Niederrheinische Glut - Anja Wedershoven - E-Book

Niederrheinische Glut E-Book

Anja Wedershoven

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Beschreibung

Ein psychologisch fein gesponnener Krimi – wer ist Opfer und wer Täter? Der Niederrhein ächzt unter einer Hitzewelle, als das KK 11 der Krefelder Kripo ins Spargeldorf Walbeck gerufen wird. Ein betagter Rollstuhlfahrer wurde in seinem Krankentransporter entführt, eine Lösegeldforderung fehlt jedoch. Wo liegt das Motiv, wenn es nicht um Geld geht? Mit Hilfe der Öffentlichkeit wird nach dem Täter gefahndet, doch je mehr die Kommissare Johanna Brenner und Axel Holtz über den Entführten herausfinden, desto drängender wird eine schreckliche Ahnung …

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Anja Wedershoven, 1968 in Rheydt geboren, wuchs mit Schnibbelskuchen, Hanns-Dieter Hüsch und dem Schimanski-Tatort auf. Sie studierte Kulturwissenschaften und Literatur und ist als Autorin dem Niederrhein treu geblieben. Am Kriminalroman faszinieren sie die Auseinandersetzung mit Menschen in Ausnahmesituationen und die Frage, welche Vorgeschichte Gewalttaten haben.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Stefan Ziese/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Franziska Emons-Hausen, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-964-8

Originalausgabe

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Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.

Heimito von Doderer

Heimsuchung

»Das wurde aber auch Zeit!«

Die Stimme kriecht durch Jacke und Pullover bis unter seine Haut, sie krallt sich in seine Eingeweide, sie beißt sich in seinem Kopf fest.

»Das hätte ich mir mal erlauben sollen in Ihrem Alter!«

Er erstarrt. Die Art und Weise, in der das »t« zwischen Zunge und Gaumen explodiert. Das »r«, das weit hinten in der Kehle an den Stimmbändern reibt. Obwohl der Rüffel nicht ihm gilt, ist sofort alles wieder da. Die Angst. Die Kälte. Der Ekel.

Suchend sieht er sich nach dem Mann um, zu dem diese Stimme gehört. Das kann einfach nicht sein. Es ist ewig her. Es war an einem weit entfernten Ort. Vor dem Mohnblüten-Druck im Stil Claude Monets eilt eine Pflegekraft ins nächste Patientenzimmer, und neben dem Behinderten-WC prangt der massige Rücken eines Mannes, der einen Rollstuhl schiebt. Nirgendwo ein weißer Kittel, unter dem schwarze, frisch gewienerte Stiefel über den PVC-Boden stapfen.

Er muss sich geirrt haben. Der Weißkittel wird längst tot sein.

»Brauchen Sie noch etwas?« Die Frau am Empfang sieht ihn fragend an.

»Nein. Ich dachte nur …« Er bricht ab und schüttelt den Kopf. Was soll er ihr erzählen? Dass seine Wahrnehmung ihm einen Streich spielt? Dass er eine Stimme hört, die es nicht gibt? Irritiert dreht er sich noch einmal zu seiner Schwester um, die im Zimmer hinter ihm auf die Dialyse wartet. »Bis gleich. Ich hole dich um fünf ab.« Und jetzt schnell raus hier. Er geht zur Garderobe. Am Ausgang der Station drückt das Gespann mit dem Rolli auf den elektrischen Türöffner.

»Eine halbe Stunde zu spät! Das hätte es früher nicht gegeben!«

Er hat sich nicht verhört. Seine Jacke gleitet ihm aus den Händen.

»Keine Disziplin mehr. Kein Respekt vor dem Alter. Kein Wunder, dass es mit Deutschland den Bach runtergeht.« Eine knochige Hand stößt aus dem Rollstuhl heraus mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft. Er starrt auf das ungleiche Paar, das durch die blau gestrichene Stationstür in Richtung Aufzug zockelt. Der Helfer klingt eher genervt als schuldbewusst.

»Ich hatte noch einen anderen Patienten. Nun bin ich ja da!« Unsanft schiebt er den Rollstuhl über die Schwelle in den Lift. »Draußen scheint die Sonne. Sie könnten Ihre schlechte Laune mal …«

Den Rest kann er nicht verstehen, weil die Tür des Aufzugs sich schließt. Mechanisch bückt er sich und hebt die Steppjacke auf.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen? Möchten Sie ein Glas Wasser?« Die Empfangsfrau ist aufgestanden und berührt ihn am Arm. »Sie sehen bleich aus, vielleicht Blutdruck messen«, schlägt sie vor.

»Nicht nötig, danke. Ich brauche bloß frische Luft.« Er legt die Jacke über seine Schultern und atmet tief durch. Seit Birgit krank ist, kann er nie länger als drei Stunden am Stück schlafen. Manchmal schafft er die Frühschicht kaum.

»Das wird schon gut gehen«, beruhigt die Frau ihn. »Die ersten Male ist so eine Blutwäsche beängstigend, aber die meisten gewöhnen sich daran.«

Nicht meine Schwester, denkt er und antwortet: »Hoffentlich.«

Er läuft die drei Etagen über die Treppe nach unten, in seinem Magen rumort das Mittagessen. Nein, es kann hier nicht nach Blutwurst riechen. Diesmal spielen ihm seine Sinne wirklich einen Streich. Er drängt den Würgereiz zurück, nimmt die Stufen in schnellen Schritten, der Frühlingstag draußen wird den Spuk beenden. Doch am Ausgang der Klinik prallt er erneut zurück. Der dunkelblaue Transporter auf dem Behindertenparkplatz war eben noch nicht da. Der massige junge Mann zieht eine Rampe aus den geöffneten Hecktüren und legt sie an die Ladefläche an. Daneben steht der Rollstuhl, aus dem gefurchten Gesicht des Greises streift ihn ein Blick aus flaschengrünen Augen.

»Dann mal rein in das gute Stück.« Der Junge dreht den Rolli mit Schwung herum und schiebt ihn ins Innere des Fahrzeugs.

Die Augen! Genauso harte grüne Murmeln wie damals. Seine Eingeweide rebellieren endgültig. Er presst sich eine Hand vor den Mund und liest die Überschriften auf den Patientenflyern im Klinikfoyer, ohne die Worte zu verstehen. Warum dauert das so lange, bis die weg sind? Die Rampe ist abgebaut, aber der Fahrer fummelt immer noch an dem Rollstuhl herum.

Er richtet die Augen wieder auf den Prospektständer, liest: »Fettstoffwechselstörungen effektiv behandeln«. Magensäure steigt ihm in die Speiseröhre, Blutglibber mit Fettstücken, er schluckt den Ekel und Speichel herunter. Endlich wuchtet der Fahrer seinen schweren Körper hinter das Lenkrad, und der Wagen setzt sich in Bewegung.

Unter der Buche neben dem Parkplatz erbricht er sich, starrt auf die Brocken des Kartoffelsalats im Gras.

Du stehst nicht eher auf, bis du aufgegessen hast! Hier wird gegessen, was auf den Tisch kommt.

Der säuerliche Geruch des Erbrochenen steigt ihm in die Nase, und durch die weiche Frühlingsluft ergreift die längst verdrängte Stimme Besitz von ihm.

Freitag, 5. August

Was für eine krasse Hitze. Justin fährt alle vier Fenster des Fiesta herunter und hält seine schweißnasse Stirn in den Fahrtwind. Kurz vor zwölf. Und die Temperaturanzeige auf dem Armaturenbrett zeigt schon vierunddreißig Grad im Schatten. Hammer! Wenn er nur nicht arbeiten müsste. Larissa pennt bestimmt noch. Und tigert nach dem Kaffee zum Freibad. Mussten die ihn auch unbedingt zu Sozialstunden verdonnern?

Gut, die Sache mit dem Kioskbruch war nicht so ’ne gute Idee gewesen. Um ehrlich zu sein, war es auch nicht die erste nicht so gute Idee gewesen. Der Richter mit dem Hundeblick hat ganz traurig aus der Wäsche geguckt, als Justin zum zweiten Mal vor ihm stand. »Ich will Sie hier so schnell nicht wieder sehen, Herr Richarz!«, hat er gemahnt, nachdem er ihm die hundert Sozialstunden aufgebrummt hatte.

