Ninja Academy 2. Das TESUTO - Kai Lüftner - E-Book

Ninja Academy 2. Das TESUTO E-Book

Kai Lüftner

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Beschreibung

Ninja-Kids zeigen echte Größe!​ Action, Abenteuer, Challenges, Freundschaft: der Stoff, aus dem Bestseller sind​ Die actionreiche Fortsetzung der fulminant gestarteten Reihe "Ninja Academy" ​ Vom erfolgreichen Kinderbuchautor Kai Lüftner

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Über dieses Buch

BECOME A NINJA!

 

Sam hat es geschafft. Gemeinsam mit seinen Freunden Svea, Bent, Li Ho und Momo wird er zum TESUTO, dem sagenumwobenen Aufnahmetest, zugelassen. Dass sich hier entscheidet, wer das Zeug zum Ninja Warrior hat, war Sam bewusst – wie hart und unerbittlich dieser Test in Wirklichkeit ist, nicht.

 

Auf der Insel Bornholm, dem dänischen Academy-Standort, stellt Sam sich der bisher größten Herausforderung seines Lebens. Denn irgendwer will unbedingt verhindern, dass er und die anderen es schaffen. Haben die Goemonen, Widerstandsgruppe und erklärte Gegner von shinobi international, etwas damit zu tun?

 

Nichts ist, wie es scheint. Und dennoch gibt es einen Plan.

Das Flattern der zahllosen Fahnen und Wimpel übertönte sogar das Tosen der Wellen, die unerbittlich gegen die Felsen krachten. Ein Fahnenmeer im Meer.

Von überall knatterte der Stoff der Beflaggung ohrenbetäubend im Westwind, der an diesem Septembermorgen besonders heftig über Bornholms Nordküste tobte. Der Wind hatte alle Wolken vertrieben und ermöglichte einen nahezu klaren Blick auf die am Horizont erkennbare Küste Schwedens.

Sam konnte durch die ihn umgebende Geräuschkulisse unmöglich verstehen, was der Stadionsprecher gerade durch die Anlage brüllte. Er vernahm nur einen Geräuschebrei aus Krach. Das passte zu seinem Gefühl im Kopf: Chaos.

Die Zinnen der Burgruine Hammershus waren in alle erdenklichen Farben und Symbole getaucht. Neben den Flaggen von Russland, Japan, Südafrika, Kanada und Dänemark gab es Wappen und Motive uralter Ninja- oder Samurai-Dynastien – vor allem aber das shinobi-Logo, in allen Varianten und Abwandlungen. Zudem waren die Burgmauern quasi tapeziert mit den Firmennamen internationaler Werbepartner, und am größten noch vorhandenen Turmfragment prangte in riesigen Buchstaben der Schriftzug einer weltbekannten Limonade, die größtenteils aus Zucker bestand und auf Sams Zähnen stets ein unangenehmes Gefühl hinterließ.

Das TESUTO hatte begonnen.

Der große Aufnahmetest für die 16 Bornholmer Academy-Anwärter, der alles entscheiden würde. Alles. Zumindest in ihrer Welt.

Nicht erst seit sie von ihrer Mission aus Berlin zurückgekehrt waren, besonders aber seitdem hatte Sam diesen Moment herbeigesehnt. Das war es, worum es ging. Immer gegangen war. Nun stand er hier oben auf dem dem Meer zugewandten Burgfried, sah nach unten Richtung Hammerhavn – den Hafen von Hammershus – und fragte sich einmal mehr, was er hier eigentlich tat.

Er war kein Ninja Warrior. Er würde nie einer werden, verdammt. Er war das unsportlichste Kind von allen gewesen, immer schon. Was war eigentlich los mit ihm? Warum nur hegte er den tiefen Wunsch, ein Ninja Warrior werden zu müssen? Worum ging es hier? Es gab nicht den Hauch einer Chance, dass er diesen praktischen Prüfungsteil bestand. Es waren schon viel geeignetere Anwärter vor ihm gescheitert. Und Tausende würden nach ihm folgen.

