NOVEMBERWUT - Ulrich Behmann - E-Book

NOVEMBERWUT E-Book

Ulrich Behmann

4,8

Beschreibung

EIN BLICK IN DIE ABGRÜNDE DER MENSCHLICHEN SEELE Am Totensonntag im November 2016 ereignet sich im beschaulichen Weserbergland ein Kapitalverbrechen, das weltweit für Abscheu und Entsetzen sorgt. Vor den Augen eines kleinen Kindes rammt ein Mann einer Frau ein Messer in Herz und Lunge. Danach holt er eine Axt aus seinem Wagen. Wie von Sinnen schlägt er damit auf Kopf und Körper der jungen Mutter ein. Dass er dabei beobachtet wird, bemerkt er – es stört ihn aber nicht. Der Täter legt dem sterbenden Opfer einen Galgenknoten um den Hals und befestigt das andere Ende des Seils an der Anhängerkupplung seines Autos. Dann gibt er Gas. Er will seine Ex-Frau zu Tode schleifen. Burov kennt keine Gnade. Es ist der erste Fall für die Mordermittler Herma van Dyck und Kurt Brenner. Die Kriminalisten müssen sich noch um zwei weitere mysteriöse Fälle kümmern: In einem Haus in der Hamelner Altstadt wurde eine brennende Frauenleiche entdeckt und in der Weser könnte eine Tote liegen ...

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Inhalt

Novemberwut

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Danksagung

Ulrich BehmannNovemberwut

Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie Kader Korkmaz und ihren Sohn Cudi, die Opfer des Gewaltverbrechens geworden sind.

Dieser Fall ist wahr. Er wurde aufgezeichnet nach den Akten der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft. Das Opfer war zweimal klinisch tot – es ist allein der ärztlichen Kunst zu verdanken, dass Kader K. die drei Mordattacken überlebt hat. Erstmals spricht die junge Frau über Höllenqualen während und nach der Ehe, über Schmerzen und Albträume, über ihre bewegte Vergangenheit, über eine Blutfehde, Tod und Trauer in Kurdistan, über eine abenteuerliche Flucht und über ihre ungewisse Zukunft. Den Aussagen und dem Geständnis des Täters wurde nichts hinzugefügt. Die Orte, Plätze und Straßen, die Restaurants und die Läden gibt es wirklich in Hameln und in Ostfriesland, lediglich die Nachnamen des Opfers und des Täters sowie dessen Adresse wurden zum Schutz der Angehörigen geändert. Einige Personen, die in diesem Fall eine Rolle spielen, haben zugestimmt, ihren richtigen Namen zu nennen. Den anderen hat der Autor ein Pseudonym gegeben. Die Dialoge wurden nach bestem Wissen und Gewissen nachgezeichnet. Nur selten vermischen sich in diesem Buch Realität und Fiktion.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2017 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8337-8

Ulrich Behmann

Novemberwut

Der Fall Kader K. – ein Verbrechen, das die Welt erschüttert hat

Foto: Adam CreutzfeldtUlrich Behmann, Jahrgang 1963, arbeitet als Chefreporter der Deister- und Weserzeitung in Hameln. Der Journalist berichtet seit mehr als 30 Jahren über spektakuläre Kriminalfälle in Deutschland und über Kriegsereignisse in aller Welt. Während dieser Zeit hat er schon oft in die Abgründe der menschlichen Seele geschaut. Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis zählen Mordermittler, Kriminaltechniker, Richter, Staatsanwälte, Strafverteidiger, Opferanwälte, Notärzte und Rechtsmediziner. Seit 1993 ist der Redakteur ehrenamtlich als Dozent an der Rettungsschule der Hauptberuflichen Wachbereitschaft der Feuerwehr Hameln tätig. Ende der 1990er-Jahre arbeitete Behmann zeitweise als Dozent an der Akademie der Bayerischen Presse (Kulmbach) und als Professor am Studienzentrum für Journalistik der Universität Mostar, Bosnien-Herzegowina. Behmann ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt mit seiner Familie in Hameln. In seiner Freizeit engagiert er sich als Vorsitzender der von ihm ins Leben gerufenen Hilfsorganisation Interhelp – Deutsche Gesellschaft für internationale Hilfe ehrenamtlich für Menschen in Not. Als Vorstandsmitglied des Rotary Clubs Bad Pyrmont ist er verantwortlich für den internationalen Dienst.

„Du sollst nicht töten.“

Bibel, 2. Mose 20,13. Das fünfte Gebot.

„Aus diesem Grunde haben wir den Kindern Israels angeordnet, dass, wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.“

Koran, Vers 5,32

Kader ist kurdisch und bedeutet Schicksal.

Für Kader,die mich gebeten hat, ihre Geschichte aufzuschreiben. Ich danke ihr für das in mich gesetzte Vertrauen, und ich wünsche ihr alles erdenklich Gute. Ich weiß, wie sehr sie noch heute unter den Folgen des barbarischen Verbrechens leidet und hoffe zutiefst, dass sich ihr geschundener Körper und ihre verwundete Seele irgendwann von dieser furchtbaren Tat erholen werden und dass es ihrem kleinen Sohn Cudi irgendwann gelingt, das Erlebte zu verarbeiten.

Novemberwut

Er saß auf der Bettkante und schaute aus dem kleinen Dachfenster auf den Himmel, der sich von Minute zu Minute verdunkelte. Die Gardine hatte er schon vor einiger Zeit zur Seite gezogen. Er wollte freie Sicht haben. Jetzt, kurz nach dem Abendgebet, war die beste Zeit. Er mochte die blaue Stunde, diese ganz besondere Färbung des Himmels während der Dämmerung nach dem Sonnenuntergang. Er verstand nichts von Meteorologie, von Astronomie und von Lichtstreuung. Ihm gefiel einfach diese melancholische Stimmung. Nicht erst seit dem Tod seiner Mutter, die sich im Jahr 2012 das Leben genommen hatte. Der Halbmond leuchtete aschfahl, die Sterne funkelten.

Doch an diesem milden Spätnovembertag im Jahr 2016 konnte sich Nurettin Burov nicht auf das Naturschauspiel konzentrieren. Seine Gedanken kreisten um Kader und Cudi. Kader hatte er im März 2013 zur Frau genommen – nach dem islamischen Glauben. Damals war er noch verheiratet gewesen mit einer anderen. Er hatte Leyla standesamtlich geheiratet, so wie es in Deutschland üblich ist. Nach 15 Jahren hatte sie ihn verlassen. Heimlich, still und leise. Er war gerade mit seiner Fußballmannschaft unterwegs gewesen. Während er im Bus saß, hatte sie die Koffer gepackt und die Tür seines Hauses in Eimbeckhausen hinter sich zugezogen. Für immer. Ihn hatte das gekränkt und wütend gemacht.

Diese Schlampe, dachte er. Der Teufel soll sie holen.

Die Ehe war kinderlos geblieben. In seinem Kulturkreis hatte das seinem Ansehen geschadet. Kein Kind, keine Familie. Nun war er sie los. Gut so. Aber jetzt hatte er eine andere am Hals. Eine, die stark war, eine, die sich ihm nicht unterordnen wollte, eine, die ihre Freiheit liebte und machte, was sie wollte. Eine, die ihn als Mann gedemütigt und in seiner Ehre tief verletzt hatte. Er war fest davon überzeugt, dass Kader ihn fertigmachen wollte. Der Hass vernebelte sein Gehirn, so wie die Schleierwolken, die sich langsam über dem Bergkamm des Süntels vor den abnehmenden Mond schoben, der bereits einen Hof gebildet hatte. Es würde kälter werden. Das Sonnenlicht, das den Mond erhellte, brach sich an Eiskristallen, die sich in den Wolken befanden, und produzierte mystische Lichteffekte.