Justin biegt auf die Baersdonker Straße ab und dreht die mickrigen Lautsprecher lauter, damit er »Haftbefehl« gegen den Fahrtwind hören kann. »Baba Haft ist zurück, lass die Affen aus’m Zoo«, grölt Aykut Anhan alias Hafti. Justin singt lauthals mit. Der Typ macht einfach die coolste Musik und die besten Texte.

Hundert Stunden. Macht bei vier Stunden pro Tag zwanzig Stunden die Woche, also fünf Wochen. Und er hat gerade mal die zweite Woche rum. Also fast. Die Bitch vom Sozialamt hat sich gefreut, dass er einen Führerschein hat. Und zuerst hat Justin gedacht, es wär cool, mit der Karre von der Caritas durch die Gegend zu fahren und Essen zu verteilen. Besser als irgendwelchen Alten den Sabber vom Gesicht zu wischen oder Scheiße abzuputzen. Aber es ist überhaupt nicht cool. Cool wäre, in Malle am Strand zu liegen, mit Cola-Zitrone in der Hand und Haftbefehl in den Earphones.

In der Nieukerker Straße muss er vom Gas gehen, weil vor ihm ein Traktor mit Anhänger über die Landstraße dackelt. Wie er das hasst. Hier ist wirklich der Hund begraben. Wie am ganzen Niederrhein. Nach Köln ziehen, das wär cool. Oder noch besser nach Frankfurt. Hafti-Land. Kannste vergessen. Viel zu teuer. Justin setzt zum Überholen an, muss aber wieder abbremsen, weil ein Motorrad in Gegenrichtung heranrast. So ein Fiesta kommt einfach nicht in die Schluppen. Er trommelt ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Jede Verzögerung ist Mist. Alle wollen ihr Essen am liebsten um Punkt zwölf. Natürlich heiß. Und der Opa, zu dem er gerade fährt, hat sich gleich in der ersten Woche über ihn beschwert, als er nicht pünktlich war. Verdammter Motherfucker.

Irgendwas fällt vom Hänger vor ihm auf die Straße. Hat der Bauer Kartoffeln geladen? Die Gegend hier ist Erdäpfel-Gegend. Endlich biegt der Traktor auf einen Feldweg ab, Justin geht aufs Gas.

Der Führerschein war das Beste, was sein Alter je für ihn getan hat. Da hatte er sich vor zwei Jahren gerade mal wieder erinnert, dass er noch einen erwachsenen Sohn hat: »Du brauchst doch ’nen Lappen, Junge. Ohne kannste nix mehr werden heutzutage.« Und dann hat er ihm den bezahlt. Um sich drei Monate später mit der nächsten Schlampe aus dem Staub zu machen. Und ich konnte gucken, wie ich klarkomme. Wieder mal.

Als er beim Grundstück seines ersten Kunden an der Straelener Straße ankommt, steht das Tor mit den fetten geschmiedeten Türen weit offen. Komisch. Normal muss er immer aussteigen und sich über die Gegensprechanlage melden, damit der Opa ihn reinlässt.

Er dreht Haftbefehl aus Protest gegen den Stinkstiefel noch lauter, während er die Einfahrt entlangrollt. Vor der Haustür lässt er den Motor laufen, krallt sich die Essensbox aus dem Kofferraum. Warum ist das Garagentor offen? Justin geht näher heran und riskiert einen Blick ins Innere. Ein Benz mit langen Heckflossen und Stoßstangen aus Chrom. Der muss uralt sein. Sechziger oder Siebziger? Ob der noch fährt? Den würde er sich gern mal borgen. Der Opa kann eh nicht mehr damit durch die Gegend gondeln. Mit Larissa durch die Landschaft chillen und sich von den Kumpels für die Karre bewundern lassen.

Er geht um den Wagen herum und streicht mit der Hand über die Motorhaube. Der dunkelgrüne Lack sieht tipptopp aus. Keine Kratzer. Die Sitze aus kackbraunem Leder sind nicht so heiß. Aber das Cockpit ist mit Holz vertäfelt, und das helle Lenkrad mit dem Mercedes-Stern auf der Hupe ist ’ne elegante Schönheit. Wie aus ’nem alten Film. Als der Hafti-Song im Fiesta zu Ende ist, hört Justin ein Stöhnen. Er dreht sich um. Scheiße, was soll das? Da liegt jemand. Der Schweiß bricht ihm aus allen Poren. Das ist nicht der Alte. Der Typ ist jünger. Und ungefähr dreimal so dick. Ist der gefesselt?

Justin stellt die Box mit dem Essen auf dem Benz ab und beugt sich über den Mann. Klar, mit dem Klebeband auf dem Mund kann der nix sagen.

»Hat der Alte das gemacht?« Braune Augen sehen ihn flehend an. Er knibbelt das Ende des Klebebands von der schweißnassen Haut und reißt den Knebel mit einem Ruck vom Gesicht. Der Mann stöhnt auf, lauter diesmal. Dann fährt er sich mit der Zunge über die Lippen und schüttelt den Kopf.

»Vom Rollstuhl aus? Wohl kaum.«

Der könnte ja ruhig mal »Danke« sagen. Obwohl … So ein Opa auf Rädern kann den Kerl echt nicht überwältigt haben. Andererseits hört man doch immer wieder, dass Leute bloß simulieren. Wegen Versicherung oder Schadensersatz oder Schmerzensgeld oder so was. Der Dicke dreht den Kopf in Richtung Schulter und deutet auf seine Hände, die hinter dem Rücken zusammengebunden sind.

»Mach mich endlich los!«

Was für ’n Komiker. Auf die Idee ist er auch schon gekommen. Dumm nur, dass die Kordel so dünn und fest zusammengezogen ist. »Wenn es der Alte nicht war, wer hat dich dann so zugerichtet?« Justin fummelt an dem Knoten herum, aber er kriegt die Enden nicht gelöst. Nadine mit ihren langen Fingernägeln, die könnte das vielleicht.

»Keine Ahnung. Irgendwer hat mich von hinten niedergeschlagen.«

»Der geht nicht auf.« Erst jetzt bemerkt er einen dunklen Fleck auf dem Boden der Garage. »Mensch … du hast voll geblutet am Kopf.«

Der Typ stöhnt auf. Hat der Schmerzen, oder ist ihm das mit dem Blut gerade erst klar geworden?

»Keine Panik, gleich kommt Hilfe.« So was sagen die doch in Filmen auch immer.

Der Dicke deutet mit dem Kinn in die Tiefe der Garage. »Vielleicht ist da irgendwo ein Werkzeugkasten. Irgendwas zum Schneiden.«

Gute Idee. Justin steht auf und schaut sich um. Ein Rasenmäher, jede Menge Gartenzeugs, ein Wagenheber, Autoreifen. Nirgendwo eine Schere.

»Was tust du hier eigentlich? Bist du ein Enkel von Herrn Bredenscheid?«

»Nee. Ich bring ihm Essen.« Das fehlte noch. Der Enkel von dem Stinkstiefel. Ob man mit einer Astschere ein Seil durchschneiden kann? Er kniet sich wieder neben den Mann.

»Vorsicht!« Der Dicke guckt skeptisch.

»Ich pass schon auf.« Schade, dass er sein Butterflymesser nicht dabeihat. Wo er es endlich für was richtig Cooles gebrauchen könnte. Aber die Dinger sind verboten, und nach der Verurteilung zu Sozialstunden … Justin schiebt die untere Klinge zwischen Haut und Seil, dann drückt er die Schneiden zusammen. »Und du? Was machst du auf seinem Grundstück?«

Genau. Was macht der Kerl eigentlich hier? Wollte der den Opa beklauen? Noch ist das Seil nicht durchtrennt.

»Ich hab ihn zur Dialyse gebracht.« Der Typ schaut auf das Werkzeug, das Justin untätig in den Händen hält. »Versuch’s noch mal. – Und als wir zurückkamen, hat uns jemand vor dem Haus abgepasst und den Wagen mit Bredenscheid entführt.«

»Entführt?« Wow. Justin drückt die Klingen zusammen, muss ein paarmal nachfassen, bis alle Fasern durchtrennt sind.

