Niemand - Nicole Rensmann - E-Book

Niemand E-Book

Nicole Rensmann

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Beschreibung

»Niemand« ist eine Erzählung voller Mehrdeutigkeiten und eine, in der alles wörtlich genommen wird. In den Hauptrollen: Nina, eine ABK, Fräulein Klimper, der Nikolaus, das Wurzelmännchen, ein Drecksack. Ach ja und da wäre natürlich noch – Niemand. Orks? Drachen? Vampire? Nein! Aber Arschkriecher, Stromschwimmer, der Heilige Geist natürlich, Trauerklöße und Schaumschläger und eine Vielzahl anderer Niemandsländer, deren Bezeichnungen jenseits der Grenzen aus Unwissenheit verwendet werden. In den Nebenrollen: Jesus und das Dumme Würstchen.

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Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg März 2024 © 2024 Atlantis Verlag Alle Rechte vorbehalten. Titelbild, Innengrafiken und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Satz und E-Book: André Piotrowski ISBN der Printausgabe: 978-3-86402-930-1 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-928-8 Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Im Anfang war das Wort …

– Johannes 1.1

Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.

– Johannes 1.3

Prolog

Kein Mensch hatte diesen Ort jemals betreten.

Das Niemandsland.

Quelle der Fantasie.

Hier wurden Worte erfunden, Träume gesponnen und Lügen gestrickt, Sprüche geklopft, Zitate gestanzt, Weisheiten geformt und Ideen geboren. Falls all diese zungenfertigen Schöpfungen nicht an einem frühzeitigen Tod aufgrund ihrer Nutzlosigkeit starben, pustete das Himmlische Kind sie bei Südwind über die Grenzen hinaus, wo die Menschen gierig über sie herfielen. Natürlich behaupteten sie, es seien ihre geistigen Ergüsse. Sie wussten es nicht besser. Und es war gut, dass sie nicht ahnten, woher ihre Ideen stammten, die der Wind ihnen ins Ohr setzte. Sie hätten einen unter Strom stehenden, zehn Meter hohen Metallzaun rund um das Niemandsland gebaut, Plakate mit anglizistischen, großkotzigen Plattitüden gedruckt und damit zahlreiche Besucher angelockt. Nicht zu vergessen den überhöhten Eintritt, den sie für ihre erfundene Attraktion verlangt und von dem sie Süßigkeiten und Currywurst eingekauft hätten, nur um sie für das Fünffache an die Besucher weiterzuverkaufen.

Der Kreislauf der Vermarktung.

Das wäre dramatisch für das Niemandsland. Darum hatte der Vater des Herrschers Befehl gegeben, dass des Nachts die Statuen und Nachtwandler Patrouille laufen und das Niemandsland vor Eindringlingen bewahren mussten. Am Tag sorgten die Laberköppe dafür, dass kein Unbekannter die Grenzen überschritt. Sie sangen so schaurig, dass jeder, der dem Niemandsland zu nah kam, freiwillig den Rückzug antrat. Bisher hatten diese Maßnahmen Früchte getragen und bodendeckende Beeren mannigfacher Art an der Grenze wachsen lassen. Nur einmal hatte es ein Fuchs gewagt, über den Wall zu treten. Die Nachteulen hatten ihn aus dem Niemandsland verjagt. Das arme Tier hatte erschrocken aufgejault und war noch Tage später mit eingekniffenem Schwanz und angelegten Ohren durch den angrenzenden Wald geschlichen. Seitdem hatte es keine Vorkommnisse dieser Art mehr gegeben.

Mit der Zeit ignorierten die Nachtwandler den Befehl vom Vater des Herrschers und trafen sich an der hohlen Eiche mit dem Kopflosen Reiter und dem Schwarzen Mann zum Karten spielen. Jede zweite Nacht bestand der Kopflose Reiter darauf, Doppelkopf zu klopfen, denn er war davon überzeugt, dass es einen Kopf zu gewinnen gab. Die Nachtwandler hatten monatelang versucht ihm vom Gegenteil zu überzeugen und es schließlich aufgegeben. Der Kopflose Reiter besaß ein gutes Herz, aber nur einen Hauch von Intelligenz.

In den verbliebenen Nächten spielten sie Schwarzer Peter. Ein bösartiges Spiel, das stets im Desaster endete. Der Schwarze Mann zog immer die Arschkarte und musste sich diesem einen letzten Befehl beugen. Er sollte den Herrscher bis zum Morgengrauen durch das Niemandsland jagen. Erst wenn die aufgehende Sonne den Schwarzen Mann wieder in eine Statue verwandelte, endete dessen Albtraum. Der Schwarze Mann entschuldigte sich in der darauffolgenden Nacht, aber seiner Bestimmung wusste er sich nicht zu widersetzen.

Der Vater des Herrschers wollte seinem Sohn mit diesem Befehl Respekt einflößen. Völliger Quatsch! Er war ein garstiges Wesen ohne positive Gefühle, ernährte sich von Zorn und wuchs mit der Habgier. Wenn er wüsste, dass nur noch wenige seiner Befehle ausgeführt würden, wäre seine Wut drakonischer Art. Auch die Laberköppe nahmen ihre Rolle als Wächter nicht mehr ernst und stritten lieber miteinander:

»Hab ich dir schon erzählt, dass sich gestern Frau Butterflügelchen auf mir ausgeruht hat?«, flötete der linke Laberkopp, ein in dunkelblaue Tinte getauchter, beinloser Soldat. »Über eine Stunde lang.«

Sein Zwillingsbruder, der rechte Laberkopp, entgegnete: »Nein!? Ist ja unglaublich!«, und triumphierte: »Heute Morgen haben bei mir fünf Glückskäfergeschwister gesessen. Den gesamten Vormittag.« Er verschränkte die kurzen Arme vor der Brust, reckte die Nase in die Höhe und fühlte sich siegesgewiss, bei den Glücksgeflügelten beliebter zu sein.

»Du hast dir vorher Honig auf die Brust geschmiert. Das habe ich gesehen.«

»Woher soll ich denn Honig gehabt haben?« Und schon begann ihr Streit, der – wie so oft – den Tag über andauerte.

Die Niemandsländer ignorierten die Zwiegespräche der beiden. Genauso wie des Teufels Geschrei, wenn der sich selbst scherte. Dann bebte der Boden für Stunden so stark, dass die Bewohner noch lange nach dem teuflischen Wutausbruch vibrierten. Aber das kam nur alle paar Monate einmal vor. Der Teufel wetzte das Rasiermesser mit viel Eifer, dass sich das Metall erhitzte. Jedes Mal verbrannte er sich seine Haut beim Rasieren, und das schon seit mehreren Tausend Jahren. Feuerrot lief er dann durch das Niemandsland, jammerte jedem die Ohren voll, auch denen, die es nicht hören wollten, und jenen, denen er es schon hundertfach zuvor erzählt hatte.

Alle lachten über ihn. Der Teufel hatte eine Macke. Aber das war das kleinste Problem, hier im Niemandsland.

Denn Überhaupt Niemand und Niemand Sonst kämpften um den Thron. Sie stritten nicht laut wie die Laberköppe und beschwerten sich auch nicht über die eigene Dummheit wie der Teufel.

