New York Diaries – Sarah - Carrie Price - E-Book

New York Diaries – Sarah E-Book

Carrie Price

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Beschreibung

Die New York Diaries: Geschichten, die das Herz berühren Im Herzen von New York City steht das Knights Building, ein ziemlich abgelebtes Wohnhaus. Etwas schäbig und daher nicht ganz so teuer, ist es perfekt für junge Leute, die hungrig auf das Leben sind. Sarah Hawks lebt schon lange im Knights, und obwohl nichts darauf hoffen lässt, dass ihr großer Traum in Erfüllung geht, hält sie stur daran fest: Musikjournalisten mag es viele geben, aber niemand hat so ein Gespür für Musik wie sie. Dann lernt Sarah bei einem Konzert in einem kleinen Club den Sänger Will Brown kennen. Normalerweise trennt sie sauber zwischen Arbeit und Privatleben, doch diesmal stolpert sie Herz über Kopf in unbekannte Gefühlswelten.

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Seitenzahl: 438

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Carrie Price

New York Diaries – Sarah

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Im Herzen von New York City steht das Knights Building, ein ziemlich abgelebtes Wohnhaus. Etwas schäbig und daher nicht ganz so teuer, ist es perfekt für junge Leute, die hungrig auf das Leben sind.

Inhaltsübersicht

MottoMusic was my first loveBackstage QueenNew York State of MindBreakfast at Tiffany’sNew York, I Love You, but You’re Bringing Me DownNew York NightsCity StreetsLate NightAnother Park, Another SundayMusic in YouThe MusicianBusiness WomanTop of the WorldMotorcycle Drive ByRoom with a ViewWhen Are We Waking Up?Hard Working WomanMusic to Watch Boys ToThe Stars Are Out TonightLike a DrumIndependence DayBest Fake SmileThe Little ThingsDrunk in the MorningDecisions of the HeartUnder PressureBoss of MeI Forget Where We WerePurple RainWe’re All StoriesDanksagungPlaylist
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Für alle, die ihre Lieblingssongs zu laut mitsingen.

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Music was my first love

Der kleine Club mit dem unauffälligen Namen Tuned mitten in Williamsburg, New York, dient tagsüber als angesagtes Café mit dem besten Flat White, den es für Geld zu haben gibt. Jetzt hat er sich zu einem Konzertraum voller Menschen verwandelt. Der Bass der Musik vibriert in meinem Körper und gibt meinem Herzen einen neuen Rhythmus vor – Widerspruch zwecklos. Es riecht nach Schweiß, Sommer und Alkohol, die Menschen tanzen losgelöst zum lauten Gitarrensound der Band, die uns an diesem schwülen Abend noch mehr einheizt. Ich lehne an der Wand, in der Nähe der Bar, den roten Notizblock in der Hand, den Stift lässig hinter das Ohr geklemmt. Und das nicht, weil ich den Look einer echten Musikjournalistin imitieren will, sondern weil er mir hilft, meine widerspenstige Lockenmähne irgendwie unter Kontrolle und aus dem Gesicht zu halten. Die Band auf der Bühne gibt alles, trifft den Geschmack der Leute (und die Töne), kann mich aber dennoch nicht vollkommen überzeugen. Irgendwie bin ich nicht gefesselt, ertappe meine Gedanken bei Spaziergängen zurück in meine Wohnung und zu der Frage, ob ich noch ess- und haltbare Lebensmittel im Kühlschrank habe. Nein, diese Band wird nicht die nächste Neuentdeckung der Musikwelt, die uns einen Hit nach dem anderen schenkt und deren Songs unseren Sommer bestimmen. Enttäuscht lasse ich den Block samt Stift in meine Handtasche gleiten und kämpfe mich bis zur Bar durch; ich habe dringend ein kühles Getränk verdient. Der Tag war scheinbar endlos lang und schrecklich öde noch dazu. Dieses Konzert sollte das Highlight meiner Woche werden, doch ich werde mal wieder enttäuscht.

Das freundliche Lächeln des Barkeepers empfängt mich und meine unausgesprochene Bestellung, denn noch bevor ich auch nur ein Wort sagen kann, stellt er schon einen Gin Tonic vor mir auf dem Tresen ab.

»Ach Ace, du bist offiziell mein Tageshighlight!«

Ich brülle mein Kompliment über die Musik und die Theke hinweg zu Bobby »Ace« Wallace, der mir ein weiteres strahlendes Lächeln schenkt und sich das Geschirrtuch über die Schulter wirft, bevor er sich zu mir lehnt.

»Du siehst so aus, als ob du den Drink gut gebrauchen könntest.«

»Man kennt mich hier.«

Damit nehme ich einen kleinen Schluck und genieße das eiskalte Getränk, das wie immer die perfekte Mischung hat. Noch nie habe ich einen besseren Gin Tonic genossen als hier, immer dann, wenn Ace Schicht hat. Bobby, der wirklich von allen nur Ace genannt wird, ist einer dieser Menschen, in deren Nähe man sich sofort besser fühlt. Es mag an seinem strahlenden Lächeln liegen, das auch während eines stressigen Abends nie an Ehrlichkeit verliert. Mit Leichtigkeit mixt er seine Cocktails, fängt Stress ab und gibt mir persönlich das Gefühl, ein gern gesehener Gast zu sein. Die Tattoos an seinen Unterarmen wollen auf den ersten Blick nicht zu der schwarzen Weste und dem makellosen weißen Hemd passen, das er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat. Doch Ace lebt nach dem Motto: Always dress for the job you want, not the job you have. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er in den coolsten Bars dieser Stadt seine Cocktail-Shaker durch die Lüfte wirbeln lassen wird. Ein Blick aus seinen klaren Augen, und er durchschaut mich und meine Gedanken.

»Spuck es aus! Was ist los?«

»Eigentlich nichts Wildes. Diese Woche war einfach beschissen.«

Statt sich der Bestellung einer jungen Frau neben mir zu widmen, die ihren Ausschnitt fast in sein Gesicht zu schieben scheint, beugt sich Ace weiter zu mir, mustert mich eindringlich und zieht besorgt die Augenbrauen zusammen.

»Muss ich mir Sorgen machen, Sarah?«

»Quatsch! Ich habe es nur ein bisschen satt, als Pinguin verkleidet Champagnergläser auf Silbertabletts zu servieren und dabei meistens ignoriert zu werden.«

»Vielleicht musst du nur die Bluse deines Pinguin-Kostüms weiter aufknöpfen?«

Aces Lächeln wird breiter, während er kurz einen Blick auf meine Brüste wirft und dafür einen sanften, aber bestimmten Schlag gegen die Schulter kassiert. Ace ist der Typ Mann, mit dem man sofort nach Hause gehen würde, weil seine Augen schon versprechen, dass der Sex gut wird, und weil er vielleicht nicht zum Frühstück bleibt, aber den Cocktail danach mixt, den man sicher auch nicht vergessen wird. Leider ist er vergeben und das seit Jahren. Flirten ist für ihn nur während der Arbeitszeit erlaubt, weil es die Trinkgelder nach oben treibt. Aber alle wissen, dass er mit seiner Freundin Lisa seit über vier Jahren glücklich zusammenlebt. Schade, aber schön. Die beiden gelten als Traumpaar des Viertels und werden oft aus der Ferne bewundert. Zumindest von mir.

»Wir wissen doch beide, dass dieser Kellnerinnen-Catering-Job sowieso nicht für die Ewigkeit ist, Sarah. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du den Durchbruch schaffst.«

Ob er wirklich an mich glaubt oder mir einfach nur Mut machen will, weiß ich nicht. Es spielt aber auch keine Rolle, weil es trotzdem guttut, das zu hören.

»Danke, aber im Moment fühlt es sich gerade nicht so an.«

Ace zuckt mit den Schultern, nimmt erst die Bestellung der immer ungeduldiger werdenden Frau neben mir auf und dreht sich dann noch mal zu mir.

