Oktober - Larissa Reissner - E-Book

Oktober E-Book

Larissa Reissner

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Beschreibung

Larissa Reissner ist erst 22, als in Russland 1917 die Oktoberrevolution ausbricht. Geprägt von den sozialistischen Ansichten ihres Vaters, des Rechtsprofessors Michael Reissner, betätigte sie sich von Jugend an als Schriftstellerin, auch für revolutionäre Magazine, unter anderem unter der Ägide von Maxim Gorki. Nach der Revolution wird Reissner die erste weibliche Kommissarin der Roten Armee und kämpft gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem sowjetischen Flottenkommandeur Fjodor Raskolnikow, gegen die reaktionären Kräfte der "weißen" Armee. Sie schreibt auf, was sie an der Front erlebt, in einem reichen, lebendigen Stil, der aufgrund der lebensgefährlichen Ereignisse oft in ein und demselben Satz zwischen Ironie und Dramatik wankt, zwischen Hoffnung und Zynismus, zwischen militärischer Beschreibung und menschlichem Empfinden. Vor allem Letzteres zeichnet Reissners Texte aus: Ihr genauer Blick auf den Menschen im Krieg, in der Revolution und auf der Flucht zeigt Not und Unsicherheit, Rückzug und Desertion wie auch Heldenmut. In ihren Reportagen aus Afghanistan und von den sowjetischen Fabriken Mitte der 1920er Jahre veranschaulicht sie die Stellung der Menschen im Zeitalter durchdringender Industrialisierung und lässt die Maschinen und Betriebe mit ihnen sprechen und streiten. Die ausgewählten Erzählungen in diesem Buch zeigen das kurze und aufregende Leben Larissa Reissners im Schatten der Oktoberrevolution und ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Abschnitt "Die Front" berichtet sie aus und über den russischen Bürgerkrieg, von umkämpften Orten wie Kasan, Swijaschsk und Astrachan. Im zweiten Teil gibt sie Eindrücke von ihren Reisen nach Afghanistan wieder, wo ihr Ehemann von 1921 bis 1923 als Botschafter der Sowjetunion tätig war. Schließlich besucht sie die Stätten der jungen sowjetischen Industrie und beschreibt im Kapitel "Kohle, Eisen und lebendige Menschen" Bergbau und Metallgewinnung unter widrigen Bedingungen.

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Seitenzahl: 437

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Larissa ReissnerOktober

© 2017 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-858-2 

(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-429-4)

Fordern Sie unsere Kataloge an: Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

E-Mail: [email protected] Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhalt
Vorwort
Boris Pasternak – Larissa Reissner zum Gedenken (1926)
1. DIE FRONT (1918–1919)
VORBEMERKUNG
KASAN
SWIJASCHSK
KASAN–SSARAPUL
MARKIN
ASTRACHAN
SOMMER 1919
ASTRACHAN–BAKU
BAKU–ENSELI
PETERSBURG
2. AFGHANISTAN
UNSER ASIEN UND DAS ASIEN JENSEITS DER GRENZE
VON DER AFGHANISCHEN FRAU, VON DER WEINLESE UND VON DEN TÄNZEN DER STÄMME
DER PARADEPLATZ
CHININ, KARBOL UND SALBEN AUS HAMMELFETT
VERSCHLEIERTE FRAU MIT VERSCHLEIERTEM KIND
WISSENSCHAFT, ENGLÄNDER UND EIN TAU
WISSENSCHAFT IM HAREM
DES EMIRS MUTTER
WIE GESCHICHTE GESCHRIEBEN WIRD
VON MENSCHEN UND LÄNDERN, DIE VON DER UdSSR UND VOM JAHRE 1925 DURCH EINE WÜSTE, EINIGE JAHRHUNDERTE, GEBIRGSKETTEN UND DEN KRUMMEN MUSELMANN­SÄBEL GETRENNT SIND
FASCHISTEN IN ASIEN
3. KOHLE, EISEN UND LEBENDIGE MASCHINEN
IM LANDE DES PLATINS
DIE SCHWARZE UND DIE WEISSE KOHLE
UNTERWELTLER
DAS NADESHDINSKER WERK
GORLOWKA
GlossarDer Promedia Verlag im Internet

Vorwort

„So eine wie Dich haben wir nie gehabt. So eine wie Dich möchten wir so gerne haben.“1

Das schrieb Kurt Tucholsky im letzten Absatz einer Rezension zu dem Band „Oktober“, der mit ausgewählten Schriften im Neuen Verlag in Berlin 1927 in der ersten Auflage erschienen war. Er hatte die viel zu jung verstorbene Journalistin bewundert und hoch geschätzt, seine Bewunderung galt vor allem der Gabe, die sie besaß, zugleich „das Nahe und das Ferne“ beschreiben zu können. Sie sei „eine Erfüllung gewesen und eine Sehnsucht“.2 Liest man die Texte in dem vorliegenden Band, der zu Recht im 100. Jahr der Russischen Revolution 2017 neu erscheint, muss man Tucholsky beipflichten und wird neugierig darauf, wer diese Larissa Reissner eigentlich war. Sie gehörte zu „der winzigen Zahl der Intellektuellen, die nicht nur entschieden zum kämpfenden Proletariat übertrat, sondern dies mit tiefem Bewusstsein der weltgeschichtlichen Bedeutung der Ereignisse, mit tiefem Glauben an den Sieg tat“, weil sie die Ereignisse „mit einem Aufjauchzen“ verfolgte, wie es der Journalist, Politiker und langjährige Wegbegleiter Karl Radek (1885–1939) in seiner Einleitung zur Erstausgabe 1927 schrieb. Todesmutig hatte sie während der Russischen Revolution mit der Waffe in der Hand gekämpft und die Schlachten beschrieben. Wie viele andere Frauen, die beim Umsturz vor 100 Jahren beteiligt waren, ist sie heute beinahe vergessen. Auch die Veranstaltungen und Veröffentlichungen anlässlich des 100. Jahrestages räumen den beteiligten Frauen kaum Platz ein.3 Dabei stellten Februar- wie Oktoberrevolution Höhepunkte im Kampf für die Frauenrechte dar. Ohne die Frauen, die meist unbekannt blieben, wäre die Revolution nicht erfolgreich gewesen.

Wer war Larissa Reissner?

Larissa Reissner wurde am 1. Mai 1895 im russisch-polnischen Lublin geboren, das damals noch unter zaristischer Herrschaft stand. Bereits ihre aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Eltern – der Vater kam aus dem Baltikum, die Mutter aus Polen – hatten sich den Lehren von Karl Marx und der Sozialdemokratie zugewandt. Larissas Lebensweg in den Jahren bis zur Februarrevolution 1917 hatte Ähnlichkeit mit dem anderer russischer linker Intellektueller.4 Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Sibirien, wohin die Familie zog, weil der Vater an der Universität in Tomsk eine Rechtsprofessur erhalten hatte. Dort setzte er sich für die Rechte der Studierenden ein. Nachdem er ein juristisches Gutachten zugunsten von angeklagten Revolutionären verfasst hatte, musste er wegen der drohenden Gefahr einer Verhaftung durch das zaristische System 1903 mit der Familie nach Berlin übersiedeln. Während der vier Jahre, die Larissa Reissner dort verlebte, ging sie im Stadtteil Zehlendorf mit Arbeiterkindern zur Schule und lernte – noch keine zehn Jahre alt – viele im Exil lebende russische Revolutionäre wie Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) und führende Mitglieder der SPD wie August Bebel (1840–1913), Julie Bebel (1843–1910) und Karl Liebknecht (1871–1919) kennen. Sie gingen in ihrem Hause ein und aus, weil Larissas Vater zu dieser Zeit Mitglied der Bolschewiki geworden war. Damals wusste sie noch nicht, dass sie als Erwachsene auf die an ihren Vater gerichteten Briefe Lenins und ihre eigenen Erinnerungen an die kämpferischen deutschen SozialistInnen stolz sein würde.5

Nach der Februarrevolution kehrte sie 1907 nach Russland zurück, wo sie an einem Mädchengymnasium unterrichtet wurde. Das privilegierte, aktive intellektuelle Leben, das Larissa Reissner zunächst in St. Petersburg geführt hatte, wurde bald überschattet durch die zunehmende materielle Not, Verbitterung und Hoffnungslosigkeit der Eltern. Ihr Vater kämpfte jahrelang um seine politische Ehre, weil er von „liberalen“ Professoren geheimer Beziehungen zur Reaktion verdächtigt wurde. Resignierend zog er sich immer mehr vom wissenschaftlichen und politischen Leben zurück. Das belastete Larissa Reissner sehr, weil sie weder verstehen noch akzeptieren konnte, dass Michail Reissner seine Hoffnung auf eine bessere Welt, von der sie bereits als Kind angesteckt worden war, aufgeben wollte.

