November - Thomas Olde Heuvelt - E-Book

November E-Book

Thomas Olde Heuvelt

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Beschreibung

In Lock Haven, einer beschaulichen kleinen Stadt in Washington State, gibt es eine ganz besondere Straße. Die Bird Street. Wer in der Bird Street wohnt, ist erfolgreich, wohlhabend, gesund und glücklich. Die Kinder allesamt ausgeglichen, wohlerzogen und klug. Zumindest für elf Monate im Jahr. Im November jedoch brechen die dunklen Tage an. Pech, Misserfolg und Krankheit halten Einzug. Im November kommt der Fremde in die Bird Street, um bei den Bewohnern die Schulden einzutreiben. Im November ist die Zeit gekommen, den Preis für all das Glück zu zahlen. Denn es kehrt erst zurück, wenn ein Menschenleben geopfert wird ...

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Das Buch

Auf den ersten Blick ist die Bird Street im beschaulichen Lock Haven eine ganz normale Straße in einer ganz normalen Stadt. Nun, fast normal. Denn die Bewohner der Bird Street sind ein bisschen glücklicher als die anderen. Ein bisschen erfolgreicher. Ein bisschen wohlhabender. Da ist zum Beispiel die Familie Lewis da Silva: Vater Ralph ist ein angesehener Richter, Mutter Luana macht Karriere an der Uni. Ihr Sohn Django ist ein Wunderkind am Klavier, ihre Tochter Kaila steht kurz davor, sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Ethan und Liam Wachowski sind Physikgenies und herausragende Baseballtalente, während ihre Mutter Joyce einen Bestseller nachdem anderen schreibt. Und die Familie McKinley besitzt nicht nur Einfluss, sondern auch Geld wie Heu.

Doch das Glück in der Bird Street hält nur für elf Monate im Jahr. Denn unweigerlich kommt der November und mit ihm der geheimnisvolle »Buchhalter«. Während der sogenannten Dunklen Tage halten Unglück, Misserfolg und Krankheit Einzug in die Bird Street. Und es gibt nur eine Möglichkeit, diese Pechsträhne zu beenden: Jemand muss sterben.

Der Autor

THOMASOLDEHEUVELT wurde 1983 inNijmegen, Niederlande, geboren. Er studierte Englisch und Amerikanistik an der Radboud Universität Nijmegen und an der University of Ottawa in Kanada. Seine Erzählung »The Day the World Turned Upside Down« wurde mit dem Hugo Award ausgezeichnet, andere Kurzgeschichten wurden für den Hugo Award und den World Fantasy Award nominiert. Seit ihm mit Hex der internationale Durchbruch gelang, ist Thomas Olde Heuvelt in den Niederlanden ein gefeierter Starautor, der mit seinen Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten erobert.

Von Thomas Olde Heuvelt sind im Heyne Verlag außerdem erschienen: Hex und Echo.

THOMAS OLDE HEUVELT

NOVEMBER

Roman

Aus dem Niederländischen übersetztvon Janine Malz

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der niederländischen OriginalausgabeNOVEMBERDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 10/2023

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2022 by Thomas Olde Heuvelt

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Originalentwurfs von DPS Design & Prepress Studio, Amsterdam. Davy van der Elsken

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26865-7V001

www.heyne.de

Für Siep Hendriks, das hellste Irrlicht in der Dunkelheit

DIE BEWOHNER DER BIRD STREET

Familie Lewis da Silva

Luana Perreira da Silva

Ralph Lewis

Kaila Lewis da Silva, 15

Django Lewis da Silva, 10

Familie Wachowski

Joyce Wachowski

Marc Wachowski

Ethan Wachowski, 14

Liam Wachowski, 10

Harper Wachowski, 7

Seepy (Alpaka)

Sappy (Alpaka)

Der McKinley-Landsitz

Graham McKinley

Dorothy McKinley-Williamsburg

Juliette McKinley

Olivia Davis

Maurice McKinley

Der Aikman-Bungalow

Elizabeth Aikman

Harry Aikman

Das alte Nyholm-Haus

Graham »Gray Junior« McKinley

Laura Vaccarelli

Aurora Evangeline McKinley, 6

Richard »Ricky« Theodore McKinley, 1

Helmut (Windhund)

Schwarzwald (Windhund)

Ehemalige Bewohner

Arthur Nyholm

Linda Nyholm

Rover Nyholm

ERSTER TEIL 2022

»Das nächste Mal hast du den Vorsitz«, sagte Oktober.»Ich weiß«, sagte November. Er war blass und hatte dünne Lippen. Er half Oktober von dem Holzthron hoch. »Ich mag deine Geschichten. Meine sind immer zu düster.«

– Neil Gaiman

RALPH

Die kranke Frau. Die Wohltäter aus der Bird Street.Es ist nirgends schöner als daheim.

3. November

Die Frau sah so aus, als wollte sie sterben. Sie sah auch so aus, als würde sie das in absehbarer Zeit ohnehin tun, wenn sie ihr an diesem Nachmittag nicht halfen. Dennoch war sie hier und ließ sich von den Bewohnern der Bird Street in den Wald tragen.

Sie hieß Ann Olsen Dickinson, doch das Wichtigste war, dachte Ralph Lewis, dass sie so aussah, als hätte sie ihren Frieden damit gemacht. Ralph und seine Nachbarin Elizabeth Aikman hatten in den letzten Wochen mehrere lange Gespräche mit Ann Olsen Dickinson geführt, aber Ralph hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass man die wahren Beweggründe erst in ihren Augen ablesen konnte, wenn die Stunde der Wahrheit schlug. Manchmal empfanden sie sich als Last für die Familie. Vor allem die Älteren und die chronisch Kranken. Wenn Ralph in ihren Augen irgendetwas anderes als selbstbestimmte Entschlossenheit entdeckte, blies er die Operation ab, auch in letzter Minute. Dann war es moralisch nicht zu verantworten. Ralph Lewis war Richter am King County Superior Court in Seattle, aber um das zu wissen, musste man kein Richter sein. Dafür musste man Mensch sein.

Ann Olsen Dickinson war bereit. Das war glasklar. Das wurde nicht nur an den Schäden deutlich, die die Krankheit ihrem Körper zugefügt hatte – die weißen Stoppeln auf dem kahlen Schädel, die spindeldürren Hände, das eingefallene Gesicht, das wie ein bleicher Mond aus ihrem Wollschal schaute. Nein, während sie sie im strömenden Regen auf der Sänfte zwischen den Lärchen hindurch trugen, befand sich Ann Olsen Dickinson in einem Zustand ultimativer Glückseligkeit.

Sie redete ununterbrochen. »Jetzt schaut euch das mal an!«, krächzte sie wie eine Krähe. »All die Lichter! Und die Musik! Habt ihr das alles für mich organisiert?«

Elizabeth, die ihr keine Sekunde von der Seite wich, lächelte unter ihrer tropfenden Regenkappe. »Natürlich, Ann. Alles muss perfekt sein. Drunter machen wir es nicht.«

»Es ist wundervoll.« Als sie einatmete, ertönte ein pfeifendes Geräusch, und sie bekam einen Hustenanfall. Elizabeth legte ihr eine Hand auf den Rücken, und als der Anfall vorbei war, schenkte sie dampfenden Tee in die Kappe ihrer Thermosflasche und reichte sie der kranken Frau. Diese nahm sie entgegen und führte sie langsam zum Mund. Das meiste landete in ihrem Schal, aber ihre spröden, eingecremten Lippen vermochten zumindest ein wenig von der warmen Flüssigkeit zu schlürfen.

»Du bist ein Schatz«, sagte sie heiser, als sie ihre Stimme wiederfand. »Ihr seid alle Wohltäter.«

Ralph spürte ein Kribbeln auf seinem Schädel, dort, wo sich die Nervenbahnen bündelten und die ersten unbehaglichen Vibrationen durch seinen Körper schickten. Elizabeth hatte nicht gelogen, alles musste perfekt sein. Sie wollten den Menschen, die sie in den Wald hinter ihrem Haus brachten, ein transzendentales Erlebnis bereiten.

Dieser Teil des Snoqualmie National Forest – das Reservat am Rand von Lock Haven, Washington, das mit einem hohen, überwucherten Drahtzaun abgetrennt und Eigentum des McKinley-Clans war – erstreckte sich meilenweit am Westhang der Cascade Mountains entlang. Es gab nur einen einzigen Weg hinein, der South Sunday Trail genannt wurde. Er begann auf dem Landgut der McKinleys, hinter einem rostfarbenen schmiedeeisernen Tor in einer Steinmauer, das das ganze Jahr hermetisch abgeriegelt war. In der letzten Woche hatten Graham McKinley Junior und sein Bruder Maurice (»diese Ekelpakete«, nannte Luana sie immer, und da war Ralph mit seiner Frau völlig einer Meinung) vom Tor und dem nahe gelegenen Generatorhäuschen aus Stromkabel von riesigen Spulen gerollt und im Gestrüpp verborgen. Starkstromkabel natürlich. Marc Wachowski, ihr Nachbar von gegenüber, hatte mit der Dekoration geholfen. Sie hatten über dreihundert LED-Leuchtkästen links und rechts vom Weg platziert, die sanft im Rhythmus der meditativen Klanglandschaften aus ebenso vielen Lautsprechern aufleuchteten, alle in wasserdichtem Gehäuse. Vom Tor aus hatten sie sich systematisch tiefer in den Wald in Richtung des Ruheplatzes vorgearbeitet. (»Exekutionsplatz«, nannte Maurice McKinley ihn stets. »Einer der Gründe«, so Luana, »aber sicher nicht der einzige, warum er ein Ekel ist.«) Zum Schluss hatten sie über zwölfhundert elektrische Windlichter aus dem Depot gebündelt an den Zweigen aufgehängt. Das Ergebnis war magisch: Zu dem Ort, an dem der South Sunday Trail in einer Lichtung endete, führte ein drei Kilometer langer Pfad durch rosa, blaue und grüne feengleiche Lichter, die im Takt der sich wiederholenden Klänge glühten. Wenn man die Augen zukniff, war es, als würde man einen Tunnel voller Irrlichter durchqueren.