»Es fühlt sich nie so an. Es passiert immer dann, wenn du nicht damit rechnest.«

Mit einem Augenzwinkern macht er sich wieder an seinen Job, den er beherrscht und der ihm Spaß zu machen scheint. Ganz kurz flackert etwas Neid in mir auf. Wie gerne würde ich mit dem, was meine Leidenschaft ist, meine Miete bezahlen können! Stattdessen arbeite ich als Kellnerin für das Cateringunternehmen NY Catering Chefs und bediene Leute, die für gewöhnlich durch mich hindurchschauen, als würde das Tablett mit den Gläsern und den kleinen Häppchen magisch in der Luft vor ihnen schweben. Nicht gerade das, was man den großen Durchbruch nennt. Noch nicht – denn wenn ich eines nicht aufgeben will, dann ist es die Hoffnung auf meinen absoluten Traumjob: der wahre Grund, weswegen ich nach New York gekommen bin.

Wieder lasse ich meinen Blick durch das Tuned schweifen und erkenne Frauen und Männer in meinem Alter, die lachen, tanzen, mitsingen und einfach nur ihren Feierabend genießen. Ich bin nur ein weiteres Gesicht in dieser Stadt, eine weitere Geschichte, die damit begann, dass ich mir New York als Bühne für die Erfüllung meines Lebens ausgesucht habe.

Mein Name ist Sarah Hawks. Ich bin nur noch drei Jahre von meinem dreißigsten Geburtstag entfernt und jage seit nun knapp zwei Jahren meinem Traum in »der Stadt, die niemals schläft« hinterher. Manchmal glaube ich, ihn fast berühren zu können, doch dann macht er einige schnelle Schritte, und ich kann ihn kaum mehr sehen. Mein Traum scheint in einer deutlich besseren körperlichen Verfassung zu sein als ich. Immer einen Schritt voraus, immer kennt er eine Abkürzung, die mir – als Zugezogene – verborgen bleibt, und nie geht ihm die Puste aus. Ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel. Manchmal ist mein Seitenstechen so schmerzhaft, dass ich am liebsten auf dem Gehweg zusammenbrechen und weinen würde. Aber dann würde der Name Sarah Hawks auf die Liste der gescheiterten Möchtegern-New-Yorker aufgenommen werden, und ich bin nichts weiter als eine dieser großen Träumenden, die mit einem großen Ziel nach New York gekommen ist und hier aufgegeben hat.

Stundenlang habe ich mir Frank Sinatras Hymne an diese Stadt angehört – im Keller unseres Wohnhauses in Chicago, wo mein Dad seiner Plattensammlung eine Art Altar gebaut hat.

Das ist meine große Motivation: Wenn ich es wirklich schaffe, dann steht mir die ganze Welt offen. Deswegen ist Aufgeben keine Option. Das habe ich mir damals am Bahnsteig in Chicago geschworen. Ich werde sicher nicht zurück nach Hause kommen und mir die gehässigen Kommentare meiner Brüder anhören, die mich grinsend am Gleis abholen, weil ich wieder bei meinen Eltern einziehen muss. Wir haben es dir doch gesagt. Diesen Satz will und werde ich mir nicht anhören.

Die Leute um mich herum haben ihre eigenen kleinen und großen Träume, doch keiner von ihnen ist aus dem gleichen Grund wie ich hier. Für sie ist Musik nur eine weitere Ablenkung von ihrem Alltag, sie dient nur der Hintergrunduntermalung, spielt aber keine übergeordnete Rolle. Für mich ist Musik alles. Zwischen den Plattensammlungen meines Vaters und meiner Brüder aufgewachsen, gab es bei uns zu Hause immer Musik, vollkommen egal, zu welcher Uhrzeit oder aus welchem Anlass. Ich habe keine nennenswerte Erinnerung ohne einen Song von Eric Clapton, dem Rat Pack, den Rolling Stones, Eric Burdon, den Beatles oder Deep Purple. Jetzt bin ich genau deswegen hier. Weil Chicago nicht mehr den Soundtrack für mein Leben geliefert hat. Weil ich auf der Suche nach neuer und frischer Musik bin. Nach dem Hit meines Lebens, den ich vor allen anderen entdecken und nie mehr vergessen werden kann. Doch heute Abend werde ich ihn wohl kaum finden. Die Band auf der Bühne hat keinen Wiedererkennungsfaktor, die Songs sind eingängig, aber nicht einzigartig. Eben gehört, hat man den Refrain auch schon wieder vergessen. Die Stimme des Sängers klingt so, als wolle er wie Adam Levine von Maroon 5 klingen. Alles schon mal da gewesen. Nichts Neues.

Mal sehen, ob ich noch nettere Worte für meinen Blog-Artikel finde. Ich hasse es, Verrisse von Bands oder ihren Konzerten schreiben zu müssen, weil man nie vergessen darf, dass jeder Künstler (und sei er oder sie noch so mies) sein Herzblut in dieses Projekt steckt. Man sollte deswegen immer respektvoll Kritik üben. Zumindest ist das mein Arbeitscredo: Sei stets ehrlich, jedoch nie verletzend. Als mich auch der nächste Song nicht vom Hocker reißen kann, leere ich meinen Gin Tonic viel zu schnell, lege einen Schein in Aces Trinkgeldkasse und winke ihm zum Abschied. Er weiß genau, ich werde für das nächste Konzert einer noch unbekannten Band wieder hier sein, mit derselben Hoffnung, auf derselben Suche.

Es ist etwas mühevoll, mich durch die Menschenmenge bis zum Ausgang zu kämpfen. So bekomme ich mit, wie der Sänger der Band eine kurze Pause ankündigt und das Publikum davon kaum Notiz zu nehmen scheint.

»Während wir mal schnell austreten, unterhält euch unser Bassist mit einem seiner Songs.«

Klasse, der Pausenclown darf also ran. Der arme Kerl – das Publikum ist heute Abend nicht besonders dankbar. Ich weiche dem Ellbogen eines unachtsamen Gastes aus und bin fast an der Tür, als ich leise Gitarrentöne höre, die mir eine Gänsehaut bescheren. Und das in weniger als vier Sekunden. Mein Körper fühlt sich mit einem Mal so an, als würde er unter Strom stehen, und weigert sich, mir weiterhin zu gehorchen. Ich mache keinen Schritt mehr, sondern bleibe wie angewurzelt stehen, schließe die Augen und konzentriere mich ausschließlich auf die sanfte unplugged Musik, die sich unaufdringlich, aber unausweichlich einen Weg zu mir bahnt. Bitte, bitte, lass die Stimme zu diesem vertonten Gefühl passen! Schenk mir ein Highlight, das sogar den weltbesten Gin Tonic übertrifft!

Meine Atmung setzt aus, als die ersten Töne gesungen werden und ich nichts anderes mehr wahrnehme als die sanfte und gleichzeitig rauhe Stimme, die unangestrengt klingt, als wäre Singen für den Interpreten so leicht wie für uns Normalsterbliche das Sprechen. Den Song habe ich noch nie gehört, weder im Radio noch irgendwo als vermeintlichen Geheimtipp im Internet. Doch ich weiß genau, dass ich ihn nie mehr vergessen und die Melodie heute Nacht im Bett noch im Kopf haben werde. Alles verlangsamt sich. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um. Vergessen ist der Wunsch, nach ermüdenden Stunden endlich in meine Wohnung zu kommen. Den ganzen Tag habe ich mich noch nicht so lebendig gefühlt wie jetzt in diesem Moment.