Ihre Waffe war die Feder

Das Interesse am Kampf für eine bessere, sozialistische Gesellschaft verlor Larissa Reissner jedoch nicht. Sie bewegte sich in revolutionär-sozialistischen Kreisen, schrieb Artikel und literarische Essays.6 Sie studierte in Frankreich und Deutschland. Schreiben wurde ihre große Leidenschaft, die von Anfang an politisch geprägt war. Ihr erstes Drama Atlantida nahm der Verlag Schipownik 1913 an, ohne sie als Verfasserin zu kennen. Sie schildert darin das Schicksal eines Menschen, der durch seinen Tod die Gesellschaft vor dem Untergang retten will.7 Zu dieser Zeit stand Reissner unter dem Einfluss des Schriftstellers Leonid Andrejew (1871–1919), der ihr Unterricht in Literatur gab. Ihre „literarische Formensprache“ war durch die Dichter des „sogenannten Akmeistenkreises, einer dem Symbolismus und Futurismus ähnelnden literarischen Strömung im Rußland der Jahrhundertwende“ beeinflusst. Diesem Einfluss entzog sie sich jedoch nach Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, weil die Dichter den beginnenden Völkermord als „Quelle des Heldentums“ verherrlichten.8

Larissa Reisser las Bücher von Hegel, Friedrich Engels und Karl Marx. Als Kriegsgegnerin gab sie 1915 das satirische Antikriegsmagazin Rudin heraus. Es gelang ihr, ihren Vater aus seiner Resignation zu wecken und für diese Aufgabe zu gewinnen. Beide versuchten nun, mit der spitzen Feder als Waffe gegen den Krieg zu arbeiten und den Verrat an den internationalistischen Gedanken der Vorkriegszeit anzuprangern. Die gesamte Familie hatte sich für die Gründung der Zeitschrift hoch verschuldet. So musste sie bereits ein Jahr später wieder eingestellt werden, bevor sie wahrscheinlich der Zensur zum Opfer gefallen wäre.

Daraufhin wurde Larissa Reissner Mitarbeiterin der von Maxim Gorki (1868–1936) herausgegebenen Literaturzeitschrift Letopis. Es wardie einzige noch legal erscheinende internationale Zeitschrift. In ihr erschien beispielsweise der Erstdruck eines Teils der Werke von Wladimir Majakowski (1893–1930) aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Auch an der sozialistischen Tageszeitung Nowaja Shisn, die ebenfalls von Maxim Gorki redigiert wurde und die sich vehement gegen eine Koalition mit der Bourgeoisie wandte, arbeitete Larissa Reissner mit. Die Zeitschrift wurde zu Gorkis Plattform, in der er gegen Lenins Prawda polemisierte und die Lynchjustiz und das „Gift der Macht“ brandmarkte. Durch entlarvende Pamphlete über Alexander Kerenski (1881–1970) und seine Provisorische Regierung9 nach dem Februar 1917 wurde Larissa Reissner schließlich weit über Journalistenkreise hinaus bekannt. Die Zeitschrift wurde 1918 verboten.

Die Russischen Revolutionen von 1917 und die Schlachten von 1918

Im Februar 1917 brachte sich die Journalistin Larissa Reissner aktiv in die Revolution ein. Begeistert war sie von den revolutionären TextilarbeiterInnen der Februarrevolution. Der Name geht auf den damals in Russland geltenden Julianischen Kalender zurück, denn nach diesem begann die Revolution am 23. Februar. Nach gregorianischer Zeitrechnung war das der 8. März, der Internationale Frauentag, der in Russland und in vielen anderen Ländern der Welt seit 1911 begangen wird. In mehreren Textilfabriken traten vor allem Frauen in den Streik. Mit der Losung „Brot, Frieden und Freiheit“ wandten sie sich gegen den Krieg und gegen die wirtschaftliche Not im autoritären Zarenregime, das Frauen keine Rechte gewährte. Binnen weniger Tage hatten sich diese Streiks zu einem Massenstreik entwickelt – dem Beginn der russischen Februarrevolution. Drei Tage später war die absolutistische Zarenherrschaft in Russland gestürzt; der Zar hatte abgedankt. Die unbekannten Frauen und Männer, die an der Revolution beteiligt waren, sind von der Geschichtsschreibung weitgehend vergessen worden.

Larissa Reissner begann sich besonders für die während der Revolution neu entstandenen Arbeiterklubs zu interessieren. Ohnehin unterstützte sie das Streben der Volksmassen nach Bildung, Kultur und künstlerischem Wirken. Damit setzte sie sich von der Mehrheit der russischen Intelligenz ab, die das Bestreben der Arbeiter und Soldaten eher hochmütig belächelte. Sie jedoch führte in ArbeiterInnenklubs literarische Veranstaltungen durch. In diesem Zusammenhang lernte sie ihren zukünftigen Mann Fjodor Raskolnikow (1892–1939) kennen, mit dem sie fünf Jahre lang verheiratet war. Er leitete im Juli 1917 den Matrosenaufstand von Kronstadt mit an.

Der Traum von der Errichtung einer Republik auf der Basis der Sowjets

Larissa Reissner begrüßte das politische Programm, das Wladimir Lenin im April 1917, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Exil in der Schweiz, öffentlich vorgestellt hatte. Wie auch sie kritisierte er die nach der Februarrevolution gebildete Provisorische Regierung wegen ihrer kapitalistischen Ausrichtung und forderte die Errichtung einer Republik auf Basis der Sowjets, eine Verstaatlichung des Bodens und der Produktionsmittel, sowie den bedingungslosen Friedensschluss mit Deutschland, den er später trotz heftiger Auseinandersetzungen mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk durchsetzen konnte. Die Regierung der Bolschewiki hatte den Vertrag angesichts der deutschen militärischen Drohung unter Protest unterzeichnet, weil sie fürchtete, ansonsten den Erfolg der Oktoberrevolution zu gefährden.

Die Theorien von Wladimir Lenin faszinierten Larissa Reissner immer stärker. Einige Monate nach der bolschewistischen Machteroberung im Oktober 1917 schloss sie sich den Bolschewiki an. Am 23. Februar 1918 wurde das Dekret über die Gründung der Roten Armee der Arbeiter und Bauern Sowjetrusslands erlassen. Larissa Reissner war gerade 23 Jahre alt, als sie sich als eine der 106.000 Freiwilligen meldete.10 Sie wusste, dass „jeder Krieg eine grausame Sache“ ist. Dennoch ging sie an die Fronten des Bürgerkrieges und kämpfte als Soldatin wie die anderen RotarmistInnen, SoldatInnen und Offiziere der Roten Armee an verschiedenen Brennpunkten von Astrachan bis Polen und wurde die erste weibliche Politkommissarin der Roten Armee. In rauer, ungewohnter Umgebung musste sie sich gegen die Überzahl der Männer behaupten.11 Während der Belagerung von Kasan wurde ihr Lebensgefährte Fjodor Raskolnikow zum Kommandanten der Wolgaflotte ernannt. Larissa Reissner war an der Schlacht und der Belagerung von Swijaschsk und Kasan als Soldatin beteiligt. Die Schlacht stellte 1918, im ersten Jahr des Bürgerkriegs gegen die siegreiche Oktoberrevolution, einen Wendepunkt dar. Larissa Reissner spezialisierte sich auf die Spionagearbeit hinter den feindlichen Linien und führte als Kommissarin die Geheimdienstabteilung der Wolgaflotte. Meist hielt sie sich an Bord des Schlachtschiffes auf, das den Namen „Karl Liebknecht“ trug. In den wenigen Stunden der Ruhe – oft nur zwischen zwei Gefechten – schrieb sie Reportagen, die zunächst in Zeitungen erschienen, dann aber zusammengefasst unter dem Titel Die Front 1918–1919 in Buchform veröffentlicht wurden.12 Gewidmet war es den StudentInnen der Arbeiterfakultäten, die es lesen sollten, damit sie von den „dröhnenden Siegen“ ebenso erfahren wie von den „Niederlagen in einem Meer von Blut“.13 Über ihren eigenen Anteil an Siegen, an der erfolgreichen Offensive im Sommer 1919 und über ihre Erfolge bei der Gewinnung ehemaliger zaristischer Offiziere für die Revolution schrieb sie offensichtlich nicht.14

1922 verfasste sie einen Augenzeugenbericht über die Schlacht von Swijaschsk und Kasan. Eine deutsche Übersetzung von Swijaschsk erschien bereits 1924 als Teil der Broschüre Die Front. Larissa Reissners anschauliche Schilderung erweckt die damaligen Ereignisse wieder zum Leben: Inmitten der Verwüs­tungen des Ersten Weltkriegs sah sich der junge Arbeiterstaat 1918 einem konterrevolutionären Angriff von 14 imperialistischen und alliierten Armeen sowie diversen weißgardistischen Truppen gegenüber, die mit den vertriebenen Grundbesitzern und Kapitalisten gemeinsame Sache machten. Im Spätsommer 1919 wurde die Rote Armee unter der Leitung von Leo Trotzki (1879–1940) beim Vorrücken auf Kasan 800 Kilometer östlich von Moskau an der Wolga in die von Reissner dokumentierte Schlacht verwickelt. Trotzkis Panzerzug, der als Kommandozentrale in Swijaschsk stationiert war, kam bei diesem Feldzug erstmals zum Einsatz. Obwohl sie zahlenmäßig weit unterlegen waren, schlugen die Soldaten der Roten Armee – unterstützt durch einen Aufstand der ArbeiterInnen – die dort stationierten tschechoslowakischen Konterrevolutionäre.15

1919 diente Larissa Reissner mehrere Monate lang als Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte, reiste auf Kriegsschiffen und nahm an Kämpfen teil. „Sie wollte alles wissen und kennenlernen, an allem teilnehmen“, schrieb Leo Trotzki in seinem autobiographischen Werk „Mein Leben“.16 Sie wollte nicht nur teilhaben, sondern ihre Erfahrungen auch der Nachwelt hinterlassen. Wo immer sie hinkam, schrieb sie leidenschaftliche Texte über ihre Erfahrungen in der Revolution, sie kannte kaum ein anderes Thema. Meist schrieb sie in deutscher Sprache.