Aber das sah Nurettin Burov schon nicht mehr. In seinem Kopf lief ein Film ab. Der Familienvater schmiedete einen Mordplan. Er wollte sich seinen Jungen nicht wegnehmen lassen, er wollte nicht zulassen, dass er schon wieder von einer Frau verlassen wird. Es wäre das dritte Mal gewesen in nur drei Jahren. Und er wollte vor allem nicht Unterhalt bezahlen müssen – nicht für diese verfluchte Hexe. Er würde sich rächen und sie auf eine besonders grausame Art und Weise töten – in aller Öffentlichkeit.

„Diejenigen, die mich verhöhnen und belächeln, sollen erleben, zu was ich fähig bin. Ich werde Kader zeigen, wo es langgeht. Ich werde es ihr heimzahlen, ihr ein für alle Mal klarmachen: Ich kann dir sogar das Leben nehmen. Ich bin ein Mann. Einen Mann stellt man nicht bloß. Ich werde ihr Qualen zufügen. Ja, ich werde sie töten. Ich werde ihren Tod inszenieren. Alle sollen das sehen.“

Nurettin Burov schaute noch einmal zum Himmel, der sich jetzt schwarz verfärbt hatte. Er war zufrieden. Zufrieden mit sich selbst. Zufrieden mit seinem Plan. Ja, er würde seine Ehre verteidigen, er würde tun, was ein kurdischer Mann in einem solchen Fall tun muss. Sein deutscher Pass würde nichts daran ändern.

„Sie werden noch lange über mich reden. Ich habe das Recht, sie zu töten. Sie hat mich verletzt“, sagte er leise zu sich selbst, so, als wolle er sich Mut machen.

Er stand auf, ging zum Wohnzimmertisch, wo er einen Block mit kariertem Papier aufbewahrte, auf dem er schon seit ein paar Tagen notierte, was ihm durch den Kopf ging.

Heute hatten sie ihn zum Gespräch gebeten – die Personalreferentin der Möbelfirma, für die er seit 20 Jahren arbeitete, und noch so eine blöde Tussi. Sie hatten ihm eröffnet, dass eine Gerichtsvollzieherin da gewesen sei. Mit einem Pfändungsbeschluss. Kader hatte seine Warnungen also ignoriert. Sie nahm ihn nicht ernst. Das würde sie büßen. „Sie macht aus mir einen Hampelmann. Sie darf nicht ungestraft davonkommen“, brabbelte er vor sich hin. „Sie will mein Geld. Aber sie wird es nicht bekommen. Es gehört mir. Nur mir. Ich habe hart dafür gearbeitet.“

Das Gespräch im Büro der Personalreferentin war unschön verlaufen. Er hatte sich aufgeregt über die Nachricht, war völlig ausgerastet. Er konnte nicht verstehen, warum Kader immer Recht bekam. Mehr als 14.000 Euro Unterhalt sollte er nachzahlen. Kaders Rechtsanwältin hatte das durchgesetzt. Natürlich bei einer Richterin. Und nun sah er in die Gesichter zweier Frauen, die ihm erklärten, was von seinem Polsterer-Lohn am Ende übrig blieb.

Bevor ich der Schlampe Geld gebe, gehe ich lieber in den Knast, hatte er gedacht – und den Satz wohl auch ausgesprochen.

In diesem Moment hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Wie denn auch?

„In Deutschland haben Frauen zu viele Rechte. Sie werden behandelt wie heilige Kühe. Der Mann ist ihnen untertan. Überall Weiber, die glauben, sie hätten etwas zu sagen. Ich fasse es nicht. Damit finde ich mich nicht ab.“

Im Büro der Personalreferentin hatte er sich vergessen.

„Alle Frauen sind Hexen“, hatte er geschrien – und sie zusätzlich noch als „gebärende Kühe“ bezeichnet.

Er lächelte in sich hinein, verzog sein Gesicht zu einer fiesen Fratze: Gebärende Frau? Wie unpassend, dachte er. Das ist doch irgend so ein beknacktes Gleichnis Jesu. Obwohl: Das Bild von der gebärenden Frau, die Schmerzen und Angst ertragen muss, gefiel ihm eigentlich ganz gut. Wäre da nicht der Schluss des Gleichnisses gewesen: die große Freude über das neugeborene Kind. Nein, Freude sollte Kader nicht mehr haben. Ihr Leben würde schon bald vorbei sein. Sie würde Höllenqualen leiden in den Minuten vor ihrem Tod. Er würde Schluss machen – mit ihr. So wie er es schon angekündigt hatte. Ein Mann, ein Wort. Niemand sollte über ihn sagen können, er wäre nur ein Schwätzer.

Nurettin Burov nahm sich einen Kugelschreiber und notierte auf dem Blatt Papier: „Jetzt werde ich gepfändet von euch. Jetzt wird sie von mir gepfändet. Ich will in Frieden leben. Game over.“

Kapitel 1

Hameln, Südstadt. 21 Kilometer entfernt von Eimbeckhausen. Kaders Fluchtpunkt. Seit der Trennung von ihrem Ex-Mann lebte die 28-Jährige mit ihrem Sohn Cudi in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Königstraße. Bei Mutter Hayriye, ihrer Schwester Nergis und ihrem Bruder Egîd, die beide jünger waren als sie. Es war eng, aber gemütlich. Nur im Winter nicht. Unter dem Spitzdach konnte es unangenehm kühl werden – selbst dann, wenn man die Heizkörperthermostate voll aufdrehte. Kader empfand Temperaturen unter 15 Grad als unangenehm. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich ständig Sorgen um ihren Sohn machte. Der Kleine war anfällig für Viren und Keime. Er wurde schnell krank, hatte schon eine Bronchitis und eine Mandelentzündung durchgemacht.

Doch wichtiger als alles andere war für Kader, dass die Familie zusammenhielt – Mutter und Geschwister hatten sie und Cudi vor zweieinhalb Jahren herzlich aufgenommen. Der Junge war damals erst dreieinhalb Monate alt gewesen. Hayriye, Nergis und Egîd wussten von der Weigerung des Ex-Mannes, die Morgengabe der Braut herauszugeben und Unterhalt zu bezahlen. Schon mehrfach war der Streit um Gold und Geld eskaliert. Nurettin Burov hatte sogar schon Kaders Mutter geschlagen. Ein Tabubruch.

Nach 13 Monaten Ehe war Kader geflüchtet. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sich ihr Mann ändern wird. Immer wieder hatte er sie enttäuscht.

Es klingelte. Kader blickte durch den Spion, um zu schauen, wer vor der Tür stand. Sie hatte Angst, dass Nurettin ihr auflauern würde, um sich an ihr zu rächen. Kader traute ihrem Ex mittlerweile alles zu. Sie erinnerte sich daran, dass er sie schon einmal während eines Streits aus dem Auto gestoßen hatte. Sie war damals hochschwanger gewesen und hatte einen Schutzengel gehabt – wie schon so oft in ihrem Leben. Zum Glück war es nicht Nurettin, der geklingelt hatte. Durch den Türspion sah sie in das lächelnde Gesicht ihrer Freundin Nesrin, die sie besuchen kam.

Die Begrüßung war herzlich. Die Frauen nahmen sich schweigend in den Arm. Kader bat Nesrin, hereinzukommen.

„Magst du einen Tee?“, fragte Kader ihre Freundin.

„Ja, gern.“

Kader brühte frischen türkischen Tee auf. Sie liebte es, Çay auf traditionelle Art zuzubereiten. Die Teeblätter, die sie nahm, mussten an der Schwarzmeerküste gepflückt worden sein. Am besten im Morgengrauen. Der beste Tee wuchs in der Provinz Rize.