Auf der Bühne steht ein Mann in schwarzen Skinny Jeans, einem schwarzen Hemd, das mit unzähligen, kleinen weißen Punkten übersät ist. Seine braunen Haare kleben ihm verschwitzt in die Stirn, seine Augen sind geschlossen, und in der Hand hält er eine schlichte Akustikgitarre. Er ist ziemlich groß, dafür aber auch recht schlaksig. Keiner dieser übertrainierten Musiker, die sich vor der Zugabe das Hemd vom Leib reißen. Doch es ist nicht sein Aussehen, das mich magisch anzieht. Es ist seine Stimme, die mich bewegt, wieder zurück in Richtung Bühne zu gehen, wo ich zu Beginn des Konzerts einen Platz ergattert hatte. Ob die Leute um mich herum noch sprechen oder atmen, das nehme ich nicht wahr, denn für mich gibt es nur noch diesen Song, der eine vergessene Jugend besingt und dessen Melancholie mich mitten ins Herz trifft, als würde er über mich, mein Leben und die Erinnerungen aus meiner Teenagerzeit singen.

You said, we would stay young like this forever.

The answer to growin’ up would always be never.

But now here we are, nothing more than just strangers

like the promise back than was always in danger.

Es ist die Art und Weise, wie er die Worte singt. Als würden sie ihn quälen, wenn er sie nicht laut ausspricht, als würde er sich mit diesem Song seinen Dämonen stellen. Sofort greife ich nach meinem Block, ziehe ihn aus der Tasche, mache mir hastig Notizen und kritzele so in einer für andere unleserlichen Handschrift meine Gefühle beim Hören des Songs auf.

Melancholie, Einsamkeit, Liebe, Freundschaft, Gänsehaut, Ehrlichkeit.

Kurz sehe ich mich um und bemerke, dass die meisten Leute in Gespräche vertieft sind, sich neue Drinks an der Bar holen oder die Pause als Chance für einen flotten Toilettengang nutzen. Kopfschüttelnd blicke ich zu Ace, der meine Umkehr bemerkt hat und mich überrascht angrinst. Wie kann es sein, dass die anderen nicht das hören, fühlen und aufnehmen, was ich empfinde, wenn ich diesem Song lausche? Sind sie denn alle geistig-musikalisch umnachtet? Fast will ich sie packen und wachrütteln, sie um Ruhe und Aufmerksamkeit bitten, weil sie dem Künstler auf der Bühne nicht den Respekt entgegenbringen, den er und dieser Song verdient haben. Doch sie ignorieren meinen bitteren Blick, als wäre ich nicht da und die Musik nichts weiter als eine Begleiterscheinung des Abends. Wieder sehe ich zu dem namenlosen Musiker auf der Bühne, den ich bisher nur als niedlichen, aber unscheinbaren Bassisten einer Gitarrenrockband wahrgenommen hatte. Wie sehr ich mich doch getäuscht habe!

I just wanna tell you, that I miss you.

Tell me, do you long to see my face, too?

How can time fly by so bloody fast,

like we’re only fading memories of our past.

Seine Finger streicheln die Saiten der Gitarre so sanft, als würde es sich bei dem Holzkörper um eine Frau handeln, die er zärtlich in seinen Armen hält. Zweifelsohne liebt dieser Mann seine Musik, und das spüre ich so stark, als hätte er mir sein Geheimnis zugeflüstert. Was er genau genommen auch hat. Er hat es uns allen verraten, doch die meisten Leute hier hören nicht so genau hin, um zwischen den gesungenen Zeilen das Geschenk zu erkennen. Dieser Song ist persönlich, das merkt man an der Art und Weise, wie er ihn singt. Fast zögernd, fast zu leise und vor allem viel zu ehrlich. Im Refrain mischt sich eine Portion Wut in die Stimme, wird lauter und rauher, was mich noch mehr fasziniert und diesen Song zu einem kleinen Meisterwerk macht. Wie selten passen Text, Musik und Stimme so gut zusammen, dass man das Gefühl bekommt, eine perfekte Fusion zu hören.

Sobald die letzten Töne des Songs verhallt sind, bedankt er sich fast schüchtern für die Störung und bekommt dafür halbherzigen Applaus – was mich nur wieder entgeistert den Kopf schütteln lässt. Fassungslos sehe ich mich um und applaudiere so laut und überschwenglich, dass nun mir die verwirrten Blicke gelten. Doch das ist mir egal. Es ist genau die Lautstärke, die ein solcher Song als Anerkennung verdient. Der Musiker, dessen Name ich noch immer nicht kenne, schenkt mir ein kurzes Lächeln und verschwindet dann von der Bühne, ohne zu wissen, dass er gerade zu meinem Tageshighlight geworden ist.

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Backstage Queen

Außer mir stehen noch einige andere junge Frauen am Seitenausgang des Tuned und warten. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die meisten aus einem anderen Grund hier sind, denn sie kichern aufgeregt, klingen leicht alkoholisiert und stupsen sich immer wieder lachend an. Eine knüpft ihre Bluse etwas weiter auf, die andere zieht ihren Rock ein bisschen höher. Ich frage mich, ob sie damit wirklich Erfolg haben werden.

Das Konzert ist seit knapp fünfundvierzig Minuten vorbei, und ich warte darauf, dass die Jungs endlich rauskommen, weil ich mir den Bassisten, der mich allerdings als Gitarrist viel mehr überzeugt hat, etwas genauer ansehen will. Vielleicht kriege ich ein paar zusätzliche Infos für meinen Blog und kann mit ihm in Kontakt treten. Das klingt schrecklich langweilig, nicht wahr? Immerhin hoffen die anderen Frauen hier auf eine heiße Nacht mit (fast) echten Rockstars, die sie nie vergessen werden. Ich will nur wissen, wie der Song heißt.

Kaum wird die Tür aufgeschoben, ist das Gekreische groß, als würden die Rolling Stones zu ihren Hochzeiten eine ausverkaufte Konzerthalle verlassen, was den Mitgliedern der Band mit dem absurden Namen Frozen Eyeballs allerdings zu gefallen scheint. Sie nehmen sich Zeit für Fotos, signieren Hautpartien ihrer Fangirls und genießen jeden Augenblick. Ich halte bewusst etwas Abstand, immerhin bin ich kein Groupie, sondern eine Journalistin. Okay, ja, eine zukünftige Journalistin. Na gut, eine Bloggerin mit Visionen. Können wir uns auf »Talentscout« einigen? Das wäre wohl die treffendste und unverfänglichste Beschreibung.

»Hey, schöne Frau, nicht so schüchtern!«

Der Leadsänger, der mich mit seiner grölenden Adam-Levine-Interpretation nicht überzeugen konnte, winkt mich grinsend zu sich. Irgendwas in seiner Stimme gefällt mir nicht, und ich mag es auch nicht, wenn ich so angesprochen werde. Solche Lockrufe ziehen bei mir für gewöhnlich nicht. Außerdem bin ich nicht wegen ihm hier.

»Ich habe nur ein paar Fragen.«

Ich tippe auf mein rotes Notizbuch, in der Hoffnung, mich mit diesem kleinen Requisit von den anderen zu unterscheiden.

»Sag einfach an, von wem du die Handynummer willst, und wir klären das.«

Das Gelächter ist groß, auch wenn der dazugehörige Witz eher klein war. Natürlich. Zu jedem Rockstar gehört auch eine große Klappe, das habe ich im Laufe meiner erfolglosen Karriere schon öfter bemerken dürfen. Trotzdem komme ich langsam näher, versuche Augenkontakt zu dem geheimnisvollen Bassisten – Schrägstrich – Gitarristen – Schrägstrich – Tageshighlight herzustellen, doch er ist zu beschäftigt damit, einer spärlich bekleideten Brünetten ein Autogramm zu geben und für ein Foto zu lächeln – auch wenn es eher gezwungen wirkt.

»Ich bin wegen ihm hier.«

Dabei deute ich mit gezücktem Kugelschreiber auf das Objekt meiner Begierde, was mich als Expertin outen sollte, nicht wahr? Doch der Sänger grinst jetzt nur noch breiter und verschränkt die Arme.