Über ihre hinterhältige und in aller Stille ausgefochtene Zwietracht vergaßen sie den, der wirklich wichtig war: Niemand!

1

Niemand nahm einen salzigen Geruch wahr: Verzweiflung. Dann entdeckte er das kleine Ding, das versteckt zwischen den hohen Grashalmen hockte. Niemand war sicher, dass es vorher noch nicht dort gesessen hatte, denn er war an diesem Morgen schon ein paar Mal hier vorbeigekommen. Er wollte allein sein. Und immer, wenn er allein sein wollte, ging er am Weg zu der Welt entlang, die kein Niemandsländer je gesehen hatte, von der jeder im Niemandsland jedoch alles besser zu wissen glaubte. Stundenlang wanderte er dann auf und ab, blickte wiederholt über die Grenze, die nicht durch einen Zaun kenntlich gemacht werden musste, und naschte von den wilden Früchten. Wer den Wall überschritt, war für immer verloren, hieß es. Niemand hatte es noch nicht ausprobiert, obwohl er nichts zu verlieren hatte – nicht einmal sich selbst. Manchmal stand er nur da, so lange, bis der Kopflose Reiter erwachte und ihn auf seinem Schimmel nach Hause brachte. Sobald die Sonne aufging, zogen sich die Statuen in ihre Starre zurück, nichts blieb als kalter, toter Stein – einen Tag lang. Sie schliefen, wenn die Niemandsländer wachten.

Zum ersten Mal hatte die Müdigkeit Niemand mitten am Tag übermannt, er hatte sich in das Gras gelegt und war sofort eingeschlafen. Niemand hatte geträumt. An den Traum erinnerte er sich später nicht mehr, er wusste nur, dass der Schwarze Mann nicht darin vorgekommen war. Schon lange hatte Niemand nicht mehr so tief und erholsam geschlafen. Als Niemand erwachte, war es noch immer hell, die Sonne hatte sich anscheinend kein Stück voran bewegt.

Und nun saß wenige Schritte vor Niemand dieses Ding, das sich während seines Schlafs angeschlichen haben musste. So klein war es nicht, eigentlich schien es nicht viel kleiner, als er selbst zu sein. Ob es aus den Wäldern gekommen war? Oder in den Katakomben unter dem Niemandsland lebte? Aber für einen Zwerg war es zu groß. Und nach einem behaarten Schweinehund, der sich nur selten überwand, aus seinem Loch zu kriechen, sah es auch nicht aus.

Glasperlen, die in der Sonne wie Diamanten funkelten, rollten über seine Wangen und verschwanden, sobald sie vom Kinn hinunterfielen. Es musste ein Zauberer sein. Aber für einen Zauberer schien es zu verwirrt – dieses kleine Ding. Vielleicht war es eine Elfe oder eines von diesen Dreikäsehochs, die auf der anderen Seite des Stillen Wassers lebten? Aber Niemand hatte sich die Dreikäsehochs anders vorgestellt. Größer, gelb und frech; nicht so eingeschüchtert. Es hielt die Arme um die Knie geschlungen und wiegte sich hin und her.

Niemand setzte sich neben das weinende Ding und beobachtete es. Rotz lief ihm aus der Nase, den es mit dem Ärmel seines Pullovers wegwischte. Ekelhaft!

Aber es hatte schöne blaue Augen – dieses Ding –, dunkelblau schimmerten sie, wie Veilchen bei Vollmond. Und doch sah Niemand darin, wie traurig es war. Er bekam Mitleid – und immer wenn er Mitleid bekam, musste auch er weinen. Er schluchzte leise. Das kleine, weinende Ding sah sich erschrocken um. Es weinte nicht mehr, nun stank es nach Angst. Niemand hasste diesen säuerlichen Geruch, der mit der Zeit aus jeder Pore kroch und den gesamten Körper überzog.

»Wer ist da?«

Die klare Stimme des Dings verschlug ihm für einen Moment den Atem, dann antwortete er hastig: »Niemand.«

Es sah in alle Richtungen, die Angst roch nun widerlich bitter. »Bitte tu mir nichts.«

»Was machst du hier? Ich habe so etwas wie dich noch nie gesehen.«

»Ich habe mich verlaufen«, flüsterte das Ding und sagte lauter: »Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.«

»Das ist normal. Ich bin Niemand.«

»Wie meinst du das, du bist niemand?«

Die Angst schrumpfte und nun roch es nach Neugier. Das war gut. Niemand mochte die würzige Neugier. »Ich bin Niemand, Herrscher des Niemandslandes.«

»Aber wie kann ein Niemand ein Herrscher sein?«

»Weil Niemand Sonst mein Vater ist und ich sein Sohn bin.«

Das Ding trocknete sich das Gesicht mit dem Ärmel ab, mit dem es sich zuvor den Rotz weggewischt hatte. Neugierig blickte es Niemand an. Also lauschte es nach seiner Stimme. Schlau! Doch dann fragte es: »Müsste nicht dein Vater der Herrscher sein?«

Niemand lächelte. Niedlich, ohne Zweifel, aber es hatte keine Ahnung.

»Nein, nur Söhne können Herrscher sein.«

»War dein Vater nicht auch mal ein Sohn?«

Niemand überlegte und glaubte die Antwort zu wissen: »Nein, ein Sohn war der nie. Aber das ist auch völlig egal. Sag mir lieber, wer du bist.«

»Ich bin Nina.«

»Nina.«

Das Wort prickelte geheimnisvoll auf der Zunge wie gestohlener Honig. Niemand sagte ein paar Mal schnell hintereinander: »Nina, Nina, Nina«, und dann leise und gedehnt. »Niiiinnnnnaaaaaa.« Er fand: »Das klingt schön.«

»Kannst du mich nach Hause bringen?«, fragte Nina.

»Von wo bist du denn gekommen?«

Nina drehte sich zur Seite und zeigte nach rechts: »Ich glaube von da hinten. Oder doch von da?« Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Ich weiß es nicht!«

»Aber du musst doch wissen, wo du wohnst.« Niemand hatte noch nie von Ninas im Niemandsland gehört. Und er ahnte, dass Niemand Sonst sehr böse auf ihn sein würde, sobald er von einem Wesen hörte, das er nicht kannte. Niemand Sonst machte Niemand für alles verantwortlich, was er nicht befohlen hatte oder ihm seltsam erschien.

Nina gab ihm keine Antwort, sie weinte und schluchzte dabei nun so laut, dass sich Niemand besorgt umsah. Die Patrouillen erstarrten tagsüber wieder zu Stein, doch es gab Boten, die seinem Vater von dem kleinen Ding berichten könnten. Er würde es als Verräter einsperren lassen, und Niemand gleich dazu.

»Ruhig. Pssst. Du musst leise sein, sonst kommt die Rote Armee.«

»Rote Armee?« Sie zitterte, aber sie weinte nicht mehr.

