte sie meinen Vater davon, dass der neue Sessel besser sei als der alte, sodass der neue Sessel blieb. Für ein paar Jahre jedenfalls.
Meine Faszination für alte Sachen begann im Sommer des Jahres, als ich zwölf war. Damals hatte mich Thea, die Tante meiner Mutter, für zehn Tage zu sich nach Manhattan eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt führte sie schon seit ein paar Jahren den Antiquitätenladen, den sie eröffnet hatte, nachdem ihr englischer Ehemann gestorben war und sie als relativ wohlhabende Frau wieder nach Amerika zurückgekehrt war. Thea hatte keine Kinder, und meine Mutter war ihre einzige noch lebende Verwandte.
In jenem Sommer hatte Thea mich hinten im Laden und im Lager herumstöbern lassen, hatte mich auf ihre Einkaufstouren mitgenommen und mir immer wieder erklärt, dass jedes Ausstellungsstück im „Amsterdam Avenue Antiquitäten“ Teil der Vergangenheit eines Menschen war – jedes Teil hätte Geschichten erzählen können, wenn es denn hätte reden können. Ich fand es faszinierend, dass der Nachlass eines Menschen den Weg in die Gegenwart eines anderen Menschen finden und dadurch noch einmal ganz neu anfangen konnte. Ich glaube, es gefiel Thea, dass ich mich für die Dinge interessierte, die ihr am Herzen lagen. Im darauffolgenden Sommer verbrachte ich wieder eine Woche bei ihr.
Während meiner Highschoolzeit arbeitete ich dann an den Wochenenden bei einem Ehepaar, das in der Nähe meines Elternhauses auf Long Island einen Laden für antiken Schmuck besaß. David und Lila Longmont waren ein seltsames Paar. Sie konnten nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander. Wenn einer von beiden einmal nicht im Laden war, selbst wenn es nur für ein paar Minuten war, dann schien der andere völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten. David war ein ausgewiesener Fachmann für alte Edelsteine und Fassungen, und das wusste er auch. Und Lila, die fast nie ein freundliches Wort für David hatte, verteidigte seinen Sachverstand zweifelnden Kunden gegenüber auf fast grimmige Weise. Mir gefiel die Vorstellung, dass jedes Stück in ihrem Laden – jede Halskette, jede Brosche und jeder Ring – schon einmal von jemandem getragen worden war. An Sonntagen, an denen im Laden nicht viel los war, dachte ich mir oft Geschichten über die ehemaligen Besitzer der einzelnen Stücke aus. Und ich stellte mir vor, dass Thea das auch tat.
Sehr viel später, als Connor noch ein Baby war und ich nicht länger unterrichtete, damit ich mich um ihn kümmern konnte, lebte meine Faszination für alte Sachen wieder auf. Damals lebten wir in Connecticut. Brad machte seine Facharztausbildung, sodass Connor und ich viel allein waren. Oft spazierten wir dann durch die Straßen und guckten Schaufenster an. Es ist unmöglich, in Neuengland zu leben und nicht eine intensive Verbindung zur Vergangenheit zu spüren. Das geht selbst meiner Mutter so, auch wenn sie keine Antiquitäten mag. Ich fing an, hier und da ein paar Antiquitäten zu kaufen, und besuchte Auktionen und Haushaltsauflösungen, und als Connor dann auf die Highschool kam und wir in Manhattan wohnten, wusste ich mehr über Antiquitäten als so mancher der Händler, bei denen ich die Stücke kaufte. Ich hatte jedoch nie ernsthaft in Erwägung gezogen, selbst mit Antiquitäten zu handeln, sondern war immer davon ausgegangen, dass ich wieder unterrichten würde, wenn Connor mit der Schule fertig war.
Als Connor dann merkte, dass er schneller und ausdauernder rennen konnte als fast alle anderen, verbrachte ich einen Großteil meiner Nachmittage bei Cross-Country-Läufen und Leichtathletikwettkämpfen, wo ich meinen Sohn anfeuerte und seine Läufe aufnahm, damit Brad sie sich später ansehen konnte. Ich hatte immer noch vor, bald wieder als Lehrerin zu arbeiten.