Ralph stellte fest, dass so viele Blinklämpchen auf einem Haufen die Sinne austricksen konnten.

Beinahe hörte man den strömenden Regen nicht mehr.

Beinahe sah man die grimmigen, kahlen Novemberzweige nicht mehr, die wie Skeletthände die Ränder des Blickfelds streiften, oder was gerade außerhalb davon vorbeihuschte.

Beinahe vergaß man den Gestank nach Kellermoder und Klauenfäule.

Sie bildeten eine Prozession von sechs Personen.

Ralph und Harry Aikman trugen die altmodische überdachte Sänfte, auf die sie Ann Olsen Dickinson gehievt hatten. Harry vorne, Ralph hinten. Schwer war ihre Last nicht – die Frau war ausgemergelt. Aber das Terrain verlief bergauf und war nicht ohne Tücken, und durch den Regen waren die Griffe der Sänfte rutschig geworden. Harrys Frau Elizabeth dackelte wie ein treues Hündchen neben der Kranken her, doch immer öfter zwang der schmale Weg sie, dicken Baumstämmen auszuweichen oder durch knietiefes Unterholz zu straucheln. Einmal war sie schon ausgerutscht. Juliette McKinley, die erträgliche Schwester der unerträglichen Gebrüder McKinley, lief mit einer Laterne voran. Ihre Frau Olivia Davis bildete den Schluss des Zugs, und Ralph hörte sie nervös atmen. Olivia wohnte erst seit drei Jahren in der Bird Street und fühlte sich sichtlich unwohl. Das konnte er ihr nicht verübeln.

Ann Olsen Dickinson war eine gesunde Frau in ihren Sechzigern gewesen, als 2019 Gebärmutterhalskrebs bei ihr diagnostiziert wurde. Anfangs schienen die Operation und die darauffolgende Radio- und Chemotherapie anzuschlagen, und Ann waren noch zwei relativ gute Jahre vergönnt gewesen, wenngleich unter den Einschränkungen der Pandemie. Aber vergangenen September hatten die Ärzte Metastasen in ihren Lymphdrüsen und ihrer Lunge entdeckt und ihr mitgeteilt, dass jede Behandlung nur noch die Symptome mildern, ihre verbleibende Zeit etwas ausdehnen konnte.

Woher die Nachbarn aus der Bird Street das wussten? Weil Elizabeth Aikman zum Team des Pflegedienstes zählte, das Ann Olsen Dickinson vom University of Washington Medical Center zugewiesen worden war. Sie hatte der Patientin Morphium verabreicht, das ihr nicht nur den Schmerz genommen hatte, sondern auch die Hemmungen, sich die Sorgen von der Seele zu reden. Und Elizabeth hatte ein offenes Ohr für sie gehabt.

»Stanley ist dahintergekommen, dass ich mich über Sterbehilfe informiert habe. Und stell dir vor: Er hat mich für unzurechnungsfähig erklären lassen! Was sagt man dazu? Da ist man einundvierzig Jahre lang verheiratet und dann das! Und alles nur, weil wir in dieselbe Kirche gehen wie dieses Würstchen von einem Arzt!«

Damit hatte ihr Ehemann, so überwältigt von seiner Trauer, dass er nur noch Rat bei Gott suchte, statt mit seiner Frau zu sprechen, ihr gemäß den Gesetzen im Bundesstaat Washington den Weg zu einem würdevollen, selbstbestimmten Tod versperrt.

»Dabei ist er meistens nicht mal da. Er geht nur noch spazieren, den ganzen Weg bis zum Sound, weil er es nicht erträgt. Der arme Mann, ich habe solches Mitleid mit ihm. Aber ich will nicht warten, bis sich die Metastasen noch weiter ausbreiten. Ich will nicht, dass mein Körper sich vor lauter Schmerz selbst zerfrisst. Das ist doch kein Leben?«

Nein, das war kein Leben, bestätigte ihr Elizabeth. Aber vielleicht konnte sie behilflich sein.

Nun war Ann Olsen Dickinson so mit Morphium vollgepumpt, dass sie keinerlei Schmerzen mehr hatte. Und nebenbei bemerkt auch keine Hemmungen mehr. Begeistert erzählte sie ihre gesamte Lebensgeschichte, während der Nachbarschaftsverbund aus der Bird Street sie immer weiter von der Zivilisation wegbrachte. Es war vor allem Elizabeth, die alles mit »Oooh« und »Aaah« kommentierte. Es war nicht so, dass Ralph sich nicht für Ann interessiert hätte (ihr Schicksal nahm ihn mehr mit, als ihm lieb war), aber durch seine Position hinter der Sänfte merkte er, dass er mehr auf die körperliche Anstrengung fokussiert war und seine Gedanken abdrifteten.

Er dachte an Wale. An die Orcas und Buckelwale, die sich am Puget Sound tummelten und die sie mit den Kindern vor drei Wochen dort beobachtet hatten. Da hatte es auch jede Menge »Oooh« und »Aaah« gegeben. Es war einer der vielen Wochenendtrips gewesen, die Luana und er mit grimmiger Entschlossenheit im Oktober organisierten. Andere Sonntagsausflüge gingen zum High-Trek-Adventure-Kletterwald bei Paine Field, das MoPOP sowie das Chihuly Garden and Glass Museum in Seattle, das Washington Serpentarium in Monroe und das Mini Mountain Indoor Ski Center in Bellevue. Django mit seinen zehn Jahren fand das alles noch super, vor allem den Leguan, den er in Monroe im Arm halten durfte: »Nicht, dass er mich noch ankackt.«

Die fünfzehnjährige Kaila hingegen musste sich Mühe geben, um sich nicht phänomenal zu langweilen. Sie behauptete, dass die obligatorischen Familienausflüge sie zu sehr aus ihrem Trainingsrhythmus im King County Aquatic Center rissen. Kaila Lewis da Silva (Ralph hatte darauf bestanden, den Kindern nach brasilianischem Brauch beide Nachnamen der Eltern zu geben und Luana damit überglücklich gemacht) war Turmspringerin. Und zwar eine verdammt gute. Ihre Trainer bereiteten sie auf die Spiele 2024 in Paris vor, und noch schienen die Sterne günstig für sie zu stehen, dass sie sich für Olympia qualifizierte.

»Außerdem«, hatte sie an einem Samstagabend im Oktober ungerührt angemerkt, »wollt ihr damit nur eure Schuldgefühle beruhigen, und ich habe keine Lust, dabei mitzumachen.«

Kaila war ein Schatz, ein absolutes Wunder von einem Kind, aber selbst in guten Phasen war sie immer noch ein pubertierender Teenager. Luana hatte sie daraufhin zurechtgewiesen und auf ihr Zimmer geschickt.

»Na schön!«, hatte Kaila gerufen, »da wollte ich sowieso gerade hin!« Dann hatte sie die Tür hinter sich zugeschlagen.

Schließlich hatte Django das Schweigen durchbrochen. »Die hat sie doch nicht mehr alle …«

Aber ihre Worte hatten wehgetan, da Kaila bei genauerer Betrachtung recht hatte. War es nicht tatsächlich so, dass Luana und er sich schuldig fühlten? Waren die Familienausflüge nicht der banale Versuch, etwas wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen war? Ein Nachmittag Whale Watching oder Snowboarden auf einem Laufband konnten nicht von den unschönen Erinnerungen an den Krisendienst im Fairfax, an die psychiatrische Abteilung im Seattle Children’s Hospital oder die drei Wochen im Stillwater vor zwei Jahren ablenken.

Ach was, würde Kaila sagen.

Ralph hatte Kaila Zeit gelassen, sich abzureagieren, dann war er nach oben gegangen.

»Ich will nicht wieder in den Lockdown«, hatte sie gesagt, während sie nebeneinander auf dem Bett saßen. »Nicht jetzt, wenn alle meine Freunde zur Abwechslung mal nicht zu Hause bleiben müssen.«

»Ich weiß, Liebes. Wir stehen das gemeinsam durch. So wie immer. Und weißt du, warum?«

»Weil wir uns lieben, blablabla.«

»Ganz genau. Und hey, du willst doch deinem kleinen Bruder nicht allein den Kletterwald überlassen? Er wird die ganze Woche von nichts anderem mehr reden.«

»Wahrscheinlich schreibt er einen Song darüber. Schu-bi-du, Seilbahn-juhu.«

»Den Bee-bop-Parkour-Blues«, bekräftigte Ralph. Sie lachten. »Was meinst du? Sollen wir deine Lithium-Dosis schon mal etwas erhöhen?«

Kaila nickte missmutig.

