Nr. 13 - Laura Wulff - E-Book
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Nr. 13 E-Book

Laura Wulff

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Beschreibung

Daniels Magen krampfte sich zusammen, je näher er dem Eingang des Ritualbads kam. Er empfand keinen Spaß daran, blutbesudelte Tatorte aufzusuchen, Leichen zu betrachten und Morde en détail zu rekonstruieren. Es stimmte, dass er seinen Beruf mit Leidenschaft ausübte, aber es ging ihm einzig um Gerechtigkeit. „Er trug die Kutte eines Mönchs.“ So beschreibt eine verwirrte alte Frau den Mörder, den sie in der gegenüberliegenden Wohneinrichtung für rehabilitierte Sexualstraftäter beobachtet haben will. Nur mit dieser Aussage kann der Kölner Kriminalkommissar Daniel Zucker – nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt, nun aber wieder im Dienst – nicht mit den Ermittlungen anfangen, ohne einen Eklat zu verursachen. Darum wird Daniels Frau Marie beauftragt, ein Phantombild des Mörders zu erstellen. So stößt sie auf beunruhigende Hinweise: Hat ihr eigener Chef eine dunkle Seite, von der niemand etwas ahnt? Währenddessen beschließt Maries 19-jähriger Cousin, Daniel bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen – und bringt sich damit in größte Gefahr… Ein mysteriöser Mord, ein Haus voller Verurteilter und ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint: der neue Fall für die Zuckers! Jetzt als eBook: „Nr. 13“ von Laura Wulff. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

»Er trug die Kutte eines Mönchs.« So beschreibt eine verwirrte alte Frau den Mörder, den sie in der gegenüberliegenden Wohneinrichtung für rehabilitierte Sexualstraftäter beobachtet haben will. Nur mit dieser Aussage kann der Kölner Kriminalkommissar Daniel Zucker – nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt, nun aber wieder im Dienst – nicht mit den Ermittlungen anfangen, ohne einen Eklat zu verursachen. Darum wird Daniels Frau Marie beauftragt, ein Phantombild des Mörders zu erstellen. So stößt sie auf beunruhigende Hinweise: Hat ihr eigener Chef eine dunkle Seite, von der niemand etwas ahnt? Währenddessen beschließt Maries 19-jähriger Cousin, Daniel bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen – und bringt sich damit in größte Gefahr …

Ein mysteriöser Mord, ein Haus voller Verurteilter und ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint: der neue Fall für die Zuckers!

Über die Autorin:

Laura Wulff ist das Pseudonym der bekannten deutschen Autorin Sandra Henke, die in der Nähe von Köln lebt und arbeitet. Obwohl sie das Gelübde »Bis dass der Tod euch scheidet« ernst nimmt, hofft sie, dass ihr Name trotzdem nie in einer Ermittlungsakte der Kriminalpolizei auftauchen wird. Sie trinkt gerne ein Glas blutroten Wein, findet, dass Neid die Seele vergiftet, und könnte nicht für Schuhe morden, wohl aber für ein gutes Buch.

Laura Wulff veröffentlichte bei dotbooks bereits die Thriller »Leiden sollst du« und »Opfere dich«.

Die Website der Autorin: www.sandrahenke.de

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/sandra.henke.autorin

***

eBook-Ausgabe März 2014

Copyright © der gedruckten Originalausgabe 2014 bei MIRA Taschenbuch in der CORA Verlag GmbH & Co. KG

Copyright © der eBook-Ausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: pecher und soiron, Köln, unter Verwendung von Bildmotiven von Thinkstock/Getty Images, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-539-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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blog.dotbooks.de/

Laura Wulff

Nr. 13

Thriller

dotbooks.

DIE ZUCKERS Zwei unkonventionelle Ermittler

Marie Zucker, 29 Jahre

Aussehen: 1,65 m, krause mittelblonde schulterlange Haare, grüne Augen, sehr schlank, kleidet sich klassisch schick

Beruf: Kostümbildnerin am Musical Dome, nebenberufliche Gerichtszeichnerin, fertigt auch Phantombilder für die Polizei an

Sie kämpft mit:Worten, einer Engelsgeduld, Durchhaltevermögen, Leidenschaft, Einfühlsamkeit, guter Menschenkenntnis, durch ihren Nebenberuf geschultes Auge, Pfefferspray

Dämonen: Ihre Mutter hat sie unter dem Deckmantel der Erziehung als Kind körperlich und seelisch misshandelt.

***

Daniel Zucker, 36 Jahre

Aussehen: schwarze Haare, schwarz-braune Augen, Mund-Kinn-Bart, sitzt nach einem Freizeitunfall im Rollstuhl, trotzdem sportlich

Beruf: Hauptkommissar, zurzeit als „externer Berater/Sonderermittler bei schwierigen (oder unliebsamen) Fällen“ beim Kriminalkommissariat 11 im Polizeipräsidium Köln tätig

Er kämpft mit: Rollstuhl, Stabtaschenlampe, Einsatzmehrzweckstock, Fäusten, Aufnahmegerät und kriminalistischem Spürsinn

Dämonen:

Es wandern die Schwachen

den Starken in den Rachen.

Gesetz des Universums

„Cloud Atlas“

Furunkel

Ein Furunkel (von lateinisch furunculus „kleiner Dieb“) ist eine tiefe, schmerzhafte Entzündung des Haarbalgs und des umliegenden Gewebes, die meist durch Staphylokokken Staphylococcus aureus oder eine Mischflora entsteht. Durch Gewebsuntergang Nekrose und zentrale Einschmelzung Eiter entsteht ein „Pfropf“, der die Hautoberfläche durchbrechen und sich somit spontan entleeren kann. Die Abheilung erfolgt unter Narbenbildung. Die Entzündung des umliegenden Gewebes bewirkt die Schmerzhaftigkeit des Bereichs.

Lokalisation:

Haarbalgentzündungen können an jeder Stelle der behaarten Haut auftreten. Erst wenn sich die Entzündung auf den gesamten Haarbalg und das umliegende Gewebe ausbreitet, spricht man von einem Furunkel. Schmelzen mehrere Furunkel zusammen, führt dies zu einem sehr schmerzhaften, großflächigen Karbunkel.

Sehr gefährlich sind Furunkelbildungen im Gesichtsbereich, da der Plexus pterygoideus in der tiefen Gesichtsregion zwischen den Kaumuskeln sowohl mit den Venen des Gesichts als auch mit dem Sinus cavernosus im Schädelinneren in Verbindung steht. Ebenso kann die Vena angularis über die Venen der Augenhöhle mit diesem kommunizieren. Die Entzündung kann sich langsam an den Venen entlang bis ins Gehirn ausbreiten und zu lebensbedrohenden Gehirnentzündungen oder Hirnvenenthrombosen führen.

Furunkel treten spontan und meist ohne erkennbare Ursachen einzeln oder gehäuft auf. Jedoch können auch Hauterkrankungen wie der Impetigo und Sycosis sowie Metastasen bei eitrigen Erkrankungen anderer Organe und einer dadurch entstehenden Septikämie Ursachen der Furunkelbildung sein. Bei schubweisem Auftreten wird von Furunkulose gesprochen. Besonders Diabetiker und Nierenkranke sind anfälliger für Furunkel. Weitere Ursachen sind zu eng anliegende, scheuernde Kleidung oder eine unzureichende Desinfektion nach einer Rasur.

Therapie:

Ein Furunkel sollte operativ aufgeschnitten werden, um durch die entstehende Druckentlastung dem weiteren Vordringen der Erreger in das umliegende Gewebe entgegenzuwirken. Beim „unreifen“ Furunkel kann durch Auftragen gefäßerweiternder Salben in günstigen Fällen eine Heilung eintreten, ansonsten kann die Reifung des Furunkels und damit die Zeit bis zur operativen Behandlung beschleunigt werden. Antibiotika können dabei helfen, die Gewebszerstörung zu minimieren.

Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist bei chronischem Auftreten ein Therapieversuch mit Autovaccinen, eine Art Impfung mit dem individuellen Krankheitserreger.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Furunkel

„Pimmel war ein großer Schwanz

und Pimmelchen ein Zwerg.“

Ängstlich kauerte sich der Junge auf den Fußboden. Der erinnerte ihn an die Straßen in der Altstadt, nur dass dieser unter ihm krumm und schief war. Als wäre die Erde aus Teig, der aufgegangen war, wie Mamas Kuchen. Den mochte er. Sein Magen knurrte. Aber sein Schluchzen klang lauter.

Die Steine des groben Pflasters drückten sich in seinen nackten Hintern, er spürte jeden einzelnen. Sein Papa hätte sie viel besser verlegt. Der, der dieses Loch erbaut hatte, war nicht gut darin gewesen. Vielleicht war der Raum aber auch nur sehr alt und fiel langsam auseinander.

Mit Schrecken dachte er an das Baumhaus im Garten seiner Oma. Irgendwann war der Ast, auf dem es befestigt war, weggebrochen. „Als wäre das Hüttchen ein Geschwür und hätte den Obstbaum krank gemacht“, hatte seine Omi gesagt. Der Ast war einfach weggebrochen und der Junge auf die Wiese geplumpst, mitsamt den Bienen, die gerade auf den weißen Kirschblüten saßen und den Nektar aufsaugten. Bei dem Sturz hatte er sich den Fuß gebrochen und ein Zweig hatte ihm die Wange aufgeschlitzt. Seitdem kletterte er nirgendwo mehr hoch, weil er Angst hatte, wieder hinunterzufallen.