Meine Mutter war es dann, die die Idee hatte, dass doch ich an ihrer Stelle die Geschäftsleitung des Antiquitätenladens übernehmen könne, als Theas Gesundheit sich rapide verschlechterte, kurz nachdem Connor ausgezogen war und sein Studium in Dartmouth begonnen hatte. Meine Mutter bekam nicht nur ganz schnell den Segen ihrer Tante für diesen Plan, sondern Tante Thea bestand sogar darauf, dass nur ich ihre Vertretung im Laden übernehmen dürfe, wenn meine Mutter es nicht täte.
An diesem Tag war meine Mutter mit den Ladenschlüsseln in der Hand zu uns gekommen und hatte ihre Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich gerade eben die perfekte Lösung für mein leeres Nest ergeben hätte und ich für Tante Thea eine Gebetserhörung sei.
„Aber eigentlich wollte ich doch wieder unterrichten“, hatte ich eingewandt und etwas ratlos auf die Ladenschlüssel in meiner Hand geschaut.
„Aber du liebst doch Antiquitäten, und außerdem vergiss nicht, dass du seit achtzehn Jahren kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen hast – und Tante Thea braucht dich jetzt.“
„Ich habe doch keine Ahnung, wie man ein Geschäft führt, Mama.“
„Das wusste Thea auch nicht, als sie angefangen hat. Sie wird dir alles erklären. Und außerdem hast du ja auch noch Wilson“, hatte sie entgegnet, sich dann die Sonnenbrille von der Stirn auf die Nase geschoben und sich zum Gehen gewandt.
„Du gehst schon?“, hatte ich gefragt. Sie war keine zehn Minuten da gewesen.
„Ich bin gerade dabei, ein Haus in Westchester herzurichten, und muss jetzt los, sonst stecke ich gleich im Stau. Besprich es mit Brad. Es ist die perfekte Lösung.“
Und mit diesen Worten öffnete sie die Wohnungstür.
„Die perfekte Lösung wofür?“, hatte ich ihr noch nachgerufen.
Daraufhin hatte sie sich noch einmal umgedreht, allerdings ohne dabei stehen zu bleiben, und geantwortet: „Für dich, Jane. Für alle.“
Brad war an dem Abend müde und überarbeitet nach Hause gekommen. Bei einer Lasagne hatte ich ihm erzählt, dass meine Mutter und Thea mich gebeten hatten, die Leitung des Antiquitätenladens zu übernehmen.
„Möchtest du das denn überhaupt?“, hatte er gefragt.
„Thea verlangt offenbar ziemlich hartnäckig, dass ich es mache.“
„Aber die Frage ist doch, ob du es auch selbst möchtest. Ich dachte, du wolltest wieder unterrichten.“ Dann hatte er langsam und bedächtig weitergekaut.
„Hältst du es denn für eine gute Idee?“, hatte ich nachgefragt.
Er hatte noch eine weitere Gabel voll Nudeln in den Mund geschoben und geantwortet: „Doch, eigentlich schon, aber nur wenn es wirklich das ist, was du willst …“
Erst später war mir aufgefallen, dass ich ihn gar nicht gefragt hatte, ob ich seiner Meinung nach für diese Position geeignet sei.
Beim Abräumen hatte ich ihm dann mitgeteilt, dass es mir vielleicht ganz guttäte, mich einer solchen Herausforderung zu stellen. Connor sei ja nun aus dem Haus und dadurch hätte sich alles verändert. Er hatte mir zugestimmt.
Wahrscheinlich hatte ich bereits da unterbewusst gespürt, dass irgendetwas anders war.
Irgendetwas stimmte nicht.
An dem Tag, als Brad nach New Hampshire aufbrach, sah ich ihm beim Packen zu.
Er schlug mir vor, lieber einen Spaziergang zu machen, statt zuzuschauen, wie er seinen Kleiderschrank leer räumte, aber das wollte ich nicht.
Solange ich zuschaute, wie er T-Shirts, Socken und Unterwäsche auf Stapel legte, konnte ich mir vorstellen, dass er lediglich für eine längere Reise packte. Es machte ihn nervös, wie ich da auf der Bettkante auf meiner Seite des Bettes hockte und ab und zu ein Hemd so zurechtzupfte, dass es nicht knitterte. Ich merkte genau, dass er nicht wusste, wie er mit meiner stummen Hilfe umgehen sollte.