»Die schleppen dich zu meinem Vater ab.«

»Aber dein Vater weiß bestimmt, wie ich nach Hause komme.«

Nina blickte zur Seite, als ob dort ihre Heimat wäre. »Niemand«, sagte sie leise, »ich habe Angst.«

Niemand rückte ein Stück näher zu Nina. Er hatte noch nie eine Nina berührt, überhaupt noch nie etwas wie sie. Er ballte seine Hand zu einer Faust. Es kitzelte und kribbelte in seinem Bauch – ein neues Gefühl, fast so stark wie das Beben des Teufels, aber schöner. Viel, viel schöner. So schön, dass er sich aufgeregt auf seine Unterlippe biss. Auch Niemand hatte Lippen, solche wie Nina, die ihre fest aufeinanderpresste und mit weit aufgerissenen Augen ins Gras blickte.

Langsam entspannte er seine Finger, öffnete seine Faust und legte seine Hand auf Ninas. Ihre Haut fühlte sich warm und zart an. Sie war feucht von den Tränen, aber Niemand wollte sie niemals wieder loslassen. Nina war echt. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen und sah auf ihre Hand. Dann zur Seite und dabei Niemand an.

»Ich sehe dich nicht, aber ich spüre deine Finger.«

Niemand rückte nah zu Nina, ihre Schultern berührten sich.

So blieben sie eine Weile sitzen und betrachteten die Grashalme, die ein seichter Wind zum Tanzen brachte: Nina, die nicht mehr weinte, und Niemand, der zum ersten Mal in seinem Leben glaubte, eines Tages mehr als ein Niemand zu sein.

»Warum heißt du Niemand?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich den Namen meines Vaters annehmen musste?«

»Aber niemand heißt so.«

»Ja. Ich bin Niemand.«

»Nein. Kein Mensch heißt wie du.« Nina kicherte, was so lieblich klang, dass Niemand kurz die Augen schloss, dann drang ein von Nina beiläufig erwähntes Wort in sein Bewusstsein. »Mensch?«, wiederholte er. »Bist du ein Mensch? Bist du über die Grenze gekommen?«

Niemand erschrak und ließ Ninas Hand los. »Wie hast du das geschafft?«

2

»Ich weiß es nicht.« Hastig wischte Nina sich frische Tränen von den Wangen. »Ich habe mich verirrt, als ich mit meiner Schwester zur Oma gehen wollte. Die ist krank, sie stirbt bald, sagt meine Mutter. Suse und ich haben uns darüber gestritten, wer ihr einen schöneren Blumenstrauß gepflückt hat.« Nina beruhigte sich nur langsam. »Suse hat mich angeschrien und ist weggelaufen. Ich habe nach ihr gesucht, aber sie nicht finden können. Und die Blumen habe ich auch verloren.«

Sie hatte keine Angst vor Niemand, obwohl sie ihn nicht sah. Er hatte eine schöne Stimme und seine Hand hatte sich angenehm warm angefühlt. Ein Geist konnte er also nicht sein. Seit sie sechs war, versuchte Suse ihr weiszumachen, dass auf dem Dachboden eine Gespensterfamilie lebte. Als Kind hatte sie sich davor gefürchtet, doch sie war vierzehn, an so einen Quatsch glaubte sie nicht mehr.

»Hast du den Gesang nicht gehört?«

Nina schüttelte den Kopf. »Da waren zwei Stimmen, denen bin ich gefolgt. Aber dann waren sie mit einem Mal weg.«

»Wenn das mein Vater erfährt!«

Niemand musste aufgesprungen sein, direkt vor Nina trampelten unsichtbare Füße das Gras platt. Fasziniert beobachtete sie, wie sich mehr und mehr ein kreisrunder Abdruck bildete. Jeder Halm, der sich gegen den gewaltsamen Schlaf aufbäumte, wurde durch Niemands Gerenne niedergestampft.

»Du bist kein Geist, oder?«

Niemand seufzte. »Ich bin – Niemand.«

»Ich muss Suse wiederfinden. Meine Mutter wird sauer sein und mir vorwerfen, ich wäre weggerannt, dabei war es Suse. Wie komme ich nur nach Hause?«

»Nerv mich nicht! Ich muss nachdenken!« Für einige Atemzüge war es totenstill. Nina blickte mit aufgerissenen Augen in die Richtung, aus der Niemands Stimme so herrisch geklungen hatte.

Dann sagte er leise: »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien. Das macht mein Vater immer mit mir, und ich hasse ihn dafür. Aber ich bin nicht wie mein Vater, das musst du mir glauben!« Er ging auf sie zu. Nina erkannte seine Schritte im Gras. »Komm, ich bring dich erst einmal von hier weg, damit du vor Überhaupt Niemand sicher bist. Der ist in der Nähe.«

Nina sah sich erschrocken um. »Wer?«

»Überhaupt Niemand ist mein Onkel, er petzt und lügt, weil er meinen Thron haben will.«

Nina schüttelte den Kopf. »Ihr habt seltsame Namen.«

Niemand nahm Nina bei der Hand. »Namen?«

Gemeinsam eilten sie durch das hohe Gras, ohne zu bemerken, dass sie verfolgt wurden. Wer würde sich außer den Goldgelockten-Giganten-Greislingen anmaßen, dem Herrscher hinterherzuschleichen?

Goldgelockte-Giganten-Greislinge gehörten zu den gefährlichsten Geschöpfen der gesamten Gegend. Ihre Gier war gigantisch, die Gefräßigkeit gammamäßig groß, ihr Gebaren nach einem guten Gusto wurde gern mit Gleichgesinnten gestopft – was grundsätzlich gänzlich ganzjährig geschah. Goldgelockte-Giganten-Greislinge gab es – Gerüchte geben es gern gund … kund – in großzügiger Gesamtheit. Gleichwohl ein Greisling genügte, so grausam war die Gier nach golden glitzernden Gegenständen. Geraume Geologenzeit gelüstete den Goldgelockten-Giganten-Greislingen nach dem großen, glühenden Gestirn. Und gleich wer, der Gefallen an dem goldenen Gestirn kundgab, der ein glückliches Gemüt, gelbgoldene Haare – so wie Nina –, ein goldiges Grinsen oder gar ein glänzendes Gesicht hatte, wurde von den Goldgelockten-Giganten-Greislingen in Gefangenschaft genommen, zum G-Punkt gebracht und gefoltert. Güte gab es grundsätzlich gar nie! Die größte der gelbgoldenen Glut sollte ihnen gehören.

Sie galten als Gauner von gar grausigstem Gemüt, deren Gesellschaft unbedingt gemieden werden sollte. Wer ihnen gegenübertrat, Gründe galten nicht, sollte Gas geben, als sei Gevatter Tod geradewegs hinter ihm. Gleichwohl dieser gegenüber den Goldgelockten-Giganten-Greislingen gar nicht grausig genug war. Neben Gold galt das G als gigantisch grandios. Die Goldgelockten-Giganten-Greislinge giggelten gerne G-Wörter, wer das G vergaß, wurde getötet. Die Goldgelockten-Giganten-Greislinge gehörten zu den grausamsten, gefährlichsten, gefräßigsten, gierigsten, geizigsten, gruseligsten und gewissenlosesten Greislingen. Glücklicherweise gab es die Goldgelockten-Giganten-Greislinge im Niemandsland nicht mehr. Es sei denn, irgendwer hatte sie hereingelassen.