Vor Bienen fürchtete er sich auch, denn er reagierte allergisch auf ihr Gift. Seine Haut juckte dann, er zitterte, kriegte schlecht Luft und alles verschwamm vor seinen Augen. Einmal kotzte er auch. Seine Mama war trotzdem nicht böse mit ihm gewesen. Sie sagte, er könnte auch an dem Gift sterben, sich zu übergeben wäre daher nicht schlimm. Ob es hier unten Bienen gab? Er hatte schon ein Summen gehört. Manchmal war es ein Singen. Der Gesang erinnerte ihn an Kaa, die Schlange aus dem Dschungelbuch, die es schafft, dass man sich nicht mehr bewegen kann – und dann schlingt sie einen in einem Stück runter.

Der Junge bekam eine Gänsehaut. Er rieb über seine Oberarme und wünschte, er hätte etwas zum Anziehen. Bibbernd schaute er sich durch das Loch in seinem Pony um. Er fühlte sich eingesperrt wie eine Bienenlarve in ihrer Wabe, nur dass sein Gefängnis nicht aus Wachs bestand, sondern aus Schwärze.

Plötzlich fürchtete er sich davor, dass die Decke auf ihn stürzen könnte. Die in seinem Zimmer war gerade und weiß. Aber die über ihm ließ ihn an eine Suppe aus Blut denken, die an den Seiten herabfloss. Sie erinnerte ihn an den Tunnel aus Glas, durch den er mal gegangen war, nur dass das Wasser in dem riesigen Aquarium klar gewesen war. Über und neben ihm waren Meerestiere lautlos vorbeigeglitten. Vor denen hatte er keine Angst gehabt – nur vor den Haien. Die waren aber in einem eigenen Becken geschwommen, denn sie waren zu gefährlich, um bei den anderen Fischen zu sein. Sie würden die Braven auffressen. Man musste sie unbedingt getrennt halten!

Der Junge krümmte seinen Finger und biss darauf, bis es wehtat, um nicht loszuflennen. Sein Herz pochte so laut, dass es sich anhörte, als steckte ein kleiner Trommler in seiner Brust. Geduckt schlich er zu den Gitterstäben. Seine nackten Fußsohlen tapsten auf den roten Pflastersteinen. Er versuchte, die anderen Fische zu erspähen. Vielleicht, wenn sie sich zusammentaten, könnten sie gegen die Haie kämpfen.

Aber er sah nur einen Gang. Er führte ins Dunkle. Und in der Dunkelheit, das wusste er, hausten Monster.

Plötzlich trat eines von ihnen aus den Schatten. Der Junge wich zurück und drückte sich in die hinterste Ecke. Er wünschte sich, mit der Wand zu verschmelzen, um unsichtbar zu sein. Aber der Mann kam direkt auf ihn zu. Blieb vor den Gitterstäben stehen. Grinste und leckte über seine großen Vorderzähne, als wollte er ihn verschlingen, wie Kaa. Schloss die Tür auf. Trat ein und sagte: „Na, Bubele. Hast du Hunger?“

Der Magen des Jungen war so leer, dass er sogar Grünkohl gegessen hätte – den fand er eigentlich ekelig, weil er wie grüne Kotze aussah –, aber er presste trotzdem seine Lippen ganz fest aufeinander. Der Fremde trug nur ein T-Shirt und Turnschuhe. Das fand der Junge merkwürdig. Er meinte, einen schrillen Alarm zu hören, als ginge der Feuermelder im Kindergarten an, doch das war nur in seinem Kopf. In Wahrheit war es hier unten still wie in einem Grab.

Verlegen zog er seine Beine an. Er schlang die Arme um seine Knie, um sich wenigstens etwas zu bedecken.

Der Mann holte Gummibärchen aus der Tragetasche, die er mitgebracht hatte. Er schüttelte die Tüte, sodass die Bären durcheinanderflogen und es raschelte. Als der Junge sich nicht bewegte, riss er die Verpackung auf und warf ihm eins vor die nackten, schmutzigen Füße. Ausgerechnet ein rotes, die mochte der Junge am liebsten. Sein Freund Nathan behauptete, dass sie alle gleich schmeckten, aber das stimmte nicht. Der Junge hätte das Gummibärchen so gerne aufgehoben und sich in den Mund geschoben, denn er verhungerte fast. Doch der Unbekannte war ihm nicht geheuer. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Immer wieder schluckte er es runter, aber es sammelte sich sofort neues unter seiner Zunge.

„Ah, du hast Durst, nicht wahr?“ Der Mann packte die Tüte zurück in die Tasche, stellte sie ab und ging hinaus. Wasser rauschte, er musste einen Hahn aufgedreht haben. Als er zurückkehrte, stellte er einen Plastiknapf auf den Boden gleich neben den Gitterstäben. Und seinen Füßen. Der Napf war so blau wie seine Augen. Nicht wie der Himmel bei Sonnenschein, so hell und klar, sondern dunkel und ungesund gelb, wie kurz vor einem Gewitter.

„Ich bin kein Hund“, war alles, was der Junge herausbrachte. Gerne hätte er weitere Fragen gestellt. Warum man ihn hierhergebracht hatte? Wieso er in dieses Loch eingesperrt war? Und wo seine Klamotten waren? Aber er traute sich nicht. Nervös spielte er mit seinen Zehen. Sein Bauch fühlte sich an, als hätte ihn jemand geboxt. Bittere Flüssigkeit stieg in seinem Hals auf und brannte unangenehm.

„Bist du nicht? Bist ein Bubele, ein sehr hübsches sogar, eines, das noch erzogen werden muss, wie ein Welpe, bis er artig Wasser aus seinem Napf leckt, mit dem Schwanz wedelt und das Beinchen hebt, wenn … nun ja, das werden wir alles trainieren.“ Vorsichtig machte der Fremde einen Schritt auf ihn zu.

Der Junge hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. So viele Worte, die keinen Sinn machten. Er schaute mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf. Seine Zähne klapperten gegeneinander. Halt! War da nicht ein Wimmern? Aufgeregt lauschte der Junge. Doch da war das Geräusch schon wieder weg. Er musste sich getäuscht haben. Oder es war von ihm selbst gekommen.

„Du zitterst ja vor Kälte“, sagte der Fremde voller Mitgefühl. Er langte wieder in die Tasche und holte eine braun-schwarz karierte Wolldecke heraus.

Endlich bekam er etwas, mit dem er sich zudecken konnte, so hoffte der Junge.

Aber der Mann breitete die Decke auf dem Boden aus und setzte sich darauf. Mit einem langen, knochigen Finger winkte er ihn zu sich. „Lass uns spielen, mein junger Freund.“

Doch der Junge blieb, wo er war. Dass der Unbekannte ein Bein anwinkelte, gefiel ihm nicht. Er wollte sein Ding nicht sehen, das war nicht richtig. Angewidert erschauderte er. Weiter konnte er sich nicht bewegen. Vor Furcht war er ganz steif.

Der Fremde lächelte, als hätte er Schmerzen und würde versuchen, es nicht zu zeigen. Der Papa des Jungen hatte das mal gemacht, als er eine Lampe an der Decke anbringen wollte und plötzlich fürchterlich geschrien hatte. Er hatte sich wehgetan. Beinahe wäre er von der Leiter gefallen. Doch statt zu weinen, hatte er gelächelt und seinen Sohn beruhigt: „Mach dir keine Sorgen. Der Strom hat mich nur gekitzelt.“

Der Junge wünschte, sein Papa wäre bei ihm und würde ihm sagen: „Alles wird gut.“ Aber hier stank es nach Pisse. Die Luft roch nach alten Socken. Ein Wasserhahn tropfte, der Junge konnte ihn hören, aber nicht sehen. Hier unten gab es zu viele Schatten, in denen sich alles Mögliche verstecken konnte. Licht kam nur von einer einzigen Lampe, einer Art Laterne, die auf dem Gang stand und stank. Der Junge wusste, dass er bald heulen musste, dabei war er bis jetzt so tapfer geblieben.

Als die erste Träne über seine Wange rollte, holte der Mann ein Stofftier aus der Tasche. Der Junge war so überrascht, dass er zu weinen aufhörte, bevor er richtig angefangen hatte. Mit dem Handrücken wischte er über seine Augen. Sein Blick folgte der Plüschkatze, die der Fremde über die Decke springen ließ, als säßen sie auf einer Picknickdecke im Garten und nicht in dieser komischen Höhle.

„Kennst du Kitty Kätzchen?“, fragte der Mann.

Der Junge schüttelte den Kopf. Neugierig kroch er näher. Er hockte sich auf die Wolldecke, froh darüber, endlich nicht mehr mit dem nackten Po auf den unbequemen Pflastersteinen sitzen zu müssen. Eigentlich spielte er nicht mehr mit Kuscheltieren. Er kam ja schon bald in die Schule. Aber manchmal, wenn er nicht einschlafen konnte, nahm er heimlich Balu, seinen Stoffbären, mit ins Bett. Dann klappte es doch. Nur seine Mama wusste davon, aber die erzählte es niemandem. Warum kam sie ihn nicht von hier wegholen? War sie böse auf ihn, weil er Papa genauso lieb hatte wie sie? Wollte sie ihn bestrafen?

Als der Fremde in einen Singsang fiel, stellten sich die Nackenhaare des Jungen auf. Der Mann verwandelte sich in Kaa, die Schlange, aber der Junge war schlauer. Wenn er dem Mann nicht in die Augen sah, konnte ihm nichts passieren. Wie gebannt beobachtete er die Katze, die auf ihn zuhopste.