Berichte aus Afghanistan

Der Orient hatte Larissa Reissner bereits während der vergangenen Kämpfe in seinen Bann gezogen. 1921 reiste sie gemeinsam mit Fjodor Raskolnikow nach Afghanistan, wo Fjodor von 1921 bis 1923 zum Botschafter der Sowjetunion in Afghanistan ernannt wurde. Dort war zwar drei Jahre zuvor die Sklaverei abgeschafft worden. Erschreckt stellte sie jedoch fest, dass Harem und Kastraten weiter bestanden und im Land großes Elend herrschte. Larissa hielt ihre Erlebnisse in den Skizzen aus Afghanistan fest, einem Bericht ihrer Erlebnisse als Mitglied der sowjetischen diplomatischen Delegation am Hof des Emirs. Zwei Jahre lang nahm sie teil an prunkvollen diplomatischen Festen und beobachte die Intrigen, aber auch den feierlichen Abschluss eines einjährigen Bildungskurses für junge Mädchen.

1923 kehrte Larissa Reissner nach Moskau zurück. Sie fand dort das System der „Neuen ökonomischen Politik“ (NEP) vor. Die Zugeständnisse an kapitalistische Wirtschaftsformen schien sie als notwendig zu erachten, befürchtete jedoch den verstärkten Einfluss der Bourgeoisie und die Zersetzung der „kommunistischen Moral“. 17

Hass gegen die Unterdrücker – Liebe zu den Unterdrückten

In der am 30. Dezember 1922 gegründeten UdSSR mit der Hauptstadt Moskau arbeitete sie weiter als Journalistin, bis sie im Auftrag der Kommunistischen Internationale (Komintern) 1923 nach Deutschland fuhr, um über die dortigen politischen Ereignisse während der revolutionären Krise zu schreiben. Ihre Reportagen BerlinimOktober1923 vermitteln ein Abbild der Situation im Reichstag, der Lebensverhältnisse gutsituierter und arm gemachter Arbeiterfamilien und der verzweifelten Frauen, die um Lebensmittel Schlange standen. Sie beschrieb den Zorn der Menge gegen die „deutschen Kapitalisten“ und bewertete sie als „sichere Anzeichen der nahen Revolution“.18 Weiter verfasste sie erschütternde Reportagen über die Armut und die Not vor allem der ArbeiterInnen im In- und Ausland, dazu gehörte ImLagerderArmut19, „ein großer Überlandmotor, ein gigantisches Kraftwerk von Haß gegen die Unterdrücker und Liebe zu den Unterdrückten“, wie Kurt Tuchlosky darüber schrieb.20 Dazu gehörte auch FrauFritzke, eine ergreifende Schilderung proletarischer Prostitution. In dem Aufsatz ImLandeHindenburgs beschrieb sie eine Reise durch Deutschland.21 In Hamburg, wo sie illegal in einer Arbeiterfamilie lebte, entstand eines ihrer bekanntesten Werke, ein Report, der auf fesselnde Weise Hintergründe, Verlauf und Ausgang des gescheiterten Hamburger Aufstands von 1923 beschreibt: HamburgaufdenBarrikaden.22 Tucholsky schätzte ihn als eines der besten Revolutionsdokumente, das so ganz nebenbei eine meisterliche Schilderung Hamburgs enthält. Noch keine deutsche JournalistIn hatte sich bis dahin dem Thema gewidmet. Der Bericht wurde kurz nach dem Erscheinen durch die Zensurbehörde der Weimarer Republik staatlich beschlagnahmt. Von den gedruckten 10.000 Exemplaren fiel jedoch nur der Rest von 1000 in die Hände der Polizei, alle anderen Exemplare waren bereits verkauft. Trotz der revolutionären Krisenstimmung und der bitteren Not breiter Bevölkerungsschichten kam es nicht zu der erhofften proletarischen Revolution in Deutschland. Darüber war (nicht nur) Larissa Reissner tief enttäuscht.

Nach Russland zurückgekehrt, reiste sie 1924 in den Ural und erlebte dort den Aufbau des Sozialismus unter schwierigsten Bedingungen mit. Sie lebte wieder bei Arbeiterfamilien, fuhr in die Schächte ein, nahm an Versammlungen der Betriebskomitees und Gewerkschaften teil und sprach mit den Bauern. Im selben Jahr berichtete sie in dem Text Kohle, Eisen und lebendige Menschen über ihre Erlebnisse.23 Weitere literarische Pläne (eine Romantrilogie über die historische Entwicklung des Proletariats im Ural; Studien über die Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus) konnte die Schriftstellerin und Sozialistin nicht mehr verwirklichen.24

Ein kurzes ereignisreiches Leben geht zu Ende

Als sie sich nach ständig wiederkehrenden Malariaattacken im Jahre 1925 durch einen Schluck verseuchter Milch mit Typhus infiziert hatte, war Larissa Reissner bereits eine angesehene Journalistin. Die kämpferische und mutige Revolutionärin starb am 9. Februar 1926 nach einem kurzen ereignisreichen Leben im Alter von nur 30 Jahren in Moskau. Zahlreiche prominente Persönlichkeiten des literarischen und politischen Lebens fanden Worte des Gedenkens für sie. Neben Karl Radek waren auch Boris Pasternak (1890–1960), Wiktor Schklowski (1893–1984), Alexander Woronski (1884–1937), Leo Trotzki und viele andere tief betroffen von ihrem frühen Tod.25

Der damalige Volkskommissar für das Kriegswesen, Leo Trotzki, der gleichzeitig ihr Vorgesetzter war, erinnerte sich mit folgenden Worten an sie: „Diese wunderschöne junge Frau hat viele geblendet und ist wie ein heißer Meteor über den Himmel der Revolution gefegt. Sie hatte das Äußere einer olympischen Göttin, einen feinen, ironischen Geist und den Mut eines Kriegers.“26 Der Lebensgefährte ihrer letzten Jahre, Karl Radek, schrieb nach ihrem Tod: „Denn sie war nicht Künstler-Zuschauer, sondern Kämpfer und Künstler, der von innen den Kampf sah und seine Dynamik in menschlichen Schicksalen darstellen konnte“.27

Zehn Jahre nach der Revolution endete die (freilich nicht von allen) gelebte Utopie von einer befreiten Gesellschaft, in der die Frauen Rechte bekamen, die bis dahin in keinem anderen Land verwirklicht waren, in einer totalitären Diktatur, die sich hinter kommunistischen Slogans verbarg. Kollektiv bewirtschaftete Produktionsstätten und landwirtschaftliche Betriebe gingen in Staatseigentum über; gleichstellungspolitische Rechte wurden zurückgenommen. Im Wirrwarr des Krieges wurden viele Gegnerinnen des neuen Systems beseitigt. Etliche emigrierten, andere kamen in Gefängnisse, wieder andere wurden erschossen.

Viele der von Larissa Reissner beschriebenen HeldInnen fielen Ende der 1930er-Jahre Stalins Säuberungen zum Opfer. Eine ganze Generation revolutionärer KommunistInnen wurde zerschlagen, viele von ihnen hingerichtet. Larissa Reissners Schriften verschwanden in der Versenkung. Ihre Hoffnung auf die Weltrevolution hat sich bis heute nicht erfüllt.

Gisela NotzBerlin, im August 2017

1 Ignaz Wrobel (das ist Kurt Tucholsky): Larissa Reissner, in: Die Weltbühne Nr. 8 vom 22.2.1927, S. 298ff.

2 Ebenda.

3 Zu nennen sind Alexandra Kollontai, Marija Spiridonowa, Vera Figner, Vera Sassulitsch, Angelica Balabanoff, Nadeschda Krupskaja, Inessa Armand und viele andere. Einige sind in die Kalender Wegbereiterinnen (Kalender 2003 bis 2018, hrsg. von Gisela Notz) mit Kurzbiografien aufgenommen worden. Der Kalender wird fortgesetzt.