Die dreisten Verfolger gehörten zu einer unangenehmen Sorte Zwerge, bei der einem das Trommelfell zu platzen drohte, wenn sie die Klappe zu weit öffneten. Sie logen und betrogen, sie stahlen, waren hinterhältig und bösartig und legten ihre Opfer lahm, indem sie laut kreischten; zumindest wurde das erzählt. Die Kreischzwerge lebten zurückgezogen, und nur selten kamen sie an die Oberfläche, um frische Luft zu schnappen oder Käfer zu jagen und Blätter oder Früchte zu sammeln, von denen sie sich ernährten. Diese Zwerge hielten den Heiligen Geist gefangen, der ihnen den Tag lang Märchen erzählen musste. Aber da die Zwerge nur selten mit den Niemandsländern sprachen und ihre Legende für sich behielten, war eine Studie nicht möglich. Ob all das, was über sie berichtet wurde, der Wahrheit entsprach, wussten nur sie selbst und vermutlich nicht einmal das.

»Da sind sie wieder. Diese Stimmen«, flüsterte Nina.

»Viel zu leise. Ihr Gezeter hätte dich von hier fernhalten müssen.«

»Wollt ihr keine Besucher?«

»Was sollten die bringen?«

Nina zuckte mit den Achseln. »Blumen? Freude, Spaß, Kuchen? Geschenke?«

»Geschenke?« Niemand hatte noch nie ein Geschenk erhalten. »Da sind sie.«

Auf einer Lichtung, umgeben von belaubten Bäumen, stand ein altes Haus. Der Putz bröckelte von den einst weiß gekalkten Wänden ab, die nun schmutzig und verwaschen aussahen. Die Ecken waren mit Moos überwachsen. Schon vor vielen Jahren hatten sich die Äste einer Kastanie in das Dach gebohrt, die im Laufe der Zeit so dick und kräftig geworden waren, dass sie jeden Riss ausfüllten und ihr dichtes Blätterwerk im Sommer das kleine Haus zusätzlich vor Regen und Sonne schützte. Im Winter rutschten Schnee und Eis an den Ästen herunter und verwandelten das Innere des Hauses in einen Schneepalast.

Nina fühlte sich allein.

Sie spürte Niemands Hand in ihrer, dennoch fürchtete sie sich, als sie um das Haus zum Eingang gingen. Sie zitterte. Die Stimmen wurden lauter.

Dann fragte jemand: »Was ist das denn?«

Und ein anderer sagte: »Hübsches kleines Ding.«

»Hübsch? Hübsch? Schau dir diese Nase an und das hässliche Kraut auf ihrem Kopf; als habe sie sich einen Topf mit Spaghetti darüber geschüttet.«

»Ich finde sie niedlich! Es ist ein Mädchen, nicht wahr?«

»Natürlich ist es ein Mädchen. Dachtest du ein Wurzelmännchen?«

»Wie alt mag sie sein? Fünfunddreißig?«

»Mindestens hundert. Guck dir an, wie groß die ist. Und diese Hände! Riesig, hässlich, schrumpelig.«

»Aber wenn sie hundert ist, dann kann sie doch kein Mädchen mehr sein.«

»Ich bin fast fünfzehn«, sagte Nina, sie wollte nicht länger als eine Oma dastehen und entdeckte auch an ihren Händen nichts Ungewöhnliches. Sie sah sich um, doch außer den Ladenhaltern, die in der Wand des alten Hauses steckten und sich lässig gegen die verwitterten Fensterläden lehnten, entdeckte sie kein Wesen, das hätte sprechen können.

»Pssst! Stillgestanden!«, sagte nun der eine.

»Stillgestanden! Stillgestanden!«, kreischte der andere. »Wie soll ich stillstehen ohne Beine, du Idiot?«

»Psst. Riech doch: Pfefferminz. Der Herrscher ist bei ihr.«

Schlagartig kehrte Ruhe ein.

Nina löste sich von Niemand. Sie ging auf das Haus zu, beugte sich ein Stück nach vorn und betrachtete den linken Feststeller, der die grüne Fensterlade an die Hauswand drückte. Mit dem Zeigefinger klappte sie den Halter nach unten und wieder hoch. Die Scharniere quietschten. Es klang wie das Jammern eines Babys.

»Hab ich mir das eingebildet?«

Eine Antwort erhielt sie nicht. Nina stupste gegen die tintenblaue Mütze. »Du bist nichts weiter als ein Fensterladenfeststellerdingsbums. Und kannst gar nicht reden.« Doch sicher war sie sich da nicht, hier war alles seltsam. Sie sah zur Seite, in der Hoffnung, dass Niemand nicht weit von ihr entfernt stand, und fragte leise: »Oder? Niemand?«

Der linke Laberkopp wollte flüchten, aber ohne Beine war das unmöglich. Und zur Seite rutschen konnte er auch nicht. Er fühlte sich diesem schrecklichen Gör mit dem Spaghettihaar hilflos ausgeliefert. In seinem Kopf drehte sich alles.

Seit Jahrzehnten hatte es keiner gewagt, ihn nach unten zu klappen, seine Scharniere knirschten und es kitzelte überall am Körper, als hätte ihn das Mädchen mit Juckpulver eingeschmiert. Ihre riesengroßen Augen schwebten wie blaue Ballons vor ihm und schienen ihn zu hypnotisieren. Nun wurde ihm auch noch schlecht. Er holte tief Luft und spie dem blöden Mädchen ins Gesicht. »Das hast du jetzt davon.«

Nina zuckte zusammen, »Bah, das ist ekelig!«, und wischte sich den rostfarbenen Speichel mit dem Ärmel ab.

»Was ist passiert?«, fragte Niemand, der von der Attacke des Fensterladenfeststellers anscheinend nichts bemerkt hatte. Wo war er gewesen? Hatte er Ausschau nach der Roten Armee, Überhaupt Niemand oder sonstigen Spionen gehalten?

»Er hat mich angespuckt!«, sagte Nina und fügte hinzu: »Wieso reden sie?«

»Warum sollten sie nicht reden?« Niemand schien nicht überrascht, ermahnte jedoch den Spuck-Laberkopp: »Mach das nie wieder! Sie gehört zu mir und steht unter meinem Schutz. Mein Vater wird euch zu Statuenknösel verarbeiten lassen oder an den Teufel verkaufen, wenn er davon erfährt, dass ihr eure Arbeit nicht richtig gemacht habt.«

»Aber du hast das Mädchen hierher gebracht«, sagte der Laberkopp. »Also wird er dich an den Teufel verkaufen, nicht uns. Du bist eh viel mehr wert als wir.«

»Sei leise!«, rief der andere Laberkopp, der sich bisher zurückgehalten hatte und so vor Angst schlotterte, dass die Fensterlade gegen die Hauswand klapperte.

»Aber wieso? Das wäre doch eine gute Sache, dann könnte sich der Teufel rasieren lassen und veranstaltete nicht alle paar Monate dieses Spektakel.«

»Er meint es nicht so«, sagte der rechte Laberkopp kleinlaut. »Bitte schweigt gegenüber Niemand Sonst.«

»Wir verraten nichts«, sagte Nina. »Oder, Niemand?«

Als er nicht direkt antwortete, fürchtete sie, er sei weggegangen, darum rief sie: »Niemand?«

»Ich bin hier.« Er nahm ihre Hand, die sie dankbar drückte.