„Hier kommt Kitty Kätzchen

zu meinem kleinen Schätzchen.

Gleich schon ist sie da.

Wir freuen uns, hurra!“

Das Plüschtier strich über die Fußsohlen des Jungen. Der musste daraufhin lachen. Eigentlich war ihm angst und bange, aber das Kribbeln war so stark, dass er kicherte. Er konnte nichts dagegen machen. Das schien dem Unbekannten zu gefallen, denn seine Augen leuchteten. Dadurch wirkte er freundlicher und der Junge entspannte sich etwas.

„Die Kitzelfinger kitzeln dich am Bauch

und an dem Ärmchen auch.

Sie kitzeln gern deine zarte Haut,

denn die ist ihnen ganz vertraut.

Sie hören dich gern glucksen und mehr,

denn sie lieben dich so sehr.“

Erst tapste das Kätzchen über die Beine des Jungen, dann über seine Arme und die Haare. Es war überall auf ihm und hinterließ ein Prickeln. Aber der Mann hielt das Stofftier so ungeschickt, dass der Junge mehr den Handballen des Mannes spürte als das Spielzeug.

Bestimmt hatte er keine eigenen Kinder. Vielleicht wollte er gerne welche und hatte den Jungen deshalb geklaut. Die Übelkeit kehrte zurück, doch da krabbelte die Katze über seine Brust und versuchte, unter seine Achseln zu kommen. Da war er besonders kitzelig. Er lachte prustend und vergaß, was er gerade gedacht hatte.

„Eine kleine Krabbelmaus

krabbelt rüber, rein und raus,

krabbelt rauf und runter

und ist froh und munter.“

Der Mann ließ ihm das Stofftier einfach in den Schoß fallen. Der Junge konnte nicht anders, er fing es auf und drückte es an sich. Obwohl sein Schulranzen schon zu Hause auf ihn wartete, fühlte es sich gut an, mit dem Kätzchen zu kuscheln wie ein Baby. Vielleicht hatte der Mann niemanden, den er lieb haben konnte oder der ihn lieb hatte, und spielte deshalb noch mit Plüschtieren. Er konnte sich ja nicht einmal eine Hose leisten.

Mit einem Mal tat der Unbekannte dem Jungen leid. Bestimmt war er auch hier eingeschlossen. Aber dann erinnerte er sich daran, dass der Mann einen Schlüssel für die Gittertür hatte. Es kribbelte unangenehm in seinem Nacken, als wäre etwas auf ihm gelandet. Er bekam eine Gänsehaut und wischte mit der Hand darüber, aber da war kein Flugkäfer oder Falter. Hier unten gab es nur den Fremden, der zu ihm heranrückte. Er lächelte die ganze Zeit wie ein Clown, nur ohne Maske. Als wäre sein Gesicht nicht echt, sondern aufgemalt.

Während er weitersang, kitzelte er den Jungen am Bauch, an den Oberschenkeln, am Rücken und am Oberkörper. Seine Finger waren überall auf ihm, wie die ekeligen Beine einer Spinne. Immer, wenn der Junge sie wegschlug, waren sie längst woanders.

„In unserem Häuschen

sind schrecklich viele Mäuschen.

Sie trippeln und trappeln.

Sie zippeln und zappeln.

Und will man sie haschen:

Husch, sind alle Krabbelmäuschen weg!“

Nach dem letzten Reim versteckte der Fremde seine Hände unter dem Po des Jungen. Der war darüber so erschreckt, dass er sich nicht rührte. Er kam sich kalt und starr wie einer der Pflastersteine vor.

Noch immer grinste der Mann ihn an. Er zog sich nicht zurück. Der Junge spürte, wie sich die Finger unter ihm bewegten. Wie zehn dicke Maden. Angeekelt warf er dem Unbekannten das Kätzchen ins Gesicht. Doch der hob locker seinen Arm, sodass es abprallte und zu Boden fiel. Wenigstens waren die Finger jetzt unter ihm weg.

Dennoch schluchzte der Junge laut. Ihm war speiübel. Er wollte nur noch weg von dem fiesen Kerl und versuchte, von der Decke zu kriechen. Doch der Mann schlang die Arme um ihn und riss ihn zurück.

„Scht“, machte er und drückte ihn an sich, wie der Junge zuvor das Plüschtier. Mit seinem T-Shirt tupfte er über das tränennasse Gesicht des Jungen. Er wiegte ihn vor und zurück. Das sollte ihn wohl beruhigen, aber dadurch wurde dem Jungen nur noch schlechter.

„So hübsche braune Locken. So große, ängstliche Augen. Du bist so schön, wenn du weinst, Bubele.“ Der Unbekannte wuschelte ihm durch die Haare. Langsam fuhr er mit einem Finger über die Narbe auf der Wange. Jetzt blies er auch noch seinen Atem auf den Bauch und die Brust des Jungen. Er stank widerlich nach Wurst.

„Peter, Peter Pustewind

huscht herbei ganz windgeschwind.

Peter, Peter Pustewind

mit Zärtlichkeit sein Spiel beginnt.

Peter, Peter Pustewind

kitzelt sanft mein Babykind.“

Verzweifelt schob der Junge den Mann weg, denn der hatte aufgehört zu pusten und streichelte ihn nun stattdessen. Aber das wollte er nicht, es beruhigte ihn nicht so, wie wenn seine Mama das tat. Aber der Fremde war unglaublich stark. Der Junge schaffte es einfach nicht, sich von ihm loszureißen. Je mehr er sich wehrte, desto kräftiger presste der Mann ihn an sich.

„Peter, Peter Pustewind

streichelt sacht und leise lind.

Peter, Peter Pustewind

küsst ganz zart mein Babykind.“

Plötzlich packte der Fremde sein Kinn. Er drückte es grob hoch. Dann küsste er ihn. Auf den Mund! Das tat sonst nur seine Mama. Nicht einmal sein Papa. Schockiert hielt der Junge still. Der Wurstgeruch ließ ihn würgen. Die fremde Haut fühlte sich heiß an, als würde das Blut des Fremden kochen.

Endlich ließ er ihn los und zog seine Zunge aus ihm heraus. Der Junge hustete, bis seine Kehle wehtat. Angeekelt wischte er sich über seine Lippen, die ganz feucht waren. Wieder dieser Singsang. Er wollte sich die Ohren zuhalten, aber der Unbekannte ließ das nicht zu.

„Kennst du den kleinen Floh?

Er versteckt sich irgendwo!

Aber wo wird er jetzt sein?

Vielleicht unten am Bein,

vielleicht kriecht er empor

und kitzelt dich am Ohr!

Vielleicht sitzt er im Haar,

wär das nicht wunderbar?“

Eifrig nickte der Junge. Damit die Hände des Mannes da oben blieben und nicht wieder nach unten wanderten. Aber er tat ihm den Gefallen nicht, sondern er hob ihn auf seinen Schoß. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er saß auf etwas, das härter war als die Oberschenkel des Fremden und das zuckte wie ein ekeliger fetter Regenwurm. Sein Herz schlug so heftig, dass er befürchtete, es könnte explodieren.

Aber was sollte er denn machen? Er fühlte sich klein und hilflos. Bienen waren auch klein, aber die hatten wenigstens eine Waffe. Immer wieder bohrte er seinen Finger in die Seite des Unbekannten, aber es kam kein Gift heraus.

„Vielleicht hüpft er gerade fort,

schnell an einen andern Ort!

Kennst du den kleinen Floh?

Er versteckt sich im …“

Der Junge kreischte auf, als der Mann ihm einen Finger in den Po schob. Heftig schlug er die große Hand weg. Doch sein Hintern tat immer noch fürchterlich weh, als hätte der Unbekannte ihm ein brennendes Streichholz zwischen die Backen gesteckt.

„Was soll das? Was soll das? Was soll das?“, schrie er immer lauter und boxte den Fremden wütend.

Das machte dem aber gar nichts aus. Er hielt den Jungen fest und sang sogar noch fröhlicher weiter, als dieser vor Angst auf die Decke machte.

„Pimmel und Pimmelchen

stiegen auf einen Berg.

Pimmel war ein großer Schwanz

und Pimmelchen ein Zwerg.

Sie blieben lange da oben sitzen

und wackelten mit den Zipfelmützen.“

Nein, nein, nein! Der Reim ging anders. Der Mann sagte ihn völlig falsch auf. Aber der Junge wusste es besser, er kannte das Fingerspiel von seiner Mutter. Wo war sie nur? Hörte sie nicht, dass er hemmungslos weinte? Er wollte nicht, dass der Fremde seinen Strullermann anfasste. Aber er konnte ihn nicht daran hindern, dass er ihn hin- und herschwang, wie die Mützen in dem Vers.

Plötzlich stieß der Mann ihn von seinem Schoß. Er nahm die Hand des Jungen und legte sie an seinen Pipimann. Der war so schrecklich groß! Da unten roch der Mann noch ekeliger als sein Atem, so wie die Unterhose des Jungen nach dem Sport. Nach Schweiß und Po. Gemeinsam versuchten sie, ihn ebenfalls schlackern zu lassen, aber das funktionierte schlecht, weil er so steif war.

Rotz lief aus der Nase des Jungen, er wischte ihn mit dem Arm ab. Seine Mutter hätte mit ihm geschimpft, aber sie war nicht da. Er war alleine. Ganz alleine. Mit diesem Monster.