Als er fast fertig war, nahm er als Letztes noch seine Krawatten von einem Haken im Schrank, wo sie wie fröhliche Schlangen lose baumelten. Jede einzelne davon hatte ich irgendwann gekauft. Er sagte immer, ich sei einfach gut darin, schicke Krawatten auszusuchen.
Er faltete das lange Krawattenbündel in der Mitte zusammen und legte es ganz oben auf seinen Bademantel und die Schlafanzughose in den Koffer. Dann klappte er den Kofferdeckel zu. Der Reißverschluss gab ein scharfes, zischendes Geräusch von sich, als er ihn schloss. Brad nahm den Koffer und stellte ihn neben die beiden anderen, die schon fertig gepackt waren. Ganz oben auf den anderen Gepäckstücken lag noch ein Kleidersack, und daneben stand eine Sporttasche mit Schuhen.
Als alles fertig war, setzte er sich neben mich aufs Bett. „Ich rufe dich an, wenn ich mit Connor geredet habe.“
„Meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn wir es ihm gemeinsam sagen?“ Ich war rot geworden. Die Vorstellung, Connor würde erfahren, dass Brad und ich ernsthaft zerstritten waren, war mir peinlich. Ich fühlte mich wie ein ungezogenes Kind, das etwas Verbotenes getan hat.
„Ich glaube, das mache ich lieber allein“, antwortete Brad. „Er muss wissen, dass das alles nichts mit ihm zu tun hat.“
Die Röte in meinem Gesicht hatte sich noch verstärkt, allerdings jetzt eher aus Frust als aus Beschämung.
„Natürlich hat das etwas mit ihm zu tun“, widersprach ich ihm. „Schließlich sind wir seine Eltern.“
„Du weißt genau, wie ich das meine, Jane. Ich meine, dass es nicht seine Schuld ist.“
„Wessen Schuld ist es denn dann?“ Ich schaute zu ihm auf. Mir lag wirklich etwas daran, eine Antwort auf meine Frage zu bekommen.
Er schaute auf seine Koffer. „Wahrscheinlich meine.“
Eine Weile saßen wir einfach schweigend da.
Schließlich war ich es, die das Schweigen brach. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, während ich warte.“
„Du sollst ja auch gar nicht warten“, sagte er ganz langsam. „Es geht darum herauszufinden, was wir eigentlich wollen und wie es weitergehen soll.“
Dann stand er auf und nahm so viele Gepäckstücke, wie er tragen konnte, um sie hinunter zum Jeep zu bringen. Ich wollte ihm helfen, aber er sagte einfach nur: „Nein.“
Schweigend saß ich da und schaute zu, wie er mit seiner Last durch die schmale Tür ging.
Die Frau kaufte die Taschenuhr mit dem eingravierten Zitat von Diderot. Während Stacy den Verkauf abwickelte, verpackte ich die Uhr in mehrere Schichten Zellstoff. Ein paar Meter entfernt begann der Geruch von Emmas Kisten sich im hinteren Teil des Ladens auszubreiten.
Ich ließ die Uhr in eine Tüte gleiten, gab sie Stacy und entfernte mich von dem bedrückenden Geruch nach Schimmel und Alter.
Vier
Als etwa eine Stunde nach der Mittagspause einmal keine Kunden im Laden waren, kamen Stacy und Wilson mit mir in den hinteren Bereich, um dort Emmas Kisten auszupacken.