Die Seilbahn nannte man „Tordenskralt“, was auf Dänisch Donnerschlag hieß, weil es einem vorkam, als würde man von Blitz und Donner getroffen, während man circa zwei Minuten in beinahe freiem Fall nach unten raste – ungesichert!

Tordenskralt war ein Monstrum aus geschweißtem Metall, peitschenden Seilwinden, im Boden verankerten Trägern, dem beinahe armdicken Stahlseil selbst und einem harmlosen Holzgriff – durchtränkt vom Angstschweiß Hunderter anderer Anwärter, die mehr oder weniger unversehrt unten angekommen waren. Er wusste von mindestens zehn Verletzten, die in ihrer Panik, oder weil ihnen schlicht die Griffkraft fehlte, losgelassen hatten und gefallen waren.

Vor zwei Jahren, dem letzten TESUTO vor der Pandemie, war laut Gerüchteküche ein Junge aus Polen sogar tödlich verunglückt. Er war direkt nach dem Start abgestürzt. Auch wenn die Berichterstattung darüber von shinobi weitestgehend zensiert oder oft ganz verhindert worden war, hielt sich die Story wacker im Internet.

 

Sam sah nach unten. Es war so atemberaubend tief! Links von ihm das tobende Meer, direkt unter ihm nur Felsen, Mauerfragmente und nichts als ein gähnender Abgrund. Vereinzelt lagen Stroh- und Heuballen unterhalb des Seils, die ihm aber nicht wirklich das Gefühl von Sicherheit vermittelten, sondern eher vor Augen führten, wie unfassbar weit entfernt der Boden war. Zwischen seinem Startplatz und dem Untergrund lagen teilweise locker fünfzig Meter. Der Hafen schien unerreichbar weit weg – unmöglich für einen wie ihn, da heil anzukommen.

Sam schluckte. Und diese Seilbahn war nur der Anfang vom praktischen Test!

Den theoretischen Teil der Prüfung hatte er mit Leichtigkeit absolviert. Es mussten etwa tausend lächerliche Fragen rund um shinobi, die einzelnen Academys, Allgemeines zum Thema Körper, Gesundheit, Fitness und Kampfsport sowie zur Geschichte der Ninja Warrior beantwortet werden. Multiple Choice. Pah, letztlich ein großer, streckenweise fast langweiliger Wissenstest. Ein Kinderspiel. Denkaufgaben hatten ihn noch nie besonders gefordert. Auch wenn er die Ergebnisse erst später erfahren würde, war er keine Sekunde nervös, ob er es geschafft hatte.

Hier und jetzt sah das ganz anders aus. Der praktische Teil des TESUTO stand an.

Alles andere war nur ein lächerliches Vorspiel gewesen, Geplänkel. Er zitterte und versuchte, nicht nach unten zu schauen. Das hatte denselben Effekt, wie nicht an einen rosa Elefanten zu denken, wenn jemand das von einem verlangte.

Im Hafen war eine bunte Traube aus Hunderten Menschen zu erkennen, klein wie Käfer, die links und rechts der Seilbahn Spalier standen und die Prüflinge johlend und klatschend in Empfang nahmen. Auch sein Großvater Kurt Berger war hier irgendwo, wenn auch nicht in den ersten Reihen und mit Sicherheit nicht johlend und klatschend.

Bent, Startnummer 9, Li Ho, Startnummer 4, und Svea, Startnummer 1, waren bereits dran gewesen und wohlbehalten unten gelandet. Svea war, als Erste sogar, einhändig heruntergerast, lauthals brüllend. Für sie war das alles nur ein großer Spaß gewesen, keine echte Challenge.

Nun würde Sam mit der Startnummer 12 beweisen müssen, ob er das Zeug zum Ninja Warrior hatte.

Hinter ihm standen zwei Jungs, etwas älter als er selbst, blass und angespannt. Am Ende der Schlange konnte er Momo sehen, der allerdings nicht anzumerken war, ob sie Stress hatte. Sie lächelte ernst ins Nichts, dann ihm zu, die Ruhe selbst. Sie passte mindestens so schlecht in diese Situation wie er selber.