4 Vgl. auch Hella Hertzfeldt: Larissa Reissner (1895–1926): Eine kämpferische Journalistin, in: Gisela Notz (Hg.): Kalender 2011. Wegbereiterinnen IX, Bonn 2011, Kalenderblatt September.

5 Helga W. Schwarz: Larissa Reisner, in: Diess.: Internationalistinnen. Sechs Lebensbilder, Berlin 1989, S. 111–141; hier: S. 113.

6 Vgl. Nicholas Hächl: Unsere Revolutionäre Tradition: Larissa Reissner, in: Der Funke vom 24. November 2016. www.derfunke.at/geschichte/russische-revolution/10560-unsere-revolutionaere-tradition-larissa-reissner (Zugriff: 2.7.2017).

7 Helga W. Schwarz: Larissa Reisner, S. 114

8 Ebenda.

9 Ebenda, S. 115.

10 Ebenda, S. 119.

11 Ebenda.

12 Die Front 1918–1919, Wien 1924. Neu erschienen in: Karl Radek (Hg.): Larissa Reissner: Oktober – Ausgewählte Schriften, Berlin 1932.

13 Zitiert nach: Helga W. Schwarz: Larissa Reisner, S. 120.

14 Ebenda, S. 126.

15 Siehe: Larissa Reissner über Trotzkis Rote Armee. Die Schlacht von Swijaschsk, legendäres Kapitel der Revolution, in: Spartacist (deutsche Ausgabe), Nr. 29, Sommer 2013.

16 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiografie, Berlin 1929.

17 Vgl. Helga W. Schwarz: Larissa Reissner, S. 131.

18 Zit. nach Helga W. Schwarz: Larissa Reissner, S. 134.

19 Larissa Reissner: Im Lager der Armut, in: Heiner Boehncke (Hg.): Vorwärts und nicht vergessen. Ein Lesebuch. Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Reinbek bei Hamburg 1973.

20 Kurt Tucholsky: Larissa Reissner.

21 Larissa Reissner: Im Lande Hindenburgs. Eine Reise durch die deutsche Republik, Berlin 1926.

22 Larissa Reissner: Hamburg auf den Barrikaden. Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923, Berlin 1925

23 Veröffentlicht in: Karl Radek (Hg.): Larissa Reissner: Oktober – Ausgewählte Schriften, Berlin 1926.

24 Larissa Reissner: gutenberg.spiegel.de/autor/larissa-reissner-482 (Zugriff: 9. 7. 2017)

25 Eine englische Biografie erschien im Jahre 1988: Cathy Porter: Larissa Reisner, London 1988.

26 Leo Trotzki: Mein Leben.

27 Karl Radek (Hg.): Larissa Reissner: Oktober – Ausgewählte Schriften, Berlin 1927.

Boris Pasternak – Larissa Reissner zum Gedenken (1926)

Larissa, ich könnt mich zu Tode ärgern, Daß ich der Tod nicht bin, nur eine Null! Ich würd sonst wissen, wie sich ohne Kitt Der Tage Fetzen im lebendgen Ganzen halten.

Wie ich den Stoff studiert hab! Wie die Winter zu Hauf sich türmten, wie es maßlos schloßte! Verhüllt in Decken war der Schneesturm, Städte Hielt er wie Säuglinge an seiner Brust.

Passanten, mistwettergeplagt, verhuschten. Die Karren krochen um die erste Ecke, Die alten Jahre steckten bis zum Hals im Wasser, Und wo die Flüsse flach sind, stauten sich die neuen.

Das Leben, dennoch, brodelte im Kessel. Man baute Nester aus. Der Tage Arbeit War fest umzingelt von Laternenlichtern Des Wortes, des Verstandes und der Sterne.

Sieh dich nur um! Wer ist von uns nicht durch Und durch aus Schnee und Finsternis gewoben? Erzogen von der Lieblichkeit des Untergangs. Nur du erhebst dich über jedes Loben.

Nur dir gelingt, mit anmutsvollen Schüssen Gemeine Schlachten prächtig auszustatten. Dem Leben, würd’s um deinen Reiz nicht wissen, Würdst du es selber ohne Umschweif sagen.

Für einen Augenblick lebendig brennend, War deine Herrlichkeit im Sturmwind aufgeflackert – Zu deinen Füßen krümmten sich die Stümper, Das Unvollkommne blitzte an dir ab.

Geh, Heldin, in die Weite der Erinnerung. Nein, dieser Weg ermüdet deine Füße nicht. Leg, über was ich denk, dich wie ein Himmel, Und wenn du Schatten wirfst, will ich noch leben.

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1996(für die Übersetzung von Kerstin Hensel)

1. DIE FRONT (1918–1919)

VORBEMERKUNG

In Moskau gibt es große, schmutzige, geräumige Gebäude, in denen Tausende von Soldaten-, Arbeiter- und Bauernkindern lernen. Es lebt sich schlecht in den überfüllten Internaten, und die Luft ihrer Hörsäle ist stickiger, übelriechender und feuchter als jene, die die alte Studentenschaft, in den sonnigen, endlosen Korridoren der Petersburger Universität auf- und abschreitend, atmete. Diese neuen, heranwachsenden Menschen, die im Eilmarsch, in wenigen vorüberhastenden Jahren die ganze alte bürgerliche Kultur erfassen müssen, und nicht nur erfassen, sondern auch ihre besten, wichtigsten Elemente in neue ideologische Formen umschmelzen müssen – diese neuen Menschen der Arbeiterfakultäten sind die Richter von morgen, sind Erben und Anwälte dieses Jahrzehnts.

Die Revolution pflegt ihre revolutionären Fachleute in grausamer Weise zu verbrauchen. Sie ist ein harter Herr, mit dem sich nicht von achtstündigem Arbeitstage reden läßt oder von Schutz der Mutterschaft und Erhöhung des Arbeitslohns. Dieser Herr fordert alles – Gehirn und Willen, Nerv und Leben. Und wenn er seine Leute verwundet, verbraucht, ausgesogen hat, wirft er die Geschwächten auf den Müllhaufen und nimmt sich neue, mustergültige Soldaten aus der unerschöpflichen Reserve der Volksmassen. Noch einige wenige Jahre, und von den Sturmkolonnen, die im Oktober des Großen Jahres die soziale Revolution verkündet, bei Petersburg und Kasan, bei Jaroslaw und Warschau, am Perekop und in den Kaspischen Steppen, in Sibirien und auf dem Ural, bei Archangelsk und im fernen Osten gefochten haben, wird fast keine mehr übrigbleiben. Denn diese ganze Schicht wird als Dung des Bodens, als Maschinenöl, als Kohle und Naphtha für die sowjetrussische Feuerung verbraucht. Die neue proletarische Kultur, unsere herrliche Wiedergeburt, werden nicht Soldaten und Feldherren der Revolution verwirklichen, nicht ihre Verteidiger und Helden, sondern die ganz Neuen, ganz Jungen, die jetzt in den schmutzigen, stickigen Auditorien der Arbeiterfakultäten sitzen, die Wissenschaft verdauen, ihr letztes Hemd verkaufen und mit ihrer ganzen proletarischen Haut Marx, Iljitsch und Trotzki in sich aufsaugen.

Es ist ein wildes, unversöhnliches Völkchen von Materialisten. Es hat aus seinem Leben und aus seiner Weltanschauung mit wundervollem Mut alle „Gesetzmäßigkeiten“ und Schönheiten, alle Süßigkeiten und mystischen Trostsprüche der bürgerlichen Wissenschaft, der bürgerlichen Ästhetik, Kunst und Religion ausgemerzt. Man sage diesen Studenten der Arbeiterfakultäten das Wort „Schönheit“, und sie fangen an, ohrenbetäubend zu pfeifen. Die Worte „Gefühl“ und „Geistigkeit“ genügen, damit sie die Stühle demolieren und den Saal verlassen. Recht so.

Aber indem ihr das bürgerliche Sentiment auspfeift und verspottet, müßt ihr euch hüten, ihr jungen proletarischen Menschen, in die alte bürgerliche Falle zu geraten, die diese Jahre ausgezeichnet überlebt und ihre alten Sprungfedern wieder in Aktion gesetzt hat. Wenn es für euch keine bürgerlich-individualistischen Liebesgefühle, Inspirationen und Aufschwünge gibt, so bleibt doch die Unsterblichkeit dieser in einem Meere von Flammen, im Typhus und Hungerfieber vorübergezogenen Jahre bestehen.