Der Kompromiss war, dass sie ihren Freund Jackson mitnehmen durfte. Glücklicherweise ließ sich Kaila meist doch noch überreden. Manchmal mit Jax als Lockmittel. Aber vor allem, vermutete Ralph, weil danach nur noch Halloween kam – die letzte Chance auf einen schönen Abend.

Nach Halloween gingen alle Kinder der Bird Street in den Lockdown.

Dann kam der November.

Am 1. November begannen die ersten Restriktionen in diesem Teil von Lock Haven … aber mit Sicherheit nicht die letzten.

Ralph lauschte auf den Regen, der auf die Kapuze seines Ponchos prasselte. Das vibrierende Unwohlsein, das er zuvor auf dem Kopf gespürt hatte, kroch nun seinen Körper hinab, wuchs zu einem regelrechten Grauen heran. Zum ersten Mal in diesem Jahr wurde er von dem Wissen durchdrungen, dass die Dunklen Tage angebrochen waren.

Jedes Jahr glaubst du, du könntest dem entgehen, dachte er. Jedes Jahr denkst du, es wird schon nicht so schlimm werden. Aber das ist nie der Fall. Und nun ist es zu spät, um dich darauf gefasst zu machen. Es hat begonnen. Gott steh uns bei.

Auf einmal wollte er nichts lieber, als zu Hause sein. Den ganzen Abend Ticket to Ride mit den Kindern spielen und Nachos Supreme und Luanas pão de queijo essen, hinter den runtergelassenen Rollläden, die den Regen und die Snoqualmie Woods und alles, was darin hauste, aussperrten. Ein Abend voller Wärme und Geselligkeit.

Juliette McKinely blieb stehen, und die Prozession hielt an.

Auf dem Weg vor ihnen lagen aufgehäufte Äste.

Sie blockierten den Durchgang.

»Kommt ihr mit ihr daran vorbei?«, fragte Elizabeth. Als sie sich umdrehte, sah Ralph, dass ihr Gesicht aschfahl geworden war. Harry legte zögerlich den Kopf schief.

»Wir laufen drum herum«, sagte Olivia. Entschlossen schritt sie an der Sänfte vorbei, nahm Juliettes freie Hand und zog sie von den Ästen weg. Sie wechselten einen Blick, ehe Juliette nach einer Stelle suchte, über die sie ausweichen konnten. Links war der Hang zu steil. Rechts war es nicht viel besser, zumal dort aus der Erde ein Geflecht aus glitschigen Lärchenwurzeln ragte, aber es gab keine andere Option.

»Kommt ihr zurecht?«, fragte Ann Olsen Dickinson, als Harry Juliette folgte und die Sänfte nach hinten kippte. Er war auf einer Wurzel ausgerutscht, aber Olivia stützte ihn, während sich Ralph festhalten musste, weil nun das meiste Gewicht auf ihm ruhte. Die alte Dame stieß einen kurzen Schrei aus und lachte dann schallend: »Was stellt ihr denn mit mir an? Wäre es nicht einfacher, die Äste wegzuräumen? So viele sind es doch nicht.«

»Hier ist der Durchgang besser«, log Juliette.

»Ach, ach, so viel Mühe, und das alles nur für mich. Ihr Lieben, das wäre doch nicht nötig gewesen.«

»Doch, doch«, sagte Elizabeth, »Sie werden schon sehen, warum.«

»Und noch dazu bei diesem Mistwetter!« Ann Olsen Dickinson holte pfeifend Luft und fuhr fort. »Ich habe schon heftige Regenfälle erlebt, im Olympia National Park und im Pacific Rim, aber hier schüttet es mitunter auch ganz schön, was?«

»Alles wird gut.« Diesmal sprach Olivia. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Sorgen? Was soll schon schlimmstenfalls passieren? Dass ich stürze und mir das Genick breche?«

Die meisten lachten mit ihr mit, aber Ralph dachte: Nein, das ist nicht das Schlimmste, was passieren kann.

Irgendwie schafften sie es, die Sänfte unfallfrei hinter der erste Reihe Lärchen an den Ästen vorbeizubugsieren und auf den Weg zurückzukehren. Ann Olsen Dickinson hatte recht: Es wäre einfacher gewesen, die Äste beiseitezuschaffen, denn der Stapel war gerade mal kniehoch, aber keiner von ihnen hatte es gewagt. Die scheinbare Zufälligkeit, mit der sie dort lagen, war zu künstlich, um ein Werk der Natur zu sein, aber niemand von ihnen hatte die Zweige dort abgelegt.

Und heute Morgen hatten sie noch nicht dort gelegen.

Zehn Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Elizabeth Aikman stützte ihre Hände in den Rücken, drehte sich um und sagte: »Sehen Sie, Ann. Darum all die Mühe.«

Sie hatten einen windgeschützten Platz im Schatten zweier Hemlocktannen erreicht. Überall um sie herum war das Rauschen des Regenvorhangs zu hören, doch dieser wurde nun von Musik übertönt.

Keine Klanglandschaften mehr, sondern It’s Only a Paper Moon von Ella Fitzgerald. Und, oh Wunder: Hier war es trocken. Wenn man genau hinsah, konnte man den Baldachin erkennen, der über die Freifläche gespannt war, aber im Dämmerlicht des Waldes wurde der Blick von Hunderten von Stimmungslichtern gefangen genommen, die wie ein Sternenhimmel über ihnen funkelten. Am Boden knisterten Flammen in Feuerkörben. Auf einer großen Leinwand war das Porträt eines Ehepaares mit drei Töchtern zu sehen. In der Frau erkannte Ralph eine jüngere Version von Ann Olsen Dickinson.

Und inmitten von all dem stand ein strahlend weißes Himmelbett.

Ann Olsen Dickinson hatte die Hände vor den Mund geschlagen, und auch wenn Ralph sie nur von der Seite sah, wusste er, dass sie weinte.

»Oh, wie schön!«, brachte sie hervor, während sie in die Mitte des Kreises aus Feuerkörben getragen wurde. »Das Bett, und dazu Ella!« Mit überraschend heller Stimme, die ohne den Krebs gut genug gewesen wäre, um einer Varietésängerin zu gehören, sang sie: »Yes, it’s only a canvas sky hanging over a muslin tree, but it wouldn’t be make-believe, if you believed in me.«

Ralph und Harry blieben neben dem Bett stehen, wo Juliette und Olivia wie Türsteher vor den durchsichtigen Vorhängen warteten. Elizabeth half Ann beim Aussteigen, auch wenn sie das offenkundig aus eigener Kraft gekonnt hätte. In ihren Mantel gehüllt hatte sie gewirkt wie ein in eine Serviette eingewickeltes Mäuseskelett, aber nun sah Ralph, dass ihr Körper dem Tode noch nicht so nahe war, dass er völlig aufgegeben hätte. Doch so weit wollte es Ann Olsen Dickinson gar nicht erst kommen lassen.

Sie stellten die Sänfte ab. Ralph streckte sich und gesellte sich zu den anderen rings um das Bett, wo Elizabeth Ann aus ihrem Mantel und unter die Daunendecke half.

»Wie herrlich das alles ist«, sagte sie. »Und so schön. Wie kann ich euch nur je danken?«

»Das ist nicht nötig, Ann«, sagte Elizabeth. »Wir sind froh, dass wir dir helfen können. Brauchst du noch etwas?«

»Ich hätte gern noch ein Schlückchen Tee.«

»Ich habe da etwas viel Besseres«, sagte Juliette. Aus der Aufbewahrungskiste neben dem Bett holte sie ein Tablett, worauf sie sechs Likörgläser und eine Flasche Crème de Cassis abstellte.

»Nein! Ein echter Gabriel Boudier!« Ann klatschte in die Hände. »Auf unserer Hochzeitsreise hatte Stanley ein Chateau am Ufer der Saône in Frankreich gebucht, da haben wir den jeden Abend getrunken! ›Genau wie Hercule Poirot‹, hat Stanley immer gesagt. Er sah zum Anbeißen aus, mein Stanley, in seinem Anzug …« Erschrocken blickte sie aus der Erinnerung hoch. »Ich darf doch gar nicht mehr trinken.«

Nun lachten alle, sogar Olivia. »Wenn es einen Zeitpunkt gibt, den Rat der Ärzte in den Wind zu schießen, dann doch wohl jetzt, oder?«

Dem konnte Ann Olsen Dickinson nur beipflichten. Juliette schenkte die Gläser voll und ging mit dem Tablett herum. Ralph bekam einen trockenen Mund, als sie bei ihm ankam. Juliette bemerkte sein Zögern, wartete aber ungeduldig, wodurch er sich gezwungen sah, ein Glas zu nehmen. Sobald er den Alkohol roch, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Ann streckte ihr Glas den Wohltätern aus der Bird Street entgegen. »Na dann prost! Auf das Leben!«

Sie hoben ihre Gläser. Ralph merkte, dass ihm ein Tropfen über die Schläfe lief – diesmal kein Regen, sondern Schweiß.

Das war nicht der richtige Moment. Wenn er jetzt trank, würde er beim Nachhausekommen geradewegs in die Garage marschieren und sich hinter das Steuer des Forester setzen. Die Flasche Smirnoff unter dem Fahrersitz hervorholen und das dort ebenfalls versteckte Glas. Das Glas war reiner Aberglaube: Ralph trank nie aus der Flasche. Scheiß auf das Eis, scheiß auf die Zitrone. Verdammt, scheiß auf den Tonic, wenn’s sein muss – aber trink niemals aus der Flasche!