»Endlich.« Der Mann reibt sich die Handgelenke und tastet nach der Verletzung an seinem Hinterkopf. Dann macht er sich daran, seine ebenfalls gefesselten Fußgelenke zu befreien. »Hast du dein Handy dabei? Wir müssen die Polizei rufen.«

Polizei? Auf die hat er so gar keinen Bock. »Liegt im Auto. Ich hol’s gleich.«

Der könnte sich wirklich mal bedanken, schimpft Justin innerlich, während er schweißgebadet zum Fiesta geht. Wenn er nicht gekommen wäre, wäre der hier verrottet. Und die Essen werden kalt. Okay, wenn der Opa entführt wurde, müssen die Bullen ihn natürlich suchen. Aber ich werde auf keinen Fall warten, bis die hier aufschlagen.

***

Die Bürgersteige vor dem Polizeipräsidium Krefeld schmelzen im gleißenden Licht der Sonne, Abgase tränken die schwül-warme Luft, und die Blätter an der Hecke staken schon Anfang August vergilbt und dürr an den Ästen. Seit Wochen kein Regen. Hauptkommissarin Johanna Brenner steckt sich den letzten Bissen ihres Puddingteilchens in den Mund und versucht vergeblich, den Zuckerguss mit einem Papiertaschentuch von den Fingern zu wischen. Noch zwei Stunden bis zum Wochenend-Feierabend. Schnell das Protokoll über den Scheunenbrand in Neukirchen-Vluyn schreiben, dann kann sie am Venekotensee schwimmen gehen. Sich anschließend mit Silvia gemeinsam die Arbeitswoche von der Haut duschen und bei Baguette, Oliven und Wein kopfüber in eine endlose Sommernacht eintauchen. Der Gedanke an die Bewegungen ihrer Freundin unter ihren Händen jagen ihr einen Schauer der Lust durch den Körper. Wenn wir nur vorher nicht diese blöde Hausbesichtigung hätten.

Sie nimmt die Treppe zum KK11 mit zwei Stufen je Schritt und lässt sich im Vorraum des WCs das Wasser so lange über die Hände laufen, bis es kühler wird. Die Jeans klebt schon seit Stunden an den Oberschenkeln, ihr weißes T-Shirt ist durchgeschwitzt. Silvia hat sie am Vorabend regelrecht überrumpelt mit dem Vorschlag, gemeinsam ein Haus zu mieten. Dabei ist es mit zwei Wohnungen doch auch nicht schlecht. Zumal sie in unterschiedlichen Städten arbeiten und beide Wochenenddienste und Bereitschaften haben.

Johanna füllt die gewölbten Handflächen mit Wasser und taucht ihr Gesicht hinein. Als sie sich wieder aufrichtet, tropft Wasser vom Kinn, und aus dem Spiegel starren ihr erhitzte Wangen entgegen, auf die die Sonne jedes Jahr mehr Sommersprossen malt. Mit dem Mittelfinger fährt sie über die Narbe unter ihrem Kehlkopf, die an schlechten Tagen immer noch spannt.

Muss die blöde Fliege immer wieder gegen das gekippte Oberlicht prallen? Sie beugt den Kopf so weit wie möglich unter den Hahn und schließt die Augen. Kühlen Kopf bewahren. Redensarten wörtlich genommen. Das Wasser läuft ihr in die Nase, sie prustet und schnieft. War da gerade ein Geräusch? Sie wartet mit gesenktem Kopf, bis das Wasser nicht mehr aus ihren kurzen rotblonden Haaren tropft, dann richtet sie sich auf. Außer dem Summen der Fliege ist nichts zu hören. Ihr T-Shirt wird nass, egal, sie muss sich vor der Besichtigung sowieso umziehen. Silvia hat ihr am Morgen ein geblümtes Oberteil aus Seide aus ihrem eigenen Fundus mitgegeben.

»Das Haus ist toll, sei ausnahmsweise mal nett zum Vermieter.«

Sei ausnahmsweise mal nett. Was sollte das denn bitte schön heißen? Soll sie dem Typen schöne Augen machen? Johanna rupft eine Handvoll Papiertücher aus dem Spender und presst sie aufs Gesicht. Flirten kann Silvia mit ihrer femininen Ausstrahlung bei Bedarf doch viel besser.

»Wir sind zwei beruflich eingespannte Freundinnen, die eine Oase zum Auftanken nach Feierabend brauchen«, hat die sie instruiert. »Eine Wohngemeinschaft aus einer Hauptkommissarin und einer Medizinerin. Solide Berufe, sicheres Einkommen.«

Ist das ihr Ernst? Sich in Zeiten von LGBT und der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch hinter dem Terminus »Wohngemeinschaft« zu verstecken? Wenn der Vermieter ein Problem mit Lesben hat, hat sie sowieso keinen Bock, einen Mietvertrag zu unterschreiben. Der Wohnungsmarkt am Niederrhein ist lange nicht so angespannt wie in Berlin. Hier wird sich bestimmt etwas anderes finden lassen.

Als Johanna sich umdreht, um die Papiertücher in den Korb zu werfen, steht der Kollege Kivelitz hinter ihr.

»Verflixt, Patrick! Was machst du in der Damentoilette?« Muss der IT-Experte vom KK11 sie so erschrecken?

»Sorry. Ich habe geklopft, aber du hast nicht reagiert.« Kivelitz, der selbst bei der Hitze über seinem kurzärmligen Hemd noch den obligatorischen karierten Pullunder trägt, starrt auf das Papierknäuel, das über den Rand des übervollen Korbs zu Boden gefallen ist.

»Schon gut.« Johanna fährt sich ordnend durch ihre Haare. »Was gibt’s denn so Dringendes?« Unter dem Stoff ihres Shirts zeichnet sich die Spitze des BHs ab. Deswegen starrt der Kollege so unverwandt auf den Boden. Sie muss grinsen.

»Die Leitstelle hat einen Notruf aus Geldern-Walbeck reinbekommen. Da wurde ein Krankentransportfahrzeug mitsamt einem Patienten entführt.«

»Eine Entführung?« Shit, dann ist das Wochenende gelaufen.

Patrick sieht immer noch angestrengt an ihr vorbei. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt sich an ihm vorbei in den Flur. Dass er immer noch so unsicher im Umgang mit Menschen ist. Sie mag den jungen Kollegen, er hat sie vor anderthalb Jahren bei ihrem ersten Fall am Niederrhein unterstützt, obwohl nicht alles, was sie damals tat, lupenreine Polizeiarbeit war. Außerdem hat er nie ein Problem damit gehabt, dass sie mit einer Frau zusammen ist. Was man nicht von allen im KK11 sagen kann.

»Der Fahrer wurde niedergeschlagen. Fahrzeug und Patient sind verschwunden. Mehr weiß ich nicht.«

»Und wer ist dieser Patient?« Sie läuft in Richtung ihres Spinds. Zu einem Einsatz kann sie so wirklich nicht fahren. Sie sieht mehr nach Wet-T-Shirt-Contest als nach Kriminalhauptkommissarin aus.

Kivelitz wirft einen Blick auf den Zettel in seiner Hand. »Josef Bredenscheid, fünfundachtzig Jahre alt, verwitwet. Das Ganze fand vor seinem Haus in Walbeck statt.«

»Fünfundachtzig Jahre?« Wer entführt bei der Hitze einen so betagten Menschen? Das Risiko von ungewollten Komplikationen ist viel zu groß. »Ist dieser Bredenscheid vermögend?«

Patrick zuckt die Achseln. »Keine Ahnung.«

»Und wohin sollte er mit dem Krankentransport gebracht werden?«

»Er sitzt im Rollstuhl. Mehr haben die Kollegen vor Ort nicht gesagt.«

Ein fünfundachtzigjähriger Rollstuhlfahrer. Schöner Mist. Und Axel hat natürlich frei. Der ist bestimmt längst unterwegs zu diesem Jazzfestival in weiß Gott wo. Seit ihr Partner ihr in der alten Ziegelei in Brüggen das Leben gerettet hat, verbindet Johanna ein freundschaftliches Verhältnis mit dem älteren Hauptkommissar. Für ihn versucht sie sogar, sich an das Prinzip Teamarbeit zu halten.