Es waren die Ästheten der Zeitschrift „Apollo“, diese raffinierten Kenner und Liebhaber des russischen Stils, die vor dem gewaltigen nackten Venusleibe verächtlich die Nase rümpften. Sie verschließen auch ihre Nasen vor den Düften der Revolution. Wie kann man solche banalen, primitiven Worte wie „Heroismus“, „Verbrüderung der Völker“, „Selbstaufopferung“, „Auf seinem Posten gefallen“ in den Mund nehmen! Ach ja, man kann sie nicht nur in den Mund nehmen, man kann und muß sogar alle diese einfachen, herrlichen Dinge, die einem Menschen mit gebildetem Geschmack Zahnweh bereiten, tun! Einige Beispiele: Eine kleine Schar von Schiffen, einige Dutzend eisenbeschlagene Schleppkähne und Dampfer, einige zwanzigtausend Matrosen der Kronstadt- und Schwarzmeerflotten, die ihre Besatzung bilden. Um sich drei Jahre zu schlagen, um mit dem Gewehr in der Hand Tausende von Kilometern von den baltischen Gewässern bis zur persischen Grenze zu marschieren; um strohverbackenes Brot zu essen, um zu sterben, um auf schmutzigen Kojen zu verwesen und in armseligen verlausten Lazaretten zu fiebern; um zu siegen, um endlich über seinen dreimal stärkeren Feind zu siegen, um mit zerschossenen Geschützen und verbrauchten alten Flugzeugen zu kämpfen, die bei dem schlechten Benzin jeden Tag hinabstürzten, und dabei fortwährend aus dem Hinterlande hungrige, erboste Briefe zu erhalten – mußte man zu alledem nicht einen mächtigen Impuls haben? Mußte man Worte erfinden, die die angeborene, unvermeidliche Feigheit des Fleisches überwinden, die Feigheit des Blutes und der dünnen menschlichen Haut, die sich mit jedem verrosteten Nagel so leicht durchstechen läßt?

Die rote Flüssigkeit fließt so schnell heraus, und dann ist plötzlich alles zu Ende. Man mußte Augen haben, die durch Blut und Schmutz hindurchsehen können, die ertragen können. Die Martertische der Operationszimmer der „Sozialen Fürsorge“, die einem nicht einmal ein Kautschukbein für sein abgerissenes geben wird, die die Frau des Matrosen in den Wartezimmern ihrer Behörden stundenlang peinigen wird, wenn ihr Mann, der Matrose des Minenschiffes „Karl Liebknecht“ mit dem Orden der Roten Fahne auf dem Stahldeck von einem Geschoß zu blutigem Brei verwandelt wurde. Und dann das Sterben! Ohne Gott und Teufel der Pfaffen, die alle vor der Revolution Reißaus genommen haben, und ohne alle deren tröstliche Lügen. Man hat nur noch Zeit, zu sagen: „Meine Stiefel kannst du haben“, und – aus ist’s.

Ist es Schönheit oder nicht, wenn aus dem Hinterhalte eine Batterie unmittelbar gegen das Schiff feuert und der Befehlshaber seine in wilde Panik versetzten Leute anschreien muß? So anschreien, daß sie ihren Leib von dem Schiffsdeck losreißen, daß sie aufspringen und zu den Geschützen stürzen. Ich befehle euch im Namen der Republik – Backbord – Schnellfeuer! Und das Backbordgeschütz feuert.

Und schöpferische Erfindung ist auch da, unsere eigene, nicht die der Bourgeoisie. Da haben wir sie: man mußte einige besonders starke, von den Engländern ausgezeichnet ausgerüstete und bewaffnete Schiffe der weißen Flotte sprengen. Und ein völlig unbekannter kommunistischer Ingenieur erfindet eine geniale Sache: unter dem Kiel eines gewöhnlichen kleinen Segelkutters bringt er einen Minenapparat an und bewaffnet auf diese Weise eine ganze Menge von Seglern. Es finden sich selbstverständlich Menschen, die sofort bereit sind, diese verzweifelte Aufgabe durchzuführen. Der Anschlag gelingt nur wegen des Verrats eines Fischerknaben nicht. Genosse Popow (ein sehr alter Kommunist) büßt dabei sein Leben ein. Und man sah nicht mehr seinen langen Mantel, die hellen Wickelgamaschen, seinen weißen, muntern Spitz, der stets hinter ihm dreinlief, in die Tscheka, in den Stab der Flotte: Genosse Popow starb unter der Folter, man brachte nichts aus ihm heraus. Ist das revolutionäre Psychologie, oder ist das keine?

Dieses Buch widme ich den Studenten der Arbeiterfakultäten. Mögen sie schimpfen, mag ihnen manches der ketzerischen Worte in der Kehle steckenbleiben.

Aber mögen sie es zu Ende lesen, erfahren, wie es war, von Kasan bis Enseli. Es waren dröhnende Siege, es waren Niederlagen in einem Meere von Blut. An der Wolga, Kama und am Kaspischen Meere zur Zeit der Großen Russischen Revolution.

KASAN

Die Stadt ist noch nicht genommen, aber die Niederlage ist besiegelt. Die Türen der verlassenen Räume knallen zu, überall auf dem Boden Papierfetzen, die verschiedensten durcheinandergewürfelten Sachen.

Nichts ist schlimmer als der Rückzug. Aus allen Winkeln tauchen unmerklich die Gesichter von Nachbarn auf, die man monatelang nicht gesehen hat.

Knöpfe in verblichenem Glanze, Dinge, die wie Kokarden aussehen, sogar Ordensbänder. Aber alles noch versteckt, im Dunkel der sich leerenden Korridore, alles bei Menschen, die noch nicht wagen, ihr feiges und gehässiges „Faß ihn, faß ihn!“ auszurufen. Vor dem Hauseingang vorüberziehende Batterien, staubige, gepreßte, böse Gesichter, schrille Rufe; irgendwo dröhnen Räder übers Pflaster, Pferdehufe klappern. Der letzte Widerstand wird vorbereitet. Die Fensterscheiben klirren von den schweren, vorüberjagenden Lastautos, ihre lärmende Flucht tötet die letzte Hoffnung … Schrecklich.

An der Tür, an der noch weiße Schilder unnötig schimmern – „Operationsabteilung“, „Sekretariat“ –, nehmen einige Frauen von ihren Nächsten Abschied, und hinter ihnen drein fegen freche Diener den revolutionären Schmutz von den roten Läufern. Der Staub fliegt, Bürsten scheuern herausfordernd. Hier steckt die Bitterkeit, die Qual des Mißerfolgs in dem Besen eines Lakaien, der unsere frischen Spuren auf die Straße hinausfegt.

Seltsam, dieses Gefühl, an unbekannten Häusern mit festverschlossenen Türen und Fenstern vorüberzugehen, zu wissen, daß man dort hinter den Mauern dieses verfluchten Hotels bis zum Letzten kämpfen wird.

Einige werden gewiß umkommen, einige werden sich retten, andere wird man gefangennehmen. In solchen Augenblicken vergißt man alle Worte, alle Formeln, die uns helfen, die Geistesgegenwart zu bewahren. Es bleibt nur das spitze, einschneidende Gefühl des Grams, und hinter ihm, ganz in der Tiefe, kaum spürbar – dasjenige, „in dessen Namen“ man flüchten oder bleiben muß. Das tränenschwere Herz wiederholt immer wieder: Man muß ruhig fortgehen, ohne Panik, ohne erniedrigende Eile.

Aber wenn ein Geschoß zuerst links einschlägt in die sumpfige Wiese am Kreml und dann etwas weiter rechts in das Stabsgebäude, wo sie sich noch aufhalten, sie, die letzten, die fortgehen werden, wenn man nicht mehr fortgehen kann, da geht jede Haltung zum Teufel, es zieht einen unwiderstehlich zurück.

Ich bin unter den Kleidern mit Stempeln, Papieren und mit noch etwas sehr Geheimen behängt, was ich mitnehmen und dem ersten Stab, dem ich begegne, übergeben soll. Ich drehe mich nicht um, wenn Geschosse pfeifen – sie schlagen immer häufiger in das weiße Gesims des „Sibirischen Hotels“. Ich versuche, nicht mehr an die Hausdiener zu denken, nicht mehr an die Staubwolken, die ihre Besen erzeugen; ich denke an das Panzerauto und an den entsetzlichen, aufgeweichten Weg, den es passieren – oder nicht passieren? – wird.

Neben mir rennt eine Familie mit Kindern, Pelzen und Samowaren; etwas weiter vor mir zerrt ein Weib eine Ziege am Strick hinter sich drein. In ihren Armen liegt ein Kind. Wo man auch hinblickt, längs dieser goldenen Herbstfelder, ein lebendiger Strom von armen Menschen, Soldaten, mit Gerümpel beladenen Fuhren, Handwagen, mit Pelzen, Samowaren, Bettdecken. Ich denke, um wie vieles leichter es in diesem lebendigen Strom sein würde. Wer sind diese Flüchtlinge? Kommunisten? Wohl kaum. Das Weib mit der Ziege hat gewiß kein Parteibuch. Bei jedem Schuß, bei jedem Ausbruch des panischen Schreckens, der die Menge aufrüttelt, bekreuzigt sie sich in der Richtung jedes sichtbaren Kirchturms. Es ist einfach das Volk, die Masse, die vor ihren alten Feinden flüchtet. Ein ganzes Rußland, das mit seinen Habseligkeiten auf den Schultern auf dem schlammigen Wege vor den tschechoslowakischen Befreiern flieht.