Ralph Lewis würde unter Eid schwören, dass er kein Alkoholiker war, und es wäre die reine Wahrheit. Aber es war November. Und im November war alles anders.

Wenn er sich heute Abend einen hinter die Binde kippte, würde es nicht bei dem einen Glas bleiben. Dann würden sie kein Ticket to Ride spielen. Dann gäbe es keine Häppchen, keine Wärme und Geselligkeit mit den Kindern. Dann würde es Streit geben.

Mit einem Mal drehte er das Glas fest entschlossen über dem Waldboden um.

Er hatte widerstanden.

Diesmal zumindest.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich Angst haben würde«, sagte Ann. Ihre Stimme war nun wieder heiser, und Ralph musste sich anstrengen, um sie zu verstehen. »Aber nun fürchte ich mich.«

»Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, Ann«, sagte Elizabeth.

Ralph wechselte einen Blick mit ihr, kniete sich neben das Bett und nahm Anns magere Hand in seine. »Sie wissen, dass Sie es sich jederzeit anders überlegen können, wenn Sie Bedenken haben.«

Doch sie wischte seine Bemerkung beiseite, als sei das nicht der springende Punkt. »Darf ich euch etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Warum tut ihr das für mich?«

Diese Frage kam jedes Mal, und sie waren darauf vorbereitet. »Es ist schon lange her, da fiel ich in ein schwarzes Loch«, sagte Harry. »Psychisch, meine ich. Damals spielte ich mit dem Gedanken, mein Leben zu beenden. Da traf ich diese Menschen, und sie führten mich ins Licht zurück. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar. Denn Ralph hat recht, wissen Sie. Sie können es sich jederzeit anders überlegen. Wissen Sie, was mich damals zum Umkehren bewog?«

»Was denn?«

»Dass ich die Möglichkeit hatte, es zu tun.«

Ann nickte so heftig, dass man die Sehnen in ihrem Nacken knacken hörte. »Ich bin froh, dass Sie es aus dem Loch raus geschafft haben, Harry. Sie sind viel zu gesund, um schon zu gehen.«

»Das stimmt, aber nicht jeder hat diese Wahlfreiheit. Und es gibt Fälle, in denen der Death with Dignity Act nicht weit genug geht. Schauen Sie sich nur selbst an. Ihr Leidensdruck ist enorm, aber Sie sind, soweit ich das beurteilen kann, ganz und gar nicht unzurechnungsfähig. Somit bleiben Ihnen nur zwei Optionen: Entweder Sie halten bis zum bitteren Ende durch, oder Sie setzen Ihrem Leiden mit Gewalt ein Ende.«

»Sie meinen, indem ich mir eine Kugel in den Kopf jage?«, fragte Ann nüchtern. »Stanley hat oben eine Pistole im Tresor liegen. Ich habe mir nie etwas aus Waffen gemacht, aber wenn ich Elizabeth nicht kennengelernt hätte, hätte ich sie wahrscheinlich benutzt.«

»Sehen Sie. Wir finden, dass Patienten eine Alternative haben sollten. Einen friedlicheren Ausweg.«

»Genug von uns geredet«, sagte Elizabeth und klatschte in die Hände. »Wir haben noch eine Überraschung für Sie.«

Die Diavorführung. Die Musik wechselte von »It’s Only a Paper Moon« zu »Dream a Little Dream of Me«, und mit einem Klick auf ihre drahtlose Fernbedienung hatte Elizabeth die Fotoreihe von Anns Leben auf der Leinwand gestartet. Ralph spürte, wie ein plötzlicher Anflug von Wut seinen Körper durchströmte wie ein kalter Luftzug. Sie ist zu schnell, dachte er. Sie sucht gar nicht das Gespräch mit ihr.

Wenn es nicht November gewesen wäre, wäre es bei einem gewissen Unbehagen geblieben, aber nun brach eine unbändige Wut in Ralph hervor, über deren Heftigkeit er selbst erschrak. Oh, sie waren wie ein hinterhältiger Meuchelmörder, die Dunklen Tage. Wie ein Virus, das unbemerkt wütete, aber da alle mit denselben roten Flecken herumliefen, merkte man nicht, dass die Krankheit auch bei einem selbst ausgebrochen war. Und mit jedem Mal konnten sie ihr weniger Widerstandskraft entgegensetzen. Es waren die Dunklen Tage, die Elizabeth dazu trieben, in der Angelegenheit vorzupreschen, und es waren die Dunklen Tage, die Ralphs heftige Reaktion auslösten.

Und das jetzt schon.

Ralph verließ den Feuerkorbkreis und schloss die Augen. Zählte bis zehn. Als er die Augen wieder aufschlug, fühlte er sich etwas ruhiger. Er sah, dass Elizabeth Anns Hand genommen hatte, und in dieser Geste erkannte er aufrichtiges Mitgefühl, wodurch sich Ralph ein wenig für seinen Unmut schämte. Elizabeth stand unter demselben Einfluss wie er. Das durfte er nicht vergessen.

Auf der Leinwand zogen Bilder vorbei. Anns Töchter beim Schaukeln. Eine junge Ann, die den Kopf umwandte, mit wallendem Haar, das ihr wie Sonnenlicht über die Schultern fiel. Ann und Stanley vor dem Schloss in Frankreich – ja, er war ein attraktiver Mann gewesen. Wäre sie nicht so gebannt gewesen, hätte Ann vielleicht gefragt, wie sie an all das Bildmaterial herangekommen waren, aber das würde sie nicht tun. Das tat nie jemand.

Ralph lauschte auf die verstohlenen Geräusche von dem, was hinter der ersten Reihe von Hemlocktannen raschelte, laut genug, um Ella und den Regen zu übertönen. Hier, außerhalb des Lichterzirkels und mit einem Bein praktisch im nassen, kalten Wald, fühlte sich Ralph auf einmal verwundbar. Schnell gesellte er sich wieder zu den anderen ans Bett, wo man so tun konnte, als hätte man nichts gehört.

Ann weinte wieder, und nun war es Olivia, die ihr die Hand hielt. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag sah Ralph aufrichtiges Bedauern in Anns Augen. »Stanley macht sich bestimmt schon Sorgen …«

Ja, das würde er. Selbst wenn Stanley an diesem Tag bis zum Sound gegangen war, wäre er inzwischen wieder zu Hause in Mill Creek angekommen, wo er das Bett seiner an Krebs im Endstadium erkrankten Frau leer vorgefunden hatte. Inzwischen würde er seine drei Töchter angerufen haben und die Polizei. Ja, vermutlich machte sich Stanley in diesem Moment große Sorgen.

Wenn es vorbei war, hatten sie Ann gesagt, würden sie sie auf demselben Grünstreifen hinter ihrem Haus zurücklassen, wo sie Stunden zuvor, warm eingepackt und auf ihren Spazierstock gestützt, in den Wagen gestiegen war, der dort außerhalb der Reichweite der Überwachungskameras auf sie gewartet hatte. Sie würden sie mitten auf den unbefestigten Weg legen, damit Passanten sie schnell fanden. Stur wie sie war, hatte sie wohl in ihrem Zustand das Haus verlassen, obwohl Stanley es ihr immer wieder verboten hatte. Dann war sie gestürzt und innerhalb kürzester Zeit an Unterkühlung gestorben. Und die Medikamente?, hatte Ann besorgt gefragt. Keine Sorge. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in ihrem Zustand auf eine Autopsie bestehen würde, war gleich null. Nicht, wenn die Umstände so eindeutig waren.

»Ich finde es entsetzlich, es auf diese Weise tun zu müssen«, hatte Ann gesagt. »Aber wenn Stanley sich so sträubt, muss man doch zu einer Notlüge greifen, oder?«

Nun, in der Stunde ihres Todes, tröstete Olivia sie. Danach trat Elizabeth an ihr Bett. Sie trug ein rotes Satinkissen. Darauf lagen zwei Injektionsnadeln.

»Da ist es, Ann. Das Schlafmittel. Und das ist ein Muskelrelaxans. Du wirst nichts spüren. Du schläfst binnen weniger Sekunden ein, wie normal auch, nur dass du danach nicht mehr aufwachst.«

Lange Zeit betrachtete Ann die Nadeln.

»Ich wage es kaum auszusprechen«, sagte sie zum Schluss mit bebender Stimme.

»Was denn, Ann?«, fragte Olivia.

»Ich muss ständig an unsere Hochzeitsreise denken. Das Chateau hatte einen Innenhof unter freiem Himmel, wo die Gäste abends aßen. Da war ein Chansonnier, der hübsche Lieder sang, begleitet von einem Pianisten, der damals älter war als ich heute. Und weißt du, was Stanley machte? Er zog mich vom Stuhl und tanzte mit mir durch den gesamten Innenhof, zwischen den Tischen hindurch. Alle lachten, alle klatschten, und ich habe mich in Grund und Boden geschämt. Nicht aber Stanley! So war er. Er brauchte mich nur anzuschauen, und schon fühlte ich mich wohl.«

»Das ist hinreißend, Ann«, sagte Olivia gerührt.