»Nein, wir verraten nichts. Aber dafür müsst ihr auf sie aufpassen. Es ist eine Nina.«

Der linke Laberkopp lachte spöttisch auf: »Nina? Was ist das denn für eine Gattung? Nutzlos wie Flohpisse.«

»Hörst du jetzt endlich auf!«, schrie sein Zwillingsbruder ihn an. »Das ist ein schöner Name.«

Niemand zuckte zusammen und flüsterte: »Name. Nina ist also ein Name«. Schnell ergänzte er: »Den Vorwitzigen nennen wir Pin, den schüchternen Nöckel. Wenn das nicht tolle Namen sind!«

Pin und Nöckel nickten stolz. Dann protestierten sie über den Verrat. »Wir haben uns die nicht gegeben. Glaubst du, ich wollte Pin heißen? Pin!« Er schlug sich mit der kleinen blauen Faust vor die Stirn. Und das dadurch verursachte Geräusch klang wie sein Name.

Ninas Neugierde wuchs. Warum trugen die beiden Ladenhalter einen Namen, aber der Herrscher des Landes nicht?

»Nina muss nach Hause zurück. Ich weiß nur noch nicht wie. Fräulein Klimper vielleicht.«

»Ach, die weiß das doch nicht«, meinte Pin. »Geh zum Admiral.«

»Wer ist Fräulein Klimper?«, fragte Nina.

In diesem Moment ertönte ein leises »Pling«, als zerplatze eine Seifenblase. Und vor Nina stand eine kleine Frau – nein, eine winzig kleine Frau. Sie reichte Nina nicht einmal bis zum Knie, trug ein altrosa Kleid mit goldenen Sternen und wedelte hektisch mit einem Zauberstab in der Luft herum.

»Wer hat mich gerufen?«, piepste sie.

»Fräulein Klimper!«, rief Niemand erfreut.

»Niemand also! Wie geht es dir? Ich habe dich ewig nicht gesehen!« Sie kicherte. »Eigentlich habe ich dich noch nie gesehen. Intrigiert dein Onkel wieder? Und dein Vater? Ist er ruhig? Ach, ich wünschte, ich könnte dir helfen. Aber meine eigenen Wünsche kann ich leider nicht erfüllen.« Fräulein Klimper stampfte mit ihren nackten Füßen auf. »Ungerecht ist das alles. Immer nur Wünsche nach Geld und Gier, dabei hättest du dir längst mal einen Wunsch verdient.«

»Ist das eine Fee?«, fragte Nina.

»Fräulein Klimper ist die Klimper-Wünsche-Fee, sie erfüllt dir einen Wunsch, wenn du deine Wimper wegpustest. Sie mag mich, weil sie meine Wimpern nicht sehen kann. Vom ewigen Wünsche-Erfüllen ist sie müde, kann nicht mehr schlafen und nicht mehr essen.«

In der Tat sah Fräulein Klimper nicht wie eine glitzernde Fee, sondern wie eine übermüdete, dürre Hexe aus.

»Manche reißen sich die Wimpern absichtlich aus, nur damit Fräulein Klimper ihre Wünsche erfüllen muss«, erklärte Niemand weiter.

»So ist es! Und wer hat sich hier eine Wimper ausgerissen?« Fräulein Klimper sah zu Nina hinauf. »Knie dich zu mir, damit ich sehen kann, wo deine Wimper ist.«

Nina beugte sich zu Fräulein Klimper hinunter, die hektisch mit ihrem Zauberstab herumfuchtelte und rief: »Nicht beugen, knien. Das hab ich doch gesagt. Und langsam, sonst verlierst du sie.« Sie verdrehte die Augen. »Ach, wären doch nicht alle immer so dumm.«

Vorsichtig kniete sich Nina auf den harten Lehmboden. Fräulein Klimper kletterte auf Ninas Oberschenkel und über ihren linken Arm hoch zu ihrer Schulter. Nina kicherte, als Fräulein Klimper ihr mit dünnen Fingern über das Gesicht fuhr. »Halt doch still! Na bitte, da ist sie ja.« Auf der Spitze des Zauberstabs balancierte sie Ninas Wimper. »Wünsch dir schnell etwas, es klimpert bei mir schon wieder, irgendwo hat jemand eine Wimper verloren. Ach, es ist ein Kreuz mit diesem Job.«

Nina überlegte krampfhaft. Geld brauchte sie nicht, gesund war sie und für Ruhm interessierte sie sich nicht. Sie schloss die Augen, spitzte die Lippen, und während sie ihre Wimper wegpustete, wünschte sie sich …

Helle Töne, von einem unsichtbaren Klavierspieler erzeugt, flogen so leise durch die Luft, dass sie es nur in dieser momentanen absoluten Stille vernahm – lieblich und klar. Dann riss die Melodie abrupt ab. Die Ruhe wirkte wie eine dicke Blase, die sich mit noch nicht ausgesprochenen Fragen füllte und zu bersten drohte.

»Nein, Kindchen, diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen. Das steht außerhalb meines Wirkungskreises«, sagte Fräulein Klimper und sah sehr traurig aus. »Ich muss weg, du hast einen Wunsch gut bei mir.«

»Pling« und Fräulein Klimper war verschwunden. Sofort ließen die Laberköppe ihre Fragen über Nina hinabregnen: »Was hast du dir gewünscht? Sag es uns! Was nur hast du dir gedacht? Ein Wunsch, der nicht erfüllbar ist? Das gibt es nicht! Wie kann das sein?« – »Nein, ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass Fräulein Klimper einen Wunsch nicht erfüllen konnte!« – »Selbst unsere Wünsche hat sie erfüllt. Weißt du noch, wie mir der Ast auf den Kopf gefallen und dabei ein Metallsplitter am Auge abgebrochen ist? Meine Wimpern, solche hat keiner hier im Niemandsland!« – »Und Fräulein Klimper kam tatsächlich.«

»Beim Fortpusten hast du einen roten Kopf bekommen, aber dann ist es dir gelungen. Und wir konnten unsere Arme bewegen«, ergänzte Nöckel. »Das war ein toller Wunsch. Hab ich dir das schon mal gesagt?«

Sie demonstrierten ihre Beweglichkeit, indem sie mit den Händen in der Luft herumwedelten und klatschten.

»Aber einen Wunsch nicht erfüllt?«, fragte Pin.

»Davon habe ich auch noch nie gehört«, sagte Niemand.

»Nein, das war noch nie da!«, bestätigte Nöckel. Zum ersten Mal waren sich die beiden Brüder einig. Sie sahen einander an. Eine Veränderung schlängelte sich durch die Luft – unsichtbar, aber deutlich zu spüren. Und als sich die Laberkopp-Brüder nun unterhielten, sprachen sie sanfter miteinander, hörten sich gegenseitig zu und laberten nicht mehr aneinander vorbei.

»Wo ist der Admiral heute?«, wollte Niemand wissen, der die Veränderung anscheinend nicht bemerkt hatte.

»Ich glaube«, so Pin, »er ist heute Morgen bei Sonnenaufgang Richtung Marktplatz. Bestimmt wollte er zum Fluss. Was meinst du, Bruder?«

»Ja, das denke ich auch.«

Sie lächelten und winkten sich zu.