Draußen hinter der Stadt wurde der Strom der Flüchtlinge seichter. Aber noch immer gingen Frauen, Kinder und Wagen weiter, ohne zurückzublicken, ohne auf den Weg zu sehen, getrieben von einem gewaltigen sozialen Instinkt. Vereinzelte Menschen schritten ohne Hut und Mantel, einige mit krampfhaft unter dem Arm festgehaltenen Aktentaschen unter strömendem Regen – schlugen Seitenpfade ein oder gingen geradewegs durch den Schmutz, stolpernd, fallend, sich wieder erhebend, bis sie zur Nacht in entfernten Dörfern eintrafen.

Der Sommerregen wurde zu einem Guß, die Felder wurden schwarz, unbeschreiblich schwer. Eine aufgequollene blaue Wolke hing über dem jetzt schon besetzten Kasan. Der Geschützdonner verstummte, und unter dem Gewitterhimmel begannen lautlos Brände aufzuflammen, fernes Wetterleuchten. Gelangweilt flog eine Schar Krähen in der Richtung nach der Vorstadt.

Wie lange wir gegangen und wohin, das weiß ich nicht mehr. Aber es ging immer über aufgepflügte Felder, über nassen Lehm, der jeden Schritt festhielt, es ging, wie wir glaubten, in der Richtung auf Swijaschsk. Bei der Flucht, zumal in den ersten Stunden, hängt vieles von einem dumpfen Instinkt ab, der uns zwingt, von drei Dörfern gerade dieses eine zu wählen, von mehreren Wegen gerade diesen und nicht die andern beiden. Alle Gefühle spitzen sich zu – der Blick eines Fußgängers, die Silhouette eines Bauern, das Bellen eines Hundes –, alles nimmt die Färbung der Gefahr oder des zuversichtlichen „Es wird schon gehen“ an.

Allen anderen voran marschierte mit bloßem Kopf, in einem durchnäßten, fatal anständig aussehenden Anzug ein verantwortlicher Parteiarbeiter, der Genosse B.

Dieser verstand nichts von den geheimnisvollen Wegweisern unserer Flucht, er sah schlecht und überlegte schlecht. Er hätte am liebsten sich hingelegt und geschlafen nach den letzten krampfhaften Nächten in der Stadt. Ein kleiner Matrose führte uns. Mit seinen ein wenig krummen Beinen schritt er fest und sicher durch den Lehm, der Regen hinderte sein einziges, munter leuchtendes blaues Auge nicht am scharfen Sehen, überhaupt, man fühlte sich ruhig mit ihm. Nachdem er mit der „Aktentasche“, die, von Wind und Müdigkeit getrieben, kopflos vorwärts steuerte, eine Weile gestritten hatte, machte er eine scharfe Wendung nach links und zwang uns so, einen weiten Umweg um das erste Dorf zu machen. Wir stießen bald auf eine im Dunkeln hellschimmernde Chaussee, auf welcher wir nun ohne Zögern zum zweiten Dorf gelangten. Unser Kommandeur hieß uns „vor Anker gehen“, ging ein Stück Weges allein weiter und klopfte an die Fensterscheibe eines dunklen Hauses.

Wir schliefen auf dem Fußboden, es war ein Genuß, die durchnäßten, schweren Stiefel von den Füßen zu ziehen. Weiches Heu, menschliche Wärme, das Licht einer heiligen Lampe in der Ecke. Und im Halbschlaf, der alle giftigen Gedanken zur Ruhe brachte, ein Stück warmen, schwarzen Brotes. Am Morgen stellte sich heraus, daß das ganze Zimmer voller Flüchtlinge war, aber das wollte niemand eingestehen. Es begann eine Hetze, jeder verteidigte sich, wie er konnte, und suchte seiner Flucht diese oder jene Deutung zu geben. Unser „Verantwortlicher“ oder unsere „Aktentasche“, wie wir ihn auch noch nannten, beschloß, mit der Naivität eines echten Städters und Intellektuellen, sein Inkognito zu wahren. Sein schöner Hut war plötzlich verschwunden und machte einer wild aussehenden Mütze Platz, in der die „Aktentasche“ auf einmal das Aussehen eines Sträflings bekam. Der Wirt unserer Herberge war ein Dorfschullehrer. Er hätte sehr gern den Siegeston angeschlagen, aber der Besiegten waren so viele, und sie sahen so finster drein, daß er sich darauf beschränkte, ihnen gute Lehren zu erteilen. Im großen und ganzen war er ein guter Mensch, er gab uns allen zu essen, ohne etwas dafür zu verlangen, und wies uns ohne jede Tücke den Weg nach Swijaschsk. Er begleitete uns sogar den Fußpfad bis zur Landstraße – mit hitzigem Armfuchteln und vielem Gerede. Wir diskutierten ein wenig über die Konstituante. Dieser Pfad, den der Lehrer uns führte, hat uns gerettet: auf der großen Landstraße, die die meisten eingeschlagen haben, warteten bereits Posten im Hinterhalt.

Swijaschsk? Warum gerade Swijaschsk? Der Name dieser kleinen Station am Wolgaufer, die in der Folge bei der Verteidigung und Rückeroberung von Kasan eine so große Rolle gespielt hat und zum Amboß geworden ist, auf der die Kerntruppen der Roten Armee geschmiedet wurden, dieser Name ist bei der Flucht aus Kasan irgendwie im Gedächtnis geblieben; man wiederholte ihn und erinnerte sich seiner irgendwie, als Rückzug und Panik ihren Höhepunkt erreichten.

Hatte der Armeestab gerade Swijaschsk als Basis für die Verteidigung bestimmt, oder der Instinkt der Selbsterhaltung diesen Namen in die flüchtende Menge geworfen – jedenfalls strebte die Woge der Flüchtenden diesem Orte zu.

Der Bürgerkrieg spielt sich fast immer nur auf den großen Straßen ab. Man braucht nur einen Landweg, einen Feldpfad einzuschlagen, der zwischen saftigen Weiden und braunen Garben führt, und man ist sofort mitten im Frieden, im Herbst, in der durchsichtigen Stille der letzten Sommertage.

Wir gehen barfuß, Stiefel und Brot hängen an einem Stock über der Schulter. Der Matrose hat irgendwo eine lange Hirtenpeitsche gefunden, und er knallt mit ihr so unbarmherzig hinter dem Rücken der „Aktentasche“, daß diese jeden Augenblick zusammensinkt und nahe daran ist, in Tränen auszubrechen. Ja, es muß zugestanden werden, unser Genosse B. war keiner von den ganz Mutigen. In den Dörfern kehrten wir fast gar nicht ein, und wenn, so doch meistens bei den Sektierern. Dort war es sauberer, die Bauern sympathisierten mit uns, die Milch war so fett wie im Himmelreich und die Frauen so frisch wie Wabenhonig. Die Sektierer haben uns niemals verraten und nie hungrig von dannen gehen lassen.

Am dritten Tage wären wir übrigens beinahe in eine Falle geraten. Unsere „Aktentasche“ verletzte sich den Fuß, war müde und jammerte; meine zwei Kameraden – zwei Matrosen – waren so erschöpft von dem langen Laufen auf dem Trocknen und vom Staubschlucken und dem Spiel als Zivilisten, daß ihr vereinigtes Gejammer sogar den Widerstand Mischkas (unseres einsichtigen Führers) brach. Er gab ihnen nach, und wir kehrten in ein Dorf ein, nachdem wir es ein wenig ausgekundschaftet hatten. Anfangs ging alles gut: kühle Holzstufen am Hause, auf denen es sich gut sitzen ließ, hartgesottene Eier, Tee, Gurken und ein sich vollkommen neutral verhaltender Wirt. Und plötzlich, wir fangen gerade an, in gute Stimmung zu kommen, taucht von irgendwoher ein Herr im blauen Kaftan und rotem Gürtel auf, mit einem Bart „à la russe“ – etwas von der Art eines ausgedienten Landpolizisten oder eines kriegerisch veranlagten Gutsbesitzers. Unser Wirt warf ihm einen kurzen Blick zu und wurde auf einmal noch grauer und schweigsamer.

Der Blaue betrachtet lebhaft interessiert die „Aktentasche“ mitsamt ihrer Aktentasche, unseren Mischka, der in aller Ruhe seinen Tee trinkt, und die beiden sehr wohlanständig und sogar sehr friedlich aussehenden Matrosen. Und es beginnt ein ganz harmloses und ruhiges Gespräch.

„Sie sind wohl aus Kasan, Flüchtlinge?“

Unser Führer antwortet für alle:

„Nein, wir suchen einen angenehmen Landaufenthalt. Ein Häuschen mit einem guten Ausblick auf den Fluß und überhaupt mit allen Bequemlichkeiten. Können Sie so etwas empfehlen?“

Unser „Ältester“ hat ein unrasiertes, wild dreinblickendes Gesicht, er ist ein Vollblutsüdländer, schwarz, immer munter und tollkühn.