»Weißt du, was der erste Film war, den wir zusammen angeschaut haben? Der Zauberer von Oz. Das war im Pacific Crest Theater, bevor es umgebaut wurde. Und in dem Moment, als Judy Garland sagte: ›Es ist nirgends schöner als daheim‹, wusste ich, dass ich bei Stanley bleiben würde, bis der Tod uns scheidet.« Mit Tränen in den rot geäderten Augen und einer Hand auf dem Satinkissen sah sie ihre Wohltäter aus der Bird Street einen nach dem anderen an. »Stanley ist mein Zuhause. Ich glaube, ich möchte das hier doch nicht tun.«

Es entstand ein merkwürdig angespannter Moment, in dem Ralph beinahe physisch in der Luft greifen konnte, was das für sie bedeutete. Er dauerte vermutlich nur einen Sekundenbruchteil, doch in diesem Sekundenbruchteil sah Ralph ein groteskes Bild vor sich: Elizabeth, die die erste Injektionsnadel vom Kissen riss und sie in den Arm der Frau rammte, die vor Panik aufschrie.

Stattdessen zog Elizabeth das Kissen weg und legte es auf der Aufbewahrungskiste ab. »Ann, Liebes, natürlich«, sagte sie. »Das ist ganz und gar deine freie Entscheidung.«

»Es tut mir so schrecklich leid …«

»Wartet mal«, sagte Juliette. »Da wir jetzt schon so weit gekommen sind – sind wir uns sicher, dass das die beste Entscheidung ist?« Sie sah Olivias Gesichtsausdruck und fügte hinzu: »Für sie, meine ich?«

»Ann weiß, was das Beste für sie ist«, sagte Ralph. Er wandte sich an die todkranke Frau. »Das muss Ihnen nicht leidtun.«

»Aber all die Mühe, die ihr euch für mich gemacht habt. Das Risiko, das ihr für mich eingegangen seid! Und wer soll das alles aufräumen?« Sie erhob sich von ihren Kissen, als habe sie vor, das selbst zu übernehmen. Doch sie war zu schnell aufgestanden und bekam einen Hustenanfall.

»Darf ich euch wenigstens etwas geben für eure Mühen?«

Elizabeth beugte sich über sie. »Nein, Ann. Das können wir nicht annehmen. Wir tun das für dich. Für dich allein. Und darum muss ich dir eine Frage stellen.« Sie wechselte einen Blick mit Ralph, der keine Möglichkeit sah, einzugreifen. »Bist du dir ganz sicher? Denn Juliette hat nicht ganz unrecht. Du kennst die Gründe, warum du hier bist. Und was dich erwartet, wenn du nun abbrichst.«

»Ich weiß, Schätzchen«, antwortete Ann mit ihrer heiseren Stimme. »Aber ich bin mir noch nie einer Sache so sicher gewesen. Mit Stanley an meiner Seite stehe ich das durch. Ich will noch ein einziges Mal die Krokusse blühen sehen, und wenn mir das gelingt, habe ich das euch zu verdanken.«

Harry legte die linke Hand auf den Rücken seiner Frau und die rechte auf ihre Schulter. »Ich bin so froh, dass wir auch Ihnen den Weg zurück ins Licht weisen konnten.«

Er zog seine Frau zwar nicht vom Bett weg, dachte Ralph, aber es fehlte nicht mehr viel.

Ralph selbst empfand … Erleichterung? Oder war es etwas anderes?

Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er auf einmal enorm müde war.

Im Februar des darauffolgenden Jahres sollte Ann Olsen Dickinson ihnen eine Grußkarte schicken:

Dieses Würstchen von einem Arzt hatte mir noch sechs Wochen gegeben, aber ich habe die Krokusse blühen sehen! Auch wenn ich spüre, dass das Ende naht. Ich danke euch für die Zeit, die ihr mir geschenkt habt.

Dieselbe Ann Olsen Dickinson sagte nun: »Ich sage es noch einmal. Ihr seid Wohltäter. Alle zusammen.«

Während sie sich für den Rückweg bereit machten, holte Ralph sein Handy aus der Jackentasche. Er sah, dass er eine Nachricht von Luana bekommen hatte. Wie ist es gelaufen? Ich liebe dich. Er antwortete: Hat es abgebrochen. Freu mich schon auf dich, Liebes. Auf dich und die Kinder. Bis bald.

Keiner der Nachbarn machte sich in diesem Moment große Sorgen.

Es gab noch andere Kandidaten.

Und sie hatten noch Zeit.

Vorerst.

DJANGO

Wunderkind. Halloween in der Bird Street. Kaila und das Messer.Was mit dem Steinway geschah.

29. Oktober

Django Lewis da Silva kannte sämtliche Ecken der Bird Street so gut wie die Tasten seines Klaviers. Es gab Orte, an die er weniger oft kam – die allerhöchsten und allertiefsten Töne, der überwucherte Drahtzaun am Ende des Gartens –, aber das hier war sein Zuhause.

Trotz seines jungen Alters war sich Django bewusst, dass er ein Wunderkind war. Er würde das nie so sagen, weil ihn solche Zuschreibungen nicht interessierten. Aber genug andere übernahmen das für ihn, wie die verblüfften Jurymitglieder der Puget Sound School of Music, vor denen er nach eigenem Empfinden eine ziemlich schwerfällige Darbietung von »Ain’t Misbehavin’« von Fats Waller abgeliefert hatte. Dennoch hatten sie ihm die Zulassung erteilt, sodass er ab Januar als jüngster Student aller Zeiten jeden Mittwoch an einem Exzellenzprogramm teilnehmen würde, für das ihn Direktor Green von der Carnation Elementary mit stolzgeschwellter Brust von der Schule freigestellt hatte.

Wenn man in der Bird Street wohnte, war es mehr oder minder selbstverständlich, dass man in irgendetwas gut war. Liam Wachowski, Djangos bester Freund und Nachbarsjunge von gegenüber, hatte auf dem Dachboden die Space Needle gebaut. Gut zwei Meter hoch. Davor die Golden Gate Bridge, die sich von der Tür von Mrs. Wachowskis Arbeitszimmer bis zum Waschraum erstreckt hatte. Dad sagte, dass Liam später bestimmt mal Architekt werden würde. Das könne man an seinen beeindruckenden Bauwerken sehen. Django wusste, dass Liam anderen Kindern gegenüber lieber nicht verriet, dass er noch mit K’Nex spielte, aber von keinem Baumaterial hatte er so viel vorrätig (abgesehen von den signierten Exemplaren der Diätbücher seiner Mutter, die überall im Haus herumlagen und darauf warteten, verschickt zu werden, die sich aber laut seiner Mutter nicht zum Bauen eigneten). Dass der New Day Northwest einen Bericht über ihn und seine K’Nex-Konstruktionen gebracht hatte, war auch nicht sonderlich hilfreich gewesen. Die Reporterin hatte ihn ein »echtes Wunderkind« genannt.

Aber Liam wollte nicht Architekt werden. Er wollte Baseballprofi bei den Angels werden. Liam war zwar noch kein Mark Trout, aber er spielte in der Little League bei den Redmond Ridge und hatte einen Schlagdurchschnitt von .387.

Django wusste instinktiv, dass sein Nachbarsjunge seinen Traum wahr machen würde. Wenn man in der Bird Street wohnte, wusste man solche Dinge. Genauso wie er wusste, dass er selbst später Pianist werden und verqualmte Säle voll mit swingenden Menschen nach seinen Fingern tanzen lassen würde. Auf YouTube hatte er das Schwarz-Weiß-Video einer englischen TV-Show aus dem Jahr 1964 gefunden, die Don’t Knock the Rock hieß und in der Jerry Lee Lewis ein Publikum aus Studenten, die sich um seinen Flügel drängten, in a whole lotta shakin’ Wahnsinn trieb. Dass der »Killer« und er denselben Nachnamen hatten, war ein netter Zufall.

Am letzten Samstag vor den Dunklen Tagen durfte er vorne in Dads Forester sitzen, während dieser ihn zu Mr. Hendrickx in Lakewood brachte.

Mr. Hendrickx wartete bereits im Türrahmen des Bungalows. »Komm rein, junger Mann!«, sagte er mit seiner krächzenden Stimme, die nach Virginia Slims roch, die er den ganzen Tag qualmte, auch wenn seine Frau es ihm verboten hatte, wenn Django zu Besuch kam.

Django fand es lustig, dass er Dad »junger Mann« nannte, auch wenn es aus seiner Perspektive nur logisch war. Mr. Hendrickx war sechsundneunzig und beinahe blind. Man konnte sich kaum vorstellen, dass er einst den Krieg mitgemacht hatte. Er war genauso groß wie Dad, aber Mr. Hendrickx stand mager und gebückt da. Zuerst schüttelte er Dad die Hand, dann Django. Seine Finger fühlten sich steif und hart und unbeugsam an, als ob man eine Klaue ergriff. Django fand es traurig, dass der Mann keine normalen Hände mehr hatte.

»Das kommt von der Arthrose«, hatte Dad einmal gesagt, als Django danach fragte. »Weißt du noch, wie du letzten November so steife Finger hattest, dass du überhaupt nicht mehr spielen konntest? Mr. Hendrickx hat das das ganze Jahr über.«

»Aber er kann trotzdem spielen. Wie kann das sein?«

Dad hatte mit den Schultern gezuckt. »Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.« Was das genau heißen sollte, verstand Django nicht. Wahrscheinlich wusste es Dad selbst nicht.