Er schluchzte herzzerreißend. Das machte den Mann wild. Er presste seine Hand fest auf die des Jungen und rieb auf und ab. Flennend schaute der Junge weg. Er wimmerte und versuchte so zu tun, als kriegte er gar nichts mit. Als wäre er gar nicht er. Als wäre er jetzt nicht hier. Er stellte sich vor, er würde bei seinem Papa in Sicherheit sein. Aber das funktionierte nicht, denn der Singsang holte ihn in dieses Loch zurück.

„Doch nach fünfundzwanzig Wochen

sind sie in den Berg gekrochen,

schnarchen da in guter Ruh.

Seid schön still und hört mal zu!“

Der Mann schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er faltete seine Hände, hielt sie an seine Wange und tat so, als würde er seinen Kopf darauf ablegen, wie auf einem Kissen. Dann schnarchte er.

Der Junge heulte hemmungslos. Dicke Tränen kullerten seine Wangen hinab, sie schmeckten salzig. Er hatte keine Ahnung, was der Mann von ihm wollte und was das alles sollte. Er spähte zur Gittertür, die offen stand, und machte sich bereit dazu, wegzulaufen. Die Monster in den Schatten dort draußen konnten nicht so schlimm sein wie der Fremde. Doch er kam nicht dazu, aufzuspringen.

Plötzlich warf der Unbekannte ihn mit dem Bauch zu Boden. Sein Schnarchen klang jetzt mehr wie Stöhnen. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Jungen, sodass der meinte, keine Luft mehr zu bekommen.

„Nun bist du doch ein Hund, Bubele“, säuselte der Mann. „Denn ich besteige dich wie eine Töle.“

Er flüsterte noch andere Dinge mit einer Stimme, die immer kehliger wurde. Aber der Junge verstand ihn nicht mehr, weil seine eigenen Schreie in seinen Ohren so laut dröhnten, dass seine Trommelfelle zu platzen drohten.

1. KAPITEL

Wenn das so weiterging, würde heute noch ein Unglück passieren! Abuu Beti bezeichnete sich als ausgeglichenen Menschen, aber an diesem frühen Nachmittag stand er kurz davor, jemandem den Finger zu brechen. Wenn noch einer aufzeigte und ungläubig nachhakte, als wüsste Abuu nicht, was er referierte, würde er sich vergessen.

Rasch wandte er der Gruppe den Rücken zu, damit sie nicht mitbekamen, dass er seine Zähne zusammenbiss, um nicht laut zu schreien. Die Tour durch die archäologische Zone des jüdischen Viertels entwickelte sich zum Albtraum! Aktuell standen sie im römischen Abwassertunnel des Museums Praetorium in der Kleinen Budengasse 2 und er fühlte sich von Ratten umgeben, obwohl kein Tier weit und breit zu sehen war. Sie waren bekanntlich intelligent, übertrugen aber Krankheiten. In diesem Fall handelte es sich um schlechte Laune.

Alle, die eine Stadtführung inklusive dem ein oder anderen Museumsbesuch gebucht hatten und dann einem Farbigen gegenüberstanden, stutzten erst einmal. Das erwartete niemand. Sondern einen waschechten Kölner. Woran auch immer man die erkannte. Denn er war einer. Wenn Abuu ihnen jedoch in einwandfreiem Hochdeutsch sagte, dass er ebenso in Deutschland geboren und aufgewachsen war wie sie und seit dreiundsechzig Jahren in der Domstadt lebte, war das Eis meistens gebrochen.

Nicht so bei diesem Jesocks. Vom ersten Augenblick an hielten die Männer und Frauen Abstand von ihm, als wäre seine schwarze Hautfarbe ansteckend und könnte auf sie abfärben. Die Gruppen, die er herumführte, waren immer sehr unterschiedlich, aber alle machten Abuu auf unterschiedliche Weise Spaß. Akademiker zeigten sich stets gesittet und interessiert, während Kegelvereine, die den Programmpunkt nur hinter sich bringen wollten, um endlich eine der Kneipen zu entern, wenigstens lustig waren. Sie scherzten und lachten die ganze Zeit. Mochte die erste Kategorie auch zu ernst sein und die zweite keine Lust auf Kultur haben, so konnte Abuu dennoch beiden etwas abgewinnen. Sogar in Schulklassen gab es immer einige neugierige Kinder, die an seinen Lippen hingen und ihn mit Fragen löcherten. Aber der mürrische Haufen, der hinter ihm her zurück in den Hauptraum schlenderte, konnte nur eins: nörgeln.

Ein Betriebsausflug der Stadtverwaltung. Deren Mitarbeiter waren die Schlimmsten! Chronisch unzufriedene Besserwisser.

Ständig hakten sie nach, ob er sich sicher war, über das, was er erklärte, dabei beschäftigte er sich nun schon seit über dreißig Jahren mit der Kölner Geschichte. Sie dagegen hatten noch nie eine einzige der Ausgrabungsstätten besichtigt, nicht einmal die der Synagoge, an der sie täglich vorbei zur Arbeit im Rathaus gingen. Es schien eine Museumsallergie unter ihnen zu grassieren. Da das peinlich für die Behörde war, zwang sie ihre Belegschaft im Zuge der Betriebsausflüge eben dazu, die Historie ihrer Heimatstadt kennenzulernen.

„Sind Sie sicher, dass der öffentliche Kanalbesitz damals ausgerechnet an Brauhäuser vermietet wurde?“

„Zur Kühlung ihrer Fässer, ja.“

„Die Obrigkeit hätte doch niemals zugelassen, dass Getränke neben Fäkalien aufbewahrt wurden.“

„Man kann heute noch sehen, wo die Bierfässer in Ausbuchtungen gelagert wurden.“

„Nein, da ist nichts.“

„Die Mulden mauerte man mit Feldbrandziegeln zu, genauso wie die antiken Zuleitungen aus den anliegenden Häusern, aber man erkennt sie noch.“

„Das kann alles Mögliche sein.“

„Übrigens diente der Kanal im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller.“

„Sie sagten, Sie hätten als Lehrer in einem Gymnasium gearbeitet. Unsereins kann sich nicht erlauben, in Frühpension zu gehen.“

„Ich hatte einen Herzinfarkt mit einundsechzig. Entschuldigung, wenn ich keinen zweiten riskieren wollte.“

„Sie können Kinder wohl nicht leiden, wenn Ihre Schüler Sie derart aufgeregt haben.“

„Ich habe selbst vier Kinder und sechs Enkel.“

„Das sind aber viele Nachkommen. Bei uns ist so was ja unüblich. Was haben Sie früher denn unterrichtet?“

„Deutsch und Philosophie.“

„Dachte ich’s mir doch! Also nicht Geschichte.“

Hätte das Museum ein Café gehabt und Abuu nicht Ärger mit seinem Vorgesetzten riskieren wollen, hätte er geantwortet: „Auf der Tafel am Eingang des Kanals, an der Sie achtlos vorbeigegangen sind, stehen auch alle Informationen. Lesen Sie sie sich doch selbst durch. Ich gehe in der Zeit einen Kaffee trinken, und zwar einen schwarzen.“

Stattdessen ballte er seine Hand zur Faust. „Hier entlang. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Um zum jüdischen Ritualbad zu gelangen, müssen wir die Ausstellung verlassen.“

„Wir müssen raus? Sind Sie sich da ganz sicher?“

Abuu ging einen Schritt schneller. Äußerlich blieb er ruhig, doch innerlich brodelte es in ihm. Niemand beschwerte sich, als sie das Herzstück des Museums, die Mauern des römischen Statthalterpalastes aus dem vierten Jahrhundert mit dem berühmten Oktogon, links liegen ließen. Sie hatten Mühe, hinterherzukommen. Ihre eiligen Trippelschritte hinter ihm klangen wie die Beine einer Schar Ratten. Normalerweise tat er keiner Fliege etwas zuleide, aber heute hätte er sich am liebsten umgedreht und eine unter seinem Schuh zerquetscht, auf dass der Rest davonlief.

Die Vorstellung zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er beugte sich zu Christoph, der im Kassenhäuschen saß, hinunter. „Wir gehen in die Mikwe.“

„Jetzt schon? Ihr seid doch gerade erst gekommen.“ Christoph krauste seine Stirn. „Du siehst aus, als würdest du gleich explodieren.“

Überrascht hob Abuu seine Brauen. „Ich lächle doch.“

„Nein, du fletschst deine Zähne“, sagte Christoph und zwinkerte. „Antonio ist noch mit seiner Truppe von der Uni drin.“

Ob die Studenten Toni ebenso wenig Glauben schenkten, weil er italienischer Abstammung war? Oder sahen sie aufgrund seiner weißen Hautfarbe darüber hinweg, bemerkten es vielleicht nicht einmal? Seine Kiefer schmerzten, so stark knirschte Abuu mit den Zähnen.

Heute hatte er einfach nicht die Nerven für Probleme. Bisher war der Tag eine Katastrophe gewesen. Gleich nach dem Aufstehen war er mit nacktem Fuß in eine Heftzwecke getreten. Daraufhin hatte er sich mit seiner Frau gestritten, die am Vortag ein selbst gemaltes Bild ihres Enkels aufgehängt hatte, aber Stein auf Bein behauptete, ihr wäre nichts heruntergefallen. Weil es wehtat, wenn Abuu auftrat, war er ungelenk gegangen und dabei auf dem Gehsteig umgeknickt, sodass sein Knöchel nun auch noch schmerzte. Zu allem Übel war sein Pass auch noch abgelaufen, was der Polizist feststellte, den der Nachbar gerufen hatte, weil Abuu sich, als er zu fallen drohte, auf der Motorhaube dessen Autos abgestützt und eine Delle verursacht hatte. Und jetzt musste er sich auch noch mit solchen Idioten herumplagen. Dieser Tag konnte kein gutes Ende nehmen!