»Gut. Komm, Nina. Wir gehen zum Fluss.«

»Aber Niemand. Es ist noch hell. Der Admiral kann noch nicht mit dir reden.«

3

Verdammt! Daran hatte Niemand nicht gedacht.

»Dann bleiben wir hier, verstecken uns im Haus und gehen bei Dunkelheit.«

»Dein Vater wird dich suchen, Niemand«, warnte Nöckel.

»Außerdem solltest du dich in der Nacht nicht draußen herumtreiben. Das ist zu gefährlich«, mahnte auch Pin.

»Mein Vater sucht mich nicht, er lässt mich von der Roten Armee holen. Aber er darf Nina nicht finden. Wenn er von ihr erfährt, wird er wütend sein. Auch auf euch. Noch weiß er nicht, dass ihr die Grenzen nicht mehr verteidigt.«

Nöckel blickte beschämt zu Boden.

Niemand Sonst hatte überall im Land seine Spione, die ihm Bericht über alles erstatteten, was er zu wissen wünschte. Er hatte aber anscheinend nie verlangt, die Grenzpatrouillen zu kontrollieren, vermutlich konnte sich Niemand Sonst nicht vorstellen, dass sich die Niemandsländer gegen seinen Befehl stellten. Dafür ließ er Niemand beschatten, denn er hasste es, dass sein Sohn gegen ihn rebellierte. Doch Niemand wusste sich geschickt zu verstecken und einige der Untertanen seines Vaters sahen weg, wenn sich Niemand davonschlich oder an der Grenze aufhielt, zu der Niemand Sonst ihm verboten hatte zu gehen. Aber von Nina würden sie berichten, denn eine Nina gab es noch nicht im Niemandsland. Und Niemand ahnte, nein – er wusste, dass er für Nina mehr als einige Tage im Turm riskierte.

Niemand hasste seinen Vater! Und doch glaubte Niemand, dass er ihn auch liebte.

»Psst!«, flüsterte einer der Laberköppe. »Ich hab was gehört.«

Sie hielten den Atem an.

Nina presste eine Hand vor den Mund und drückte sich gegen Niemand, was aussah, als lehnte sie sich gegen eine unsichtbare Wand. Beschützend legte er seinen Arm um Ninas Schulter und roch an ihren blonden, schulterlangen Haaren, die nicht wie Spaghetti, sondern wie dicke Goldfäden aussahen. Sie dufteten nach Zitrone.

Ein Rumpeln. Ein Knall. Dann ein ohrenbetäubender Lärm, dem Trompeten einer wütenden Elefantenherde gleich, und ein Donnern, als rannten die Dickhäuter die Steppe entlang, direkt auf Nina und Niemand zu.

»Was ist das?«, schrie Nina über das Getöse hinweg, hielt sich die Ohren zu und legte ihr Gesicht an Niemands Hals. »Aufhören! SOFORT aufhören!«, brüllten Pin und Nöckel gemeinsam. Mit einem Schlag schienen jegliche Geräusche aus der Welt verbannt worden zu sein. Alles, was sich bewegen konnte, erstarrte.

»Hey, das sind Kreischzwerge. Die habe ich noch nie gesehen!«, sagte Niemand und erweckte die Umgebung wieder zum Leben. Vorsichtig drückte er Nina von sich und kniete sich auf den Boden.

»Wir dich auch nicht.«

»Wir dich auch nicht.«

»Wir dich auch nicht.«

Ein Kichern folgte, so leise, als sei es von einer Fee, nicht jedoch von den Kreischzwergen, die nicht mehr kreischten, für ihre Größe aber viel zu laut sprachen. Sie standen eng nebeneinander: drei siamesisch-verdrillingte Kreischzwerge – kleiner als Fräulein Klimper, dafür aber fast genauso breit wie hoch. Ihre braungrauen Haare reichten ihnen bis zu den Füßen und wuchsen nicht allein auf dem Kopf; aus Ohren und Nasen rankten sich verdrillte Strähnen, die mit den Haaren der anderen Zwerge verknotet und verflochten waren, sodass die drei nur zusammen aneinandergedrängt gehen, schlafen oder was auch immer machen konnten. Die dicht gewachsenen Augenbrauen hingen ihnen in dünnen Zöpfen ins Gesicht. Eindeutig und leibhaftig standen sie vor Niemand: siamesisch-verdrillingte Kreischzwerge, die sich wie ein Grashalm dem anderen glichen.

»Geht nicht so nah ran. Die sind gefährlich!«, mahnte Pin und hielt sich die Augen zu.

»Ich bin Schiz, mein Bruder neben mir ist Zof und links außen das ist Freny.«

Die Mahnung des einen Laberkopps ignorierend, kniete sich Nina auf den Boden – und aus Versehen auf Niemands Hand.

»Autsch!«, jaulte er. »Das waren meine Finger.«

Nina blickte erschrocken ins Leere, dort wo sie Niemand vermutete. »Das wollte ich nicht. Entschuldigung.«

»Ist ja nicht deine Schuld, dass ich Niemand bin.«

»Ich finde das falsch«, schimpfte Nina. »Hier gibt es Zwerge und Feen. Und die Ladenhalter können nicht nur sprechen, sondern spucken. Aber du, du als Herrscher bist unsichtbar.« Sie senkte ihre Stimme: »Das ist nicht richtig!«

»Sie hat recht!«

»Sie hat recht!«

»Sie hat recht!«, echoten die Kreischzwerge.

»Ja, das stimmt. Wir möchten wissen, wie du aussiehst. Wer hat dich dazu verdammt, ein Niemand zu sein?«, fragten die Laberköppe einvernehmlich. Die Neugier siegte über die Angst vor den Kreischzwergen.

Niemand dachte kurz darüber nach und glaubte, eine Antwort gefunden zu haben: »Als unsichtbarer Herrscher kannst du dein Volk belauschen und dich anschleichen, ohne dass du erkannt wirst, du musst nur lernen, deinen Geruch zu überdecken.«

»Machst du das denn?«, fragte der linke Laberkopp.

»Nein.«

»Und dein Vater?«, wollte Nina wissen.

»Der braucht das nicht, der hat seine Leute. Aber mein Onkel macht das. Überhaupt Niemand hat nichts zu entscheiden und darum belauscht er jeden und gibt Meldung, in der Hoffnung, eines Tages den Thron zu bekommen.«

»Ist er jetzt hier?«, flüsterte Nina.

Niemand schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Aber woher weißt du das?«, wollte nun wieder einer der Laberköppe wissen. »Wir sehen ihn ja nicht, und wenn er seinen Geruch überdeckt, kannst du ihn auch nicht wittern.«

»Überhaupt Niemand ist nicht gut genug darin. Ich rieche ihn.«

Die Kreischzwerge kicherten.

»Ja, der stinkt!«

»Ja, der stinkt!«

»Ja, der stinkt!«

»Nach Verrat und Blödmann!«

»Nach Verrat und Blödmann!«

»Nach Verrat und Blödmann!«

Jetzt musste sogar Niemand lachen. Die Laberköppe sahen sich erstaunt an. Niemand lachte nur selten.