Mr. Hendrickx hatte ein altes Knight hinten in seinem Wohnzimmer, das er selbst stimmte. Django spielte an diesem Tag »It Don’t Mean a Thing If It Ain’t Got That Swing«. Wie immer wusste er nicht genau, was er tat oder wohin die Musik ihn führen würde. Er folgte einfach der auf und ab hüpfenden Bassline und konnte seine energiegeladene Melodie frei im Rhythmus anlegen. Mr. Hendrickx’ große, glänzend schwarze Schuhe klopften auf den Fliesen im Takt mit. Dieses Klopfen, das fand Django herrlich. Eigentlich hätte er auch gerne Lackschuhe gehabt, damit ließ es sich viel wilder klopfen als mit seinen Nikes.

Als das Klavier verstummte, klatschte Mr. Hendrickx triumphierend in die Hände. »Unglaublich! Dieses Timing! Dabei ist er gerade mal zehn. Zehn! Ist das zu glauben?«

Dad lächelte bescheiden, Django sagte nichts. Es hatte nicht genau so geklungen wie bei Duke Ellington auf Spotify. Und auch nicht genau so wie bei Mr. Hendrickx. »Ich will so spielen können wie Sie.«

Mr. Hendrickx legte ihm die knochige Hand auf die Schulter und nahm neben ihm auf dem Hocker Platz. »Schlag dir das sofort aus dem Kopf, mein Junge. Ich will, dass du so spielst wie du selbst. Eines will ich dir über den Jazz verraten. Und damit meine ich den Swing der Dreißigerjahre, nicht den Bebop und den ganzen Hurenkram, der danach kam, dieses endlose Herumgejammere mit zwei Akkorden.« Er sah mit einem Augenzwinkern zu Dad, der grinste und ihm bedeutete weiterzureden. Wegen solcher Ausdrücke war Django so von dem alten Mann angetan. Er erklärte ihm alles, was er wissen wollte, und erzählte vom Krieg und von Hitler, der die Juden und Zigeuner vergast und nichts vom Jazz gehalten hatte. Davon, wie er als junger Soldat an der Front in Frankreich gekämpft hatte und dass sie abends mit den einheimischen Mädchen getanzt hatten. Davon, wie er bei lokalen Bands auf geheimen Partys gespielt hatte, während die Stadt brannte. Davon, wie die aus den Flugzeugen der Krauts abgeschossenen Granaten über sie hinwegflogen und in einiger Entfernung einschlugen, und davon, wie nahe Leben und Tod beieinanderlagen. Django hing bei diesen Geschichten gebannt an seinen Lippen.

»Vor dem Krieg hatte meine Mutter das Abspielen der Grammophonplatten von Coleman Hawkins und The Duke strengstens verboten, weil sie die Musik nicht ausstehen konnte. Und in Europa hatten die Deutschen den Jazz verboten. ›Negermusik‹ nannten sie das.«

»Das sagt man nicht«, rutschte es Django heraus, doch er schämte sich sofort dafür, dass er den alten Mann belehrt hatte.

»Ich glaube kaum, dass die Deutschen sich damals darum scherten, was man sagen darf und was nicht«, sagte Mr. Hendrickx. »Ich habe mir den Jazz selbst beigebracht, indem ich Radio hörte und auf Tanzabenden übte. Einfach durch Nachspielen. Genau wie du.«

Django war sieben gewesen, als er Mr. Hendrickx das erste Mal spielen hörte. Auf seinem Album, das man gemeinsam mit seinem Kriegstagebuch veröffentlicht hatte. Die Musik lief, wenn Mom kochte. Sie wiegte mit den Hüften zu den Nummern hin und her, die er später als »Lady Be Good«, »In the Mood« oder »Honeysuckle Rose« kennenlernen würde. Django hatte mit offenem Mund in der Tür gestanden und zugehört. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Dabei wollte er sich bewegen. Alles in seinem Körper hatte nach Bewegung geschrien.

Letztlich hatte Dads altes Keyboard sein Unvermögen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, beseitigt – jedoch nicht ganz. Das kam erst, als Mom und Dad sein Talent entdeckten und ihn an Weihnachten mit dem Steinwayflügel im Hinterzimmer überraschten, der schon bald nicht nur eine Verlängerung seiner Finger werden sollte, sondern auch seiner Seele. Popmusik ließ Django kalt, American Idol interessierte ihn nicht die Bohne. Doch der Swing hatte bei ihm einen Nerv getroffen.

So waren sie bei Mr. Hendrickx gelandet.

»Was ich damit sagen will«, sagte der alte Mann nun, »man kann ein und denselben Titel zweimal spielen, und es kommen zwei verschiedene Versionen dabei heraus. Die Musik ist durchdrungen vom Gefühl. Man lässt sich von den Akkorden leiten und improvisiert intuitiv. Wenn man es gut macht, ist es vollkommen abhängig von der eigenen Stimmung und der Atmosphäre im Saal. Und du spielst genau richtig, Django. Du setzt damit ein Statement. Wenn sie dir nicht zuhören, musst du ein Statement setzen. Der Jazz konnte einen durch den Krieg tragen, denn der Jazz bedeutete Freiheit. Jazz ist Freiheit mit Groove.«

Danach spielte Mr. Hendrickx, während Dad und Django nebeneinander im Sessel saßen und zuhörten. Es war Magie pur: sechsundneunzig Jahre hin oder her, wenn Mr. Hendrickx am Klavier saß, schmolz seine Arthrose dahin wie Schnee in der Sonne. Seine Finger bewegten sich geschmeidig über die Tasten. Eine langsame, sentimentale Melodie rollte durchs Zimmer, die immer mehr Akzente bekam, abschweifte, in tiefen Unterströmungen verloren ging, aber immer wieder wellenartig zu ihrer flimmernden Hauptlinie zurückkehrte. Mittendrin kam Mrs. Hendrickx mit Pralinen aus der Küche und sang mit. Keine Worte, sondern nur ein tiefes »Jadadal-dieda«, das aber schön klang. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Django stellte sich vor, dass sie früher zu dieser Nummer getanzt hatte, als sie noch jung und hübsch gewesen war und ihre Gelenke noch mitgespielt hatten.

Auf der Heimfahrt versuchte Django mit dem Zeigefinger die Regentropfen von der Scheibe zu wischen, doch sie waren unerreichbar hinter dem Glas. Dads Playlist spielte die Stones und Pink Floyd.

»Altherrenrock«, schimpfte Django.

31. Oktober

An Halloween war es trocken und ungewöhnlich mild. Und doch spürte Django die dunkle Wolke des Novembers über sich hängen. Er fand das idiotisch. Wieso mussten sich alle plötzlich schlecht fühlen? Wieso durfte er nicht mehr hinten im Garten spielen? Und warum schien sich alles, was man mochte, unerklärlicherweise gegen einen zu wenden?

Das ganze Jahr über war Django ein optimistisches Kind, das genoss, was das Leben für ihn bereithielt. Aber es gab auch Dinge, die er nicht verstand, die größer waren als er. Die Dunklen Tage zum Beispiel. Mom hatte ihm erklärt, dass es in jedem Jahr eine gute Zeit und eine schlechte Zeit gab. Die Dunklen Tage waren eine schlechte Zeit. Glücklicherweise dauerte sie nicht lange, nur ein paar Wochen. Aber diese paar Wochen fühlten sich endlos an. In der Schule durfte man nicht darüber reden, sonst wurde man bestraft. Aber das Schlimmste war, dass man sich nicht dagegen wehren konnte. Man musste es hinnehmen und sich am besten an Halloween amüsieren, denn es war vorläufig das letzte Mal, dass man Spaß hatte.

Am Tag zuvor hatte es in der Küche der Wachowskis eine hitzige Debatte darüber gegeben, ob die Eltern als Aufsicht beim Süßes-oder-Saures dabei sein sollten.

»Wir sind fast elf!«, hatte Liam ausgerufen.

»Ihr seid zehn.« Mrs. Wachowski hatte ihren Sohn auf eine Art angelächelt, die klarmachte, dass sie nicht mit sich diskutieren ließ.

»Die Dunklen Tage beginnen doch erst nach Halloween«, hatte Django gesagt. »Was soll schon passieren?«

Dad hatte nichts davon hören wollen. »Den Dummen bestraft das Leben, Django.«

Am Ende hatten sie beschlossen, dass Django und Liam allein gehen durften, unter der Bedingung, dass sie kein Haus betreten und »möglichst in der Nähe« von Mr. Wachowski bleiben würden, was auch immer das heißen sollte. Mr. Wachowski würde Liams jüngere Schwester Harper und ihre Freundinnen begleiten.

Kaila würde genau wie Liams vierzehnjähriger Bruder Ethan eine Halloween-Party bei einem Klassenkameraden in Carnation besuchen. Sie hatte sich als Hexe verkleidet. Nicht mit spitzem Hut und langer Nase, sondern mit Eisenketten um den Körper und aufgemalten Nähten über Augen und Mund. Das habe sie in irgendeinem Buch gelesen, sagte sie. Django hatte angeboten, Nadel und Faden zu holen, damit es echter wirkte.

»Und was stellst du dar? Light aus Death Note, oder was?«, fragte sie.

»Ich bin der untote Jerry Lee Lewis«, sagte er empört. Er drehte sich um, um ihr den Pappmaschee-Klavierhocker zu zeigen, der an seinem Hintern hing.