Ich hatte Emma im Sommer zuvor auf einer Antiquitätenmesse in Boston kennengelernt. Sie war gerade zu Besuch bei ihrer Schwester gewesen, die schon jahrelang mit einem Amerikaner verheiratet war, und hatte die besagte Messe besucht, um dort nach Hüten und Handtaschen für ihren Kostümverleih in London Ausschau zu halten. Emma hatte mit Ende fünfzig geheiratet, war aber schon lange wieder geschieden und lebte allein. Schon als kleines Kind hatte sie mit dem Londoner Theater zu tun gehabt. Sie war zwar nicht mehr selbst als Schauspielerin aktiv gewesen, seit sie etwa Mitte zwanzig war, aber sie erzählte mir, dass sie die Kostüme sowieso immer mehr fasziniert hätten als die Rollen selbst. Emmas Laden war eine Fundgrube für ungewöhnliche und einzigartige Requisiten, und ich hatte den Eindruck, dass sie von den professionellen Kostümbildnern zwar nicht besonders ernst genommen, von ihnen aber immer wieder gern dann aufgesucht wurde, wenn sie auf der Suche nach einem Hut in einer speziellen Farbe waren oder unbedingt eine hellgrüne, mit Rheinkieseln besetzte Federboa brauchten oder ein Zwanzigerjahre-Kleid in Größe 32. Normalerweise fand man solche ausgefallenen Dinge nämlich in Emmas Fundus. Ich war nur einmal in ihrem Laden gewesen, und zwar im vergangenen Herbst. Damals hatte Brad mir seine Vielfliegermeilen überlassen, damit ich Emma in England besuchen und mit ihr gemeinsam unsere Idee weiterentwickeln konnte, dass sie in England nach Antiquitäten für meinen Laden Ausschau halten könnte und ich im Gegenzug für sie in Amerika nach Kleidern und Requisiten. Vier Tage hatte ich bei ihr verbracht und war bei meiner Abreise zuversichtlich gewesen, dass wir einander wirklich helfen würden. Im Laufe der vergangenen zehn Monate hatte ich beinah die Hälfte des Schmuckes, der Nippes-Sachen und der Bücher, die ich in meinem Laden anbot, von ihr bekommen. Im Gegenzug hatte ich ihr den Kopfschmuck von Las-Vegas-Showgirls geschickt sowie Tellerröcke und Cowboy-Chaps aus Texas.
Wilson zerschnitt mit einem Teppichmesser das Klebeband, mit dem die Kartons verschlossen waren, während Stacy und ich eine Plastikplane auf dem massiven Eichentisch ausbreiteten, den ich zur Sichtung neuer Ware benutzte.
In der ersten Kiste war ein Teeservice aus den Zwanzigerjahren, das in Fetzen einer alten Wolldecke eingewickelt war. Diese Deckenfetzen waren, wie sich herausstellte, auch die Quelle des penetranten modrig-schimmeligen Geruchs. Außerdem befanden sich in der Kiste zwei stark angelaufene Kerzenständer, eine herzförmige Schachtel voller ganz zart bestickter Taschentücher und ein emaillierter Globus aus der Zeit, als die Hälfte davon noch unter der Herrschaft von Großbritannien stand. Ich bat Wilson, das Teeservice auszupacken und dann sofort die Deckenreste zu entsorgen, was er nur zu gern tat.
Die zweite Kiste enthielt zwei zerbrochene Vasen – die vielleicht noch ganz gewesen waren, als Emma sie gekauft hatte –,ein Tischtuch aus Spitze, acht heile, aber völlig verstaubte Dessertteller von Royal Doulton, eine Brille in einem Lederetui, einen Blasebalg für den Kamin, der sich nicht öffnen ließ, von dem Wilson aber sagte, er könne ihn reparieren, und mehrere Fotografien von Männern und Frauen in Kleidung aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Außerdem gab es noch einen Satz Salzfässchen mit winzigen dazugehörigen silbernen Löffelchen.
Als wir gerade die letzte Kiste öffneten, bimmelte die Ladentür, und Stacy ging nach vorn, um den Kunden zu bedienen. Die dritte Kiste war kleiner, aber auch schwerer als die beiden anderen. Oben auf dem Verpackungsmaterial lag ein gefalteter Zettel von Emma:
Jane,
ich werde versuchen, dich anzurufen, bevor die Kisten bei dir ankommen. Ich konnte die Sachen leider nicht mehr durchgehen und sortieren. Ich habe alles auf einem Trödelmarkt in Cardiff gekauft, der allerdings nicht besonders schön war, weil es die ganze Zeit in Strömen gegossen hat. Ich weiß zwar nicht, in welchem Zustand die Bücher in dieser Kiste sind, aber ich finde, sie sehen ziemlich alt aus. Es sieht aber auch ganz so aus, als ob sie nicht besonders gut behandelt wurden. Manche Menschen sind solche Deppen. Entschuldige bitte das Durcheinander. Du darfst mir im Gegenzug ebenfalls drei unsortierte und schmuddelige Kisten mit Kleidung schicken.