Kader bereitete den Tee vor, wie sie es von ihrer Mutter Hayriye gelernt hatte: in zwei übereinandergestapelten Çaydanlık-Kesseln. In dem unteren größeren Kessel brachte sie das Wasser zum Kochen, den oberen kleineren Kessel füllte sie mit mehreren Löffeln Schwarztee. Als das Wasser kochte, goss Kader den Tee auf und ließ ihn ziehen. Ein Teil des heißen Wassers blieb in dem unteren Behälter zurück. So konnte sich später jeder Gast am Tisch individuell seinen Tee verdünnen. Kader und Nesrin bevorzugten tavşan kanı, was so viel wie Kaninchenblut bedeutet. Diese Farbe musste ein guter Tee haben. Dann schmeckte er so wie in der Heimat.

Kader servierte im Wohnzimmer. Sie füllte die kleinen Gläser bis zur Hälfte und verdünnte den tiefschwarzen Tee mit Wasser, bis er sich hellrot färbte.

Im Hintergrund dudelte leise das Radio. NDR 1 Niedersachsen spielte Kuschelrock. Helene Fischer sang gemeinsam mit US-Softpopper Michael Bolton den 1990er-Hit „How Am I Supposed To Live Without You“.

„Sag mir, wie soll ich ohne dich leben?“, hieß es an einer Stelle.

Das war zu viel für Kader.

Sie ging zum Radio und schaltete es aus. Kader mochte zwar romantische Songs sehr, aber heute gingen ihr diese Schnulzen, in denen es immer um ewige Liebe und Trennungsschmerz ging, auf den Geist. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für solche Musik. Die gescheiterte Beziehung, Nurettins Demütigungen, der Rosenkrieg – das alles war ihr aufs Gemüt geschlagen. Aus einer Romantikerin drohte eine verbitterte Frau zu werden. Sie wollte das nicht zulassen.

Die Freundinnen setzten sich auf große weiche Kissen und quatschten drauflos – über alte Zeiten, den Krieg in Kurdistan und die Not der Menschen, die vom sogenannten Islamischen Staat verfolgt und getötet wurden. Nesrin erzählte von mutigen kurdischen Frauen, die, bewaffnet mit Sturm- und Maschinengewehren, an der Front „ihren Mann“ standen.

„Im Krieg sind Frau und Mann gleichberechtigt. Im Frieden nicht. Was ist das nur für ein Frauenbild“, meinte Nesrin und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht.

Schon bald kam das Gespräch auf Nurettin, die gescheiterte Ehe, die erlittenen Torturen und den schwelenden Unterhaltsstreit.

„Und? Wie geht es jetzt weiter?“, wollte Nesrin wissen.

„Eigentlich ist alles geregelt“, antwortete Kader. „Und dennoch ist es kompliziert. Er muss zahlen, aber er will sich nicht von seinem geliebten Geld trennen. Du weißt ja: Er liebt Geld über alles. Die Briefe von meiner Anwältin ignoriert er einfach. Je öfter sie ihn auffordert, endlich Unterhalt zu zahlen, desto aggressiver reagiert er. Aber jetzt wird er zahlen müssen. Dafür hat meine Rechtsanwältin gesorgt.“

„Wie will sie ihn denn zwingen, wenn er auf die Briefe nicht reagiert?“, wollte Nesrin wissen.

„Ganz einfach“, sagte Kader mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen. „Sie lässt jetzt seinen Lohn pfänden. Dagegen kann er nichts unternehmen.“

„Der Arme“, sagte Nesrin mit einem ironischen Unterton und grinste dabei. „Er wird gepfändet. Sieh mal einer an …“

„Er hat es verdient“, sagte Kader. „Dieser Mann hat mich monatelang gequält, er hat mich immer wieder belogen und wie eine Leibeigene gehalten. Anfangs hat er mir den Himmel auf Erden versprochen. Er wollte mich auf Rosen betten. Aber schon kurz nach der Hochzeit hat er sein wahres Gesicht gezeigt.“

Tränen liefen Kader über die Wangen. Ihre Augen waren rot geweint. Gern hätte sie ein unbeschwertes Leben geführt. In Ruhe und in Frieden. Gern wäre sie geliebt, geachtet und respektiert worden von ihrem Mann. Aber es hat nicht sollen sein.

„Er wollte keine gleichberechtigte Frau. Er wollte eine Dienerin. Eine, die ihm gehorcht, nicht widerspricht. Er hat immer wieder versucht, meinen Willen zu brechen. Er hat mich bedroht, beleidigt, erniedrigt und dauernd angespuckt. Über Wochen und Monate ging das so. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, angespuckt zu werden. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe damals viel geweint.“

„Warum hast du ihn denn nicht schon viel früher verlassen?“, fragte Nesrin, reichte Kader ein Tempo-Taschentuch und nahm sie tröstend in den Arm.

„Ich weiß es auch nicht. Wahrscheinlich habe ich geglaubt, es sei nur so eine Phase. Er kann ja auch nett und freundlich sein, weißt du. Immer wieder hat er mich bequatscht. Immer wieder habe ich mich von ihm täuschen lassen. Am Ende hat er immer wieder sein wahres Gesicht gezeigt. Ich habe gedacht: Er wird sich ändern, wenn erst einmal das Kind da ist. Aber es wurde alles noch viel schlimmer.“

Kader ließ ihre Hände kraftlos auf ihre Oberschenkel fallen und starrte auf den Teppich. Mit leiser Stimme fuhr sie fort: „Ich bin in diesen 13 Monaten Ehe durch die Hölle gegangen, Nesrin. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was er mir alles angetan hat.“

„Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte dich da rausgeholt“, sagte Nesrin.

„Ja, wie denn? Ohne mein Handy? In dem Ding habe ich doch alle Telefonnummern gespeichert – auch deine.“ Kader schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Ich habe ja nicht alle Handy-Nummern im Kopf. Ich bin doch kein Autist. Und vom Festnetz wäre es nicht gegangen. Das hätte er sofort gemerkt. Wer weiß, was mir dann geblüht hätte …“

Kader wischte sich mit dem Taschentuch Tränen aus den Augenwinkeln. Sie musste schluchzen. „Er hat mir schon kurz nach der Heirat das Smartphone weggenommen und mir verboten, Kontakt mit dir und der Clique aufzunehmen. Freunde durften mich nicht besuchen. Ich durfte nicht telefonieren. Ich durfte nicht einmal meine Mutter treffen. Alles hat er mir verboten. Er hat mich gehalten wie eine Sklavin. Es war der blanke Horror. Ich war gefangen in diesem Dorf.“

Während sie das sagte, schaute Kader aus dem Fenster. Sie sah auf die Dächer der Südstadt-Häuser, die allesamt aus der Gründerzeit stammten. Tränen rollten über ihre Wangen. Ihr Blick war leer.

„Du irrst. Ich kann mir das sogar ganz gut vorstellen“, sagt Nesrin leise. Mit gesenktem Kopf schaute sie dabei auf den handgeknüpften Orient-Teppich, der im Wohnzimmer der Kader-Familie lag. „Ich habe doch auch so einen Idioten von Mann zu Hause. Nur gut, dass er die meiste Zeit in der Türkei lebt. Von dort hat er keine Macht über mich.“

Kader zeichnete ein düsteres Bild von dem Mann, dessen Vater im Jahr 2013 bei ihrer Mutter um ihre Hand angehalten hatte.