»Oh. Ja. Klar. Das errät man auf den ersten Blick, Bruderherz.«

Django fand sein Kostüm gelungen: die Haare mit Brylcreem zu einer Pompadour-Tolle gegelt, offenes Oberhemd, Jackett, schiefer Mund und natürlich blutige Zombienähte.

Mom trug eine braune Afro-Perücke und einen Bart. Dad war vollkommen lächerlich aufgemacht: Mit seinem Wollschal um die Taille sah er aus wie ein Schaf.

»Ich bin Bob Ross«, sagte Mom.

»Und ich eine Happy Little Cloud«, sagte Dad. Sie konnten sich kaum halten vor Begeisterung über ihre Kostümidee.

»Bitte … was?«, fragte Kaila.

Mom schnappte sich eine Malpalette und einen Pinsel vom Tisch und posierte neben Dad. »So besser?«

»Sie sind zu jung«, sagte Dad. »Wetten, die Wachowskis kriegen sich nicht mehr ein vor Lachen?«

Und tatsächlich, die Wachowskis kreischten auf, als sie Liam vorbeibrachten. »Ihr seid zum Brüllen! Marc, das musst du sehen!«

Joyce Wachowski war Miss America (»Typisch«, hörte Django am Abend Kaila beim Zähneputzen zu Mom sagen) und Marc ein Tannenzapfen. Liam hatte bereits verraten, als was er gehen würde – als Demogorgon der Seattle Mariners. Sein Kostüm war ihm hervorragend gelungen: Baseballtrikot plus Gesichtsmaske in Form einer zähnefletschenden fleischfressenden Pflanze. Harper war eine gruselige Ballerina (das Gruseligste daran war, dass sie nicht ein einziges Mal aus ihrer Rolle fiel, stattdessen drehte sie wortlos Pirouetten durchs Zimmer).

»Und du, Ethan«, lachte Mom, »du bist doch der Feuerwehrhund von Paw Patrol?«

»Marshall-in-Cujo-Gestalt«, korrigierte Ethan sie und fletschte knurrend die Zähne.

»Django Lee Lewis, du siehst fabelhaft aus!«, sagte Mrs. Wachowski. »Los, spiel uns was vor.«

»Mom, wir müssen gehen«, sagte Ethan.

»Aber ein kleines Stück geht doch noch, oder? Luana sagt, dass Liam und Django zusammen umwerfend klingen.«

Ob sie umwerfend klangen, konnte Django nicht sagen, aber sie waren ziemlich gut, das schon. Sie gingen in das Hinterzimmer, wo er sich seinen Pappmaschee-Klavierhocker abschnallte und auf dem echten Platz nahm und Liam seine Demogorgon-Maske auf dem Steinway ablegte. Dann stimmte Django ein mitreißendes Intro an, das in Windeseile einmal quer über die Tastatur von den hohen zu den tiefen Tönen tänzelte. Plötzlich fing er es mit einem donnernden Riff der linken Hand ab und begann zu singen. »You shake my nerves and you rattle my brain …«

Liam stimmte mit ein. »Too much-a love drives a man insane …«

Django ließ das Klavier zwischen jedem Satz antworten. Arme ausgebreitet – die höchsten und tiefsten Töne, er wollte sie allesamt hören. Sein Zwerchfell bebte. Seine Füße stampften. Seine Zähne bissen in einem Grinsen auf seine Unterlippe.

»You broke my will …«

»Oh, what a thrill …«

»Goodness gracious great balls of fire!«

Danach konnte niemand mehr still sitzen. Liams Schultern schüttelten sich beim Refrain wie bei einer Vogelscheuche. Django stieß den Hocker unter sich weg, das hatte er bei Jerry Lee Lewis in einem YouTube-Clip gesehen. Die Glissandos fand er am tollsten, wenn er mit den Fingern blitzschnell die weißen Tasten hinunterfegen konnte. Dive-bombs nannte der alte Mr. Hendrickx sie, was ein sehr viel coolerer Name dafür war. Er hatte es ihm vorgemacht. Seine Finger seien nicht mehr so schnell wie früher, hatte er gesagt, aber kaum legte man ihm Albert Ammons vor, Lux Lewis oder Jimmy Yancey, schon war er nicht mehr zu bremsen, der alte Mr. Hendrickx.

Auch Django war nicht mehr zu bremsen. Mom und Dad und die Wachowskis tanzten durchs Zimmer. Selbst Kaila und Ethan lachten. Jazz mochte Freiheit sein, Boogie-Woogie war der reinste Spaß. Allein schon das Wort, dachte Django: Boogie-Woogie.

»Ihr klingt echt gut«, sagte Dad kurze Zeit später, als Django den Pappmaschee-Hocker wieder an seinem Gürtel befestigte. »Ihr solltet ein Duo gründen. Oder eine Band.«

»Vielleicht.«

Aber Django spürte instinktiv, dass Liams Stimme zu süß war für diese Melodien. Seine eigene Stimme auch, selbst wenn er sich noch so große Mühe gab, sie kratzig klingen zu lassen. Das war keine Musik für Kinderstimmen. Dafür brauchte man eine raue, verrauchte Stimme. Eine Stimme, der man das Leben anhörte. Wie der von Mr. Hendrickx.

»Ihr wisst Bescheid?«, sagte Mom, als sie das Haus verließen. »Punkt neun Uhr seid ihr wieder da. Dann lassen wir die Rollläden runter.«

»Das gilt auch für euch, Ethan und Kaila«, sagte Mrs. Wachowski. »Zehn Minuten nach halb neun stehe ich bei den Remlingers vor der Tür, und ihr kommt raus. Wenn ihr zwölf Minuten nach halb neun nicht da seid, rufe ich an.«

»Maaaann«, seufzte Ethan und verdrehte die Augen.

»Bleib cool, Scooby-Doo!«

Liam und Django fingen beim Bungalow der Aikmans an. Mr. und Mrs. Aikman hatten ihre Veranda mit ausgehöhlten Kürbissen und Spinnweben verziert und reichten ihnen Hershey’s Kisses, Hot Tamales und Tootsie Rolls.

In der bogenförmig verlaufenden Bird Street standen fünf Häuser in einigem Abstand zueinander. Drei auf der Waldseite: der Bungalow der Aikmans, ihr eigenes Haus und die riesige McKinley-Villa. Auf der Lock-Haven-Seite befanden sich Liams Haus, ein kleiner Spielplatz und die Villa von Gray Junior und Laura mit-dem-schwierigen-Nachnamen. Vaxxer-irgendwas. Mom und Dad nannten es noch immer »das alte Nyholm-Haus«. Django hatte die Nyholms nie kennengelernt, denn sie waren weggezogen, als er noch klein war. Aber ihr altes Haus hatte er noch vage in Erinnerung. Vor allem, dass es leer und dunkel war. Liam sagte, es sei abgerissen worden, weil es darin gespukt hätte. Django glaubte nicht daran, dennoch war er froh, dass dort nun eine helle, moderne Villa stand. Ein gruseliges Haus in der Straße reichte völlig.

Die Windhunde schlugen an, sobald sie klingelten, und sie hörten Gray durch die Tür hindurch drinnen brüllen: »Helmut!«

Das war auch so ein Ding: die Hunde der McKinleys. Sie hießen genauso merkwürdig, wie sie aussahen. Der andere hieß Schwarzwald.

Laura schien mit ihrem sechsjährigen Töchterchen Aurora auf Süßes-oder-Saures-Tour durch Lock Haven unterwegs zu sein, und Gray war mit Baby Ricky zu Hause geblieben. Ihr Haus war zwar nicht geschmückt, aber Gray gab Django und Liam je einen Reese’s Peanut Butter Cup, insofern war alles cool.

Danach gingen sie über die Straße rüber zum Landhaus, das der Rest des McKinley-Clans bewohnte. Auch das war nicht geschmückt, aber es wirkte auch so unheimlich genug. Django bekam immer eine Gänsehaut, wenn er sah, wie es mächtig und still am Ende der langen Auffahrt aufragte. Durch den Efeu am Giebel sah es aus, als wäre es mit dem Wald verwachsen.

Django war noch nie drinnen gewesen, aber er wusste, dass es darin allerlei Bereiche gab, die Dad Flügel nannte; einen, in dem die alten McKinleys wohnten, einen für ihren jüngsten Sohn Maurice und einen für ihre Tochter Juliette. Juliette war lesbisch, was hieß, dass sie mit einer Frau namens Olivia verheiratet war. Django fand Olivia sehr nett. Sie war außerdem die einzige farbige Bewohnerin der Bird Street, neben Mom, Kaila und ihm. Vor ein paar Jahren waren sie bei ihrer Hochzeit gewesen, in den Gärten hinter dem Landhaus. Damals war es Frühling gewesen, und die Kirschbäume hatten geblüht.

Liam betätigte dreimal den eisernen Türklopfer, aber niemand öffnete. Dabei hätte Django schwören können, dass sich hinter der Gardine etwas bewegt hatte.