»Dann musst du dich hinten anstellen. Die Ladys hier haben auch Interesse an ihm bekundet …«

Sein Blick mustert mich unangenehm, als würde er versuchen, durch meine Jeans und das T-Shirt zu schauen, weil ich nicht ausreichend Haut zur Schau stelle. Ich wusste ja heute Morgen auch noch nicht, dass ich mich plötzlich mit Groupies messen lassen muss, die bestimmt fünf Jahre jünger sind als ich und circa zwölf Prozent mehr Körperoberfläche freilegen.

»… oder du lernst teilen.«

Wieder ist das Gelächter groß, doch mir reicht es. Das ist genug.

»Hör mal, nur weil ich Brüste habe, heißt das nicht automatisch, dass ich mit Musikern ins Bett will, okay? Ich war an einem Interview interessiert.«

Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch.

»Für welche Zeitschrift?«

Für gar keine, du Macho-Arsch! Aber das wird noch kommen.

»Das würde ich ihm gerne selbst sagen.«

»Sag es doch mir. Dann entscheide ich, mit wem aus der Band er dich teilen darf.«

Sein Grinsen wird anzüglich, und sein Blick bleibt auf der Höhe meiner Brüste hängen.

»Weißt du, Hübsche, bei uns in der Band läuft das nämlich so …«

Aber ich habe nicht vor, ihn ausreden zu lassen. Typen wie er glauben immer, dass sie mit dieser Masche durchkommen, wenn sie vier Akkorde beherrschen und vielleicht die Töne treffen. Das mag bei den Mädchen neben mir funktionieren, doch ich bin musikverliebt und nicht musikerverliebt. Das mag ein kleiner Unterschied sein, der ihm noch nicht aufgefallen ist.

Bevor er auch nur ein weiteres Wort sagen kann, baue ich mich vor ihm auf und lege los:

»Bei euch in der Band läuft es gar nicht! Ihr habt ein echt mieses Timing, und euer Drummer zählt euch falsch ein. Das ist okay, weil achtzig Prozent eures Publikums betrunken sind und sowieso nicht wirklich zugehört haben. Als Maroon-5-Tribute Band seid ihr Mittelklasse, eure Songs haben so viel Aussagekraft wie die Werbung da drüben im Schaufenster des chinesischen Schnellimbisses. Wenn du mich also jetzt bitte mit dem talentierten Mitglied deiner Band reden lassen würdest …«

Eines ist sicher: Noch nie hat eine Frau, die nach dem Konzert auf ihn und die Jungs gewartet hat, so mit ihm gesprochen. Diese neue Erfahrung gefällt ihm wohl nicht besonders gut, aber das ist mir – ehrlich gesagt – ziemlich egal. Er zuckt nur mit den Schultern, als wäre ich sowieso nicht sein Typ, und dreht sich zum Tageshighlight.

»Brown, hier will eine Journalistin was von dir. Aber vorsichtig: Die ist bissig!«

Es gefällt mir nicht, wie er das Wort Journalistin ausgesprochen hat, aber das ist jetzt nebensächlich, weil der Mann mit dem gepunkteten Hemd vor mir auftaucht und mir einen entschuldigenden Blick zuwirft.

»Nehmen Sie Harry nur nicht zu ernst. Er übt schon mal für die Zeit nach dem großen Durchbruch.«

Der nicht kommen wird! Aber das behalte ich für mich und strecke ihm meine Hand entgegen.

»Sarah Hawks, ich hätte ein paar Fragen an Sie.«

»An die ganze Band, oder … ?«

»Nun, wenn ich ehrlich sein darf, hat mich Ihr Song umgehauen. Als Sie alleine gesungen haben.«

Etwas überrascht zieht er die Augenbrauen zusammen und schiebt die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans, die am linken Knie einen kleinen Riss hat, wie ich jetzt sehen kann. Aus der Nähe betrachtet sieht er etwas jünger aus, als ich angenommen hatte. Die rauhe Komponente seiner Stimme ließ ihn eher wie Anfang vierzig klingen und nicht wie jemand, der wohl in meinem Alter ist. Seine braunen Augen mustern mich eindringlich, allerdings nur mein Gesicht, nicht meinen Körper. Davon könnte sich sein Leadsänger eine Scheibe abschneiden.

»Ich war wirklich begeistert.«

»Ach, Sie waren das?«

»Ich war was?«

»Die eine Frau, die zugehört hat.«

Ein kurzes Lächeln huscht über seine Lippen.

Ich nicke, schiebe meinen Kugelschreiber wieder hinter das Ohr und halte meine Locken damit besser im Zaun.

»Das habe ich allerdings. Und mir hat gefallen, was ich gehört habe. Haben Sie den Song selbst geschrieben?«

»Ja.«

Für gewöhnlich können Musiker es kaum abwarten, über sich, ihre Musik und noch etwas mehr über sich zu reden. Doch Mr. Brown, dessen Vornamen ich noch immer nicht kenne, belässt es bei dieser Antwort und kaut etwas unsicher auf der Innenseite seiner Wange.

»Basiert der Song auf persönlichen Erfahrungen?«

Spätestens jetzt wird er mit der Sprache rausrücken, mir eine traurige Geschichte über seine Kindheit in einer Kleinstadt und den großen Traum von der Musik erzählen. Es ist nicht mein erstes Interview, ich bin inzwischen einiges gewöhnt.

»Ja.«

Doch auch diesmal hält er sich bedeckt und wirkt eher unsicher, ob er mir vertrauen kann. Es macht keinen Sinn, mir großartige Notizen zu diesem absolut merkwürdigen Interview zu machen, aber vielleicht lockert ihn das ja auf. Hastig kritzele ich wieder etwas in den Block.

Komischer Typ, schöne Augen, tolles Lächeln, knappe Antworten.

Hoffentlich kann ich meine Handschrift zu Hause noch lesen, denn in einer spärlich beleuchteten Seitenstraße kurz nach Mitternacht Stichworte aufzuschreiben gehört nicht zu meinen Stärken.

»Spielen Sie außer Bass und Gitarre noch weitere Instrumente?«

Ich sollte mir Fragen einfallen lassen, die er nicht mit Ja oder Nein beantworten kann.

»Schlagzeug.«

Großartig. Es ist überdeutlich, dass er keine große Lust auf meine Fragen hat, doch ich werde sicher nicht so leicht aufgeben.

»Verraten Sie mir den Titel des Songs?«

»Growing Pains.«

Wachstumsschmerzen. Schnell schreibe ich den Titel auf und sehe dann wieder zu ihm.

»Sind alle Ihre Songs so persönlich?«

»Wieso nehmen Sie an, sie wären persönlich?«

»Nun, ich nehme an, man muss es erlebt haben, um so darüber singen zu können.«

Er sagt nichts. Sieht mich einfach nur an. Steht vor mir, als hätte ich ihn ertappt, sein großes Geheimnis gelüftet. Dabei war es so offensichtlich spürbar, als er gesungen hat. Wie kann er da annehmen, es wäre mir nicht aufgefallen?

»Mag sein.«

»Eine letzte Frage, Mr. Brown. Wann kann man Sie wieder singen hören?«

»Für welche Zeitung schreiben Sie doch gleich, Miss Hawks?«

Verdammt! Sofort spüre ich, wie meine Wangen zu glühen anfangen, und kann mir die dazu passende rote Färbung nur zu gut vorstellen. Es sollte mir nicht peinlich sein, aber ich weiß genau, dass er mich gleich nicht mehr ernst nehmen wird.

»Ich schreibe für einen Musikblog. Für meinen, um genau zu sein. One girl’s music box.«

Er nickt, als hätte er es sofort geahnt und mich durchschaut.

»Dachte ich mir.«

Er trifft, ohne es zu wissen, einen wunden Punkt. Sofort spüre ich den Schmerz, der mein Ego befällt. Man wird nicht ernst genommen, wenn man nicht vom New Yorker oder dem Rolling StoneMagazine kommt. Ein Musikblog unter Millionen, nicht mal einer, den man kennen sollte. Ich bin ein Niemand. Sein amüsiertes Lächeln trifft mich bei dieser Erkenntnis wie ein Kinnhaken. Ich hasse es, wenn man mich belächelt. Sofort schalte ich in meinen Abwehrmechanismus.