»Wer ist noch im Dienst?« Vermutlich kaum jemand an einem Freitagmittag kurz vor zwei. Hochsommer und letztes Wochenende der Schulferien.

Kivelitz verzieht das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Tom ist noch da.«

Bloß nicht. Nicht mit dem Fascho Tom Ostermann. »Und sonst?«

»Na ja, die Kriminalrätin habe ich eben vor ihrem Büro gesehen.«

Auch der Gedanke, mit ihrer Chefin nach Geldern zu fahren, gefällt Johanna nicht. Sie hat sich bei ihrem ersten Fall zwar den Respekt von Cornelia Gruber erarbeitet, weil sie als Einzige die Spur zu einem vierzehnjährigen Mädchen gefunden hatte. Auch so eine schräge Entführung. Trotzdem beobachtet Gruber sie weiterhin mit Argusaugen.

»Willst du nicht mitkommen?« Vor ihrem Spind dreht sie sich so abrupt zu Patrick um, dass sie nun Brust an Brust stehen. »Wenn das wirklich eine Entführung ist, müssen wir vielleicht eine Fangschaltung einrichten.«

Kivelitz tritt zwei Schritte zurück, um den Abstand zwischen sich und ihrem nassen Shirt zu vergrößern. Seine Augen wirken riesig hinter dem dicken Glas der dunkel umrandeten Brille. »Für eine Fangschaltung habe ich gar nicht das Equipment. Da müssen wir die Techniker vom LKA holen.« Er zwirbelt am Strickbündchen seines Pullunders herum.

»Wir machen uns ein Bild von der Lage, und dann kannst du wieder zurück an den PC.« So leicht wird sie ihn nicht von der Angel lassen. Er weiß genau, dass sie mit Tom nicht kann.

»Ich habe kaum Erfahrung mit Außeneinsätzen, ich –«

»Du bist ein guter Beobachter«, unterbricht Johanna ihn. »Ich habe da vollstes Vertrauen in dich.«

Patrick Gesichtsausdruck wechselt zwischen betreten und erfreut. »Na ja. Ich könnte natürlich mal …« Der Saum des Pullunders wandert vom Hosenbund bis über die Hosentaschen. »Ich könnte es ja mal versuchen.«

»Super!« Johanna freut sich tatsächlich. »Ich zieh mich rasch um. In drei Minuten auf dem Parkplatz?« Am besten keine Zeit zum Nachdenken geben, sonst überlegt Kivelitz sich das noch anders.

Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern schließt ihren Spind auf und nimmt das Seidenteil heraus. Als der Kollege im Flur verschwunden ist, streift sie das nasse Shirt ab. Ich muss Silvia anrufen, dass sie die Hausbesichtigung allein machen muss. Oder noch besser: absagt. Johanna mustert ihr Spiegelbild in dem femininen Oberteil und grinst. Blümchen. Ich sehe aus wie verkleidet. Sie verreibt einen Klecks Haargel zwischen den Fingern und stylt sich die feuchten Haare aus der Stirn. Dann greift sie zur Waffe. Macht sich gar nicht schlecht, das Lederholster mit der Walther P99 über der beige-roten Seide.

***

Im Hausflur des quadratisch-praktisch-langweiligen Neubaus in der Moerser Südstadt ist die Temperatur noch leidlich angenehm. Axel Holtz, der am Vortag in sein verlängertes freies Wochenende gestartet ist, stellt kopfschüttelnd ein weißes Fahrrad mit blumenbekränztem Lenker zur Seite. Wer hat das vor der Wohnungstür seines Vaters abgestellt? So schnell nehmen die Lebenden den Raum ein, den die Toten freigeben. Dabei ist der Gang auch ohne zusätzlichen Krempel schon schmal. Wenn es hier brennen würde …

Er zieht den schweren Schlüsselbund, an dem er sämtliche auffindbaren Schlüssel aus der Wohnung gesammelt hat, aus der Hosentasche und fragt sich, welcher der richtige ist. Das letzte Mal war er im Mai hier, um Papiere und einen Anzug für den Bestatter rauszusuchen. Während er einen nach dem anderen ausprobiert, fällt sein Blick auf den Strohblumenkranz über dem Spion. Ist das noch der, den seine Mutter vor ewigen Zeiten in irgend so einem VHS-Kurs gebastelt hat? Die Blüten sind längst verblichen, Strohfasern ragen wie Stacheln aus der Rundung. Den nehme ich als Erstes ab.

Endlich springt die Tür mit einem Klicken auf. Er pult mit den Fingernägeln an der Heftzwecke, mit der der Kranz auf dem Türblatt befestigt ist. Keine Chance, dafür braucht er einen Schraubendreher oder ein Messer. Die kleine Wohnung ist abgedunkelt, der Mief abgestandenen Zigarrenqualms und zu lange nicht gereinigter Vorhänge löst die Essensdüfte aus dem Flur ab. Axel reißt die Balkontür auf, zieht den Rollladen hoch. Im »Gatzweiler Alt«-Aschenbecher auf dem Couchtisch türmen sich Asche und Stummel von Zigarillos, die sein Vater in seinen letzten Lebenstagen geraucht haben muss. Schlaganfall, Krankenhaus, Tod. Es ist alles so schnell gegangen. Er stellt den Ascher auf den Balkon und schaut sich im Wohnzimmer um.

Die Dinge im Raum blinzeln, als müssten sie sich erst wieder an das Licht gewöhnen. Der schwarzlederne Fernsehsessel fleht mit seinen speckigen Lehnen um Gesellschaft. Aus der rustikalen Eichenanrichte, die viel zu wuchtig für das kleine Wohnzimmer ist, starren ihn blind gewordene Glasscheiben abweisend an. Und der rotbraune Perserteppich, auf dem Axel schon als Kind gespielt hat, zeigt verschämt seine Flecke.

Er will das nicht sehen. Am liebsten würde er auf dem Absatz kehrtmachen.

Aber der Vermieter drängt, und Axel hat den ersten Übergabetermin schon verbaselt. Er geht von Raum zu Raum, öffnet Rollläden und Fenster. Wann hat er seinen Vater zuletzt besucht? Die letzten Jahre hat er ihn genau zwei Mal im Jahr zum Essen ausgeführt: an dessen Geburtstag und an Weihnachten. Noch bevor er in die erste Schublade der Anrichte schaut, um nach wichtigen Papieren zu suchen, beschließt er, in der kommenden Woche einen Entrümpler zu beauftragen.

Nur ein paar Erinnerungsstücke nimmst du mit. Alles andere soll ein Profi machen.

Den überdimensionierten Fernseher könnte sein Sohn David vielleicht brauchen. Studenten haben ja nie Geld. Musikstudenten schon gar nicht. Axel sortiert ein paar Versicherungsunterlagen und Rechnungen aus der linken Lade. In den anderen ist nur Gedöns: Wegwerffeuerzeuge, Streichhölzer, ein Flaschenöffner, ein Korkenzieher. Daneben ein Vorrat an Zigarren und Zigarillos, Werbebroschüren, eine Taschenlampe und – ganz hinten – ein Stapel Fotos.

Er blättert sie durch, zögert. Das eine von seinen Eltern kennt er noch gar nicht. Sie sind jung darauf, um die dreißig vielleicht, unverbraucht, mit glatten, leuchtenden Gesichtern. Sein Vater trägt einen dunkelbraunen Anzug mit Schlaghose, seine Mutter ein orange-grünes Kleid mit geometrischen Mustern. Fucking siebziger Jahre. Da muss es ihn schon gegeben haben. Trotzdem sind die beiden Menschen auf dem Foto für ihn wie Fremde. Axel legt das Foto auf den Stapel mit Unterlagen und steckt den Rest zurück in die Schublade.

Das »gute Kaffeeservice« hinter den blinden Glastüren ist lange nicht benutzt worden, es fühlt sich stumpf an in seinen Händen und erinnert ihn mehr an die Kaffeekränzchen seiner Mutter als an seinen Vater. Wo ist die Zeit geblieben? Seine Mutter liegt schon seit elf Jahren auf dem Friedhof an der Rheinberger Straße in Moers. Schwülheiße Mittagsluft quillt in die Wohnung und intensiviert den Mief von Staub und Alter noch. Axel schwitzt, sein Herz geht in den Galopp, beginnt zu stolpern. Verdammt. Wieso geht das wieder los? An der offenen Balkontür atmet er tief durch, bis er sich besser fühlt.