Aufgebracht stapfte er voraus und verließ das Praetorium. Obwohl Eiseskälte ihn empfing, schloss er seinen Mantel nicht, denn sein Blut kochte.

Toni kam ihm schon auf dem Theo-Burauen-Platz entgegen. Die gesamte Gruppe redete aufgeregt durcheinander. Die Mienen der Studenten waren finster. Es wurden Köpfe geschüttelt und Nasen gerümpft.

Antonio, einen Kopf kleiner als Abuu, dafür doppelt so füllig, schnaubte, als er Abuu den Schlüssel überreichte. „Mach dich auf etwas gefasst. Eine Schweinerei!“

„Wovon sprichst du?“

„Das wird Konsequenzen haben. Christoph muss die Polizei rufen. Sofort!“ Immer wieder strich sich Toni über seine Glatze. Schweiß glänzte darauf. Kleine Atemwölkchen kamen stoßartig aus seinem Mund. „Ich sage ihm Bescheid.“

Bevor Abuu fragen konnte, was passiert war, eilte Toni schon weiter. Die Studenten folgten ihm tuschelnd.

Plötzlich kam Leben in Abuus eigene Gruppe. Eben noch waren sie ihm widerwillig hinterhergetrottet, nun liefen sie sogar zum Zelt auf dem Vorplatz des Rathauses voraus. Strahlende Gesichter wie die ihren sah man in diesem düsteren Januar selten. Die Weihnachtsbeleuchtung war längst abgehängt. Zurück blieb die Trostlosigkeit des Winters. Die Wolken hingen tief über den Häusern, die eine Spur schmutziger aussahen als im Sommer. Es lag Schnee in der Luft. Der Himmel wurde immer dunkler, je weiter der Nachmittag voranschritt, und wirkte unheilvoll. Die Geräusche der Großstadt klangen merkwürdig gedämpft, was etwas Bedrohliches hatte, als würde eine große Glocke über Köln gestülpt, sodass niemand dem Schneesturm entfliehen konnte. Abuu konnte sich an keinen Blizzard in Nordrhein-Westfalen erinnern. Aber schon ein paar Flocken konnten die Region ins Chaos stürzen.

Was erwartete ihn wohl im jüdischen Ritualbad? Von außen nahm er keine Auffälligkeiten wahr. Die Ausgrabungen daneben würden wohl noch viele, viele Jahre andauern. Die oberen Mauersteine der freigelegten Häuser schlossen mit den Straßen, die sie umgaben, ab. Noch war die Baustelle in ständiger Bewegung. Holzbrücken und Treppen ermöglichten den Archäologen und Studenten, weitere Teile der antiken Bauten, der ältesten Synagoge nördlich der Alpen und der Ratskapelle aus dem 15. Jahrhundert, freizulegen. Planen bedeckten große Teile des Areals, um es vor Umwelteinflüssen zu schützen. Abuu reizte es immer wieder aufs Neue, auch mal einen Schritt hinab in die Vergangenheit zu machen, aber zum einen war das selbstverständlich verboten, zum anderen hatte er zu viel Respekt vor diesem Kulturgut und wollte nichts zerstören.

Seine Gruppe hastete weiter, ohne der Ausgrabung oder dem Zelt, in dem kleinere Fundstücke von Sand, Lehm und anderen Sedimenten befreit wurden, Beachtung zu schenken.

Er arbeitete sich zurück an den Kopf der Truppe, weil er befürchtete, sie könnte das Tor vor dem Treppenabgang zum Tauchbad, das im achten Jahrhundert erbaut worden war, einfach niederrennen. Er schloss es auf und stieg die Treppe hinab, um die Tür am Ende zu öffnen. Ungeduldig wartete er, bis alle eingetreten waren, und riegelte hinter ihnen wieder ab.

Das Papierschild, das mit einfachem Klebeband außen an der Wand befestigt worden war, würde er später wieder ankleben. Jemand hatte es mit seinem Jackenaufsatz abgerissen. Der Hinweis ermahnte die Stadtführer, darauf aufzupassen, beim Verlassen niemanden einzuschließen, und klärte darüber auf, dass in der Mikwe selbst sogar noch archäologische Arbeiten durchgeführt wurden.

Manche seiner Kollegen ließen die Tür offen, aber das konnte böse Folgen haben. Der Schacht, an dessen Ende das Tauchbad lag, ging siebzehn Meter in die Tiefe. Wenn er dort unten stand, konnte er unmöglich die Tür im Auge behalten.

Bevor er es verhindern konnte, stiegen die Männer und Frauen die gewundene Treppe zum Becken hinab. Abuu eilte hinterher, wobei seine Jacke über den Elbagranit der antiken Säulenspolie schabte, war aber der Letzte, der unten ankam. Er rechnete damit, aufgebrachte Schreie zu hören oder laut ausgestoßene Empörungen, aber das Gegenteil geschah. Es trat betretenes Schweigen ein.

Nervös sah sich Abuu im Ritualbad um, in dem sich in der Vergangenheit alle aus der jüdischen Gemeinde, die das Reinheitsgesetz missachtet hatten, aber auch Frauen, die ihre Regel oder ein Kind geboren hatten, reinigen mussten.

Nichts. Außer, dass das Tauchbecken, das normalerweise durch klares Grundwasser gespeist wurde, nun mit einer bräunlichen Brühe gefüllt war. Als hätte jemand, der an Durchfall litt, hineingemacht.

Die sensationslustige Menge reagierte enttäuscht. Ob des unspektakulären Anblicks machte die Verwaltungsbelegschaft wieder lange Gesichter.

Im Gegensatz zu den anderen Anwesenden verstand Abuu Antonios Entrüstung. Es musste sich entweder um Vandalismus handeln oder etwas stimmte mit dem Grundwasser nicht. Beides war schlecht. Besonders aber Ersteres. Die Zeitungen würden ihrer Gewohnheit nach die Geschichte aufbauschen, es könnte von Neonazis und Judenhass die Rede sein, obwohl es nach den momentanen Anhaltspunkten genauso gut ein Dummejungenstreich gewesen sein könnte. Die jüdische Gemeinde würde auf hundertachtzig sein. Schon im Jahr 1424 wurde sie vertrieben und das Ritualbad zugeschüttet, sogar als Abort missbraucht. Den ebenerdigen Teil funktionierte man zum Stall um. Von dort musste der Sand stammen, den wer auch immer ins Wasser geworfen hatte. Abuu hoffte noch immer, dass es eine geologische Erklärung für die Sauerei gab, während die Stadtangestellten umdrehten und an ihm vorbei nach oben gehen wollten.

Da platzte ihm der Kragen! Er packte einen Mann grob am Arm und hielt ihn zurück. „Wollt ihr denn gar nichts über das Bad erfahren? Habt ihr so wenig Interesse an der Kultur eurer Heimat? Oder glaubt ihr, ich würde eh nur Scheiße …“

Ein Aufschrei unterbrach ihn.

Die Schmutzpartikel im Wasser setzten sich langsam. Es wurde wieder klarer. Langsam. Wie in Zeitlupe. Eine Ewigkeit lang standen sie alle wie angewurzelt da und starrten fassungslos auf das in Rotsandstein eingefasste Becken.

Zuerst kam ein Fuß zum Vorschein. Er war klein, wie von einem Kind. Keine Socken oder Schuhe.

Eine Schulter wurde sichtbar. Ebenfalls nackt. Die Haut war schrumpelig.

Der Körper lag in Fötushaltung am Grund des Beckens. Ein Seil war um den Oberkörper und die angezogenen Beine geschlungen. Verschnürt zu einem kompakten Paket.

Entsetzt stießen die Männer und Frauen Abuu beiseite und rannten nach oben. Das Kreischen einer Frau dröhnte in der kleinen Stätte, die plötzlich etwas von einer Gruft hatte. Ein Mann brüllte die anderen an, gefälligst schneller zu gehen. Tränen flossen.

Abuu schob sich aus der Mulde in der Wand, in der früher die Kleidung deponiert wurde, wieder hervor. Weit würden sie nicht kommen, denn den Eingang hatte er ja abgeriegelt. Damit niemand ungesehen hereinkam. Nun kam auch keiner heraus.

Sie waren eingeschlossen mit einer Leiche.

2. KAPITEL

Daniel Zucker hatte mit eigenen Ohren gehört, wie der Leiter der Direktion Kriminalität Christian Voigt zugab, dass er in ihm ein Furunkel am Arsch des Polizeipräsidiums sah. Lästig, unnütz und sogar gefährlich.

Wie Bakterien oberflächliche Verletzungen nutzen, um in die Haut einzudringen, hatte Daniel die Schwäche des starren und überforderten Polizeiapparates ausgenutzt. Er hatte mithilfe seiner Ehefrau Marie und ihres Cousins Benjamin die Morde in Zusammenhang mit Julia Kranich aufgeklärt, bevor die Kollegen es konnten. Damit hatte er seine Rückkehr ins Kriminalkommissariat 11 auf geschickte und sanfte Weise erzwungen. Die Direktion des Präsidiums wollte unter keinen Umständen von ihm vor Gericht gezerrt werden und riskieren, einen Präzedenzfall zu schaffen. Die Medien hätten sich ohne Zweifel auf Daniels Seite geschlagen. Kölner Polizei diskriminiert Behinderte – diese Schlagzeile hätte Voigt den Kopf gekostet. Also hatten sie sich geeinigt. Daniel durfte zwar nicht seine alte Stelle im KK 11 wieder antreten, denn das Gesetz verbot nun mal, einen Rollstuhlfahrer als Mordermittler einzusetzen, und daran gab es nichts zu rütteln – er behielt jedoch seinen Beamtenstatus und die Kollegen sollten ihn bei besonders schwierigen Fällen oder wenn die Abteilung völlig überlastet war, was so gut wie immer zutraf, zu Ermittlungen hinzuziehen.