»Wieso, weil meine Fragen nicht professionell genug sind? Oder weil ich nicht versuche, Sie ins Bett zu kriegen?«

Von meinem Ausbruch unbeeindruckt, lächelt er einfach nur und zuckt mit den Schultern.

»Nein, weil es Ihnen um die Musik geht. Das tut es für die meisten seelenlosen und überbezahlten Journalisten nicht. Denen geht es um Skandale, privaten Mist und Enthüllungen.«

Oh! Jetzt sollte ich etwas sagen, doch er ist schneller.

»Wann wird das Interview denn veröffentlicht?«

Als ob man dieses kurze Frage-und-Antwort-Spiel wirklich ein Interview nennen könnte. Spätestens jetzt müsste mein Kopf so hochrot leuchten, dass ich als Landebahnbegrenzung für den JFK- Flughafen arbeiten könnte.

»Heute Nacht. Spätestens morgen.«

»Nun, Miss Hawks, ich werde mir Ihren Blog mal genauer ansehen.«

Damit reicht er mir wieder die Hand, und ich nehme sie irgendwie in Trance an.

»Ach, um Ihre letzte Frage zu beantworten. Ich trete alleine eigentlich nicht groß auf. Man findet mich eher in Parks, Unterführungen oder an Straßenecken. Keine echten Auftritte.«

»Das sollten Sie aber ändern.«

Ich antworte so schnell, bevor mich der Mut verlassen kann und mich der Gedanke, es nicht ausgesprochen zu haben, nächtelang quält.

»Ist das Ihre Bewerbung als meine Managerin?«

»Wenn Sie eine brauchen?«

Noch immer halte ich seine Hand fest, als würde ich versuchen, den Moment zu umklammern, wobei auch er keine Anstalten macht, mich loszulassen. Ganz im Gegenteil, man könnte meinen, er würde meine noch etwas fester halten. Seine Haut fühlt sich warm und glatt an, nur die Fingerkuppen sind vom Gitarrespielen rauh. Ganz kurz stolpern meine Gedanken, als ich an seine Finger denke, wie sie über die Saiten geflogen sind. Seine braunen Augen sehen mich offen an, als würden sie meinen Blick ebenso festhalten wie seine Hand die meinige. Was sich übrigens erstaunlich gut anfühlt. Er macht einen winzigen Schritt auf mich zu. Seine Stimme wird leise wie ein Flüstern und klingt jetzt wie vorhin auf der Bühne, als er gesungen hat.

»Ich werde auf das Angebot zurückkommen.«

Das Hupen eines Wagens hinter ihm holt uns beide zurück aus diesem verwirrenden Moment, von dem ich noch immer etwas mitgenommen bin. Als das Hupen lauter wird, lässt er meine Hand los und löst sich auch aus meinem Blick.

»Will, komm schon! Wir müssen die Verstärker noch nach Brooklyn fahren!«

Die ungeduldige Stimme gehört zum Sänger, der keine große Lust auf den Trip durch die Stadt zu haben scheint.

»Bin unterwegs!«

Doch er sieht noch immer zu mir und zwinkert mir kurz zu.

»Danke fürs Zuhören, Sarah.«

Dann joggt er zum Wagen, wo seine Bandkollegen warten, und steigt ein, verschwindet in die Nacht und lässt mich mit zahllosen Antworten zu weiteren Fragen zurück. Keine Ahnung, was hier gerade passiert ist, aber mein Herz hämmert den Takt seines Songs gegen meine Rippen.

[home]

New York State of Mind

Im dritten Stock des Knights Buildings, mitten in New York, liegt mein Apartment. Wenn man es objektiv betrachtet, ist es nicht gerade ein Traumhaus, aber günstig. Es ist vor allem aber typisch New York mit der Feuerleiter, dem begehbaren Dach und dem alten Fahrstuhl inklusive Eisengittertür, der die meiste Zeit defekt ist, dazu die klassischen Stufen hoch zum Eingang.

Wie jeder Mensch hatte ich ein ganz bestimmtes Bild von New York im Kopf, als ich Chicago den Rücken gekehrt habe. Jetzt laufe ich die Straße entlang auf das Gebäude zu und spüre ein Lächeln auf meinen Lippen. Das mag an Wills Augenzwinkern liegen. Oder aber an dem Anblick des Knights Buildings, das für mich all das ist, was ich wollte, als ich hergekommen bin: ein Zuhause für meine Träume und mich, der Ort, an dem ich mich wohl und geborgen fühle und im Idealfall sogar Freunde finde. Für manche ist eine Adresse wirklich nur das. Doch mein Knights ist mehr. So etwas wie ein enger Vertrauter mit offenen Armen, der einen erwartet, wenn man ziemlich erschlagen vom Trubel und der Geschwindigkeit der Stadt seinen Platz sucht.

Im Vorbeigehen nicke ich Oscar zu, dem freundlichen Hotdog-Verkäufer, der gerade seinen Stand an der Straßenecke aufräumt und bei dem ich mir morgen Mittag wohl wieder meine Fast-Food-Portion abholen werde. Wenn er wüsste, wie oft er mich mit dem Würstchen im Brot, das übrigens nur in New York wirklich schmeckt, vor dem Hungertod bewahrt hat! Wie immer leuchtet mir die grelle Neonreklame der 24/7-Shops den Weg – solange ich hier wohne, habe ich noch nie eine Nacht erlebt, in der diese Neonbirnen nicht die Straße beleuchtet haben. Im Chaos der Großstadt dienen sie mir als Leuchtturm und führen mich nach Hause. Schräg gegenüber scheint das Irish Pub noch immer Gäste zu beherbergen, denn der laute Gesang ist bis auf die Straße zu hören. Ja, das hier ist mein New York.

Mit schnellen Schritten steige ich die Stufen nach oben, schließe die Tür zum Wohnhaus auf und trete ein. Dabei ertappe ich mich, wie ich noch immer Wills Song vor mich hin summe, nehme zwei Stufen auf einmal nach oben in den dritten Stock zu meiner Wohnung, weil ich dem Fahrstuhl nicht traue. Zu alt sieht er aus, zu unzuverlässig ist er, und zu bedrohlich klingt sein Ächzen, wann immer er todesmutige Passagiere in die oberen Stockwerke chauffiert. Außerdem gibt Treppensteigen schöne Beine und hält fit, denn das Geld für ein Jahresabo im Fitnessstudio fehlt. Ebenso wie die Kohle für frische Lebensmittel. Lang lebe das One Dollar Pizza an der nächsten Ecke!

Doch kaum betrete ich den Flur zu meiner Wohnung, höre ich Schritte hinter mir. Aufgeregte Schritte, um genau zu sein. Ich weiß, zu wem sie gehören, noch bevor ich mich umdrehe.

»Da bist du ja endlich! Ich habe großartige Nachrichten für dich!«

Becca Salinger. Wer auch sonst? Becca wohnt nur ein Stockwerk über mir und kommt in ihrem Pyjama und mit einem Zettel in der Hand aufgeregt auf mich zu. Wie immer sieht ihre Frisur etwas unglücklich aus, dafür strahlen ihre klaren blauen Augen, und ihre vollen Lippen sind zu einem breiten Lächeln verzogen.

»Erinnerst du dich noch an Carrington Music Inc.?«

Sie gibt mir keine Chance, etwas zu antworten, weil sie schnell weiterspricht und ihre Stimme sich dabei leicht überschlägt.