„Er ist ein Teufel. Er hat eine schwarze Seele“, sagte sie und trank einen Schluck Tee. „Im Nachhinein frage ich mich, wie ich einer Heirat überhaupt zustimmen konnte. Gott, war ich blöd. Ich habe ihn nie geliebt. Er wollte mich zu seiner Frau nehmen – und ich habe schließlich Ja gesagt. Ich weiß auch nicht, warum ich das gemacht habe. Es ist halt passiert. Ich bin selbst überrascht. Das ist wohl mein Schicksal …“

„Du hast geglaubt, er sei ein guter Mann“, sagte Nesrin.

„Ja, es war so. Als er um mich geworben hat, hatte er Tränen in den Augen. Er hat geweint, er sah so hilflos aus. Ich dachte damals: Wer Gefühle zeigen kann, muss ein lieber Mensch sein. Ich wollte keinen Mann, der herzlos ist. Ich hätte auf meinen Kopf hören sollen. Mein Gehirn hat Nein gesagt, aber mein Herz hatte Mitleid mit ihm. Doch Nurettin ist falsch. Er kann sich gut verstellen. Mal verspricht er dir, dich auf Händen zu tragen, mal droht er, dich zu töten. Sein Gesicht ist dann hasserfüllt. Er ist ein Mensch, der immer recht haben will.“

„Ja, ich weiß“, sagte Nesrin nachdenklich und verteilte mit einem kleinen Silberlöffel die Zuckerkristalle, die sich in ihrem Teeglas befanden. „Immerhin hat er einen guten Job.“

„Ja, das hat mich damals sicher beeindruckt. Ich dachte: Er raucht nicht, er trinkt nicht, er spielt nicht, er geht zur Arbeit. Ich dachte, er ist vernünftig. Aber ich habe mich täuschen lassen“, sagte Kader.

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Nesrin wusste nicht, welche Worte jetzt die richtigen sein würden, um Kader Trost zu spenden.

Um die Stille zu durchbrechen, sagte Nesrin etwas, für das sie sich am liebsten auf der Stelle geohrfeigt hätte. Ohne es zu wollen, lief sie Gefahr, ihre beste Freundin zu verletzen. „Und du hast früher immer gesagt, dass du keinen kurdischen Mann nehmen willst, der in Deutschland aufgewachsen ist.“

„Ja, das stimmt.“ Kader schien über diese Bemerkung nicht sauer zu sein. „Du weißt doch, wie die sind. Die meisten saufen und hängen in Spielhallen herum, wo sie ihr ganzes Geld verzocken. So einen Typen wollte ich nicht. Ich dachte: Gute Männer gibt’s nur in der alten Heimat. Keine Ahnung, ob das stimmt. Das war jedenfalls meine Meinung. Und das scheint ja auch zu stimmen. Am Ende habe ich gegen meine eigene Überzeugung gehandelt und den größten Fehler meines Lebens gemacht. Ich bin jedenfalls an das größte Arschloch geraten, das hier rumläuft.“

Wenn Nurettin Burov sauer war, hatte er das seine elf Jahre jüngere Frau spüren lassen. Er nannte sie eine Hure, nur weil sie rauchte, er bezeichnete sie als Schlampe, nur weil sie sich mit Freundinnen in einem Lokal treffen wollte.

„Ich kann nicht verstehen, wie man so rückständig sein kann“, sagte Kader. Während sie sprach, massierte sie mit beiden Händen ihre Schläfen. „Er ist als Kind nach Deutschland gekommen. Er ist hier zur Schule gegangen, er hat hier eine Ausbildung gemacht, er ist stolz auf seinen Gesellenbrief. Aber er hat ein mittelalterliches Frauenbild. Er meint, Frauen müssen wie Roboter funktionieren und seinen Kommandos gehorchen. Sie dürfen nicht denken, nichts ohne die Zustimmung des Mannes entscheiden und schon gar nicht ohne Erlaubnis rauchen. Er ist so erzogen worden. Ich glaube, der Vater ist schuld. Ganz sicher sogar …“

„Aber das ist jetzt vorbei.“ Wie zum Trotz zündete sich Kader eine Marlboro an.

„Ich bin frei wie ein Vogel.“ Kader sog den Rauch ihrer Zigarette tief ein und inhalierte ihn einen Moment. Dann legte sie ihren Kopf in den Nacken, spitzte ihre Lippen, öffnete ihren Mund zu einem O und stieß den grauen Rauch aus. Ringe waberten durch die Luft, stiegen zur Decke auf, breiteten sich aus und lösten sich nach ein paar Sekunden auf. Kader lächelte zufrieden.

Nesrin ließen solche Kunststücke unbeeindruckt. Sie war Nichtraucherin.

„Wirst du dein Gold, das du bei der Hochzeit geschenkt bekommen hast, zurückbekommen?“, fragte Nesrin.

Kader zuckte mit den Schultern. Sie dachte einen Moment nach. Dann antwortete sie: „Klar, er muss es tun. Die Morgengabe gehört mir. Der Schmuck ist mehr als 20.000 Euro wert. Warum sollte ich da­rauf verzichten? So ist es kurdischer Brauch. So muss es sein. Außerdem habe ich eine Klage gegen ihn eingereicht. Das deutsche Recht wird auf meiner Seite sein. Das Sorgerecht für Cudi ist mir schon zugesprochen worden. Unterhalt muss er bezahlen. Das hat er jetzt schriftlich. Die Richter sind klug in Deutschland. Sie werden Unrecht erkennen und Recht sprechen.“

Nesrin rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln und sah auf die Uhr. „Ich muss jetzt gehen. Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde. Du bist eine mutige Frau. Nicht jede würde sich vor einem deutschen Gericht mit einem kurdischen Mann anlegen.“

„Ach was“, sagte Kader und winkte ab. „Nesrin, ich verlange ja nichts, was mir nicht zusteht. Ich muss an das Kind denken. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich habe das Recht auf meiner Seite. Er muss das akzeptieren. Er muss einlenken. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Meine Anwältin hat ihm das schon verklickert. Du wirst schon sehen.“

„Trotzdem“, warf Nesrin ein. „Du solltest gut auf dich aufpassen. Hat er dich nicht erst neulich wieder bedroht?“

„Ja, das hat er“, antwortete Kader. „Erst vorgestern hat er in der Kanzlei meiner Rechtsanwältin angerufen und ihr ausrichten lassen: ,Sollte das mit der Pfändung nicht bis zum Wochenende aufhören, dann wird einer von uns beiden sterben.‘ Dreimal darfst du raten, wen er wohl damit gemeint hat.“

Nesrin zog die Stirn in Falten. Ihr Gesicht sprach Bände. Sie war zutiefst besorgt.

„Nimm das bitte nicht auf die leichte Schulter. Du hast ihm vor Gericht den Kampf angesagt. Er ist jetzt verletzt wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde. Und das macht ihn unberechenbar. Du musst das ernst nehmen. Wir wissen doch beide, wozu kurdische Männer fähig sind. Nicht alle, aber viele leben immer noch hinter dem Mond. Sie sind dumm, sie denken und handeln noch so wie ihre Großväter. Sie sind nicht in der Neuzeit angekommen.“

Kader walkte sich das Gesicht durch und schwieg einen Moment lang. Dann öffnete sie ihre wunderschön geschwungenen Lippen. „Ich weiß, du meinst es gut mit mir. Aber ich werde mich nicht vor ihm verstecken. Warum auch? Ich habe keine Angst vor ihm. Ich biete ihm die Stirn. Er ist ein Chauvi und ein echtes Großmaul. Er wird mir nichts tun. Er hat so etwas schon mal gesagt. Im Oktober. Da hat er Cudi abgeholt und geschrien: ,Einer von uns wird bald nicht mehr leben.‘ Passiert ist danach nichts. Hunde, die bellen, beißen eben nicht.“

Nesrin schaute sie eine Sekunde lang verständnislos an und zuckte dann mit den Schultern.