Nur noch einen kurzen Blick in die restlichen Schränke werfen. Das ist schließlich keine Wohnungsdurchsuchung hier. Draußen im Wagen warten sein Kontrabass und seine gepackte Reisetasche auf ihn. Das Jazzfestival in Bamberg beginnt um acht mit einem Eröffnungskonzert. Und auf den Workshop morgen freut er sich seit Monaten. »Swing und Synkopierung für Bassisten«. Ob sein Vater so unvernünftig war, Bargeld in der Wohnung zu verstecken?

Auf dem Weg in die Küche schaut er unentschlossen ins Schlafzimmer. Nein. Den Kleiderschrank wird er auf keinen Fall durchwühlen. Das fühlte sich schon beschissen genug an, als er die Sachen für den Bestatter raussuchen musste. Soll der Entrümpler sich über Kohle freuen, falls er welche findet. Halbherzig nimmt er den Inhalt der Küchenschränke in Augenschein, vermeidet es aber, den Kühlschrank zu öffnen. Immerhin an den Müll hat er im Mai gedacht, sonst würde der vermutlich schon unter der Spüle herauswuchern.

Und jetzt raus hier. Er schließt Fenster und Rollläden, nimmt Unterlagen und Foto an sich. Der Duft nach geschmorten Zwiebeln im Flur lässt seinen Magen knurren. Es ist spät geworden gestern im Biergarten am Stadtwaldhaus in Krefeld. Die Traditionsschänke, die gerade ihren hundertzwanzigsten Geburtstag feiert und mitten in einem von einem Seidenfabrikanten gestifteten Waldgelände liegt, ist eines seiner Lieblingsziele. Das musste einfach sein an einem freien Wochenende. Seit Wochen hat Axel Kneipen und Biergärten gemieden, um ein paar Pfunde zu verlieren. Hat seine Ernährung umgestellt und Sport gemacht. Der Besuch gestern war eine Ausnahme. Dafür hat er heute Frühstück und Mittagessen ausfallen lassen.

Sein Wagen hat sich in der Augustsonne aufgeheizt, er startet den Motor und stellt den Lüfter der Klimaanlage auf die höchste Stufe. Bevor er auf die Autobahn fährt, wird er sich Kaffee und belegte Körnerbrötchen beim Bäcker organisieren. Das Diensthandy klingelt. Warum hat er es nicht zu Hause gelassen? Axel ignoriert den Klingelton und sucht über das Navi auf dem Display nach dem nächsten Bäcker. In Moers kennt er sich nicht aus, seine Eltern sind erst im Ruhestand hergezogen. Die kühle Luft tut gut, richtige Entscheidung, sich voriges Jahr den neuen Wagen zu kaufen. Als er losgefahren ist, klingelt erneut das Handy. Vielleicht ist das Johanna. Er zögert. Die Erinnerung an ihren ersten gemeinsamen Fall ploppt vor seinem inneren Auge auf. Doch bevor er zum Smartphone greifen kann, springt die Ampel auf Grün, und das Klingeln ist verstummt. Aber nur kurz. Den dritten Anruf nimmt er über die Freisprechfunktion an.

»Eigentlich habe ich ja frei«, mosert er leicht genervt ins Mikro. »Wenn nicht gerade irgendwo eine Leiche rumliegt, würde ich –«

Die Kriminalrätin unterbricht ihn. »Es tut mir wirklich leid, Herr Holtz.« – Mist, die Chefin und nicht Johanna. Cornelia Gruber klingt tatsächlich ein wenig zerknirscht. »Wir haben eine Meldung mit Verdacht auf Freiheitsberaubung. Kollegin Brenner ist mit Herrn Kivelitz zum Einsatzort unterwegs.« Sie räuspert sich. »Vielleicht stellt sich die Sache als harmlos heraus, aber falls es sich tatsächlich um eine Entführung handeln sollte, hätte ich Sie gerne vor Ort. KOK Kivelitz hat mit Außeneinsätzen kaum Erfahrung, und KHK Brenner –«

Möchte ich lieber nicht allein ermitteln lassen, ergänzt Axel den Satz in Gedanken. »Wo?« Er steuert den Kombi auf den Parkplatz eines Supermarkts, der gerade zu seiner Rechten auftaucht. Ohne verspätetes Frühstück fährt er nirgendwo hin.

»Geldern-Walbeck. Ich schicke Ihnen die genaue Adresse.« Seine Chefin legt auf.

Das bedeutet dann wohl, dass er nach Walbeck anstatt nach Bamberg fährt. So ein Mist! Und die Spargelsaison ist auch längst vorbei. Er parkt den Wagen in der Nähe des Eingangs und drückt auf Rückruf. Was ist eigentlich genau vorgefallen in Walbeck? Entführungen sind selten geworden in Zeiten von Telefonüberwachung, GPS-Ortung und Drohneneinsatz. Aber bei Gruber ist besetzt.

Die Schlange vor der Bäckereitheke im Vorraum des Supermarkts ist lang. Axel schnappt sich einen Einkaufswagen und füllt an der Obsttheke einen Beutel mit Äpfeln. Da passiert anderthalb Jahre lang kein Kapitalverbrechen im Kreis Kleve, und ausgerechnet an dem Wochenende, an dem er zu einem Jazzfestival fahren will, wird jemand entführt? Im beschaulichen Spargeldorf Walbeck?

An der Kühltheke mit den Fertigsnacks packt er Hähnchenwraps, einen Nudelsalat und einen Caffè Latte in seinen Wagen.

Wer soll da eigentlich gekidnappt worden sein? Bei Entführungen geht es meist um viel Geld, die Täter kundschaften ihre Opfer vorher akribisch aus, um ihr Risiko so klein wie möglich zu halten. Vielleicht ist einfach nur eine frustrierte Ehefrau abgehauen und hat ein paar Möbel umgeworfen, weil sie es mit ihrem Typen nicht mehr ausgehalten hat. Oder irgendwelche Kleinkriminelle haben sich einen schlechten Scherz mit einem Erpresserbrief erlaubt.

Das Diensthandy brummt in seiner Hosentasche: »Straelener Straße 96, Familie Bredenscheid«.

Wieso ist bei dem Andrang nur eine Kasse auf? Diesmal zückt Axel seinen Dienstausweis und wendet sich an den jungen Angestellten, der das Spirituosenregal vor dem Kassenbereich auffüllt.

»Ich habe gerade einen Einsatz reinbekommen. Könnten Sie mich abkassieren?«

Auf dem Weg zum Wagen nimmt er den Deckel von dem gekühlten Kaffee und trinkt. Zu stark gesüßt, aber egal. Beim Anblick des Kontrabasses im Fond wird ihm schwer ums Herz. Na dann, adieu, Bamberg. Aber nach dem Drama mit Johanna beim letzten Mal … Bis zum Ruhestand will er definitiv nicht noch einmal eine Kollegin wiederbeleben müssen. Und falls sich die vermeintliche Entführung bis zum Abend als Fehlalarm herausstellen sollte, könnte er seinen Workshop morgen noch erreichen.

***

Johanna fährt das Fenster auf der Fahrerseite herunter, aber der Fahrtwind, der ins Innere des Wagens strömt, fühlt sich mehr nach Daunendecke als nach Abkühlung an. Wie kann Patrick bei dieser Hitze noch im gelben Wollpullunder rumrennen? Der IT-Spezialist wischt und tippt auf dem Beifahrersitz seit zwanzig Minuten ungerührt auf seinem Tablet-PC herum.

»Was treibst du da eigentlich?« Johanna greift, ohne um Erlaubnis zu fragen, nach Kivelitz’ unvermeidlicher Flasche Cola light. In der Eile hat sie ihr Wasser im Büro stehen lassen.

»Ich recherchiere zu unserem Opfer. Die Familie Bredenscheid hat eine interessante Vergangenheit.«

»Definiere ›interessant‹.« Igitt, schmeckt der Süßstoff eklig. Die B 9 führt in einem Bogen um Aldekerk herum und wird zur Klever Straße. Warum ruft Silvia nicht zurück?