»Die Typen, die deine Bewerbung ablehnten, weil sie nur Idioten in der Personalabteilung haben, weißt du noch?«

Es handelt sich natürlich um eine rhetorische Frage. Carrington Music Inc. ist ein Musikkonzern mit zahlreichen verschiedenen Labeln, eigenen Musikmagazinen – die mich alle ausnahmslos abgelehnt haben – und Studios im ganzen Land. Trotzdem hole ich vorsichtshalber Luft für eine Antwort, doch Becca wedelt mit dem Blatt in ihrer Hand einfach weiter und bringt mich damit erneut zum Schweigen, als wäre ich noch nicht an der Reihe zu sprechen, weil sie ihre großartigen News noch nicht verbreitet hat.

»Die haben eine große Firmenparty. Der alte Carrington feiert seinen siebzigsten Geburtstag so richtig ausschweifend! Es sind bestimmt alle wichtigen Leute aus der Branche vor Ort!«

Jetzt sieht sie mich abwartend an, als müsste ich in wildes Jubelgeschrei ausbrechen. Was ich aber nicht tue, weil ich a) zu müde bin und b) noch nicht so ganz verstanden habe, wo die angeteasten großartigen News denn nun bleiben.

Ich blicke auf den Zettel in ihrer Hand.

»Woher hast du die Einladung?«

»Hat Maurice vorbeibringen lassen. Also, was sagst du?«

»Wow.«

»Etwas mehr Begeisterung, Sarah!«

»Weil Mr. Carrington senior siebzig wird? Soll ich ihm noch eine Glückwunschkarte schicken, um meiner Freude Ausdruck zu verleihen?«

Becca ist manchmal etwas merkwürdig, aber das muss man als Musical-Darstellerin wohl sein. Also, zumindest ist sie auf dem besten Weg dahin, und hier und da sind sogar schon kleine Rollen im Angebot. Und so wie es sich für eine Künstlerin auf der Bühne gehört, sind ihre Gesten im echten Leben eben auch so groß, dass man sie noch in der letzten Reihe sehen kann. Ich stehe nur meistens viel zu nah dran, und so wirkt alles etwas übertrieben, wenn es auch zu ihrem typischen Becca-Charme gehört, den ich so niedlich an ihr finde. Sie ist außergewöhnlich und passt deswegen so perfekt ins Knights Building.

»Sarah! Das ist deine große Chance!«

»Ach, ist es das?«

Verwirrung verirrt sich in meine Stimme, als ich versuche, ihren Gedanken zu folgen. Was soll noch mal meine große Chance sein? Der Geburtstag eines Musikmoguls?

»Natürlich! Du nimmst deine Bewerbung mit und drückst sie dem Senior persönlich in die Hand! Und dann sagst du Folgendes …«

Sie wirft ihre dunkelblonden Haare mit einer dramatischen Geste über die Schulter, strafft den Oberkörper und sieht mich gespielt ernst an. Kurz glaube ich, sie wird gleich lossingen.

»Wenn Sie mich nicht einstellen, dann sind Sie der größte Idiot in dieser Branche, denn vor Ihnen steht der neue Robert Christgau, und ich werde den nächsten Hit der Musikindustrie vor allen anderen in Ihrem Magazin besprechen!«

Dabei stupst sie mich mit dem Zeigefinger so heftig in die Brust, dass ich einen blauen Fleck an dieser Stelle, wenn nicht sogar eine Prellung befürchte. Jetzt hält sie inne, weil die Szene vorbei ist. Sofort setzt sich wieder das typische Lächeln auf ihr Gesicht, und kurz bin ich unschlüssig, ob diese Darbietung nicht vielleicht Applaus verdient hat.

»Es würde natürlich besser klingen, wenn du es singst. Aber ich habe dich singen hören und rate dir deswegen dringend davon ab.«

Damit drückt sie mir den Flyer zur Geburtstagsparty, auf die ich übrigens nicht eingeladen bin, in die Hand.

»Becca, du solltest wirklich deinen Oreo-Cookie-Konsum nach 22 Uhr runterschrauben.«

»Du denkst, ich mache Witze? Das ist deine Chance, Sarah!«

»Und wie soll ich auf diese Party kommen? Hast du dafür auch einen Plan?«

»Muss ich gar nicht. Du wirst sowieso dort sein.«

Kurz zischt ein Hoffnungsgefühl durch meinen Körper, weil Becca vielleicht jemanden kennt, der jemanden kennt, der von jemandem, den er kennt, ein VIP-Ticket für mich ergattern konnte. Doch hätte sie solche Connections, würde sie nicht immer mal wieder die Rolle der vierten Frau in kleinen Off-Broadway-Produktionen von West Side Story singen. Wir beide haben unsere Träume und arbeiten hart daran, sie in Erfüllung gehen zu lassen. Nur die richtigen Connections für eine Spritze Vitamin B fehlen uns.

»Dein Boss hat angerufen. Ich war gerade in deiner Wohnung, weil bei mir mal wieder der Kabelanschluss spinnt und ich die neue Folge von Sunset Story nicht verpassen wollte. Ihr seid für das Catering zuständig!«

»Wann?«

»Morgen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Deswegen sage ich es dir ja gerade! Er hat angerufen und gefragt, ob du Zeit hast. Ich habe für dich zugesagt.«

»Becca …«

»Ich weiß, ich weiß, deine Samstage sind für den Blog und so, schon klar. Aber Carrington Music Inc.!!!«

Ihr begeistertes Gesicht – ohne Zweifel ideal für riesige Open-Air-Konzerte – erschreckt mich fast, weil ich befürchte, dass ihre Augen rausfallen könnten.

Becca ist sichtlich mit sich und dem Eingreifen in mein Leben zufrieden. Manchmal glaube ich, ihre Liebe für miese TV-Soaps färbt zu sehr auf sie ab, denn mit mäßigem Erfolg hat sie in der Zeit, in der wir uns kennen, immer wieder versucht, das perfekte Drehbuch für mein Leben zu inszenieren.

»Du kannst mir später danken.«

Ehrlich gesagt überlege ich gerade, ob ich vor dem Richter mit »nicht zurechnungsfähig« durchkomme, wenn ich Becca jetzt erwürge. Sie hat es sicher gut gemeint, aber ich wünsche mir im Moment einfach einen Tag Pause. Ich wollte morgen mal wieder ausschlafen, den Blog überarbeiten und vielleicht noch auf ein Konzert einer angesagten Band gehen. Doch jetzt sieht alles nach Planänderung aus. Zum ersten Mal lese ich mir die Einladung durch, die auf sehr edlem Papier gedruckt wurde. Becca hält dabei vor Aufregung die Luft an. Ein bisschen habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht ebenfalls vor Freude überschlage, sondern einfach nur an mein Bett denke. Ich schenke ihr ein dankbares Lächeln, weil ich weiß, dass sie recht hat. Ich werde ihr später danken. Auch wenn ich mir den dramatischen Auftritt wohl sparen und mir stattdessen die Leute dort genauer ansehen werde. Wer weiß, vielleicht kann ich ja doch ein paar Kontakte knüpfen.

»Und wie war dein Abend sonst so? Hast du einen neuen Wundermusiker entdeckt?«

Sofort hallt der Song wieder durch meinen Kopf, und ich spüre das Lächeln auf meinen Lippen, was auch Becca bemerkt.

»Das Lächeln kenne ich! So hast du gelächelt, als du die signierte Johnny-Cash-Platte gefunden hast. Erzähl mir alles!«

Doch so gerne ich das würde, ich bin zu müde und muss die Gedanken und Emotionen erst sortieren, sie aufschreiben und verarbeiten.

»Können wir das auf morgen verschieben?«

»Klar! Ich wecke dich zeitig, und dann gehen wir frühstücken. Du lässt kein Detail aus. Deal?«

Frühstück im Bett klingt so viel verführerischer, aber Becca würde niemals gehen, wenn ich jetzt nicht einfach nicke und mich von ihr in eine Umarmung ziehen lasse, die sich immer ein bisschen zu eng anfühlt und mir Atemnot beschert.