„Okay, wie du meinst. Du bist ein Dickkopf …“ Sie hob den linken Arm an und blickte demonstrativ auf ihre vergoldete Armbanduhr. Nesrin unterdrückte ein Gähnen. „Es ist spät geworden. Mir fallen schon die Augen zu. Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute und viel Glück. Wir sehen uns. Lass uns mal wieder Couscous machen. Mit Hähnchen oder Lamm. Dann machen wir uns einen schönen Abend.“ Nesrin erhob sich von dem knallroten Sitzkissen, auf dem sie die ganze Zeit über im Schneidersitz gesessen hatte.

Kader leckte sich über ihre roten Lippen und zog dazu ihre sorgfältig gezupften schwarzen Augenbrauen hoch.

„Hört sich gut an.“ Sogleich meldete sie Bedenken an: „Aber ich weiß nicht. Ich muss mich um Cudi kümmern. Der Kleine wird in ein paar Wochen drei. In diesem Alter braucht er seine Mama.“

„Nein, du musst jetzt an dich denken“, wies Nesrin ihre Freundin zurecht. „Du hast vieles durchgemacht in den vergangenen Monaten. Jetzt brauchst du auch mal etwas Zeit für dich.“

Kader lächelte, als sie in die braunen Augen ihrer Freundin schaute. „Du hast wie immer recht. Nächste Woche treffen wir uns. Ich gehe zum Afrin-Markt an der Kaiserstraße und kaufe die Zutaten ein. Dort gibt es den besten Couscous von Hameln und das frischeste Hähnchenfleisch.“

Nesrin hatte es wieder einmal geschafft, sie zum Lächeln zu bringen. Auf ihre Freundin konnte sie sich verlassen. Sie war immer für sie da. Sie konnte zuhören, ihr ins Gewissen reden, sie trösten oder einfach nur schweigend in den Arm nehmen. Bevor Nesrin die Wohnung verließ, drückte sie Kader ganz fest an sich. Insgeheim machte sich die Kurdin Sorgen um ihre Freundin.

An diesem Abend fasste Kader einen Entschluss: Nach der Trennung von Nurettin würde sie ein neues Leben beginnen, sich um ihren Sohn kümmern und ihren Schulabschluss machen. In der Türkei hatte sie die Grundschule besucht. Sie war Klassenbeste gewesen. Nach einer abenteuerlichen und lebensgefährlichen Flucht war sie in Deutschland eingeschult worden. Deutsch hatte sie überraschend schnell gelernt. Auf der Maxim-Gorki-Realschule im mecklenburg-vorpommerischen Altentreptow hatte sie auf Anhieb eine 3 geschafft. Dumm war sie nicht. Selbstbewusst und keck vielleicht. Aber nicht dumm.

Ihr großer Traum und langgehegter Wunsch, irgendwann einmal Jura zu studieren und Rechtsanwältin zu werden, hatte etwas mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und auch etwas mit dem türkisch-kurdischen Konflikt zu tun. Die meisten kurdischen Politiker waren Juristen. Kader wollte Politikerin werden und sich für ihr Volk einsetzen. Außerdem fand sie die schwarzen Roben der Anwälte irgendwie sexy. Sie strahlten Macht aus. Aber die Flucht nach Deutschland hatte ihr Leben in andere Bahnen gelenkt.

Es ist nicht zu spät. Auch mit 28 und als Mutter kann ich meinen Traum leben, dachte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ja, ich werde mein Abitur machen und studieren. Ich schaffe das … ihr werdet schon sehen.“

Kapitel 2

In Eimbeckhausen surfte Nurettin Burov noch eine Weile im Internet. Ihm gingen Bilder durch den Kopf. Bilder, die die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates ins Netz gestellt hatte, um weltweit Angst und Schrecken zu erzeugen. Er musste an seinen Vater denken, der ihm oft seine tiefen Narben am rechten Arm und an den Beinen gezeigt hatte. Sie stammten von Stromstößen und Verbrennungen – zumindest hatte das das Familienoberhaupt behauptet. Er, der folgsame Sohn, hatte seinem Vater die Erzählungen von Folter und Unterdrückung immer abgenommen. Die deutschen Behörden nicht. Sie hatten den ärztlichen Attesten wenig Glauben geschenkt. Aber das war damals. Ende der 1980er-Jahre. Das war lange vorbei. Angst, abgeschoben zu werden, mussten sie nicht mehr haben. Es gab Zeiten, da war das anders gewesen. Asylanträge und eine Petition der Familie, in Deutschland bleiben zu dürfen, waren vom Landtag mit Stimmen der CDU und der SPD abgelehnt worden. Die Burovs hätten das Land verlassen müssen. Nur Nurettin hätte bleiben dürfen. Er war seinerzeit als einziges Familienmitglied im Besitz einer gültigen Aufenthaltsbefugnis gewesen. Dazu hatte ihm sein Arbeitgeber verholfen. Der Industriebetrieb hatte ihm schriftlich zugesichert, ihn nach Abschluss seiner Polsterer-Lehre „garantiert zu übernehmen“.

1999 hatte die damals elfköpfige kurdische Großfamilie dann von einer Altfallregelung des Niedersächsischen Innenministeriums profitiert und Aufenthaltstitel erhalten. Die Burovs, die seit 1988 in Eimbeckhausen bei Bad Münder lebten, galten inzwischen als integriert. Schon damals gingen sechs Kinder regelmäßig zur Schule, hatten zwei Geschwister einen Ausbildungsplatz bekommen. Die Mädchen und Jungen sprachen nahezu perfekt Deutsch. Sie hatten es weit gebracht in der Ferne. Eine seiner Schwestern engagierte sich jetzt sogar als Kommunalpolitikerin im Rat.

Und nun saß er, der gut integrierte Deutsche mit kurdischen Wurzeln, der fleißige Polsterer und faire Fußballkamerad, der sich nach Meinung seiner Sportkameraden liebevoll um den Fußballnachwuchs kümmerte, in seinem Kämmerlein und heckte Mordpläne aus.

Es muss grausam sein, dachte er. Sie muss Schmerzen spüren, so wie ich Schmerz in meinem Herzen spüre.

Er ging in die Küche, zog die Besteck-Schublade heraus und schaute hinein. Er suchte nach einem geeigneten Mordinstrument. Er fand es in einem Schubfach: ein scharfes Messer, das er irgendwann einmal bei Ikea gekauft hatte. Nurettin Burov nahm es heraus und ging auf Zehenspitzen zurück ins Wohnzimmer. Er legte das Messer vor sich auf den Tisch und betrachtete die 12,5 Zentimeter lange und vier Zentimeter breite Klinge. Im Schein einer flackernden Kerze, die er sich angezündet hatte, funkelte der silberfarbene Stahl.

Ich werde die Hexe nicht nur niederstechen, dachte Nurettin Burov, als er wie hypnotisiert auf das Messer starrte. Das wäre viel zu einfach, das würde viel zu schnell gehen. Kader würde dabei nicht genug leiden. Die Medien würden sich zwar auf den Fall stürzen, aber am Ende doch nur über einen durchgeknallten Typen berichten, der seine Frau abgestochen hat. Nein, er wollte ein Zeichen setzen. Kaders Tod sollte öffentlichkeitswirksam sein. Wie bei einer Hinrichtung.

Er dachte nach. Er hatte noch eine lange Axt, die er beim Holzhacken benutzte. Sie lag im Keller.