Der Blaue kichert:

„Ach was, meine Herrschaften, lassen Sie die Komödie! Man hat Sie wohl aus Kasan vertrieben? Tüchtig vertrieben, was? Dieser Genosse da hat sogar seine Aktentasche in der Hast mitgenommen. Sie sind wahrscheinlich von den Unsrigen?“ Und er zwinkert mit den Augen wie mit Butterkugeln.

Mischka schlägt eine Volte. Er beginnt zu schildern, welche gewaltige Unterstützung die Rote Armee erhalten hätte:

„Stellen Sie sich vor, zwanzigzöllige Geschütze aus Kronstadt, Lyditbomben, alles in zwei, drei Tagen an Ort und Stelle …“

Auf einmal wirft er einen scharfen Blick auf unsern Wirt, von diesem nach der Seite in die Steppe: weit, sehr weit sieht man dunkle Punkte, die schwarzen Piken der Kosaken heben sich gegen den Himmel ab. Der Blaue fährt auf, aber Mischka greift lächelnd in seine Tasche, und wir alle (die Aktentasche natürlich an der Spitze) ziehen uns so schnell durch den Garten in das nächste Feld zurück, daß er nicht dazu kommt, etwas zu unternehmen.

Den Rest des Tages verbrachten wir schlafend zwischen goldenen, heißatmenden Garben unweit des Weges. Einige Male ritten Kosaken vorüber, und dann weckte Genosse Mischka die Aktentasche, damit sie nicht gar zu laut schnarche.

Irgendein Dorf in dunkler stürmischer Nacht. Endloses Wetterleuchten, knarrende Wagenräder, unruhiges Wiehern der Pferde.

Handlaternen hüpfen im Dunkeln. Erschöpft, vom Wege abgeirrt, erreichen wir den Train einige Minuten vor seinem Abgang. Wohin – nach Swijaschsk. Hier ist ein Teil des Stabes, einige übriggebliebene Truppen, Vertreter der politischen Abteilung. Man erkennt uns. Jemand kommt auf uns zu, betrachtet uns im flüchtigen Schein seiner Laterne, und mit Überwindung, schwerfällig, als hätte ich Sand oder Watte im Munde, frage ich ihn:

„Ist Raskolnikow hier?“

„Nein.“

Rasch senkt er die Laterne, verbirgt im Dunkeln den Ausdruck seines Gesichts.

Die ganze Nacht ziehen die Wagen auf dem durchweichten Wege vorüber, unter strömendem Regen, unter fortwährendem Aufflammen blauen Lichtes. Einer ist steckengeblieben – ein Befehl geht von einem Trainsoldaten zum nächsten: der ganze Zug hält. Laternen hüpfen, man hört das schwere Seufzen des im zähen Sumpf steckengebliebenen Pferdes, aufklatschende Schritte – es geht wieder weiter. Der Regen prasselt, dumpf knarrt der Fichtenwald, und bei jedem Wetterleuchten sieht man einen Bauern, der die dampfende, vor Müdigkeit zitternde Flanke seines Pferdes stützt, und irgendein weißes, schläfriges Gesicht, naß vom Gewitterregen. Dann erlischt es.

Es hat keinen Zweck, den Morgen des nächsten Tages ausführlich zu beschreiben: er ist wie alle anderen Tage des Rückzugs. Gelegentliches Einschlummern an einem feuchten Heuschober, Schmerz in den wundgelaufenen Füßen, unermüdliche Scherze der Soldaten, besonders wenn sie auf der Feldküche sitzen: ein Ruheplatz, der der Reihe nach eingenommen wird.

Hoch aufgerichtet, tief in Gedanken versunken, geht schweigsam die Frau des Genossen Scheimann. Sie sieht nichts, sie hört nichts, spricht mit keinem Menschen. Ihr Kopf im weißen Tüchlein schwebt auf dem Hintergrunde der toten Herbstfelder. Sie weiß noch nicht gewiß, ob er lebt oder tot ist, aber eine Ahnung nimmt immer mehr von ihr Besitz, man kann sehen, wie sie sie immer härter und grausamer packt. Die versteckte, auf ihr lastende Angst macht die anderen bedrückt.

Endlich – Wolga, Überfahrt, eine Bahnstation, schwerer Schlaf auf dem Fußboden eines kalten, rissigen Güterwagens. Noch vierundzwanzig Stunden verloren auf nassen, öden Landstraßen. Morgens Stocken, Knarren der Räder, endlich das lang erwartete, ersehnte rasselnde Zucken der Wagen – eine Stunde später sind wir wirklich in Swijaschsk.

Auch in Swijaschsk sind sie nicht zu finden. In der Kommandantur ein Gedränge, ein Hin- und Herfragen. Irgendein forscher Kommandeur spuckt erbost in die offene Wunde.

„Ach wo, der Ihrige ist gewiß heil und gesund. Sie beunruhigen sich unnötig, wird wohl schon in Paris sein.“ Gleich darauf steht er, gießt heißen Tee hinunter, rot, verwundert und wütend – aber es ändert nichts an der Sache. Alles sieht schwarz aus. In jedem Wort fühlt man eine verletzende Andeutung. Endlich kommt ein Telegramm des Genossen Trotzki: F. F. ist von den Weißgardisten gefangengenommen. Dann: das steinerne, blutlose Gesicht der Frau des Genossen Scheimann. Ihr Mann ist also wirklich tot.

Mischka und ich beschließen, nach Kasan zurückzugehen.

Genosse Bakinsky schreibt einen Passierschein auf einen winzigen Fetzen Zigarettenpapier. Und listig mit den blauen Augen zwinkernd: „Geht“, sagt er, „zum Kommandeur des lettischen Regiments, er wird euch gewiß zwei Pferde bis zur Front geben. Von dort müßt ihr schon zu Fuß weitergehen.“

Und wirklich, die Letten halfen uns aus, auch eine kleine List half mit: wir sagten ihnen, daß Raskolnikow auch ein Lette sei. Das stimmte, aber nicht ganz – er war es nur seiner Mutter nach. Man gab mir Mantel, Hosen, Stiefel, führte zwei Kavallerie­pferde vor, aber mein Gott, wie soll man sich auf dieses wilde Biest setzen? Von rechts oder von links, und was macht man dann mit den Beinen und mit den nicht ohne boshafte Absicht angeschraubten mächtigen Sporen? Wir reiten im Schritt, es geht. Dann im Trab – Angst und Schrecken. Und wir haben vierzig Kilometer vor uns.

Am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit dem roten Fuchs begann unsere zärtliche Freundschaft, die im ganzen drei Jahre dauerte. Weit hinter der Wolga, dicht am Eisenbahndamm, wird das Pferd plötzlich unruhig. Ich gebe ihm einen Schlag mit der Gerte: die nervösen Ohren zittern, das heiße Auge schielt mich an – es geht nicht vom Fleck. Auch die uns begleitenden Kavalleristen machen halt und lachen mich aus. Und plötzlich erheben sich unmittelbar vor uns nacheinander drei Säulen aus dem Boden, drei staubige rote Donnerschläge: drei Tote. Wir bogen in den Wald ein.

Es gab hier viele verwundete Bäume, mit einem sonderbar kreischenden Geräusch fielen die Geschosse ins Dickicht.

Die Bäume stehen still da, wie zum Tode verurteilt, erstaunlich still und gerade. Und ebenso still liegen die Menschen auf einer kleinen Waldwiese unter roten, duftenden Fichten. Die Soldaten und zwei Kommandeure neben ihrer verstummten, lauernden Batterie. Sie waren gerade beim Mittagessen. Im glutheißen Rasen dampften die Suppenschüsseln, zwei und drei Menschen zugleich aßen aus einer Schüssel. Sie fragten uns, aus irgendeinem Grunde flüsternd, als fürchteten sie sich, die kleine Waldwiese zu verraten, nach unseren Passierscheinen und boten uns dann an, an ihrem Mittagmahl teilzunehmen. Es ging ein komischer Geruch von ihrer Suppe aus: sie roch nach Kohlbrühe und Walderdbeeren, die allenthalben zwischen dem dünnen trockenen Lanzengras hervorleuchteten. In der Stille, als irgendwo draußen, weit hinterm Walde, ein schwarz verräucherter und fast tauber Artillerist mit Hilfe einiger Zahlen und seines tierischen Instinkts unseren dunkel geahnten Zufluchtsort suchte – in der Zwischenpause, als die an ihren Fleck gefesselten Fichten Atem holten –, hörte man irgendwo in unserer nächsten Nähe das unschlüssige Trillern eines Waldvogels. Es wird wohl eine Meise gewesen sein. Ein Triller, ein zweiter, und es wird wieder still. Die Soldaten hören auf zu essen und horchen aufmerksam in den Wald. Der eine setzt eine geschäftig rennende Ameise auf seinen Löffel und betrachtet sie mit schwerer, konzentrierter Aufmerksamkeit. Und alle fühlen sich leichter, als wieder ein unsichtbares Geschoß heulend über unsere Köpfe streicht und im Dickicht krepiert, weiße, harzige Späne der zerschmetterten Fichten um sich sprühend.