»Und morgen stellst du dich diesem Musikmogul! Ich weiß, dass du das rocken wirst. Mach mich stolz!«

Vielleicht sind Becca und ich zu verschieden, um auf der Straße in ein Gespräch zu kommen. Aber seit ich ins Knights gezogen bin, war sie da, hat mir geholfen, mir alles erklärt und mich vor der Einsamkeit in einer viel zu großen Stadt bewahrt. Inzwischen sind wir Freundinnen. Ich drücke sie ebenfalls fest an mich, weil sie an mich glaubt, wenn ich es nicht tue.

»Du weißt schon, dass ich jetzt wach bleibe, bis dein neuer Beitrag online ist, oder?«

Es mag nur eine Person sein, aber es ist genau die Motivation, die ich brauche, um weiter an mich, meinen Musikgeschmack und diesen Blog zu glauben.

»Auch wenn es noch nicht später ist: Danke, Becca.«

 

Mein Apartment mag klein sein, aber es ist voller Dinge, die mir ein Lächeln bescheren und diesen wahllosen Ort erst zu meinem Zuhause machen. Ich schalte (wie immer) nicht das Deckenlicht, sondern die Nachttischlampe an. Das Bett habe ich heute Morgen ausnahmsweise mal gemacht, trotzdem verraten die kleinen Kuhlen auf der Bettdecke die Tatsache, dass Becca sich von dort aus ihre Lieblingssendung auf meinem kleinen Fernseher angesehen hat. Sie hat meinen Zweitschlüssel für den Fall, dass ich mich mal aussperre. Schlüsseldienste in New York gibt es zwar wie Sand am Meer, allerdings kosten sie auch ein Vermögen. Im Gegenzug kann Becca jederzeit in meine Bude kommen, wenn sie droht, eine Etage über mir zu vereinsamen. Sie würde das nie zugeben, aber ich glaube, dass sie meine Wohnung etwas mehr mag als ihre – obwohl sie kleiner ist. Sie hört gerne die alten Platten auf meinem Kofferplattenspieler, der auf einer Kommode neben dem Spiegel steht.

Gefunden habe ich Platten und Spieler in Brooklyn auf einem Flohmarkt. So wie die meisten Möbel, die ich im Laufe der Zeit für wenig Geld in kleinen Läden oder secondhand gekauft habe. New York muss nicht teuer sein, wenn man weiß, wo man was suchen soll. Obwohl hier auf den ersten Blick nichts zusammenpassen will, fügt sich doch alles wie ein Mosaikkunstwerk zusammen und spiegelt mich und meine Leidenschaften perfekt wider. Klar, ich hätte auch alles bei einem Möbelhaus kaufen und nach den Vorschlägen einer Feng-Shui-Expertin aufstellen können. Doch das wäre dann einfach nicht ich. Ich stehe in meinem Schlafzimmer und lasse meinen Blick über die roten Backsteinwände wandern, an denen ich Eintrittskarten von Konzerten direkt neben Postkarten meiner Freunde gepinnt habe; schließlich bleibt er beim gerahmten David-Bowie-Poster neben meinem Bett hängen. Darauf bin ich ganz besonders stolz – und das nicht, weil ich es erstaunlich günstig erworben habe, sondern weil es in einem ziemlichen lässigen Club hing, in dem Bowie sogar mal aufgetreten ist. Das mag für Normalsterbliche ein total uninteressantes Detail sein, für mich aber ist es eines der größten Highlights meiner Zweizimmerwohnung, von der ich quasi nur dieses Schlafzimmer nutze.

Kurz schließe ich die Augen und atme tief durch. Das war ein langer Tag. Und wenn ich ehrlich bin, kommen mir die Tage in dieser Stadt länger als in jeder anderen Stadt vor. Meistens wecken mich die Sirenen der Polizei- oder Feuerwehrwagen bevor es hell wird oder mein Wecker die Chance hat, mit einer sorgfältig getroffenen Musikauswahl den Tag zu begrüßen. Abends, wenn es schon lange dunkel ist, hört man irgendwo auf den Straßen noch immer Leute, die entweder singen, schreien oder jemanden beschimpfen. Mag ja sein, dass New York keinen Schönheitsschlaf braucht, aber bei mir sieht das anders aus. Ich öffne die Augen wieder und erkenne mein Abbild schemenhaft im Spiegel. Die Augenringe verraten meine Müdigkeit, und meine Haare benehmen sich schon wieder wie zickige Teenager, die nicht auf das hören, was Erwachsene ihnen vorschreiben. Warum sollten sich die Locken auf meinem Kopf auch in eine Frisur einengen lassen, wenn sie einfach frei und wild um mein Gesicht tanzen können?

Erschlagen gebe ich für heute auf, lasse mich auf mein Bett fallen und rolle auf die Seite auf eine ganz bestimmte Stelle, damit ich aus dem Fenster sehen kann. Dort, fast an der Wand und mit schief gelegtem Kopf, kann ich nämlich den kleinen Spalt Himmel zwischen den Gebäuden sehen. Es sieht aus wie ein kleiner schwarzer Teppich, an dem sich angeblich Sterne tummeln, die man mitten in der Stadt aber nicht sehen kann – heißt es. Vielleicht ist das sogar wahr, doch wenn ich mich anstrenge, kann ich die vielen funkelnden Punkte in der Dunkelheit erkennen. So wie jetzt. Gar kein schlechter Abschluss für den heutigen Tag!

Sofort muss ich lächeln. So manche vierundzwanzig Stunden sind gut, andere sind okay. Und dann schmuggeln sich immer die richtig guten Stunden dazwischen, und zwar immer, wenn man nicht mehr damit rechnet. Wenn ein Morgen besonders zäh ist, die Schlange bei Starbucks fast bis zum nächsten Block reicht und man die Subway verpasst, dann will man eigentlich schon die Feierabendkarte einreichen. Doch jeder Tag steckt voller Überraschungen, und man weiß schließlich nie, wann ein Highlight um die Ecke kommt. Deswegen kämpft man sich mit aufmerksamen Augen durch den Tag und wird manchmal – so wie ich heute – sogar belohnt. Ich reiße meinen Blick von meinem Stück Himmel los und greife nach dem Laptop, das meine Verbindung zur digitalen Welt der Musikliebhaber ist, und logge mich auf meinem Blog ein.

Bevor das Gefühl zum Song von heute Abend sich verändert, will ich meine Gedanken in einem Beitrag schnell aufschreiben. Zuerst, und ohne auch nur ein Wort getippt zu haben, bekomme ich aber Informationen über vier neue Kommentare, die sich inzwischen auf meinem Blog angesammelt haben. Meistens sind es irgendwelche Spam-Nachrichten, die ich in den Papierkorb verschiebe, bevor meine Leser auf die Idee kommen, supergünstige Potenzmittel, Datingangebote oder Penisverlängerungen, die sie dann ja auch angezeigt bekommen, womöglich wahrzunehmen.

Der erste Kommentar ist kein Spam, sondern bezieht sich auf einen meiner ersten Beiträge, in dem ich über meinen Umzug nach New York und die damit verbundene Playlist geschrieben habe. Der Beitrag ist über zwei Jahre alt, und man muss eine kleine Weile suchen, um ihn zu finden. Der Kommentar ist kurz, aber aussagekräftig:

Du solltest diese Playlist bei Spotify einstellen, weil ich denke, sie wird vielen Menschen Mut machen, die ein neues Lebenskapitel beginnen.

W.

Schnell klicke ich weiter zum nächsten Kommentar, zum Thema »Plastik-Pop vs. Seelenmusik« – ein Beitrag, bei dem ich ziemlich wütend war, nachdem ich das Konzert einer britischen Popband mit schreienden Teeniefans besucht hatte, bei dem inhaltsleere Songs zu sich wiederholenden Akkorden gesungen worden waren. Fassungslos habe ich dabei zugesehen, wie sich Mädchen und sogar erwachsene Frauen von dieser bedeutungslosen Musik haben einlullen lassen und danach für unfassbar viel Geld schlecht bedruckte T-Shirts als Erinnerung gekauft haben. Meistens ernte ich für meine Meinung zu diesem Thema Kritik und werde als arrogante Musikfanatikerin beschimpft. Umso überraschter lese ich die folgenden Zeilen:

Man merkt diesem Text deutlich deine Unzufriedenheit über die heutige Musikwelt an, der deiner Meinung nach ein wenig die Seele fehlt. Gleichzeitig hast du Verständnis für das junge Publikum und gönnst ihnen das musikalische Ausprobieren, bis sie einen eigenen Stil finden und hoffentlich auf Songs mit Bedeutung stehen werden. Beneidenswerte Ansichten, Sarah.