So weit die Theorie. „Die verdammte Praxis sieht anders aus“, murmelte Daniel und schlug die Autotür lautstark zu. Kraftvoll stieß er seinen Rollstuhl an und rollte in Richtung Rathaus.

Da der Leiter der Direktion Kriminalität Daniel jedoch nicht so einfach und schnell wieder loswurde, wie er es sich offenbar wünschte, hatte er einen anderen Weg gewählt, um Daniel mürbe zu machen. Erst zog Voigt das Hamburger Modell durch, obwohl eine stundenweise Eingliederung bei einem externen Berater nicht notwendig war. Danach stellte er sicher, dass Daniel als Sonderermittler nur selten angefordert wurde und dann auch nur bei Fällen mit klarer Sachlage, die wenig Grips erforderten und bald gelöst waren. Die meiste Zeit saß Daniel zu Hause und wartete vergeblich auf einen Anruf seines ehemaligen Vorgesetzten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Karsten Fuchs. Wenn es nach Fuchs gegangen wäre, hätte er das Experiment gewagt und Daniel, der nach einem Freizeitunfall von der Hüfte abwärts querschnittsgelähmt war, wieder als vollwertiges Mitglied des KK 11 eingestellt.

Manchmal hatte Daniel sogar den Eindruck, Voigt erachtete ihn als gefährlich. Eben wie ein Bakterium, das sich längst in die Körperschaft der Kölner Polizei eingelagert und eine Kapsel wie einen Schutzschild um sich herum gebildet hatte, sodass es immer schwerer wurde, ihn wieder zu entfernen. Denn die meisten Kollegen hießen Daniels Mitarbeit willkommen, weil sie ohnehin permanent überarbeitet waren und er bei den meisten beliebt war. Er hatte immer einen guten Job gemacht und das tat er jetzt auch, Querschnittslähmung hin oder her. Die Sympathien für ihn wuchsen, das schmeckte dem Kriminaldirektor gar nicht.

Voigt befürchtete, dass es Schule machen würde. Es könnten noch mehr Behinderte auf der Straße eingesetzt werden, wo sie seiner Meinung nach nur im Weg standen. Erreger wie Zucker schwächten das Immunsystem des gesamten Präsidiums, sie arbeiteten sich in die Tiefe vor, infizierten das KK 11, in dem die Fehlerquote dramatisch anstieg, und Eiter bildete sich. Dieser würde über kurz oder lang die Außenhaut der Polizei durchbrechen, und die Einwohner der Domstadt sowie die Presse würden es bemerken. Dann wäre die Kacke am Dampfen. Voigt rechnete fest damit, dass es unweigerlich zu einem Fiasko kommen würde, das wusste Daniel, seitdem er zufällig ein Gespräch zwischen ihm und der Personalleitung mit angehört hatte.

„Er ist wie ein Abszess. So was wird durch eine Zuckererkrankung begünstigt. Wir haben uns bereits beides eingefangen. Wir müssen ihn loswerden, bevor er uns in der Öffentlichkeit durch seine Selbstüberschätzung bloßstellt. Der denkt ja, er wäre Superman auf zwei Rädern.“

„Übertreiben Sie nicht ein wenig?“

„Sie unterschätzen die Bedrohung, die von ihm ausgeht. Obwohl wir versucht haben, es zu verhindern, berichtete der Stadtanzeiger über ihn als Helden im leidigen Kranich-Fall. Er darf aber nicht zum Aushängeschild werden. Das würde unweigerlich in die Katastrophe führen. Sie können mir nicht folgen? Nun, stellen Sie sich nur vor, es würden weitere Menschen mit Behinderungen, welcher Art auch immer, eingestellt werden, weil sich zeigt, dass Zucker gute Arbeit leistet. Womöglich noch in erster Reihe, um das Image aufzupolieren.“

„Angestellte mit angezogener Handbremse.“

„Wir würden weniger Fälle lösen. Die Verbrecher würden uns auslachen. Die Kriminalpolizei verkäme zum Witz. Weniger gelöste Fälle würden mehr Kriminelle auf den Plan rufen und die Bevölkerung gegen uns aufbringen. Wo soll das hinführen?“

„Wir verstehen Sie. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern! Ein Körperbehinderter – ein Problem. Viele Behinderte – viele Probleme. Sie würden das System langsam vergiften und schließlich lahmlegen.“

„Ich befürchte, das erfordert etwas mehr Fingerspitzengefühl. Wir müssen uns in Geduld üben. Ein Arzt schneidet ein Furunkel erst auf, wenn es reif ist, damit der Eiter abfließt und die Bakterien nicht noch mehr Gewebe infizieren können. Das heißt für uns: Wir lassen die Zusammenarbeit mit Zucker langsam einschlafen.“

„Das wird er sich nicht gefallen lassen.“

„Natürlich nicht, darauf warten wir ja nur. Sobald er rebelliert, setzen wir unser Skalpell an und beweisen ihm, dass wir ihn nicht brauchen, sonst hätten wir ihn ja öfter angefordert. Er ist überflüssig, das belegen unsere Unterlagen, und verursacht nur unnötige Kosten.“

Sie hatten Daniel reingelegt! Hatte er im letzten Jahr noch triumphiert, da er seinen Arbeitgeber überlistet und ein Schlupfloch im Gesetz gefunden hatte, dass es ihm ermöglichte, trotz Querschnittslähmung weiter aktiv auf Verbrecherjagd zu gehen, statt hinter einem Schreibtisch in der Verwaltung zu versauern, so erkannte er nun, dass Voigt und die Personalabteilung ihn überlistet hatten.

Er besaß zwar einen Sondervertrag mit ihnen, aber niemand zwang sie, ihn tatsächlich anzufordern. Erst jetzt kapierte er, dass er mit seinem Rolli auf ein Abstellgleis geschoben worden war.

Doch so leicht servierte man einen Zucker nicht ab! Er hatte einen Gegenschlag ausgeheckt und den setzte er nun, da er auf das jüdische Ritualbad zusteuerte, um. Statt zu warten, bis man ihn rief, würde er sich seine Fälle ab sofort selbst aussuchen. Sobald ein spektakulärer Mord geschah oder eine Leiche an einem Ort wie der Mikwe gefunden wurde, der als kritisch eingestuft wurde, kamen auch Reporter. Schmutz zog nun mal Schmeißfliegen an. Voigt würde nicht wagen, ihn vor den Augen und Ohren der Berichterstatter und den Kameralinsen wegzuschicken, weil er wusste, dass Daniel ein Heidentheater machen würde. Solch einen Eklat konnte sich nicht einmal der Kriminaldirektor erlauben.

So weit sein Plan. Allerdings bereitete ihm schon der Gehsteig Probleme. Dieser war zwar offensichtlich in der Früh geräumt worden, aber es hatten sich bis zum späten Nachmittag hier und da kleine Eisflächen gebildet, auf denen die Räder seines Bocks ausbrachen. Es war eine Rutschpartie, von seinem Auto zum Vorplatz des Rathauses zu gelangen. Dort wurden mit einer Engelsgeduld die Überreste einer Synagoge und anderer Gebäude vorheriger Epochen freigelegt. Daniel wurde abgelenkt von der Vorstellung, er müsse tagein, tagaus mit einem Pinsel alte Backsteine, Werkzeuge und Münzen von jahrhundertealtem Staub befreien. Als er sich gerade vorstellte, wie er eine Amphore entweder aufgrund seiner fehlerhaften Feinmotorik zerbrach oder vor Ungeduld gegen die Wand des Ausgrabungszeltes warf, passte er nicht auf und rutschte vom Bordstein auf die Straße.

Unglücklicherweise standen zwei Gruppen vor dem Zelt, hinter dem sich die Ausgrabungsstätte befand. Unzählige Augenpaare richteten sich auf ihn. Daniels Hände krampften sich um die Greifringe seines Rollstuhls. Ein Autofahrer musste wegen ihm bremsen und hupte, sodass nun auch Tomasz und Leander, die mit zwei Männern hinter dem Polizeiabsperrband standen und redeten, zu ihm herüberschauten.

Murrend zog Daniel seine Schiebermütze tiefer ins Gesicht. Mit dem Blick auf die Fahrbahn gerichtet, fuhr er so schnell wie möglich auf die andere Seite. Sein Chopper ruckelte, als er das Hindernis aus vereistem Schnee überwand. Die Straßen waren zwar geräumt und die Autos hatten freie Fahrt. Doch der Schnee türmte sich in den Abwasserrinnen und gefror, sodass sie für Rollifahrer kaum zu überwinden waren.

Daniel hasste es, begafft zu werden! Zwar verkroch er sich nicht mehr in den eigenen vier Wänden, um jeder peinlichen Situation aus dem Weg zu gehen. Dennoch fühlte er sich immer noch unwohl, wenn man ihn wegen seiner Krüppel-Harley anstarrte. Diese mitleidigen Blicke, das verlegene Wegsehen und das Tuscheln setzten ihm zu. Er arbeitete daran, sich ein dickeres Fell zuzulegen, aber bis ihm das Gaffen nichts mehr ausmachte, würde es noch etwas dauern. Bis dahin hatte er weiterhin daran zu knabbern.