Auch Nina kicherte. »Wie riecht denn so ein Blödmann?«

»Nach …« Die Kreischzwerge sahen sich um, drehten sich einmal um die gemeinsame Achse, alle drei Köpfe ruckten simultan nach rechts, dann nach links. Anschließend hielten sie sich die Augen mit ihren fleischigen Händen zu. Kreischzwerge glaubten, dass sie nicht erkannt wurden, wenn sie selbst nichts sahen. So leise, dass Nina und Niemand den Atem anhalten und den Kopf zur Seite neigen mussten, sodass sie sich dicht mit ihren Ohren vor den drei synchron sprechenden Mündern befanden, flüsterten die Zwerge: »Nach verfaulter Apfelkitsche und schimmeligem Butterkäse.«

»Was haben sie gesagt?« Pin und Nöckel klapperten vor Neugier gegen ihre Fensterläden.

Nina stand auf und ging zuerst zu Pin. »Spuckst du mich auch nicht mehr an?«

»Nein, ich schwöre, ich spucke nicht. Nie wieder!« Er kreuzte seine Finger, zwinkerte Nina zu und grinste. Nina beugte sich zu ihm herunter und wiederholte: »Nach verfaulter Apfelkitsche und schimmeligem Butterkäse.« Anschließend ging sie zu Nöckel und teilte auch ihm mit, wonach Überhaupt Niemand stank.

»Das!«, platzte es gleichzeitig aus ihnen heraus. »Das riechen wir hier oft. Gestern noch stank es so fürchterlich nach schimmeligem Butterkäse und verfaulter Apfelkitsche, dass uns ganz schlecht geworden ist.«

»Dann war Überhaupt Niemand da!«

»Dann war Überhaupt Niemand da!«

»Dann war Überhaupt Niemand da!«, mischten sich die Kreischzwerge wieder ein.

»Ob er uns belauscht?«

»Was sonst?«

»Was sonst?«

»Was sonst?«

»Bei den Bärten der Propheten! Dann wird er Meldung gemacht haben!«, stotterte Nöckel vor Angst.

Doch Niemand wusste: »Nein, ihr seid kein Druckmittel, wenn er mit meinem Vater streitet.«

»Um deinen Thron?«

»Ja.«

»Aber gehört der Thron nicht dem Herrscher?« Nina stand dicht neben Niemand, als könne sie ihn so, trotz seiner Unsichtbarkeit, besser erkennen.

»Ja. Natürlich«, antwortete Niemand, der sich dabei ertappte, Ninas Gesicht zu betrachten. »Es ist mein Thron. Der Sohn bekommt den Thron und ist der Herrscher des Landes.«

»Aber zu sagen hast du nichts?«, fragte Nina.

»Nein. Deshalb bin ich Niemand.«

»Und wer sagt das?«

»Alle. Mein Vater. Jeder im Niemandsland.«

»Und was ist das Besondere an dem Thron? Wie sieht er aus? Erzähl doch mal! Wir kommen hier doch nie weg«, drängelten nun die Laberköppe.

»Ja, bitte, bitte!«

»Ja, bitte, bitte!«

»Ja, bitte, bitte!«

»Na ja«, begann Niemand. »Der Thron ist mit Diamanten und Edelsteinen besetzt, die das Sonnenlicht bündeln. Er steht auf dem höchsten Berg des Niemandslandes, direkt hinter der Niemandsburg.«

Niemand machte eine kurze Pause. Doch Pin drängte: »Los, weiter!«

»Ich war schon lange nicht mehr da, ich erinnere mich kaum daran.«

»Aber was ist das Besondere an dem Thron?«, wollte Nina wissen.

»Er verwahrt die Toten.«

»Oh« und »Ah«. Die Laberköppe lauschten gespannt und selbst die Kreischzwerge hörten zu, als hätten sie noch nie von der Sage über den Thron des Niemandslandes gehört.

»Jeder Stein auf dem Thron steht für einen im Land Verstorbenen. Ihre Seele, ihr Wissen, ihre Macht sind in dem Edelstein gefangen.«

»Und wenn kein Platz mehr auf dem Thron ist?«, fragte Pin vorwitzig.

»Dann stirbt auch keiner mehr«, antwortete sein Bruder.

»Echt?«

»Weiß ich nicht! Sei ruhig, lass Niemand weiterreden.«

»Du musst dir den Thron und seine Macht verdienen. Ansonsten stirbst du und wirst ein Edelstein.«

»Versteh ich nicht – du, Bruder?« Nöckel schüttelte den Kopf. »Wie verdienen wir uns den Thron?«

»Wie verdienen wir uns den Thron?«

»Wie verdienen wir uns den Thron?«

»Wie verdienen wir uns den Thron?«

Niemand musterte die Kreischzwerge.

»Das weiß ich nicht. Der Thron bestimmt den wahren Herrscher des Niemandslandes, der sich dessen Macht und Magie verdienen muss. Solange es keinen Herrscher des Niemandslandes gibt, wird der Thron an den Jüngsten vererbt, da dieser unwürdig, unauffällig und unwichtig ist und somit nichts zu sagen hat, sagt mein Vater. Und das bin ich: Niemand.«

»Kann er dir nichts anhaben?«, fragte Nina.

»Ich habe kein Interesse an der Macht des Throns und der Herrschaft über das Niemandsland.«

»Und wieso nicht?«, fragte Nina weiter.

»Ja, wieso nicht?«

»Ja, wieso nicht?«

»Ja, wieso nicht?«

»Ihr macht mich wahnsinnig mit eurem Echo. Könnt ihr nicht jeder für sich reden?«, schimpfte Nina mit den Kreischzwergen.

»Doch, aber …«

»… wir nennen es …«

»… Imagepflege.«

Die Laberköppe verdrehten die Augen. »Was wolltet ihr eigentlich von Nina und Niemand?«

Die Kreischzwerge schwiegen, als dächten sie über eine Ausrede nach.

Dann sagten sie: »Ihr Haar!«

»Ihr Haar!«

»Ihr Haar!«

»Nur eine Strähne!«

»Nur eine Strähne!«

»Nur eine Strähne!«, ergänzten sie rasch.

»Ihr lügt!«, warf ihnen Pin vor.

»Nein. Das hat euch die Amme erzählt«, sagte Schiz.

»Nur legen wir unsere Opfer mit Geräuschen lahm«, meinte Zof.

»Das ist wahr. Sonst ist alles Lüge was über uns gesagt wird«, schloss Freny und hauchte: »Und das auch.«

»Dann haltet ihr also auch den Heiligen Geist gefangen?«, wollte Niemand wissen und freute sich, dass sich Nina an ihn drängte, obwohl sie ihn nicht sah.

Die siamesisch-verdrillingten Kreischzwerge wechselten Blicke untereinander. Es dauerte eine Weile, bis sich alle drei einmal angesehen hatten.

Dann begann der Lärm! Dreimal lauter als zuvor. Vielleicht noch lauter. Die Laberköppe rissen die Hände hoch und hielten sich die Ohren zu. Auch Nina und Niemand versuchten sich von dem Krach abzuschirmen. Der Lärm zwang sie in die Knie. Sie pressten die Unterarme seitlich gegen den Kopf.