Herzlich,
Emma
Unter ihrem Brief befand sich ein Durcheinander von Büchern, die alle alt und muffig rochen. Das erste, das ich aus der Kiste nahm, war ein Exemplar von „David Copperfield“ aus dem Jahr 1902, bei dem die Titelei fehlte. Die nächsten vier Bücher waren in besserem Zustand und rochen auch ein bisschen weniger streng. Eines war ein Gedichtband von John Keats von 1907, das zweite ein dünnes Exemplar von Rudyard Kiplings „Just So Stories“, das dritte waren Chaucers „Canterbury Tales“, und das älteste Buch, das noch in der Kiste lag, stammte aus dem Jahr 1756. Ganz unten auf dem Boden des Kartons lag eine in Sackleinen eingewickelte, grünlich-schwarz angelaufene Metallkassette von der Größe eines Toasters. Sie hatte Brandspuren, und die Scharniere waren geschmolzen. Die Kassette war verschlossen, aber als ich sie vorsichtig schüttelte, konnte ich hören, dass sich etwas darin befand. Ich griff in die Schublade meines Arbeitstisches, wo ich einen Schlüsselring mit winzigen Dietrichen aufbewahre, mit denen Thea und Wilson schon so manches alte Schloss aufbekommen hatten.
Ich mühte mich eine ganze Weile damit ab, fummelte und stocherte, und als das Schloss schließlich aufging, fielen die verrosteten Scharniere klappernd auf den Tisch. Die Kassette schien einen fast hörbaren Seufzer auszustoßen, als wahrscheinlich zum ersten Mal seit Urzeiten frische Luft in sie hineinströmte. Wilson war wieder zu mir zurückgekommen, und auch er hörte den Seufzer. Es war, als ob die Kassette flüsterte: „Endlich …“ Ich hob den Deckel an und spähte vorsichtig hinein. Der Inhalt war mit Strohfasern bedeckt, die sofort zu Staub zerfielen, als ich sie berührte.
Es befanden sich ein Rosenkranz aus Onyx, ein kleiner Handspiegel, der vom Alter angelaufen war, und ein Buch darin, das in so schlechtem Zustand war, dass der Buchrücken an mehreren Stellen nur noch an einzelnen Fäden hing. Alles war in ein grob gewebtes Stück Stoff eingeschlagen. Ich nahm das Buch aus der Kassette heraus und schlug es behutsam auf, merkte aber sofort, dass sich dadurch die Seiten vom Buchrücken zu lösen drohten. Ich legte es also vorsichtig vor mir auf den Tisch und wünschte, ich hätte Handschuhe angezogen, bevor ich es in die Hand genommen hatte.
„Guter Gott. Das Buch muss drei-, vierhundert Jahre alt sein!“ Wilson kniff die Augen zusammen, um die Schrift überhaupt lesen zu können. „Sehen Sie sich nur diese Buchstaben an!“
Ich schaute ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen auf die erste Seite, aber die Tinte war so verblasst, dass ich nichts erkennen konnte außer den Titel: „Book of Common Prayer“.
„Glauben Sie wirklich, dass es so alt ist?“, fragte ich nach.
„Auf jeden Fall. Eigentlich müsste es in irgendeinem Museum liegen und nicht auf dem Dachboden eines alten Gutshauses“, grummelte Wilson. „Was hat Emma geschrieben, wo sie es herhat?“
„Von einem Trödelmarkt in Wales“, antwortete ich.
Ich berührte den Rand des Buchrückens, der nur noch zur Hälfte mit der Rückseite des Einbandes verbunden war, und strich mit dem Finger an der Innenseite entlang. Es fühlte sich an wie Leder. Eine Wölbung unter dem Vorsatzpapier erregte meine Aufmerksamkeit, und ich fuhr mit der Fingerspitze darüber. Die Wölbung hatte etwa die Größe eines amerikanischen Vierteldollarstückes und saß in dem Einband wie ein kleiner Klumpen. Was auch immer das sein mochte, es würde auf jeden Fall entfernt werden müssen, wenn das Buch restauriert werden sollte.
„Glauben Sie, dass Sie das reparieren können?“, fragte ich Wilson.