»Der Vater des verschwundenen Josef Bredenscheid war ein strammer Nazi. Von 1935 an NSDAP-Ortsgruppen-Propagandaleiter im Kreis Kleve, 1941 befördert ins Gaupropagandaamt in Düsseldorf. Ist nach dem Krieg aber schnell rehabilitiert worden.«

»Wie so viele.« Johanna gibt Patrick die Flasche zurück und lupft den Sicherheitsgurt, der ihr in die Schulter schneidet. Dieses blöde Seidenshirt. Ob Silvia sauer ist, dass sie den Besichtigungstermin nicht schafft? »Und der Sohn? Hast du auch was zu unserem Entführungsopfer?«

»Geboren 1937 in Geldern, vor vier Jahren verwitwet, eine Tochter, keine Vorstrafen. Er war im Berufsleben Arzt, zuletzt am Wilhelm-Anton-Hospital in Goch.« Er hält Johanna das Tablet hin. Auf einem Foto auf der Homepage der Klinik ist ein asketisch aussehender Mann mit vollem grauem Haarschopf im weißen Kittel zu sehen. »Seit 2002 im Ruhestand.«

»Da saß er noch nicht im Rollstuhl«, merkt Johanna an. Sie lassen Kerken hinter sich. Nur noch ein paar Minuten bis zum Tatort. Sie drückt auf Wahlwiederholung, aber sie erreicht wieder nur Silvias Mailbox.

»Hinter dem Gewächshaus musst du links abbiegen.« Kivelitz steckt das Tablet zurück in die graue Umhängetasche und reibt seine Handflächen an der Cordhose trocken. Doch die Hitze? Oder Nervosität? Er ist der Typ, der am liebsten im Büro bleibt, im Hintergrund Informationen beschafft und alle auf dem Laufenden hält.

»Danke, dass du mitgekommen bist. Mit Tom wäre ich nicht so gerne –«

»Schon klar«, unterbricht er sie. Die Konflikte zwischen Tom und Johanna sind ihm unangenehm, das ist ihm auch bei Teamsitzungen anzumerken.

Schweigend fahren sie an der JVA Geldern vorbei, dahinter durch bräunlich gelbe Felder, auf denen die Getreideernte in vollem Gange ist. Die Bremsen von Johannas altem Golf quietschen, als ein Erntefahrzeug unvermittelt auf die Landstraße einbiegt. Allmählich sollte sie sich von dem Wagen trennen. Nicht mal die Lackschäden vom Unfall im Fall der ermordeten Kinderärztin hat sie ausbeulen lassen. Aber seit ihrer Rückkehr an den Niederrhein war so viel anderes zu regeln. Erst die Reha. Dann der Umzug von Berlin nach Krefeld, den sie noch immer als Downgrade empfindet. Gemildert nur durch die Liebesbeziehung zu Silvia, die so beunruhigend anders ist als alles, was Johanna bisher erlebt hat.

»Vielleicht hätten wir doch besser einen Dienstwagen genommen.« Sie zupft das geblümte Blusenshirt von ihrer schweißfeuchten Haut. »Der hätte wenigstens eine funktionierende Klimaanlage.«

Patrick sitzt stoisch neben ihr. »›An der Mortel‹ – da müssen wir rein.«

Sie lässt einen Radfahrer passieren und biegt rechts ab. Das mutmaßliche Entführungsopfer wohnt an der Straelener Straße, Johanna geht vom Gas und hält nach den Kollegen von der Schutzpolizei Ausschau.

»Da vorn.« Kivelitz deutet auf ein riesiges Grundstück, das von einem wuchtigen schmiedeeisernen Zaun umgrenzt ist. Eine ebenso hohe Buchenhecke, der man ansieht, wie sehr sie unter der Trockenheit leidet, verwehrt die Sicht auf das Wohnhaus. Johanna parkt den Wagen vor dem geöffneten Tor, das mit einem Flatterband vor unbefugtem Betreten geschützt wird.

»Hier liegen vier Stolpersteine. Gehen die auf das Konto von Bredenscheids Vater?« Sie deutet auf die kleinen Gedenktafeln aus Messing, die der Künstler Gunter Demnig seit den neunziger Jahren zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Bürgersteige einlässt. In Berlin waren sie ihr vor dem Haus eines Freundes zum ersten Mal aufgefallen.

»Haus und Grundstück gehörten in den dreißiger Jahren einem jüdischen Rechtsanwalt, der enteignet und ermordet wurde.« Patrick schießt Fotos von Trottoir und Zufahrt. »Vermutlich hat sich der alte Bredenscheid das Anwesen unter den Nagel gerissen.«

Wir sind hier zwar nicht auf Geschichtsexkursion, aber lass ihn mal machen.

Johanna fischt Handschuhe und Überzieher aus dem Kofferraum und drückt Patrick seine Exemplare in die Hand. Dann beugt sie sich unter dem Flatterband durch und betritt das parkähnliche Grundstück. Zwei steinerne Löwen, aus deren Mähnen schon lange niemand mehr den Taubendreck gekratzt hat, bewachen die Einfahrt. Hinter einer riesigen alten Eiche in der Biegung der Zufahrt thront eine weiß getünchte Stadtvilla mit Sprossenfenstern, turmähnlichem Erker und einer von kannelierten Säulen umgebenen Veranda zwischen gelbgrün verdorrten Rasenflächen.

»Nicht schlecht.« Johanna stößt einen anerkennenden Pfiff aus. »Das muss ein Vermögen wert sein. Selbst hier am Niederrhein.«

Patrick rümpft die Nase. »Trotzdem klebt da Blut dran.« Er beginnt, nun auch die Villa zu fotografieren. Sie geht auf die Kollegen in Uniform zu, die den Boden vor Haustür und Garage nach Spuren absuchen.

»Die Frau Kommissarin … lange nicht gesehen.« Thorsten Hilgers, der sie schon bei ihrem ersten Fall am Niederrhein am Tatort erwartet hat, kommt auf Johanna zu und reicht ihr die Hand. Sein Blick bleibt an ihrem Hals hängen. »Ganz schön heftig, die Sache damals. Dein Einstand hat für viel Gesprächsstoff bei den Kollegen hier am Niederrhein gesorgt.«

Johanna berührt mit den Fingerspitzen die Narbe, die der Luftröhrenschnitt hinterlassen hat. »Darauf hätte ich gerne verzichtet, kannst du mir glauben.« Wenn Axel nicht rechtzeitig den Notarzt … Sie drängt den Gedanken beiseite. »Aber jetzt geht’s mir wieder gut.« Sie schaut sich nach Kivelitz um, der in weitem Bogen über die Rasenfläche läuft und irgendwas in sein Handy diktiert. »Was wisst ihr bislang?«

»Der Notruf ging um zwölf Uhr achtundvierzig bei der Leitstelle ein. Als wir zehn Minuten später eintrafen, war eine verletzte Person vor Ort. Der Mann hat sich als Niels Houben ausgewiesen, Fahrer eines privaten Krankentransport-Anbieters. Er hatte den Bewohner des Hauses wie jeden Freitag zur Dialyse gebracht und anschließend wieder abgeholt.«

»Wo war der Dialysetermin?« Die Wahl des Entführungszeitpunkts spricht auf jeden Fall für eine geplante Tat.

»Im St.-Clemens-Hospital in Geldern gibt es ein Nierenzentrum. Dort musste Josef Bredenscheid dreimal die Woche hin.«

»Und Houben fährt ihn jedes Mal?« Auch einen Verletzten darf man nicht von vornherein als möglichen Täter ausschließen.

»Jap. Heute ist er um kurz nach zwölf mit seinem Patienten wieder hier angekommen. Laut seiner Aussage wurde er von hinten niedergeschlagen, als er den Rollstuhl aus dem Transporter ziehen wollte.«

»Dann hat er den Täter nicht sehen können.«

Hilgers macht einen zustimmenden Laut und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Wir konnten ihn nur kurz befragen, weil seine Kopfverletzung ziemlich geblutet hat. Der Notarzt wollte ihn so schnell wie möglich zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen lassen.«

Kivelitz taucht neben Johanna auf und deutet mit dem Kinn auf eine edel aussehende Holzrampe, die von der Einfahrt aus die drei Stufen zur Haustür überwindet. »Klasse Konstruktion. Die hat bestimmt einiges gekostet.«

»Außenbesichtigung der Villa abgeschlossen?«, foppt Johanna ihn und zieht die Überschuhe über die Sneaker. Die Nitrilhandschuhe bleiben an ihren verschwitzten Fingern kleben, als sie sie überstreifen will. Bäh, ist das Kautschukmaterial unangenehm bei der Hitze.