»Komm, wir brechen ein«, sagte Liam, »das wäre der Hammer!«

»Das traust du dich ja doch nicht.«

Liam dachte nach. »Nein. Aber wir könnten ihre Fenster mit Schlamm beschmieren.«

»Nein«, sagte Django. »Das will ich nicht.«

Als Django nach Hause kam, war ein stürmischer Wind aufgezogen, und tief über den Bäumen hing ein großer, gelber Mond. Dad und Kaila ließen die Rollläden an den Fenstern hinterm Haus runter. Django half mit den Fensterläden an der Hintertür und den oberen Fenstern. Man hörte den Wind daran rütteln, wodurch sie leicht klapperten. Der Schlüssel für die Hintertür verschwand in Dads Hosentasche. Später würde er ihn an den Haken hinten im Schrank seines Arbeitszimmers hängen. Das wusste Django, weil kleine Jungs immer wussten, wo ihre Eltern Dinge vor ihnen versteckten.

Dad hatte angeordnet, dass sich alle in der Küche versammeln sollten, sobald sie das Haus gesichert hatten. Dort duftete es nach frisch gebackenem Apfelkuchen. Da Django sein Kostüm noch etwas länger tragen wollte, war er als Erster runtergegangen.

Das heißt, nein, Mom war auch schon unten. Wie ein Geist huschte sie durchs Wohnzimmer und zündete Kerzen an, damit es gemütlicher wirkte. Ganz leise sang sie ein Lied. Django dachte bei sich, dass sie das wahrscheinlich tat, um den Wind nicht hören zu müssen. Sie hatte ihre Perücke und den Bart abgelegt, ihre Miene war angespannt. Falls sie ihn entdeckt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.

Mom und Dad hatten alle Spiegel im Haus entfernt. Auch die Glastüren vom Geschirrschrank fehlten. Wahrscheinlich lagen sie in der Scheune unter den Gartenstuhlpolstern, mit Kartons dazwischen. Genauso wie die Spiegel aus dem WC, dem Bad und dem Flur. Das große eingerahmte Familienfoto aus dem Italienurlaub, das normalerweise am Kamin hing, war durch ein Bild ersetzt worden, das Mama vor Jahren von Kaila und ihm vor dem alten Schaukelpferd gemalt hatte. Nur der große Wandspiegel im Wohnzimmer war zu schwer, deshalb hatten sie ein Laken straff um den Rahmen gespannt und Djangos Zeichnungen und Kailas Urkunden daran befestigt.

Im Vorzimmer spähte Django hinter der Gardine durchs Fenster. Die Bird Street lag still da. In der Scheibe starrte ein bleiches Gesicht mit hohlen Augen zurück.

Moms kalte Hand fiel auf seine Schulter. Schnell zog sie ihn weg und die Gardine wieder zu.

In der Küche stellte Dad die Kuchenform auf den Tisch und nahm das Geschirrtuch, mit dem sie bedeckt war, herunter. »Kinder, ihr wisst Bescheid. Von nun an werden wir uns ganz besonders umeinander kümmern.« Er holte das Küchenmesser hervor. »Wir passen aufeinander auf und sind besonders lieb zueinander.«

»Kumbaya«, seufzte Kaila.

Dad schnitt den Kuchen an. Er war innen noch schön saftig und dampfte. Django kniete auf dem Stuhl und hatte die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt.

»Darf Kaila zu Hause wohnen bleiben?«, fragte Django.

Sie versetzte ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf. »Blödmann, echt …«

»Kinder …«, sagte Mom.

»Jeder darf zu Hause wohnen bleiben«, sagte Dad. »Selbst du, Django. Zusammen kriegen wir die Dunklen Tage schon rum. So wie jedes Jahr.« Er verteilte den Kuchen, und Django bekam ein schönes großes Stück. Sie aßen mit schwarzem Plastikbesteck statt mit dem Stahlbesteck, weil das spiegelte. »Und, wer hatte das unheimlichste Halloween-Haus?«, fragte Dad.

Sie plauderten bestimmt eine halbe Stunde, und es war gemütlich. Dennoch fühlte es sich seltsam an. In ihrem Haus hatte sich etwas verändert. Etwas, das über die Laken und die Spiegel hinausging. Aber so sehr er sich auch umsah, konnte Django nicht genau bestimmen, was es war. Die Möbel waren dieselben, die Tapete war dieselbe, die Küche wohlvertraut. Kaila. Dad. Mom. Und dennoch.

Er blickte auf seine Kuchengabel, und mit einem Mal erkannte er es. Es war er selbst. Sein Blick war anders. Wie sollte er auch gleich auf die Dinge blicken, wenn er sie mit diesen Augen betrachtete, die ihm aus der Fensterscheibe entgegengestarrt hatten: zwei schwarze, tief liegende Höhlen in einer deformierten Maske, die sich nicht mehr wie sein eigenes Gesicht anfühlte.

Er sah, dass Mom den Mund verzog und Dad ihr die Hand aufs Haar legte.

Plötzlich wollte auch Django getröstet werden. Reichlich Trost gespendet bekommen. So wie wenn Mom sagte: »Komm, ich habe Suppe gemacht, die hilft immer«, und das, obwohl er nicht einmal hatte sagen müssen, dass es ihm nicht gut ging.

1. November

Hinter Liams Haus lag eine Weide mit zwei Alpakas. Nach der Schule gingen Django und Liam dorthin. Sie jagten die Tiere, indem sie schnell umherrannten und Fang-mich-doch spielten.

»Komm schon, Seepy«, rief Liam und schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. »Pssssschhh. Du kriegst mich doch nicht! Pssssschh.«

Die Alpakas waren merkwürdige Tiere, mit dummen Schafsköpfen auf einem langem Hals, der aus dem Körper eines Esels ragte. Django musste immer über ihre schiefen Vorderzähne lachen, damit sahen sie ein wenig aus wie Mongolen. Mom war böse geworden, als er das zu Hause einmal gesagt hatte, aber Kaila hatte gegrinst und eine schiefe Schnute gezogen, woraufhin Django noch mehr hatte lachen müssen. Die Alpakas waren zahm und spuckten normalerweise nicht, aber er hatte entdeckt, dass sie nervös wurden, wenn man sich dicht vor sie hinstellte und auf- und abwippte und sie anblies. Die Kunst bei Fang-mich-doch bestand darin, rechtzeitig abzutauchen. Das tat Liam, sobald Seepy plötzlich den Kopf zurückzog und spuckte.

»Daneben!«, johlte er dann, zur großen Erheiterung von Django. Lachend wollte Liam das Tier umarmen, doch Seepy erschrak und galoppierte zusammen mit Sappy davon.

In der hintersten Ecke der Weide konnte man über den Zaun klettern. Von dort aus verlief ein Pfad, der einen am Grundstück von Gray Junior vorbei zum Spielplatz und zur Bird Street zurückführte. Kaum waren sie dort angelangt, kam Dad auf der anderen Straßenseite über den Gartenweg angerannt. Er lächelte Django an, doch sein Gesicht war ernst.

»Django! Ich muss zum Fairfax. Es ist was mit Kaila. Kannst du bei Liam bleiben, bis Mom nach Hause kommt?«

»Darf ich nicht mit?«, fragte er.

Dad schüttelte den Kopf und warf Kailas Tasche auf die Rückbank. Sie stand unter Aufsicht und durfte nicht raus. Und er durfte nicht rein. »Sie braucht nur ein wenig Ruhe. Die Ärzte dort wissen, was sie tun.«

Das Fairfax war der Krisendienst, und dort wussten sie tatsächlich, was sie taten, denn das letzte Mal hatte Kaila auch wieder nach Hause gedurft. Dad sagte noch mehr, doch Django betrachtete den Forester und spielte in seinem Kopf »The Duke«. Mr. Hendrickx hatte recht gehabt: Die Melodie klang diesmal tatsächlich anders als vorhin. Doch er bekam sie nicht zu fassen, stets schien sie ihm zu entgleiten, genau wie die Regentropfen an der Rückseite der Fensterscheibe, als sie Samstag nach Hause gefahren waren.

»Liam, richte deinen Eltern bitte aus, dass ich sie von unterwegs aus anrufe.«

Django und Liam liefen am Bungalow der Aikmans vorbei, wo der Wald dichter war. Es roch nicht unangenehm, nach Erde und Holz und einem Anflug von Rauch, weil irgendwo ein Kamin brannte. In einigem Abstand vom Weg, hinter einem Waldstück, wo sie im Sommer manchmal Hütten bauten, stand der Drahtzaun. Man konnte ihn erst nicht sehen, doch weiter vorne näherte er sich dem Weg immer mehr an.

»Vorwärts, Jude«, schnauzte Django. »Geh weiter, sonst knalle ich dich auf der Stelle ab.«

Sie marschierten hintereinander her durch nasse Farne, die ihre Hosenbeine streiften. Django drückte einen Ast zwischen Liams Schulterblätter. Das war sein Gewehr.

»Alter, die hätten doch nie gesagt, dass sie vorhaben, sie abzuknallen. Da wären die doch nie mitgegangen.«

»Weitergehen!«

Mr. Hendrickx hatte erzählt, dass die Nazis die Juden ihr eigenes Grab ausschaufeln hatten lassen. Dort wurden sie dann erschossen, damit sie direkt in die Grube plumpsten. Das hatte großen Eindruck auf Django gemacht.

Als sie den Drahtzaun erreichten, befahl Django Liam, sich umzudrehen. Er legte an und drückte ab. Liam ließ sich rückwärts gegen den Zaun fallen, sackte dramatisch zusammen und stöhnte, während er starb. Er hat es verdient, so zu sterben, diese Ratte, dachte Django. Auf dem dreckigen Waldboden.

Danach spielten sie abwechselnd auf Liams Samsung Minecraft