„Damit werde ich ihr den Schädel einschlagen.“

Der Mordplan war noch nicht vollendet. Er wollte etwas noch Spektakuläreres anrichten. Nurettin Burov dachte an Cowboy-Filme, in denen Übeltäter von einem Pferd durch den Wüstensand gezogen wurden. Ihm fiel ein, dass er einmal ein IS-Video gesehen hatte. Es zeigte schwarz vermummte Männer auf einem weißen Pick-up. Ein Journalist wurde hinter einem Auto hergezogen. Im aufgewirbelten Staub hatte Nurettin Burov das mit einem orangefarbenen Overall bekleidete Opfer der Schergen erkennen können.

Eigentlich verachtete Nurettin die IS-Terroristen. Spätestens seit Kobanê. Am 15. September 2014 hatten Einheiten des sogenannten Islamischen Staates in der seit Ende 2013 de facto selbstverwalteten Region Rojava viele Gräueltaten verübt. Frauen wurden vergewaltigt, Schwangere und Kinder getötet, Zigtausende Menschen vertrieben. Wie können Muslime so etwas Muslimen antun?, hatte sich Nurettin Burov immer wieder gefragt. Die Schlacht um Kobanê hatte die Welt in Atem gehalten. Vier Monate kämpfte die syrische Kurden-Miliz YPG gegen die Terroristen. Es war ein verlustreicher Häuserkampf. Kobanê wurde zum Symbol für das Ringen zwischen Gut und Böse.

Nurettin Burov hätte sich in der Rolle des mutigen Freiheitskämpfers gefallen. Er wäre von vielen bewundert worden – auch von Frauen. Davon war er überzeugt. Eine olivgrüne Uniform hatte er schon einmal anprobiert und auf einer Kurden-Demonstration in Straßburg stolz mit der Fahne der PKK für ein Foto posiert. Für Burov stand fest, dass Kämpfer der PKK und der YPG heldenhaft für die Freiheit des kurdischen Volkes kämpften. Mit der YPG in den Kampf zu ziehen, war jedoch nichts für ihn. Er hätte ja sterben können. Nurettin Burov – das sagten Freunde hinter vorgehaltener Hand über ihn – war eher der Mann, der auf dicke Hose machte.

Burov konzentrierte sich lieber auf seinen Rachefeldzug. Den konnte er aus dem Hinterhalt starten. Sein Opfer würde arg- und wehrlos sein.

Kader wird bald am eigenen Leib zu spüren bekommen, zu was ich fähig bin, dachte er. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Ja, ihr Schicksal war besiegelt. Er würde sie töten. Grausam und unbarmherzig. Er würde keine Gnade kennen. Er würde sich für ihren Ungehorsam rächen.

Kapitel 3

Es war spät geworden. Nachdem Nesrin gegangen war, hatte Kader noch einmal nach ihrem Jungen geschaut. Cudi lag in seinem Bettchen und schlief tief und fest. Kader ging ins Badezimmer, um sich für die Nacht zurechtzumachen. Sie drückte den letzten Rest Zahnpasta aus der Tube, hielt ihre Zahnbürste darunter und putzte sich den Nikotinschleier von den Zähnen.

Plötzlich hielt sie kurz inne, schaute in den Spiegel und sah in ihr Gesicht. Ihre langen dicken schwarzen Haare glänzten im grellen Licht der Neonröhre wie Ebenholz. Sie entdeckte ein paar kleine Fältchen unter ihren Augen, wischte mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand darüber, so, als wollte sie prüfen, ob sie wirklich vorhanden waren. Die Falten ließen sich nicht wegdrücken.

Kader spuckte die im Mund schaumig gewordene Zahnpasta aus und sprach leise zu sich selbst: „Ich habe echt eine Scheißzeit hinter mir. Sie hat Spuren hinterlassen. In meinem Gesicht und in meiner Seele. Aber ich bin immer noch eine attraktive Frau. Ich werde mein Glück finden. Diesmal werde ich nicht so überstürzt in eine Ehe stolpern. Ich werde einen Mann finden, der zu mir passt, der mich so annimmt, wie ich bin. Der gut zu mir und Cudi ist. Einmal muss auch ich Glück haben.“

Kader ging an diesem Abend erst kurz vor Mitternacht zu Bett. Sie ahnte nicht, dass ihr Ex-Mann just in diesem Moment plante, sie zu töten. Er hatte ihr schon oft damit gedroht. Für Kader waren das nur leere Worte eines Mannes, der Spaß daran hatte, Frauen zu unterdrücken. Mehr nicht.

Sie träumte schlecht. Unter ihren Lidern, die zu zittern schienen, zuckten ihre Augen wild hin und her. Ihr Leben zog an ihr vorbei. Ihr Gehirn war hyperaktiv und produzierte eine wahre Bilderflut. Sie sah sich, inmitten einer kargen Landschaft, barfuß über eine Schotterstraße gehen. Rechts und links von ihr standen alte Häuser, gebaut aus Lehm und dicken löchrigen Feldsteinen, die sie an Korallen erinnerten. Sie kannte dieses kleine Dorf, das den Namen Basaq trug. Ihre Eltern stammten von dort. Es gab dort ein paar Eichen, die grüne Farbtupfer in die ansonsten eher ockerfarbene Landschaft setzten. In Kurdistan konnte es extrem heiß werden. Im Sommer kletterte das Thermometer schon mal auf plus 52 Grad, und im Winter konnte es bitterkalt werden. Minus 10 Grad – das war keine Seltenheit. Die dicken Mauern der Häuser, die allesamt Flachdächer hatten, schützten die Dorfbewohner vor Hitze, Regen und Schnee. Sie standen wie Trutzburgen in der Steinwüste. Kader kannte das Dorf aus Erzählungen, in denen von ihren Verwandten, von blutigen Fehden, von Mord und Totschlag die Rede war. Und von Blutgeld, das als Entschädigung für ein totes Familienmitglied gezahlt wurde, um den Frieden zwischen den verfeindeten Parteien wiederherzustellen. Auch in ihrer Familiengeschichte gab es ein paar dunkle Kapitel. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt. Ein Bruder und eine Schwester ihres Vaters, aber auch ihr Cousin väterlicherseits waren in Basaq erschossen, ein Onkel durch mehrere Kugeln schwer verletzt worden. Der Onkel hatte die Familienfehde überlebt. In Basaq rief man keine Polizei, schon gar nicht die türkische. Man regelte so etwas unter sich.

In ihrem Traum sah Kader, wie sie zur Kirche des Dorfes ging. Vorbei an den Ruinen der Häuser, die von Soldaten angezündet und zerstört worden waren. Das Gotteshaus war 1300 Jahre alt und lag auf einer Anhöhe. Es gehörte wohl zur Assyrischen Kirche. Früher lebten im Dorf Assyrer. Später siedelten dort Moslems. Kader wusste, dass die Oma ihres Vaters eine Christin gewesen war. Ihre Urgroßmutter war zum Islam konvertiert. Vermutlich aus Liebe zu einem Mann.

Von dem Hügel aus konnte man gut den 2114 Meter hohen Gipfel des Berges Cudi sehen, nach dem ihr Sohn Cudi (gesprochen: Dschudi) benannt wurde. Nach der Überlieferung des Korans war die Arche Noah auf einem Berg mit dem Namen al-Dschudi gestrandet. Bis heute pilgerten Menschen auf den „Gipfel des Ziyaret des Propheten Noah“.