»Außerdem sind da Blutspuren in der Garage«, ruft Patrick jetzt und linst von außen ins Innere.

»Schnellmerker.« Hilgers, der ihren Kollegen die ganze Zeit stirnrunzelnd beobachtet hat, zieht die Augenbrauen hoch. »Ist das dein neuer Partner? Kenne ich gar nicht.«

»Oberkommissar Patrick Kivelitz. Herr und Meister unserer IT im KK11. Aber mit Menschen hat er’s nicht so. Sei nett zu ihm.« Sie zwinkert dem Streifenkollegen zu.

»Verstehe. Und wo steckt Axel? Noch im Urlaub? Oder hat er das Kommissariat gewechselt?«

»Urlaub«, erwidert Johanna kurz angebunden. Die Zeit drängt, wenn das Opfer einer Entführung so alt und vorerkrankt ist wie Josef Bredenscheid. Sie will so schnell wie möglich die erste Besichtigung des Tatorts abschließen. »Houben ist doch sicher auf der Einfahrt niedergeschlagen worden.« Sie geht den Bereich vor der Haustür in Zeitlupe ab. Den winzigen dunklen Fleck da, den sollen die Spurensicherer untersuchen. »Wie ist er in die Garage gelangt?«

»Der oder die Täter müssen ihn hineingezogen haben. Auf jeden Fall kam er dort gefesselt und geknebelt wieder zu sich, und der Krankentransporter samt Patienten war verschwunden.« Hilgers, dessen Hemdkragen dunkel vom Schweiß ist, folgt Johanna in die Garage.

»Wie konnte er dann den Notruf absetzen?« Neben dem dunkel glänzenden Blut im hinteren Teil des Raums liegen die Stücke einer zerschnittenen Kordel und eine monströse Astschere.

»Ein Essensauslieferer der Caritas hat ihn gefunden. Der Anruf ging von seinem Handy raus.«

»Und wo ist dieser Zeuge?« Was zum Teufel treibt Patrick da schon wieder? Sie brauchen dringend die Spusi.

»Der war schon weg, als wir ankamen.«

Johanna runzelt die Stirn. »Der ist abgehauen und hat den Verletzten hier allein zurückgelassen?« Das ist allerdings sehr merkwürdig.

»Jap. So schaut’s aus.«

Kivelitz ist zurück Richtung Straße getrottet und läuft den vertrockneten Rasen mit so gleichmäßigen Schritten ab, als wollte er ihn vermessen. »Wir brauchen Lars und seine Leute!«, ruft sie ärgerlich in seine Richtung. »Sorg dafür, dass die so schnell wie möglich anrücken.« Dann wendet sie sich wieder Thorsten Hilgers zu. »Woher wissen wir, dass er von der Caritas kam?«

Der deutet mit dem Kinn auf die Styroporbox, die auf der Motorhaube des Oldtimers thront. »Die hat er vergessen. Ist hinten ein Aufkleber der Caritas Kevelaer drauf.«

Johanna grinst. »Er hatte es offensichtlich eilig.« Aber das müsste sich problemlos rauskriegen lassen, wer der Mann war. Eine ideale Aufgabe für Kivelitz, der inzwischen immerhin telefoniert.

»In welches Krankenhaus wurde der Fahrer gebracht?« Sie müssen Houben zeitnah noch einmal befragen, um die Fahndung nach dem Krankentransporter anzuleiern.

»St.-Clemens in Geldern.«

Dasselbe Krankenhaus, in dem auch die Dialyse war. Gut, dann können sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. »Konntet ihr schon mit Nachbarn sprechen, ob die etwas Verdächtiges beobachtet haben?« Irgendwie müssen der oder die Täter ja hergekommen sein. Und vermutlich schon in den Wochen zuvor den Tatort ausspioniert haben.

Hilgers schüttelt den Kopf. »Auf der einen Seite sind nur Felder. Auf der anderen haben wir geklingelt, aber da war niemand.«

In Johannas Hosentasche vibriert ihr Privathandy. Ist das endlich Silvia?

»Okay, danke. Ich setze die Kavallerie in Bewegung. Das schreit wirklich nach einer Entführung.«

So ein Mist. Das Wochenende ist gelaufen. Die Chefin muss sofort die Tochter von Bredenscheid kontaktieren. Wenn es um Lösegeld geht, werden die Entführer sich an sie wenden. Sie geht zu Patrick hinunter, der seine Grundstücksbegehung am Zaun zur Straße fortsetzt.

»Was treibst du hier eigentlich? – Versuche lieber, bei der Caritas rauszukriegen, wer heute für die Essensauslieferung eingeteilt war. Wir brauchen den als Zeugen. Und dann müssen wir die Nachbarn und –« Sie hält inne, weil am Ende der Straße ein vertrauter dunkelroter Kombi auftaucht. Axel? Wieso ist der hier? Johanna geht dem Wagen entgegen und spürt Erleichterung und leise Dankbarkeit, als sich die schwere Gestalt ihres Kollegen aus dem Wageninneren schält.

***

Noch zehn Thermoboxen mit Essen. Justin hat das Gefühl, seine Füße nehmen in den Plastiklatschen ein Bad. Die letzte Oma hat ihm wie jeden Tag eine halb geschmolzene Tafel Schokolade in die Hand gedrückt und seine Haare getätschelt. Voll verpeilt, die Alten! Komisch gestunken hat’s bei der auch. Er geht aufs Gas, wirft die Schoki mit Schwung aus dem Fenster und schaut im Rückspiegel zu, wie der Fahrer hinter ihm abbremst und trotzdem noch volle Möhre drüberbrettert.

Alles gut, Bruder, nix passiert, reg dich nicht auf.

Die nächste Adresse auf der Liste ist Rosengarten 87. Dafür braucht er das Navi nicht. Justin biegt von der B 9 Richtung Holländer See ab und fährt auf den Friedhof zu. Schon drei viertel zwei.

Die Sache in Walbeck hat ihn bestimmt zwanzig Minuten gekostet. Und der Dicke wollte auch noch, dass er auf die Bullen wartet. An einem Freitag, wenn alle im Schwimmbad abhängen oder sonst wo chillen? Für ’n Arsch, Alter. Keinen Bock.

Justin passiert den Kreisverkehr und wirft einen Blick auf den Skatepark zur Linken. Nur zwei Teenies rollen in der sengenden Sonne ihre Boards über die Halfpipe. Er überholt einen Anzugträger auf einem E-Scooter, biegt in den Rosengarten ein, nimmt die nächste Box aus dem Kofferraum und klingelt. Warum macht der Opa nicht auf? Nicht, dass der verreckt ist bei der Hitze. Und wenn, ist das Food eh egal. Justin stellt die Box vor der Haustür ab und macht sich vom Acker. Soll der Kollege morgen das dreckige Geschirr mitnehmen. Er kapiert sowieso nicht, warum die bei der Caritas kein Wegwerfzeugs verwenden. Umwelt und Klimawandel und so. Schon klar. Wäre aber viel einfacher.

Was Larissa wohl gerade so treibt? Er will endlich Feierabend machen. So ’nen steilen Zahn darf man nicht zu lange allein lassen.

Vor der nächsten Ampel checkt er sein Smartphone. Keine Message für ihn. Dafür hat sie was auf Instagram gepostet. Unter dem Foto von Larissa mit Luka in seiner dämlichen Mistkarre steht: »Der Tag ist wie gemacht fürs Freibad, Leute.«

Luka? Bei Justin schrillen sämtliche Alarmglocken. Baggert der Typ sein Mädchen an, während er arbeiten muss? Er schlägt wütend aufs Lenkrad. Was ist das für ’ne abgefuckte Scheiße? Und Larissa fährt auch noch darauf ab, die Bitch. – Na klar, Lukas Eltern haben Kohle, und Luka fährt den BMW vom Papi. Das findet sie natürlich cool. Dabei ist der Typ total der Spacko, der kriegt selbst nix auf die Reihe und tanzt seinen Alten auf der Nase rum. Und so einer will ihm die Freundin ausspannen? – Never, Babo. Hafti würde sich das nicht gefallen lassen. Und mit mir, mit Justin Richarz, macht Luka das auch nicht. Ich bin doch kein Opfer.