Immerhin gab er nicht dem Drang nach, umzudrehen und zu flüchten.

Das Teufelchen auf seiner linken Schulter flüsterte ihm zwar zu, dass er sich dieser Peinlichkeit nicht aussetzen musste, schließlich sollte er nicht einmal hier sein. Doch auf seiner rechten Schulter saß ein ausgewachsener Teufel und der stachelte ihn an, Voigt mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, nämlich zu tricksen und seinen Gegner hereinzulegen.

Um nicht vor Scham im Boden zu versinken, stellte sich Daniel vor, wie er ein Patent anmeldete, dass Marie und ihn stinkreich machen konnte, sogar noch reicher als ihre Eltern, die anatomische Lehrmittel in Handarbeit herstellten. Viele Gehbehinderte würden sicherlich ihren Rolli mit einem Turbo Boost, wie bei K.I.T.T. in der Fernsehsendung Knight Rider oder dem Batman-Tumbler aus der Dark-Knight-Trilogie ausstatten, um Hindernisse einfach zu überspringen.

Die Vorstellung, was die Beobachter für Augen machen würden, wenn sein Chopper plötzlich nach vorne stob, abhob und über den Eisschnee flog, heiterte ihn wieder auf. Lächelnd zog er an ihnen vorbei, erntete jedoch nur hochgezogene Augenbrauen.

„Einen schönen Tag“, wünschte er sarkastisch.

Die Männer und Frauen, die sich um einen älteren schwarzen Mann scharten, rissen ihre Augen auf. „Wir haben hier eine Leiche gefunden.“

„Genau wegen der bin ich extra gekommen. Ich bin ganz heiß darauf, sie zu sehen.“ Genau genommen konnte Daniel es kaum erwarten, das Gesicht des Kriminaldirektors entgleisen und rot anlaufen zu sehen, weil er sich ohne seine Zustimmung einen Fall aneignete.

Als Antwort bekam er empörtes Schnauben und Kopfschütteln. Hatte man ihn eben mitleidig betrachtet, so musterte man ihn nun missbilligend. Damit kam Daniel weitaus besser zurecht. Er eckte lieber an, als bedauert zu werden. Zufrieden entspannte er sich etwas.

„Da ist man freundlich zu den Menschen und wünscht ihnen einen schönen Tag, und dann das.“ Er blieb vor dem Absperrband stehen und zuckte in Richtung Tomasz mit den Schultern, konnte ein Schmunzeln jedoch nicht unterdrücken. Er streckte seine Hand nach der Trassierleine aus, um sie hochzuheben.

„He, Moment mal!“, rief ein Kollege von der Schutzpolizei, der den Tatort bewachte. Er sprang über das Flatterband und stellte sich breitbeinig vor Daniel, um ihm den Weg zu versperren. „Das ist ein Tatort.“

„Verbrechen sind genau mein Ding.“

„Darüber macht man keine Späße …“ Er schien noch mehr sagen zu wollen, musterte jedoch Daniels Beine, die an die Fußstützen geschnallt waren, und schluckte seine unflätige Bemerkung hinunter.

„Heute versteht man mich ständig falsch.“ Woran er nicht ganz unschuldig war, denn manchmal machte er sich einen Spaß daraus, sein Gegenüber auf eine falsche Fährte zu locken. „Das trübe Wetter schlägt wohl allen aufs Gemüt.“

„Oder dieser Fall“, murmelte der Polizist. „Man fordert nicht jeden Tag die Kollegen aus der Rechtsmedizin an und sagt ihnen, sie brauchen nur ein kleines Transportbehältnis mitzubringen.“

Schlagartig wurde Daniel ernst.

3. KAPITEL

Er hatte nur gewusst, dass eine Leiche im jüdischen Ritualbad gefunden worden war. Dieser Umstand allein war problematisch genug. Dass es jedoch so schlimm war, hatte er nicht geahnt. Er holte seinen Dienstausweis heraus, zeigte ihn vor und zwinkerte. „Der Adel kommt jetzt nicht mehr zu Fuß, wie das gemeine Volk.“

Seine Bemerkung, die auf die unterschwellige Rivalität zwischen Schutz- und Kriminalpolizei anspielte, entlockte dem Streifenpolizisten ein kurzes Lächeln. Bei jedem anderen Kripobeamten wäre er sicherlich beleidigt gewesen. Aber bei einem Rollifahrer verbuchte er diese Art Seitenhiebe wohl unter kameradschaftlicher Neckerei.

Tomasz kam auf ihn zugestürmt. „Zucker! Was machst du hier, verdammt noch mal?“

Es war allerdings nicht sein alter Partner vom Kriminalkommissariat 11, der das Flatterband anhob, sodass Daniel darunter hindurchfahren konnte, sondern der Kollege in der Uniform.

„Sie werden ja schon sehnsüchtig erwartet“, spottete der Streifenpolizist und sagte absichtlich laut: „Wir sind netter zueinander. Falls Sie wechseln wollen, stelle ich die Weichen.“ Mit einem Nicken deutete er auf die Räder des Rollstuhls. „Wir sind eh die coolere Truppe. Nicht umsonst heißt es: Die Kriminalpolizei rät – die Schutzpolizei weiß.“

„Vielleicht werde ich bald wirklich auf Ihr Angebot zurückkommen müssen.“ Wenn sein Plan schieflief und Voigt ihn wegen eigenmächtigen Handelns feuerte, konnte er womöglich immer noch in der Leitstelle der Schupo arbeiten. Zum Gruß hielt Daniel Zeige- und Mittelfinger an seine Schläfe.

Tomasz’ Haare besaßen fast denselben rötlichen Braunton wie seine Jacke. An diesem Tag hatte er etwas zu viel Gel benutzt, als erwartete er einen Sturm. Er klappte seinen Kragen hoch. Bei dem rußigen Fleck auf ihrem beigefarbenen Futter musste es sich um Zigarettenasche handeln. Seine Finger waren von der Kälte ganz rot. Sein Gesicht jedoch sah aus, als wäre er zwei Wochen in der Karibik gewesen. Im Winter übertrieb er es immer etwas mit dem Solarium. „Sorry, Kumpel, aber du hast hier nichts zu suchen.“

„In der archäologischen Zone des jüdischen Viertels gibt es einen Fall, also bin ich hier richtig.“ Daniels Lederhandschuhe knarzten, als er seinen Popo-Ferrari um Tomasz herumlenkte, ihn stehen ließ und weiter auf die Mikwe zufuhr.

Er kam an Leander vorbei, der sich gerade von den beiden Männern, mit denen er und Tom gesprochen hatten, verabschiedete. Der mit dem weißen Kittel ging in das Zelt, in dem die kleineren Fundstücke gesäubert wurden, während der im Tweedjackett in Richtung Kleine Budengasse schritt. Vermutlich handelte es sich bei ihm um den Leiter des Museums Praetorium, zu dem das Tauchbad gehörte. Er schien in heller Aufregung zu sein, denn er zückte sofort sein Handy und gestikulierte heftig beim Telefonieren.

Tomasz folgte ihm. „Fuchs hat mir nicht Bescheid gesagt, dass du mit im Boot bist.“

Daniel sah sich nach einem Fotoreporter um, doch noch war niemand von der Presse aufgetaucht. Mist! Nur wenn die Medien früh berichteten, dass der „Rollstuhlkommissar“ im Jüdischen Museum ermittelte, konnte Daniel den Leiter der Kriminaldirektion dazu zwingen, ihn an der Aufklärung des Falls teilnehmen zu lassen. „Das wird der EKHK bei der nächsten Besprechung nachholen.“

„Du willst dich aufzwingen, nicht wahr?“ Tom packte die Schiebestangen des Rollis, doch seine klammen Hände rutschten ab, weil Daniel beherzt Gummi gab. „Sei doch vernünftig. Damit machst du dir doch nur alles kaputt. Das wird sich die Präsidiumsleitung nicht gefallen lassen.“

„Ich gehe volles Risiko. Alles oder nichts.“

Tomasz’ Stimme hinter ihm klang leiser. Offenbar hatte er es aufgegeben, seinem Freund hinterherzulaufen, und war stehen geblieben. „Du kannst nicht in die Mikwe.“

„Und ob!“

„Selbst deine Zucker’sche Sturheit wird dich diesmal nicht weiterbringen. Verflixt!“

Leander, an dem Daniel gerade vorbeizog, schüttelte seinen Kopf. „Du kannst da wirklich nicht lang.“

Seine blonden Locken wippen wie bei einem verdammten Weihnachtsengel, dachte Daniel. Er sah ein, dass der Gang zwischen Ausgrabungszelt und Absperrzaun, hinter dem Baumaterialien gelagert wurden, sehr eng war, aber er wollte sich nicht gleich von jeder kleinen Hürde abschrecken lassen und schon weit vor dem Eingang des Ritualbads aufgeben. Wenn er das tat, konnte er sofort klein beigeben und in den verhassten Innendienst wechseln.

Er musste die Greifringe loslassen und die Räder von oben drehen. Langsam fuhr er weiter. Stück für Stück arbeitete er sich vor. Einmal blieb er beinahe stecken. Aber er übte etwas Druck auf den Draht des Bauzauns aus und es ging glücklicherweise weiter.

Daniels Magen krampfte sich zusammen, je näher er dem Eingang des Ritualbads kam. Er empfand keinen Spaß daran, blutbesudelte Tatorte aufzusuchen, Leichen zu betrachten und Morde en détail zu rekonstruieren, wie ihm seine Schwiegereltern schon einmal durch die Blume vorgeworfen hatten. Es stimmte, dass er seinen Beruf mit Leidenschaft ausübte, aber es ging ihm einzig um Gerechtigkeit!