Ein recht tough wirkendes Mädchen und ein drahtiger Junge, beide etwa 14 oder 15 Jahre alt, mit den Startnummern 10 und 11 direkt vor Sam, hatten sich nicht getraut. Sie hatten die ihnen zustehenden drei Minuten Bedenkzeit verstreichen lassen und schließlich mit gesenkten Köpfen und Tränen in den Augen den Startplatz verlassen. Somit war für sie das praktische TESUTO beendet, bevor es richtig begonnen hatte.

Nun waren von den 16 Anwärtern noch 14 übrig, obwohl der eigentliche Test noch nicht mal begonnen hatte – denn die Seilbahn brachte sie nur in den Hafen, wo das offizielle TESUTO startete. Würden es gleich nur noch 13 Kandidaten sein? Der digitale Counter zählte erbarmungslos runter: noch eine Minute und 52 Sekunden … noch eine Minute und 51 Sekunden … noch eine Minute und 50 Sekunden …

Startnummer 12 zögerte.

Sam versuchte, seinen Kopf frei zu machen. Frei von allem, was ihn abhalten könnte, zum Zögern oder Zweifeln brachte. Er versuchte, an etwas Schönes zu denken. An seine Mutter zum Beispiel – aber mehr als ihr verschwommenes Gesicht brachte er nicht zustande.

Er musste sich letztlich einfach nur entscheiden, die beiden Haltegriffe zu packen und abzuspringen. Mehr war es doch eigentlich nicht. Aber Sams Hände fühlten sich viel zu schwitzig an. Er ballte sie zu Fäusten. Gab es nicht irgendeine sinnvolle Atemtechnik, die ihm dabei helfen würde, ein wenig innere Ruhe zu finden? Er verschluckte sich und hätte beinahe laut losgehustet.

Da hörte er ein genervtes Seufzen hinter sich. „Machst du?“, rief der Junge hinter ihm auf Englisch gegen den Wind, die Wellen und das Knattern der Fahnen an. Er war hochgewachsen und kräftig, hatte rote Haare und Sommersprossen. Wenn Sam sich richtig erinnerte, war sein Name Kolja.

Bei der offiziellen Vorstellung waren Name, Alter und Nationalität aller Academy-Anwärter verlesen worden.

 

 

Sam erinnerte sich an Kolja, weil er ebenfalls aus Deutschland kam, aus Bayern, wie er im Nachhinein erfuhr. Rein körperlich würde Kolja diese Prüfung wohl nicht besonders fordern. Er wirkte kräftig und durchtrainiert. Sein Blick war entschlossen, wenngleich die Lippen vor Anspannung ein bisschen bebten.

Sam nickte Kolja zu und warf einen weiteren Blick hinter ihn, auf Momo. Sie zuckte nur mit den Schultern, was alles bedeuten konnte.

Noch eine Minute und 44 Sekunden …

43 Sekunden …

42 Sekunden …

 

Alle Anwärter, zwischen 12 und 16 Jahre alt, waren gestern Abend zusammengekommen und hatten jede Menge Informationen zum TESUTO erhalten. Von Buddha und anderen Dozenten persönlich. Sie saßen in einem offiziell wirkenden Raum, einer Art Aula direkt neben dem Speisesaal, beisammen, und es herrschte eine aufgeladene, beinahe pulsierende und prickelnde Stimmung. Die Nervosität und Vorfreude aller hatte sich zu einem explosiven Gemisch vermengt, das alle im Raum spürten. Einige Dozenten und Academy-Mitarbeiter – Securitys, Service und derartige Angestellte – hatten sich um Buddha geschart, während die Anwärter nervös auf ihren Stühlen vor ihm saßen. Buddha hatte ruhig, aber eindringlich auf sie eingesprochen. Man konnte ihm ansehen, dass er ebenfalls angespannt war und es ihm nicht leichtfiel, die jungen Menschen um ihn herum solchen Gefahren auszusetzen und gleichzeitig zu wissen, dass längst nicht alle es schaffen würden.