Er überprüft die Essensliste und beschließt, nur noch die drei Boxen auszuliefern, die auf dem Rückweg nach Kevelaer zur Klosterküche liegen. Er kann ja behaupten, dass bei den anderen keiner aufgemacht hat. Und dann von Kevelaer aus zum Waldfreibad Walbeck. Das dauert mit dem Rad bestimmt dreißig Minuten. So ein verdammter Mist. Er hupt, als die Mutti vor ihm auch im dritten Anlauf nicht rückwärts in die Parklücke kommt und den Weg versperrt. Jetzt klingelt auch noch sein Handy. Hoffnung keimt auf. Vielleicht langweilt sich Larissa mit dem Spacko und will nun wissen, wann er ins Freibad kommt.

»Herr Richarz?« Die Stimme gehört nicht Larissa, sondern Frau Eickmanns. Die organisiert die ganze Rumgurkerei mit dem Food. »Die Polizei hat sich bei mir gemeldet, die möchten mit Ihnen sprechen.«

»Hey, ich hab nix gemacht.« Weshalb verteidigt er sich überhaupt? Geht die doch nichts an, warum die angerufen haben.

»Das behauptet auch niemand.« Sie spricht mit ihm in einem so beschwichtigenden Tonfall, als wäre er ein krankes Kaninchen. »Es geht um eine Zeugenaussage. Sie haben heute die Tour zu Herrn Bredenscheid gemacht?«

»Schon. Ja.«

»Und dabei vor dem Haus einen Verletzten auf dem Grundstück gefunden?«

Das hat man nun davon, wenn man hilft. »Aber ich kann da gar nix zu sagen. Keine Ahnung, was vorher passiert ist.«

»Sie brauchen nicht immer gleich rotzusehen, wenn die Polizei was von Ihnen will.« Frau Eickmanns lacht leise.

Macht die sich über ihn lustig?

»Das haben Sie gut gemacht mit dem Notruf. Sie haben einem anderen Menschen geholfen.«

Wird das hier das Evangelium, oder was? Justin muss sich wider Willen eingestehen, dass es sich gut anfühlt, von der Eickmanns gelobt zu werden. »Ich bin weitergefahren, damit das Essen nicht kalt wird.« Ein bisschen schleimen kann nicht schaden. »Wäre doch schade, wenn das leckere Schnitzel –«

»In diesem Fall hätten Sie mich durchaus anrufen und auf die Polizei warten können«, unterbricht die Eickmanns ihn. In ihrem Büro klingelt ein zweites Telefon. Manchmal hat die Frau wirklich Stress. »Wie auch immer … die Kripo Krefeld wird sich bei Ihnen wegen der Zeugenaussage melden. Ich habe dem Beamten Ihre Adresse und Ihre Handynummer gegeben, das ist doch hoffentlich kein Problem.«

Kein Problem? Besonders über die Handynummer ärgert Justin sich. »Nein. Natürlich. Ich meine, natürlich nicht.« Jetzt verhaspelt er sich auch noch.

»Dann lasse ich Sie jetzt weiterfahren. Stellen Sie den Wagen nachher hinter den Kücheneingang und geben Sie den Schlüssel an der Pforte ab. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Herr Richarz!«

Er hört noch, wie sie sich hastig auf der anderen Leitung meldet. Dann wird die Verbindung unterbrochen. Schönes Wochenende? Von wegen! Das geht ihm auf die Eier, dass er die Polizei am Hals hat. Auch wenn die nur quatschen wollen. Dabei hat er dem Dicken nicht mal seinen Namen gesagt. Wie sind die auf ihn gekommen?

Er schmeißt einen Haftbefehl-Song an und geht aufs Gas. Seine nächste Kundin ist die Oma mit den lila Haaren in Veert. Ihr Köter kläfft jedes Mal wie wild, wenn er klingelt. Und Larissa hängt mit Luka im Freibad ab. Fuck! Wieder muss das Lenkrad dran glauben. Das passt ihm alles gar nicht.

Justin angelt seine Sonnenbrille aus der Mittelkonsole und heizt über die B 9 Richtung Kevelaer. Hinter ihm scheppert das Geschirr in den Styroporkisten. Gequirltes Schnitzel, denkt er und grinst. Was fährt der Typ mit der Kappe vor ihm denn so verschnarcht? Alter … Er setzt zum Überholen an, sieht den Trecker auf der Gegenfahrbahn und drückt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Das wird knapp, alle hupen wie wild, als er gerade noch rechtzeitig vor dem klapprigen Opel wieder einschert. Macht euch nicht ins Hemd, hat doch geklappt. Seine Laune bessert sich.

»Ich bin jung, ich bin wild, ich bin asozial«, singt er lauthals mit. Würde Hafti brav die Essen zu Ende ausliefern? Nein, der würde sich um sein Mädchen kümmern!

Er kann der Eickmanns ja erzählen, dass ihm nach dem Telefonat plötzlich schlecht geworden ist. Weil er an das ganze Blut gedacht hat und an den armen alten Mann, der irgendwo gefangen gehalten wird. Sie hat selbst gesagt, dass für Notfälle andere Regeln gelten als sonst.

Die Reifen des Fiesta jaulen auf, als er beim U-Turn den Bürgersteig mitnimmt, aber er muss so schnell wie möglich zurück an die Abzweigung zur Walbecker Straße. Der Opel von eben kommt ihm entgegen, wieder hupt der Kappenmann und gestikuliert. Halt einfach die Fresse, du Opfer! Er muss gleich erst einmal ein ernstes Wörtchen mit Luka reden.

***

Muss die Zeugenbefragung ausgerechnet in ein Krankenhaus führen? Axel hält seine Hände unter den Spender mit Desinfektionsmittel und versucht vergeblich, die Erinnerung an den Abend im Mai zur Seite zu drängen. Der Geruch des Sterilliums, das kaltweiße Licht auf der Intensivstation … Nach dem Anruf hatte er seinen Vater inmitten von Schläuchen und piepsenden Geräten vorgefunden, ein bewusstloses Stück Mensch, das unter dem steifen gelben Bettzeug verloren aussah.

»Alles okay?« Johanna verreibt das Sterillium in ihren Handflächen und mustert ihn prüfend. Vor Bredenscheids Haus hatte sie ihn gar nicht erst aussteigen lassen, sondern sofort zum St.-Clemens-Hospital am nördlichen Stadtrand von Geldern dirigiert.

»Klar. Alles okay.« Er verkneift es sich, sie auf ihren krebsroten Kopf und die Unruhe anzusprechen, mit der sie alle dreißig Sekunden aufs Privathandy schaut. Stress mit ihrer Freundin? Er kapiert sowieso nicht, wie Johanna sich in die spröde Frau Dr. Dengendorf verlieben konnte. Aber wo die Liebe hinfällt … Sie folgen den Schildern zur Notaufnahme, diesmal greift die Kollegin zu ihrem Diensthandy.

»Frau Gruber hat den Chef des Krankentransportunternehmens inzwischen erreicht. Wir suchen nach einem dunkelblauen VW Caddy, die Fahndung nach dem Wagen ist raus.«

»Hat er kein Ortungssystem eingebaut?« Die Fahrzeuge der Rettungsdienste sind seit Jahren schon mit GPS-Ortung ausgestattet. Aber Johanna schüttelt den Kopf.

»Ist ein privater Anbieter von Krankenfahrten. Die heißen ›Aesculap on the road‹.«

»Aesculap on the road«. Klingt wie eine missratene Mischung aus Tradition und dem krampfhaften Bemühen, modern zu sein. »Dann hoffen wir, dass der irgendwem aufgefallen ist. Ein Transporter kann sich schließlich nicht in Luft auflösen.«