Kader wälzte sich hin und her. Ihr Gehirn arbeitete jetzt auf Hochtouren. Ihr Traum-Ich kramte sogar die Textstelle im Koran hervor, in dem der Cudi Dağı erwähnt wird. „Und es (das Schiff) saß auf (dem Berg) al-Dschudi auf. Und es wurde gesagt: Fluch über das Volk der Frevler!“

Im Traum sprach Kader mal Türkisch, mal Kurdisch, mal Deutsch, mal Englisch und mal Arabisch. Sie beherrschte diese Sprachen. Drei sprach sie sogar fließend. In dieser Nacht wurde Kader von Bildern und Gefühlen überschwemmt. Es war wie ein Ritt durchs wilde Kurdistan. In dem Dorf ihrer Vorfahren war Kader nur einmal als Kind gewesen. Das war lange her. Vier oder fünf mochte sie damals gewesen sein. Die Erinnerung an diesen Besuch war verblasst. Aber jetzt, im Traum, sah sie alles in seltener Klarheit und Helligkeit vor sich liegen. Das Tal, die Berge, die Häuser, die Obstbäume, die Schafe und die Ziegen. Ihre Mutter hatte ihr stolz erzählt, dass Basaq bereits 200 nach Christus gegründet worden war. Bis ins 18. Jahrhundert hatten dort assyrische Christen gelebt. Der Ort hatte eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Sie handelte von Unterdrückung, Vertreibung, Mord und Totschlag. Im Traum sah Kader uniformierte Männer mit Gewehren und Fackeln. Sie zündeten Häuser an, brannten das Dorf nieder. Die Bewohner waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Die Blutfehde, die einigen Verwandten das Leben gekostet hatte, war ein Jahr vor ihrer Geburt passiert. Mutter, Vater und ihre älteren Geschwister waren damals weggezogen nach Nusaybin, einer vornehmlich von Kurden bewohnten 80.000-Einwohner-Stadt in der türkischen Provinz Mardin an der Grenze zu Syrien. In der Schule hatte Kader gelernt, dass die Stadt in der Antike Nisibis hieß und zwischen dem Römischen Reich und dem Partherreich hart umkämpft war. Nisibis wurde 639/640 nach Christus von muslimischen Arabern erobert und 1515 Teil des Osmanischen Reiches. Erst seit 1920 gehört Nusaybin zur Türkei.

In dieser Stadt hatte Kader im Sommer 1988 das Licht der Welt erblickt. Wann genau sie geboren wurde, war eine Geschichte für sich. Von ihrer Mutter, die weder lesen noch schreiben gelernt hatte, wusste sie nur, dass sie acht Tage nach dem Attentat auf den späteren türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal geboren wurde. Das missglückte Attentat geschah am 18. Juni 1988. Demnach musste Kader am 26. Juni 1988 geboren worden sein. In ihrem Pass war jedoch der 1. Juli vermerkt worden. Aber da stand auch, dass sie aus der westtürkischen Stadt Salihli stammt. Obwohl das nicht stimmt. Ein Beamter der türkischen Passbehörde hatte das einfach so entschieden. Der Mann arbeitete und wohnte in Salihli, also musste Kader auch dort geboren sein. So einfach war das. Basta! All das ging Kader in der Nacht zum Freitag, während sie unruhig schlief, durch den Kopf.

Vielleicht ahnte ihr Unterbewusstsein, dass in Kürze etwas Schlimmes geschehen würde. Etwas, das die Vorstellungskraft vieler Menschen übersteigen würde. Etwas, das für Aufsehen und Entsetzen sorgen würde. Etwas, das mit ihr zu tun haben würde.

Schweißgebadet wachte Kader auf. Sie schaute auf den Wecker neben ihrem Bett. Neongrüne Leuchtziffern verrieten ihr, dass es erst halb drei war. Ihre Gedanken kreisten um Cudi. Sie stieg aus dem Bett, schaute nach dem Jungen. Kein Grund zur Sorge. Ihr Sohn schlief immer noch tief und fest. Er sah so süß aus. Am liebsten hätte sie ihn fest an sich gedrückt und liebevoll geknuddelt. Aber dann wäre der Kleine aufgewacht.

Kader schlich barfuß in die Küche; sie wollte niemanden aufwecken. Sie nahm sich ein Glas aus dem Schrank und goss sich Pyrmonter Mineralwasser ein. Ein Schluck Wasser war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie hatte Durst.

Zurück im Bett fragte sich Kader, warum sie von ihrer Heimat geträumt hatte. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Eine Cousine hatte ihr vor einiger Zeit ein Handy-Video geschickt, das ihr Bekannter bei seinem letzten Besuch in Basaq gemacht hatte. Wahrscheinlich lag es ja daran.

Auch den Rest der Nacht wälzte sie sich hin und her. Kader träumte von der Zeit, als sie über das Meer geflüchtet war. Im Jahr 2000 war das gewesen. Zwölf war sie, als sie sich gemeinsam mit ihrer schwangeren Schwägerin und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester aufgemacht hatte in ein fremdes Land, von dem sie bislang nur wenig gehört hatte. Verwandte ihrer Mutter lebten in der Nähe von Hameln. Als sie sechs war, hatte Kader in der Schule zum ersten Mal die Sage vom Rattenfänger von Hameln gehört. Die bunte geheimnisvolle Gestalt hatte sie nicht mehr losgelassen. Hätte man ihr damals gesagt, dass sie einmal in dieser Stadt wohnen würde, sie hätte es nicht geglaubt.

Oft waren einzelne Familienmitglieder bei dem Versuch gescheitert, die Türkei auf verschlungenen Pfaden zu verlassen. Mehrere Male hatte Kader mitkommen dürfen. Für alle reichte das Geld nicht. Also versuchten immer nur Einzelne ihr Glück.

Kader träumte von ihrer ersten Fahrt über das Mittelmeer. 150 Flüchtlinge saßen dicht gedrängt beieinander. Frauen, Männer, Kinder. Alte und Kranke. Sie saßen alle in einem winzigen Boot und teilten das gleiche ungewisse Schicksal. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, als sie in Izmir auf den Fischkutter stiegen. Der Kapitän und seine Leute arbeiteten mit skrupellosen Menschenhändlern zusammen. Sie brachten heimlich Flüchtlinge nach Griechenland. Das war einträglicher, als Netze auszuwerfen und Fische zu fangen. Der Käpitän und seine Matrosen wurden dabei reich. Das Leid der Menschen kümmerte sie nicht. Für die Mannschaft war das, was sich unter Deck befand, eine verderbliche Handelsware. Mehr nicht.

Als der Wassertank leckschlug, hatten die Flüchtlinge nichts mehr zu trinken. Aber auch das interessierte die Fischer nicht. Der Kapitän und seine Männer waren versorgt. Sie hatten genug Wasser und Schnaps. Drei Tage und zwei Nächte mussten die Frauen, Männer und Kinder, die aus der Türkei und aus Afghanistan stammten, Hunger und Durst leiden. Kader sah im Traum einen Mann, der verzweifelt eine Rohrleitung aufschnitt. Er hoffte, darin etwas Feuchtigkeit zu finden. An Deck war es so heiß gewesen, dass Hühnereier, die sich einige als Proviant mitgenommen hatten, hart wurden.

Der Kapitän war noch nicht bezahlt worden und blieb deshalb außerhalb der Drei-Meilen-Zone auf dem Mittelmeer. Offenbar wartete er darauf, dass ihm die Menschenhändler seinen Lohn an Bord brachten. Im Traum begegnete Kader der Frau wieder, die unter den Augen der anderen niedergekommen war und an Bord ein Mädchen zur Welt gebracht hatte. Und sie sah den Kapitän, wie er mit einer Pistole herumfuchtelte und in die Luft schoss, um einen Aufstand der Verzweifelten niederzuschlagen. Kader hörte den Mann drohen: „Wer noch einen Schritt näher kommt, wird von mir erschossen.“ Sie war Zeugin dieser Szene geworden. Aber sie hatte damals komischerweise keine Angst verspürt. Für das kleine Flüchtlingsmädchen war alles nur ein großes Abenteuer gewesen.