Dabei hatte er keine Details verraten, nichts von dem, was auf sie zukommen würde. Alle Fragen dazu waren unbeantwortet geblieben – angeblich sahen das die internationalen shinobi-Regularien so vor.

Sam glaubte ihm, hätte es sich aber anders gewünscht.

Wobei ihm im jetzigen Augenblick klar wurde, dass detailliertere Informationen über das TESUTO nicht wirklich beruhigend gewesen wären. Manchmal war Nichtwissen besser.

Mehr als einmal hatte Sam sich bei dieser Zusammenkunft – oder in deren Anschluss – eine kleine persönliche Ansprache erhofft. Etwas, das ihm geholfen hätte, einen Rat. Dann aber wieder war ihm klar geworden, dass das nicht nur nicht fair, sondern auch unangemessen gewesen wäre. Immerhin hatte er sich aus freien Stücken entschieden, diese Prüfung zu absolvieren. Wie die anderen auch. Er hatte keinen Vorteil verdient.

Und nun saß Buddha unten in Hammerhavn auf der Jurorentribüne, gemeinsam mit neun anderen Offiziellen, die darüber befinden würden, wer von den Anwärtern bestand. Wie Sam und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern erklärt worden war, flossen verschiedene Faktoren in die Bewertung ein. Neben der allgemeinen Bewältigung unterschiedlicher körperlicher oder psychischer Herausforderungen wurden auch Fähigkeiten wie Teamgeist, Führungsqualitäten, Belastbarkeit und Mut oder Kreativität beim Bewältigen der Aufgaben bewertet. Die Regeln, die eigentlich nicht wirklich welche waren, besagten nur, dass man – fürs Erste – heil am Ende von Tordenskralt ankommen musste. Dann begann das offizielle TESUTO. Die Seilbahn war entsprechend nur eine Prüfung für die Prüfung. Ohne wirklich zu wissen, was danach kommen würde.

Für Sam fühlte sich alles willkürlich und unplanbar an. Jedenfalls anders und deutlich beängstigender als jedes einzelne YouTube-Video, das er dazu gesehen hatte. Denn genau um dieses Thema – die Bewertung des TESUTO – kursierten die unterschiedlichsten Mythen im Netz. Was vor allem daran lag, dass keine Aufnahmeprüfung der anderen glich. Jedes Jahr aufs Neue dachten sich die Initiatoren neue Kriterien, Aufgaben oder Missionen aus. Daher war jedes TESUTO neu.

Eine heftige Böe fuhr ihm unter das offizielle shinobi-Shirt, das ihn als Nummer 12 auswies, und er spürte, wie sehr er fror. 10 und 11 waren bereits ausgeschieden. Würde die 12 folgen?

Eine Drohne flog dicht an seinem Kopf vorbei. Sie verharrte einige Sekunden vor seinem Gesicht, vermutlich, um eine gute Nahaufnahme von seinen deutlich sichtbaren Zweifeln zu bekommen.

Gern hätte er ein zuversichtliches Grinsen an die kleine Kamera gesendet, wenigstens einen erhobenen Daumen, aber er konnte nur dastehen und mit zusammengepressten Lippen direkt in das winzige Objektiv starren. Dann schwirrte die Drohne wieder mit kunstvollen Schlenkern ab und flog entlang der Seilbahn Richtung Hafen.

Noch eine Minute und 18 Sekunden …

Plötzlich löste sich Momo von ihrem Platz in der Reihe und ging festen Schrittes und wie selbstverständlich auf Sam zu.

Einer der Offiziellen, ein sogenannter Regler, wollte sie daran hindern, ließ das Mädchen aber nach einem freundlichen Lächeln ihrerseits seltsamerweise gewähren. Er wirkte beinahe peinlich berührt, als er ihren Blick auf sich spürte. Der Mann sah sich um, und als er registrierte, dass niemand da war, um ihn zu maßregeln, schaute er einfach in die andere Richtung und ließ Momo vorbei.