Das Getöse ließ ihre Zähne aufeinanderschlagen, die Knochen vibrieren und den Magen beben. Das Kreischen war so durchdringend, dass es in anderen Welten Erdbeben und Tsunamis auslöste. Die Kreischzwerge hüpften auf Nina zu. Doch sie sah die Gefahr nicht, sie hatte die Augen fest zugekniffen. Niemand konnte ihr nicht helfen, das Gekreische lähmte ihn. Des Teufels Geschrei war ein Babypups dagegen.

Stopp! Stille.

»Klar!«

»Klar!«

»Klar!«, echoten die Kreischzwerge ein letztes Mal und verschwanden im Gras.

Vor Erschöpfung und nachklingendem Schmerz, der in ihren Ohren brannte, verursacht durch das Kreischzwergenkreischen, hatte Nina Tränen in den Augen. Sie griff sich ins Haar und atmete erleichtert auf. »Es ist noch dran.«

Die Laberköppe sahen sich an.

»Was ist?«, fragte Nina.

Niemand fuhr mit der flachen Hand über Ninas Kopf. »Sie haben dir eine Strähne abgeschnitten! Sieht toll aus.«

»Richtig schick!«, stimmten Nöckel und Pin zu. »Total modern.«

Nina schluckte, betastete noch einmal ihre Haare und fand die Stelle, an der ihr eine Strähne fehlte. Links über der Stirn trug sie nun Haarstoppel. Neue Tränen schimmerten in ihren Augen und Niemand hätte sie jetzt am liebsten in den Arm genommen, aber vor den Laberköppen traute er sich nicht. Nina presste die Lippen aufeinander, die Tränen verschwanden und sie sagte leise: »Dann haben die Kreischzwerge wenigstens in diesem Fall nicht gelogen!« Sie lächelte. »Zeigst du mir deinen Thron?«

»Wolltest du nicht nach Hause?«, fragte Niemand und wunderte sich selbst über den traurigen Klang seiner Stimme.

»Schon, aber vorher kannst du mir doch den Thron zeigen!«

»Der Weg ist weit!«

Niemand freute sich. Er freute sich so sehr darauf, mit Nina durchs Niemandsland zu wandern und ihr alles zu zeigen, dass er ein Klopfen in seiner Brust spürte. Er presste beide Hände dagegen. Das musste ein Herzschlag sein. Nie zuvor hatte er sein Herz gespürt.

Der Thron stand hinter der Burg auf dem höchsten Berg des Niemandslandes. Es war ein weiter und gefährlicher Weg, aber Niemand würde Nina beschützen. Und er hoffte, dass Nina ihm alles über ihr Land erzählte. Niemand musste wissen, wie es sich dort lebte und ob es sich lohne, über die Grenze zu gehen – für immer.

Sie verabschiedeten sich von Pin und Nöckel, deren Rufen und Lachen sie noch eine Zeit lang begleiteten.

Nina ging dicht neben ihm, ihre Hände berührten sich bei jedem Schritt, immer wieder sah er sie an, ohne dass sie es merkte, und in seinem Bauch blubberte es wie in einem kleinen Vulkan.

Nina! Ein Mensch. Ein Mädchen, hatten die Laberköppe gewusst.

Mädchen gab es nicht im Niemandsland. Und nun war Nina hier. Er wusste, dass sie zurückkehren musste.

Aber zuerst wollte sie seinen Thron sehen. Und einer Nina widersprach Niemand nicht.

4

Nina weinte nicht oft, aber nachdem Suse abgehauen war, hatte sie hinter jedem Baum und unter jedem Strauch ein Raubtier oder einen Verbrecher vermutet. Suse war sicherlich längst zu Hause und würde behaupten, Nina sei weggelaufen. Sie schob ihr für alles die Schuld in die Schuhe, auch dann, wenn Suse selbst Mist gebaut hatte. Sie war drei Jahre älter als Nina und ein Biest. Ständig zettelte sie Streit an und verpetzte Nina bei ihren Eltern, wenn sie mal ein Stück Schokolade genommen hatte, ohne vorher zu fragen.

Und obwohl Suse es war, die wegen des Blumenstraußes herumgeschrien hatte und fortgerannt war, würden ihre Eltern ihr Vorwürfe machen. Ihr, Nina. Aber jetzt war sie hier, hier bei Niemand. Ihre Eltern waren weit weg und suchten sie vielleicht nicht einmal.

Als Niemand die Grenzen erwähnt hatte, war ihr eingefallen, dass sie Glück und gleichzeitig Furcht verspürt hatte, kurz bevor sie den Wald verlassen und die hochgewachsene Wiese betreten hatte. Es hatte sich zuerst wie ein Sonnenstrahl angefühlt, der ihren Körper erwärmte, aber die Sonne war nicht durch das dichte Blätterwerk des Waldes gedrungen. Nina hatte sich umgesehen, dann hatte sie leise Stimmen gehört und mit diesen war die Angst gekommen. Verwirrt war sie weitergerannt, bis sie erschöpft auf der Wiese zusammengebrochen war, wo Niemand sie gefunden hatte.

Niemand.

Wie können Eltern ihr Kind so nennen? Von seiner Mutter hatte Niemand noch nicht geredet. Er sprach nur von Niemand Sonst und Überhaupt Niemand. Nina schüttelte den Kopf. Was bedeuteten diese Namen? Sie selbst hatte einmal nachgeschlagen, ob der Name Nina von einer weisen Göttin abstammte, und gelesen, dass es die Abkürzung eines anderen und dieser wiederum die Ableitung eines weiteren Namens war. Beide hatte sie wieder vergessen. Nichts Besonderes.

Doch Niemand – das war kein Name, das war eine Bezeichnung für Jemanden, der gar nicht existierte. Aber Niemand gab es!

Sie sah ihn nicht, aber sie spürte seine Anwesenheit, es fühlte sich gut an, bei ihm zu sein.

Schon eine Weile säumten Blumenbeete den schmalen Pfad. Einige der farbigen und übergroßen Blüten sahen aus wie Schmetterlinge, andere wie dicke, flauschige Bälle oder lachende Gesichter.

»Was sind das für Blumen?«

»Phantastinaken, die blühen auf dieser Seite des Landes besonders gut.«

Kurz darauf schwebte eine rosenähnliche, lila-gelb-rot-weiß-gestreifte Blume vor Ninas Gesicht. Sie griff danach und steckte sie sich hinters Ohr.

»Danke!«, flüsterte sie.

Niemand schwieg.

»Wie weit ist es bis zu deinem Thron?«

»Möchtest du eine Pause machen? Oder doch zurückgehen?«

Nina schüttelte den Kopf. Nein, sie war viel zu aufgeregt. Nach Hause wollte sie nicht, dort bekäme sie geschimpft und Stubenarrest. Aber hier fühlte sie sich nicht wie Nina, sondern wie Alice im Wunderland. Nur, dass hier das Niemandsland war. Ein Land, das von einem Sohn beherrscht wurde, dessen Vater und Onkel anscheinend ziemliche Blödmänner waren, von denen einer nach verfaulter Apfelkitsche und schimmeligem Butterkäse stank. Sie kicherte.

»Was ist?«, fragte Niemand.

»Ich musste nur an die Kreischzwerge denken.«

»Deine Haare sehen wirklich nicht schlimm aus. Mach dir keine Sorgen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Mach ich nicht!«