Weiter so!

Will

Selten bekomme ich solche Antworten zu meinen Gedanken, die ich oft ohne eine Überarbeitung in die weite Welt des Internets schleudere. Bevor ich die anderen Kommentare durchlese, checke ich sein Profil, das mir im Backend meines Blogs angezeigt wird. Ich habe eine gewisse Ahnung, um welchen »W.« bzw. »Will« es sich handeln dürfte. Kein Foto, das wundert mich nicht, aber eine Mail-Adresse, die ich erkenne, ohne sie vorher je gesehen zu haben: [email protected]

Der Name lässt keine Glocke in meinem Kopf läuten, sondern einige Gitarrenakkorde ertönen.

Will Brown.

Wieso reagieren meine Lippen sofort auf diesen Namen, bevor ich überhaupt die Möglichkeit habe, ihnen das Kommando für ein Lächeln zu senden? Augenblicklich ist sein Song wieder in meinem Ohr, und die Gänsehaut breitet sich wie eine auf den Strand zurollende Brandung auf meinem Körper aus. Seine Stimme hallt in meinem Kopf wider, rauh und tief wie auf der Bühne im Tuned.

You said we would stay young like this forever.

The answer to growin’ up would always be never.

Wer solche Texte schreiben und so singen kann – und sich dann auch noch auf meinen Musikblog verirrt, der verdient eine Antwort.

Lieber Will,

danke für deinen Kommentar. Es ist schön zu lesen, dass es da draußen Menschen gibt, die meine Ansicht zur Musik teilen. Vielleicht interessiert dich mein kommender Beitrag über meinen Konzertbesuch heute Abend: Wenn ein Song zum Tageshighlight wird.

Liebe Grüße,

Sarah

Es soll nicht wie flirten klingen und auch nicht so, als wäre ich mir zu sicher, dass es sich bei diesem Will Brown um den Will Brown von heute Abend handelt. Es ist wohl am Ende nichts peinlicher als das: Man ist sich total sicher, wer die Person am anderen Ende der Leitung ist – und dann liegt man daneben. Ich klicke auf Veröffentlichen und öffne eine neue Seite für den Artikel, den ich unbedingt schreiben will. Und nicht nur, weil Becca jetzt in ihrem Schlafzimmer liegt und immer wieder die Seite dieses Blogs aktualisiert.

Bevor ich mich dem Beitrag widme, hole ich mir eine Dose Cola aus dem Kühlschrank, schnappe mir meinen Block mit den Notizen, wenn man die Kritzeleien so nennen will, und öffne das Fenster, um ein bisschen frische Nachtluft (und eine Prise Straßenduft!) in meine Wohnung zu lassen. Kaum habe ich wieder meine Position auf dem Bett eingenommen, bekomme ich eine weitere Benachrichtigung über einen Kommentar. Entweder es ist Becca, die mich zur Eile antreibt, oder …

Tageshighlight? Du weißt, wie man einen guten Cliffhanger schreibt. Ich mache mir dann mal einen Kaffee, damit ich das noch mitkriege und nicht vorher einschlafe. Bin nämlich ziemlich müde. Hatte heute übrigens ein Konzert. Was für ein Zufall, hm?

Wartende Grüße,

Will

Wenn man bedenkt, wie kurz angebunden er bei den Fragen war, ist es jetzt umso erstaunlicher zu sehen, wie er Kommentare schreibt. Meine Finger kribbeln und wollen am liebsten sofort eine Antwort verfassen. Aber dann wird er wieder antworten – zumindest hoffe ich das –, und dann werde ich wieder antworten –, und so laufe ich Gefahr, in eine viel zu kurze Nacht zu stolpern. Will wird wohl oder übel auf eine weitere Antwort warten müssen, denn zuerst muss dieser Artikel geschrieben werden.

Tageshighlight

Auf der Suche nach dem perfekten Song für den perfekten Moment habe ich mich auch heute wieder auf den Weg zum Gig eines klassischen Underdogs gemacht. Man weiß nie, auf welchem Clubkonzert man eine Überraschung findet. Viele Leute verlassen sich auf die Plazierungen in den Charts, frei nach dem Motto: Wenn es in die Top Ten marschiert, muss es gut sein. Dabei hören sich viele dieser Songs inzwischen gleich an, denn sie werden mit den gleichen digitalen Tricks zur Backgroundmusik unseres Lebens produziert. Manchmal bemerkt man nicht mal, wenn ein Song wechselt, so ähnlich klingen sie inzwischen. Man singt Refrains mit, die keinen Sinn ergeben, sich aber reimen und damit das Hauptkriterium für einen Ohrwurm erfüllen.

Deswegen zieht es mich immer wieder in Clubs und Bars, in denen noch namenlose Musiker auftreten und versuchen, die Zuhörer von ihrer Klasse zu überzeugen. Gut möglich, dass sich diese Underdogs mehr anstrengen müssen, um Gehör zu finden. Weil es in der heutigen Musikwelt so viel weißes Rauschen gibt. Wir hören Musik im Fahrstuhl, in Läden, in einem Café und beim Joggen. Das ist eine ständige Begleiterscheinung geworden, genau hingehört wird nur in den seltensten Fällen.

Auch heute habe ich dieses Phänomen wieder beobachtet. Die Band, die auf der Bühne stand, sang und spielte gegen klassisches Desinteresse an. Die Coversongs, die man aus dem Radio kennt, wurden mitgesungen, doch die Eigenkompositionen meistens ignoriert oder als Pause für Gespräche genutzt. Leider muss ich gestehen, dass die Band Frozen Eyeballs mich auch nicht überzeugen konnte. Ohne Zweifel haben die Mitglieder Talent, und ihre Musik hat das Publikum unterhalten. Geschmäcker sind verschieden und sollen es auch bleiben. Da aber das hier mein Blog und damit mein Geschmack ist, muss ich ehrlich sein.

Und voller Ehrlichkeit kann ich nun von meinem Tageshighlight erzählen: Der Singer und Songwriter Will Brown, auch Bassist der Frozen Eyeballs, hat mich mit einem seiner Songs eiskalt erwischt und tief berührt. Ich musste also dringend mehr über ihn erfahren, denn es waren nur sein Song, seine Stimme und seine Gitarre, die mich davon überzeugt haben, bis zum Ende des Konzerts zu bleiben.

Manchmal sind es die einfachsten Worte, die man am schwersten findet und deren Aussage etwas in uns auslösen. Der Song »Growing Pains« hat mich umarmt und nicht mehr losgelassen, er hat mich an fremde Erinnerungen aus einem Leben denken lassen, das nicht meines ist. Noch immer höre ich die Melodie in meinem Kopf und würde Geld bezahlen, um diesen Song noch einmal hören zu dürfen. Zu schade, dass es für besondere Momente im Leben keine Wiederholung gibt.

Ich halte euch auf jeden Fall auf dem Laufenden, was den Musiker Will Brown angeht. Mir bleibt nichts anderes zu sagen als: Danke für mein Tageshighlight, Mr. Brown!

Stay tuned.

Sarah

Obwohl ich den Eindruck habe, meine Worte beschreiben nicht einmal annähernd das Gefühl des Songs, veröffentliche ich den Beitrag und sehe dann aus dem Fenster nach draußen, wo irgendwo Will Brown sitzt, hoffentlich noch wach ist und meine Worte liest.