Ein Flüchtling steuerte das Schiff schließlich in griechische Gewässer. Die Besatzung bekam davon nichts mit – sie schlief gerade ihren Rausch aus. Die Küstenwache ging später an Bord, verhaftete die Schleuser und gab den völlig erschöpften und halb verdursteten Menschen Wasser. Kader konnte sich noch gut an den Geschmack des warmen Trinkwassers aus den Tetra Paks erinnern.

Die Flucht endete auf einer Insel. Sie, ihre Schwester und ihre Schwägerin saßen fest. Geld für Schlepper, die sie hätten ans Festland bringen können, hatten sie nicht mehr. Sie mussten zurück in die Türkei.

Die griechische Bevölkerung war gastfreundlich gewesen. Frauen kochten Essen, Männer versorgten die Gestrandeten mit Getränken. Die griechische Polizei hatte nicht so viel Mitleid mit den Flüchtlingen. Es gab einige Polizisten, die von den Spenden aus der Bevölkerung etwas für sich selbst abzweigten. Bis es auf die Fähre nach Izmir ging, wurden die Flüchtlinge in einer 30 bis 40 Quadratmeter großen Polizeizelle eingepfercht.

Von den Schreien der Menschen, die auf engstem Raum eingesperrt worden waren, wurde Kader wach. Der Tag war angebrochen. Die Sonne ging auf. Es war Zeit für das Morgengebet.

Dieser Freitag sollte das Leben von Kader, Nurettin und Cudi verändern. Aber das wusste Kader noch nicht, als sie einen Anruf von ihrer Anwältin erhielt.

Kapitel 4

Das Telefon klingelte. Kader kramte ihr Handy aus ihrer Handtasche, sie fand es zwischen ihrem roten Lippenstift und der Marlboro-Schachtel – und meldete sich. „Ja, hallo, hier ist Kader Korkmaz.“

„Guten Tag, Frau Korkmaz, hier spricht Rechtsanwältin Caro Meyer-Höfer. Wie geht es Ihnen?“

„Danke, ganz gut“, antwortete Kader.

Familienanwältin Caro Meyer-Höfer hatte gegen Nurettin Burov bereits vor mehr als anderthalb Jahren ein Kontaktverbot beantragt. Er durfte sich Kader nicht mehr nähern. In dem vor einer Richterin des Amtsgerichts Hameln geschlossenen Vergleich hatten sich Kader und Nurettin darauf verständigt, sich dem jeweils anderen nicht in einem Umkreis von weniger als 20 Metern zu nähern, sich nicht zu bedrohen, zu belästigen oder zu verletzen. Caro Meyer-Höfer hatte für ihre Mandantin zudem erreicht, dass Nurettin Burov Unterhalt zahlen musste. Auch die Gehaltspfändung hatte sie für ihre Mandantin durchgesetzt. Kader war ihr dafür sehr dankbar.

Die Rechtsanwältin räusperte sich. Es hörte sich an, als habe sie einen Frosch im Hals. Vielleicht war bei ihr aber auch eine Erkältung im Anflug. „Ich möchte noch einmal auf die von dem Beklagten Nurettin Burov jüngst ausgestoßene Morddrohung zurück­kommen. Sie wissen schon … Er hat doch in meiner Kanzlei angerufen und gesagt, einer werde sterben, wenn das mit der Unterhaltspfändung nicht aufhöre.“

„Ja, Frau Meyer-Höfer, ich weiß. Das hatten Sie mir gesagt“, erwiderte Kader.

„Ich habe nachgedacht ... Sie sollten zur Polizei gehen und Ihren Ex-Mann anzeigen. Machen Sie das bitte zeitnah, am besten noch heute. Ich habe die Polizeiinspektion bereits über den Anruf in meiner Kanzlei informiert.“

Kader dachte kurz nach. „Aber ich habe keine Angst vor ihm“, warf sie ein. „Und die Polizei wird ja doch nichts gegen ihn unternehmen.“

Caro Meyer-Höfer leistete Überzeugungsarbeit. „Ich denke, die Polizisten werden das ernst nehmen. Es geht schließlich um Bedrohung. Und Ihr Ex muss endlich in die Schranken verwiesen werden. So geht es jedenfalls nicht weiter. Das dürfen Sie sich nicht länger gefallen lassen.“

Kader nickte. „Okay, wenn Sie das meinen, dann mache ich das. Aber es wird nichts bringen. Ich habe ihn schon einmal wegen Beleidigung angezeigt. Erinnern Sie sich? Die Polizei hat damals nichts gegen ihn unternommen. Sie wird auch diesmal nichts tun.“

„Doch, sie wird …“, sagte die Anwältin. Ihre Stimme klang resolut. „Bitte vertrauen Sie mir. Stellen Sie Strafantrag. Wenn Sie Hilfe benötigen, melden Sie sich noch einmal bei mir.“

„Okay“, versprach Kader. „Ich werde hingehen.“

Die Frauen verabschiedeten sich. Kader legte auf. Sie war nervös, ihre Hände zitterten. Sie brauchte jetzt einen starken Kaffee und eine Marlboro. Sie kramte die Schachtel aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte hastig den Rauch. Dann ging sie in die Küche. Sie füllte die Mokka-Kanne aus Kupfer mit Orient-Kaffee, Zucker und Wasser und brachte die Mischung auf dem Gasherd zum Kochen. Der kräftige Mokka und ihre Gebete würden ihr ausreichend Kraft für den Tag spenden. Davon war sie überzeugt.

Die Worte ihrer Anwältin schwirrten ihr noch lange durch den Kopf. War es klug, Nurettin bei der Polizei anzuzeigen? Wie würde er wohl reagieren? Musste sie seine Rache fürchten? Schon einmal hatte sie die Polizei gerufen. In Eimbeckhausen war das. Im Februar 2014. Er hatte sie geschlagen, weil sie geraucht hatte. Sie hatte vom Festnetz aus den Notruf gewählt, um ihm zu zeigen, dass er das nicht mit ihr machen kann. Er hatte ihr diesen Anruf nie verziehen. Bei jeder Gelegenheit hatte er ihr vorgeworfen, dass sie ihn verraten hatte. Drei Monate später, am 3. Mai, war die kurze Ehe in die Brüche gegangen. Ein Versöhnungsversuch im Sommer war bereits nach wenigen Tagen gescheitert.

Kader goss sich einen Mokka ein, schlürfte den süßen starken Kaffee genüsslich im Stehen und fasste dabei einen Entschluss. Ja, sie würde zur Polizei gehen. Sie wollte es Nurettin nicht durchgehen lassen, dass er sie immer wieder ungestraft mit dem Tod bedrohte. Das musste endlich aufhören. Caro Meyer-Höfer hatte recht.

Kapitel 5

Als sich der Morgennebel lichtete und die Sonne den Himmel glutrot färbte, befand sich Nurettin Burov schon bei der Arbeit. Seit dem 1. August 1995 hielt er dem Unternehmen die Treue. Er war dankbar, niemals arbeitslos geworden zu sein.

Seit ihm die Personalreferentin klargemacht hatte, dass die Firma ab sofort einen Teil seines Lohns an seine Ex-Frau Kader abführen muss, plagten ihn Existenzängste. Er war außer sich gewesen und hatte während des Gesprächs mit der Referentin im Beisein einer Zeugin alle Frauen als Hexen und gebärende Kühe bezeichnet. Was, wenn er nun seinen Job verlieren würde? Burov konnte sich heute kaum auf seine Arbeit konzentrieren.