Die schmalste Stelle des Durchgangs ließ er hinter sich, doch das Gefühl des Triumphs blieb aus, denn er kam an eine Treppe. Ernüchtert blickte er hinab zur Tür, die ins jüdische Ritualbad führte. Der Tatort war so nah und doch unerreichbar für ihn. Aufbrausend boxte er gegen das niedrige Tor am Treppenabsatz, das daraufhin aufschwang.

Tomasz überholte Leander. Seufzend stemmte er die Hände in die Hüften. „Ich sagte doch …“

„Schon gut!“ Es tat Daniel leid, dass er seinen Freund anblaffte, aber es war niederschmetternd, so schnell an seine Grenzen zu geraten. „Sind die anderen schon unten?“

„Justus befragt im Praetorium den Typen von der Kasse. Der verkauft nicht nur die Eintrittskarten für das Museum, sondern verwaltet auch den Schlüssel für die Mikwe. Man bekommt den nur, wenn man ein Zusatzticket zahlt und seinen Ausweis hinterlegt.“

Daniel vermutete, dass Tom auf einmal so offen über die laufenden Ermittlungen plauderte, weil er ihm leidtat. Das steigerte seine Laune nicht gerade. Er gab sich mürrisch, doch in Wahrheit fühlte er sich verletzt, denn Voigt und die Personalleitung hatten recht. Sein Rolli schränkte ihn schon bei den einfachsten Dingen ein. Er zeigte auf das Hinweisschild mit dem Kamerasymbol. „Folglich müssen wir nur die Aufzeichnungen mit dem Kartenverkauf abgleichen, und schon haben wir den Täter. Aber so leicht ist es wohl nicht, oder?“

„So einfach ist es nie.“ Mit verschränkten Armen setzte sich Tom auf das kleine Gitter, das den Treppenabsatz einrahmte. „Es gibt Gruppen, wie die zwei da vorne. Manche der Kulturführer lassen die Tür offen oder es gesellen sich Einzelpersonen zu den Gruppen, die sie nicht kennen. In Stoßzeiten gibt es schon mal Chaos. Einmal vergaß sogar jemand, die Tür wieder richtig zu schließen, sodass sie über Nacht offen stand.“

„Das Überwachungsvideo…“

„Justus besorgt es.“ Leander nickte ihm zu. „Stefan und Klaus befragen die Anwohner. Wir werden uns später die zwei Gruppen vorknöpfen.“

Daniel sah ihn wohl etwas zu intensiv an, denn er wandte sich verunsichert um und tat so, als würde er zur Straße spähen, um zu sehen, ob Erkennungsdienst, Fotograf und Rechtsmedizin eintrafen. Tatsächlich stiegen gerade die Kollegen von der Spurensicherung aus ihrem Wagen.

Tomasz erhob sich. „Karsten Fuchs trudelt sicherlich auch gleich ein und natürlich der Staatsanwalt. Wird ganz schön voll hier werden.“

„Soll das eine Anspielung sein, dass Unbeteiligte den Rathausvorplatz besser verlassen sollten?“, fragte Daniel, stützte sich auf den Armlehnen ab und neigte sich zu ihm. Leider war das alles an machohafter Drohgebärde, was er als Rollifahrer an den Tag legen konnte. Wenig beeindruckend.

Schnaubend lehnte er sich wieder zurück. Er wollte auch ins Ritualbad, wollte vor Ort sein und an der Front mitarbeiten und nicht weggeschickt werden wie ein Störfaktor. Als wäre er einer der Schaulustigen, die sich vor dem Absperrband ansammelten, und nicht ein Kriminalhauptkommissar.

Jetzt stand auch noch der Erkennungsdienst vor ihm und musterte ihn auffordernd, weil sie mit ihrem Equipment nicht an ihm vorbeikamen. Der Durchgang zwischen Bauzaun und Mikwe-Abgang war sehr eng konzipiert. Eben nicht für Rollstuhlfahrer, denn sie konnten die Treppe hinab ohnehin nicht überwinden.

Wie auch immer Daniel es drehte und wendete, er würde nicht zum Tatort gelangen. Es sei denn, er ließ sich hinabtragen, aber die Blöße hätte er sich nur in höchster Not gegeben.

Plötzlich hatte er eine Idee! Sein Körper konnte zwar nicht zur Leiche im Ritualbad gelangen, wohl aber seine Augen und Ohren, und auf die kam es an.

Ungeduldig räusperte sich einer vom Erkennungsdienst, während der andere bereits seinen weißen Schutzanzug überstreifte. Auch Tom und Leander hielten bereits die spezielle Bekleidung in Händen, um den Ort des Verbrechens nicht noch mehr zu kontaminieren, als die beiden Gruppen es ohnehin schon getan hatten.

Ohne sich zu verabschieden, zwängte sich Daniel an ihnen vorbei zum Ausgang und fragte sich, warum noch niemand eine Schutzbekleidung für Rollstühle erfunden hatte. Wahrscheinlich weil Krüppel-Harleys sich üblicherweise nicht an Tatorten aufhielten. Nun, er konnte nicht alle Ungerechtigkeiten auf einmal beseitigen. In diesem Moment hatte es Priorität, am Ball zu bleiben.

Sein Blut kochte, als er Gummi gab und ungeachtet der vereisten Stellen auf Gehsteigen und Straßen zuerst zu seinem Auto, wo er seinen Tablet-PC holte, und dann zur Hohen Straße düste. In einem Elektrogeschäft fand er glücklicherweise, was er suchte. Es kostete ihn ein kleines Vermögen, aber das war es ihm wert, allen ein Schnippchen zu schlagen, die ihn belächelten und bereits abgeschrieben hatten. Mit etwas Nachdruck brachte er den Händler dazu, die Installation auf seinem Tablet sofort durchzuführen. Pfeilschnell sauste er zurück zum jüdischen Ritualbad.

Vor dem Flatterband diskutierten Tomasz und Leander heftig mit den Leitern der Besuchergruppen. Offenbar wollten sie nicht noch länger warten, bis sie endlich als Zeugen befragt wurden. Doch Justus, Stefan und Klaus waren noch nicht mit ihren Aufgaben fertig und Tom und Leia, wie Daniel den Hospitanten des KK 11 manchmal scherzhaft nannte, mussten dem Erkennungsdienst in die Mikwe folgen, um eventuelle Spuren aus erster Hand zu sehen.

Daniel drängte sich einfach dazwischen und drückte Tomasz die Kamera in die Hand.

„Was soll das?“ Stirnrunzelnd hielt sein Freund sie hoch.

„Das ist eine Actioncam. Setz sie auf, wenn du runtergehst, dann kann ich sehen, was du siehst.“ Daniel hielt sein Tablet hoch. „Ich bin zwar mit dem Technikkram immer noch überfordert, aber ich weiß ihn mehr und mehr zu schätzen.“

Schnaubend legte Tom ihm die Kamera in den Schoß. „Du spinnst doch.“

„Livestream über WLAN nennt man das.“ Daniel zuckte mit den Achseln.

„Ist mir scheißegal. Rechtlich wird das wohl kaum in Ordnung sein, wo du doch nicht…“ Tom sprach den Satz nicht aus. Stattdessen warf er den Zeugen einen kurzen Blick zu, der deutlich besagte, dass er sich wünschte, sie hätten keine Zuhörer.

Unbeirrt hielt Daniel ihm seine neue Errungenschaft hin. Innerlich jedoch wuchs seine Verunsicherung. „Das Mikrofon funktioniert nur in eine Richtung, daher müssen wir unsere Handys zusätzlich benutzen, wenn wir uns unterhalten wollen.“

„Sorry, Kumpel, aber das ist mir zu heiß. Ich brauche den Job. Du weißt doch, dass Natalia und ich ein Haus kaufen wollen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sowohl Daniel als auch die beiden Gruppen einfach stehen. Er warf ihm einen letzten Blick zu, mit dem er um Verzeihung bat. Mit gesenktem Kopf verschwand er im Tauchbad.

Verlegen kippelte Leander mit den Füßen, vermutlich eine Unart aus Kindertagen, die merkwürdig bei einem erwachsenen Mann wirkte. Er schaute Tom hinterher, dann Daniel an und wieder zum leeren Treppenabgang, als erwartete er, dass sein Kollege zurückkehrte. Aber er kam nicht. Unsicher blieb er stehen. Ein Ruck ging durch ihn hindurch, als wäre er beinahe Tomasz gefolgt und hätte es sich im letzten Moment anders überlegt.

Daniel fühlte sich, als versuchte eine unsichtbare Hand, seine Eingeweide durch den Bauchnabel herauszuzerren. Seine Wangen brannten, was ihm gehörig stank. Unzählige Augenpaare starrten ihn an, nicht nur die der Besuchergruppen, sondern auch die der archäologischen Mitarbeiter und Studenten, die an der Scheibe des Zelts klebten und verfolgten, was draußen vor sich ging.

Sein Plan war gescheitert.

Plötzlich nahm Leander ihm die Actioncam ab. Er betrachtete sie. Schließlich schnallte er das Stirnband, an dem sie befestigt war, um seinen Kopf und schob die Schutzbrille auf seine Stirn. „Rechnest du mit Blutspritzern?“

4. KAPITEL

„Der Laden hatte ansonsten nur noch eine Helmkamera, aber das hätte noch blöder ausgesehen, und du willst die Cam doch nicht die ganze Zeit in der Hand tragen, wie Paris Hilton ihr Schoßhündchen.“