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sollte das doch lieber von einem Profi gemacht werden, aber das würde Sie sicher eine Stange Geld kosten. Und in dem Zustand, in dem es jetzt ist, wird Ihnen ganz bestimmt niemand so viel dafür zahlen, wie es wert ist. Das ist wirklich jammerschade.“ Er befingerte den Rosenkranz. „Der hier ist in hervorragendem Zustand, allerdings auch ganz sicher nicht so alt wie das Buch.“
Er hielt das Kreuz des Rosenkranzes hoch, sodass es an seiner Hand baumelte. Die schwarzen Perlen schimmerten unter der gedämpften Deckenbeleuchtung und schrien praktisch danach, von betenden Händen berührt zu werden. Wann war das wohl zum letzten Mal der Fall gewesen? Ich schaute auf die glänzenden schwarzen Perlen in Wilsons Händen und dachte einen Moment lang darüber nach, wie es sich wohl anfühlen mochte, sie in den Fingern zu halten und mit dem auferstandenen Jesus zu reden.
Stacy kam zurück. „Und, habe ich etwas verpasst?“
„Das hier ist ein wunderschöner Rosenkranz, und dann haben wir noch einen hoffnungslosen Handspiegel und ein sehr altes Gebetbuch, das nicht gut behandelt worden ist.“ Wilson legte den Rosenkranz neben das zerfledderte „Book of Common Prayer“.
„Wow“, sagte Stacy und strich mit dem Finger über die Perlen des Rosenkranzes. Dann beugte sie sich über das Buch, blätterte vorsichtig eine Seite um und bekam ganz große Augen. „Das ist ja richtig alt. Und es ist ein protestantisches Exemplar. Sehen Sie mal. Es wurde von der ,Church of England‘, der anglikanischen Kirche, gedruckt. Und … Oh mein Gott … haben Sie das Datum hier gesehen?“
Wilson und ich beugten uns vor, aber für mich war die Tinte zu verblasst, um noch erkennen zu können, was dort stand. Stacys junge Augen waren besser. „Sechzehnhundertzweiundsechzig. Dann ist es also dreihundertfünfzig Jahre alt!“
Ich hatte noch nie etwas so Altes besessen. Noch nie.
„Ein katholischer Rosenkranz in einem protestantischen Gebetbuch.“
Wilson lachte.
Stacy beugte sich wieder über das Buch, und ich bekam mit, wie sie die kleine Wölbung im Einband bemerkte. „Was ist denn das?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Ein totes Insekt oder so etwas. Ich bin jedenfalls sicher, es ist die Ursache dafür, dass der Buchrücken sich ablöst. Wir müssen es irgendwie entfernen, denn der Buchrücken lässt sich bestimmt nicht wieder befestigen, solange dort diese Wölbung ist.“
„Wollen Sie versuchen, es selbst zu reparieren?“
„Wilson hat gesagt, es würde sicher ein Vermögen kosten, es von einem Profi restaurieren zu lassen.“
Stacy nickte. „Aber vielleicht würde es sich ja trotzdem lohnen. Sie könnten es dann wahrscheinlich für gutes Geld an einen Sammler verkaufen.“
Für mich hatte das Buch etwas Tröstliches – wie die Uhr, die nicht tickte –, und bei dem Gedanken, das Buch und den Rosenkranz zu verkaufen, verzog ich das Gesicht.
„Was ist denn?“, fragte Stacy, die meine Miene bemerkt hatte.
„Ich weiß nicht. Ich möchte es … einfach noch eine Weile behalten.“
Stacy lächelte. „Irgendwie sind die Sachen wirklich cool. Wie kleine, jahrhundertealte Teile von Gott. Aus einer Zeit, als es uns noch gar nicht gab, aber Gott schon der war, der er immer gewesen ist.“
Sie ging hinüber zu dem Teeservice, das Wilson ausgepackt hatte. Es war aus elfenbeinfarbenem Porzellan mit Goldrand und zartlila Asterndekor. „Dieses Geschirr ist cool.“ Die Gedanken über Gott wurden übergangslos abgelöst von einer Bemerkung über ein altes Porzellanservice.
Meist gelang es mir zu vergessen, dass Stacy Missionarstochter war, aber dann wieder gab es Augenblicke, so wie diesen gerade eben, in denen ich fast ein Rascheln zu vernehmen glaubte, wenn sich ihr Glaube zeigte.
Ich nahm den Rosenkranz und das Gebetbuch und legte beides behutsam wieder in die alte Kassette, in der ich sie bekommen hatte.