Kolja und der andere Junge, die zwischen ihr und Sam standen, machten einen Schritt beiseite und ließen sie durch, wenn auch mit rollenden Augen. Der kleine Holzsteg, der vom Burgwall zum Startplatz führte, war gerade mal einen Meter breit und schwankte wie Schilfrohr im Wind. Sam hielt sich an der Brüstung fest, und obwohl er sie aus dem Augenwinkel bemerkt hatte, reagierte er erst auf Momo, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte.

Er drehte sich zu ihr um, unsicher und angespannt. „Momo?“ Seine Stimme ging beinahe unter ihm Krach um sie herum. „Was … was machst du hier? Du darfst doch nicht …“

Sie lächelte nur. Sam sah, dass der Regler – erkennbar an seiner shinobi-Weste, einer rot-weißen Armbinde und einem Klemmbrett – offensichtlich nicht vorhatte einzugreifen, obwohl das, was Momo tat, ein ganz klarer Regelbruch war. Niemand durfte unaufgefordert seinen Platz verlassen. Er grinste verkrampft, hätte aber am liebsten losgeheult, so hilflos fühlte er sich.

„Du musst das nicht tun!“, sagte sie und schaute an ihm vorbei in die Tiefe. Ihre Stimme, obwohl fast geflüstert, drang trotz des Krachs um sie herum mit Leichtigkeit zu ihm durch. Sie hatte sich mit dem Kopf nah an sein Ohr gebeugt und ihm den Arm um den Nacken gelegt. Es tat unendlich gut, ihr so nah, nicht allein hier oben zu sein.

„Ich weiß!“, rief er, lauter und panischer als beabsichtigt. Deshalb sagte er es noch mal leiser: „Ich weiß, Momo, aber …“

„Nicht für dich jedenfalls!“, unterbrach Momo ihn.

Erst glaubte er, sich verhört zu haben. „Was?“

Sie sah ihn an, direkter als jemals zuvor, und er hatte das Gefühl, dass sie noch nie so unmittelbar miteinander verbunden waren, obwohl er sich mehr als einmal darum bemüht hatte – und mehr als einmal gescheitert war. Ihr Blick ließ ihn nicht los. Sie war ganz bei ihm.

„Wir brauchen dich, Sam! Das verpflichtet dich zu nichts, ist aber eine Tatsache!“

Fast wäre ihm eine genervte Antwort über die Lippen gekommen, aber sie schaute bereits wieder in die Ferne, und so bekamen ihre Worte eine andere Bedeutung für ihn. Sie sorgten nicht für Druck, sondern waren das Geständnis, dass er gebraucht wurde.

Der Countdown auf der Digitalanzeige links neben den Haltegriffen zählte unbarmherzig weiter runter. Sam sah Kolja und den anderen Jungen hinter sich, die verbissen und aufgeregt darauf warteten, dranzukommen, und er spürte den Wind im Gesicht, als würde dieser ihn streicheln – allerdings mit einem sehr harten Handschuh.

Nun sah er Momo an, und sie hielt seinem Blick stand. Mehrere Atemzüge lang. Und plötzlich fühlte Sam sich sicher und gehalten. Er fühlte sich wie der große Bruder einer kleinen Schwester, die für einen Moment stärker war als er selbst und ihm dadurch Kraft gab.

„Das ist … na ja, ein Argument!“, sagte er schließlich mit fester Stimme und drehte sich um. Gefasst und mit halb geschlossenen Augen.

Momo ließ seinen Nacken los.

Ruhe umfasste ihn, drang in sein Inneres und wieder heraus. Seltsamerweise fühlte es sich leichter an, daran zu denken, dass er gebraucht wurde, als darüber nachzudenken, ob er das alles hier wirklich wollte oder nicht.

Er richtete den Blick steif auf den Horizont, nicht nach unten. Immer noch Momos Hand auf seiner Schulter, griff er nach den abgenutzten Haltegriffen der Seilbahn, die unkontrolliert hin und her schwangen. Sie waren aus Metall, kalt, beinahe abweisend. Das Einzige, was ihn halten würde, waren diese Griffe – und die paar Worte eines Mädchens, das anders war als alle Menschen, die er kannte. Die ihn aber brauchte – so unnahbar, stark und besonders sie auch wirkte. Sie alle brauchten ihn. Sein Team. Seine Freunde.

 

Als seine Finger sich um das Holz schlossen, gab es keine einzige Frage mehr, die ihm im Augenblick irgendjemand hätte beantworten können.

Ob Momo ihm wirklich einen leichten Schubs gab, als er trotzdem noch einmal kurz zögerte, oder es sich nur so anfühlte, konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen.

Ihm wurde schwarz vor Augen, sein Kopf wurde leer, und da war nur noch ein allumfassendes Rauschen, das sich mit dem Tosen der Wellen und des Windes vereinte.

Der Counter zeigte 31 Sekunden, als er erst schrie – und dann sprang …

 

Er öffnete die Augen und bereute es sofort.

Es war, als ob das Brüllen des Windes um ihn herum sie ihm im Schädel nach hinten drücken wollte. Es war unmöglich, etwas zu sehen, denn durch die Wucht des Fallens flogen ihm die eigenen Tränen nur so um die Ohren. Rasch schloss er die Augen wieder.

Er fiel, verdammt. Er fiel!!! War er eigentlich völlig durchgeknallt? Wie konnte er nur so leichtsinnig und dumm sein Leben aufs Spiel setzen für … Wofür eigentlich? Er würde sterben! Abstürzen und sich alle Knochen brechen!

Nur die unsagbaren Schmerzen, die Krämpfe in seinen Fingern machten ihm bewusst, dass er sich da oben noch irgendwo festkrallte. Nicht loslassen! Nicht loslassen, Sam Berger! Du Idiot! Du dummer Idiot, du wirst hier elendig sterben! „Nummer 12 abgestürzt!“ Er sah den Artikel bei shinobi-international.com direkt schon vor sich – und das dazugehörige YouTube-Video: „Kämpfer gegen den Widerstand bei TESUTO verunglückt!“ Verflucht, es war zu spät!

Wie viel konnte man eigentlich denken, während man fiel? Und wie lange würde das hier noch dauern?

Alles in ihm hatte sich verdreht. Das Herz polterte im Kopf gegen die Außenwände, und sein Hirn drückte gegen den Beckenboden. Er konnte nicht mehr klar sagen, wo oben oder unten war, vorne oder hinten. Er versuchte zu schreien, aber auch das konnte er nicht.

Der Druck des gegen ihn peitschenden Windes stopfte ihm quasi das Maul. Das Donnern um ihn herum war buchstäblich, der Donnerschlag, Tordenskralt, machte seinem Namen alle Ehre. Es war alles und er mittendrin. Er war im Zentrum eines Orkans, vollkommen ausgeliefert. Er war selbst der Orkan, irgendwo um ihn herum war das Ende von allem. Die Welt raste und stand gleichzeitig still.

Er dachte darüber nach, die Hände zu öffnen, damit dieser unerträgliche Zustand aufhörte. Aber vermutlich wäre selbst das nicht möglich gewesen. Er wusste gar nicht, wie man das machte. Alles Sein war auf das Festkrallen an dem letzten Stück Holz seines Lebens fokussiert.

Rutschte er gerade ab? Konnten seine Finger sich noch halten? Er dachte an seinen Großvater. Und an Buddha. Und er dachte … an seinen Vater! Seinen Vater? Er hatte ewig nicht an seinen Vater gedacht, dabei … dabei machte er das hier doch alles nur für ihn!

Was?!

Schlimmer als der auf ihn einschlagende Wind, die Eiseskälte und die panische Angst, wurde ihm in dieser Sekunde bewusst, dass er das alles hier wirklich nur für seinen Vater tat! Nicht, um ihm zu imponieren, sondern … um ihm nahe zu sein. Um ihn wiederzusehen.

Konrad Berger war seit dem Tod von Sams Mutter als Anwalt für shinobi international tätig. Er hatte eine Kanzlei in Halifax eröffnet und ihn, seinen Sohn, zurückgelassen. Wäre er nicht gewesen, dann …