Nicht erwischt, vorbei – und alle Löffel sind wieder in der Suppe.

Wir reiten weiter durch den verzauberten, toten Wald, bis am Waldsaum große verlassene Sommervillen auftauchen. Hinter den Häusern liegt der Eisenbahndamm – er sieht seltsam aus. Einzelne Waggons stehen zu zweit, zu dritt, weit voneinander entfernt, als ob sie miteinander „Zauberer“ spielten, als wenn man sich nur abzuwenden brauchte, damit sie wieder weiterlaufen, um dann, beim ersten Blick, den man ihnen zuwirft, wieder wie überrascht in ungeschickten Stellungen stehenzubleiben. Hier und da liegen tote Pferde, und dieser ganz öde, verlassene Ort wird nur von Zeit zu Zeit von einfallenden Geschossen belebt.

Der Stab ist in nächster Nähe, in einer Villa an der Bahnstation. Ungefähr eine Stunde, nachdem wir sie verließen, fand ihn endlich eine entfernt liegende Batterie: einer unserer besten Kommandeure, Genosse Judin, kam dabei ums Leben. Aber als wir dort waren, kurz vorher, lebte er noch, hat uns selbst empfangen. Und in den letzten Stunden seines gesteigert pulsierenden, bis zum Platzen gespannten Lebens füllten wir einige rasche, sachlich-herbe Minuten aus. Er prüfte unsere Papiere, ließ sie vor sich auf dem Tisch liegen, ließ uns Essen und Betten geben. Und während wir uns erholten und Tee tranken, rief im Nebenzimmer (diese Sommerhäuser sind leicht gebaut) jemand telephonisch den revolutionären Kriegsrat in Swijaschsk an:

„Kennen Sie eine Reissner? … Ja, Reissner? Sie haben ihr den Passierschein gegeben? Ja? Es ist gut … Ja, wir dachten … Na ja … bleiben Sie gesund! Schluß.“

Der Mensch, der in irgendwelchen Geschäften in eine Bank gerät, fühlt sich anfangs immer als Dieb. Gitter, einbruchsichere Schränke, dicke Kassenbücher, tadellos gebohnertes Parkett – diese ganze vergitterte Höflichkeit schnappender Schlösser vermutet in jedem Besucher einen Einbrecher und Gauner. Und in dem Augenblick, als das Telephon sich über eine gewisse R. erkundigte, kam mir auf einmal in den Sinn, daß mein ganzes Benehmen verteufelt unglaubwürdig und das Äußere verdächtig sein müsse. Der Teufel hol’s, und die Stimme? Ich sagte laut vor mich hin: „Ich gehe nach Kasan mit einem geheimen Auftrage“ – eine fremde, falsche Stimme, es ist doch klar: eine Spionin.

In der Abenddämmerung kam Genosse Judin zu uns ins Zimmer. Sein Gesicht war fast gar nicht zu sehen, aber die ganze Gestalt – die groben weiten Gallifethosen, die Sporen, die gelassen in den Taschen ruhenden Hände – machte einen freundschaftlichen Eindruck. Nachdem er uns noch ein wenig ausgefragt, riet er uns, die Reise sofort fortzusetzen, wenn wir nun einmal ein so verzweifelt dummes Unternehmen begonnen hätten. „Leben Sie wohl, ich hoffe, wir sehen uns noch.“ Er drückte uns fest die Hand und mochte sich dabei gedacht haben, daß wir diesen Wald wohl kaum lebendig verlassen würden. Der hinter seinem Rücken stehende Tod lächelte zynisch in die Finsternis hinein.

Ich prüfte trübselig meine riesigen Stiefel und Hosen und bemerkte dabei, daß auch der kleinrussische Rotarmist, der uns den Tee brachte, mein Äußeres nicht minder interessiert betrachtete:

„Genosse Madame, laß uns tauschen: du gibst mir deine Montur und ich dir richtige Frauenkleidung – mit Falten und Federn.“

Und er brachte von irgendwoher, von dem Dachboden wahrscheinlich, ein elegantes Pariser Korsett, tadellose Hosen eines Kammerherrn und, zu meinem Glück, ein dunkles Damenkostüm. Das Gold des Kammerherrnrocks funkelte bald auf dem mageren Gesäß eines Botenjungen, das rosafarbene Korsett gefiel einem Rotarmisten so sehr, daß er es anprobierte, während Mischka und ich aus dieser Maskerade als dermaßen anständige Bourgeois hervorkamen, daß schon der nächste Wachtposten uns trotz aller Parolen, Dokumente und Passierscheine glattweg verhaftete. Der wütende Mischka wurde unter Begleitung zurück zum Stab befördert, und als er endlich wieder da war, war es schon ganz finster geworden. Zum Abschied gab uns der Posten einen guten Rat: dem Eisenbahndamm sorgfältig fernzubleiben und den Weg durch den Wald zu nehmen. „Hier aber“ – die Schienen leuchteten unangenehm aus der Dunkelheit – „wird man euch im Handumdrehen niederknallen.“

Einige Stunden stillen Waldwegs. Wir begegneten unterwegs einer Patrouille – zwei Kavalleristen. Im Dunkeln jagten wir einander einen großen Schreck ein.

Wir unterhielten uns ein wenig, genossen die Wärme des menschlichen Gespräches, dann ging es weiter.

Der Wald kühlt die Müdigkeit, die vom Gehen ermatteten Füße wie ein großer schwarzer See. Ich erinnere mich noch an die Sterne, an die Angst der Finsternis, die Angst, ohne ein Zuhause zu sein, ohne ein Bett, ohne ein Morgen. Im allgemeinen das unangenehme Gefühl des Städters, dem die Landstraße fremd ist.

Auf irgendeinem Pfade gelangten wir zu irgendeinem Dorfe. In der Nähe eines Hauses verzweifelte weibliche Hilferufe. Im Badehause auf dem nackten Boden lag eine junge Kirgisenfrau den dritten Tag in Wehen und konnte nicht gebären.

Das Klopfen an die Tür, die neuen Gesichter, die Berührung unbekannter Hände, alles das hat vielleicht ihren Nerven, ihrem Lebenswillen aufgeholfen – ein furchtbarer Krampf erlöste sie von dem Kinde. Und sich sofort beruhigend, hielt sie mich bei der Hand, murmelte unter ihren schweißfeuchten Haarflechten fremde, gutturale, einschläfernde Worte. So schlief sie auch ein, ohne ihre heißen, wie Vogelfüße trockenen Finger zurückzuziehen.

Kurz und gut, der kleine Kirgise hat mich meinen Unterrock gekostet und in meinem seidenen Taschentuch reiste er in die Kirche, zusammen mit irgendwelchen für alle Fälle von der Mutter mitgenommenen heidnischen Gottheiten. Aber auf den Besuch der Kirche haben wir verzichtet. Der Pope, duldsam gegenüber den alten heidnischen Göttern, konnte in den plötzlich aufgetauchten Paten weit gefährlichere dämonische Kräfte entdecken.

Nach der Taufe schlug der glückliche Vater in seiner Dankbarkeit vor, uns mit seinem eigenen Pferde nach Kasan zu bringen.

„Ich sehe schon, ihr seid gute, anständige Leute. Ich kenne Gott sei Dank die Welt und weiß, was sich gehört.“

„Und wenn man uns anhält, was werden Sie ihnen sagen?“

„Ich werde ihnen sagen, daß die Herrschaften Sommergäste sind und nach Hause fahren. Man kennt mich ja, man wird’s mir schon glauben.“

Und wirklich fuhr uns der Wagen des Kirgisen eines warmen, taufrischen Morgens durch stille Waldwege. Radspuren, vom leuchtenden Waldgrün bewachsen, helles Trommeln der Spechte, ein Duft von Harz und Walderdbeeren. Und von Zeit zu Zeit kreischende Geschosse durch die klare Morgenluft über unsere Köpfe hinwegstolpernd. Über den Wald feuerte die schwere Artillerie.

Die russische Provinz ist im allgemeinen armselig, häßlich und langweilig. Alle ihre Städte und Flecken sehen sich ähnlich wie alte Semmeln. Aber unter ihnen ragt Kasan doch als besondere Mißgeburt hervor. Das einzige, was einen gewissen Stil und architektonischen Charakter hat, ist der alte Turm Ssumbeki. Verglichen mit diesem rein tatarischen Denkmal des Altertums, trägt alles andere einen mehr als mongolischen Stempel. Wassermelonen, Staub, Bretterzäune, Häuser, in denen es außer Schildern und Auslagen nichts gibt. Und ein Pflaster – aus versteinerten Hühneraugen und granitnen Geschwülsten. Man muß ein sklavischer Patriot sein, um dieses Rußland um seiner kleinbürgerlichen Armseligkeit willen, seines farblosen, blöd-monotonen und staubigen Provinzgesichts willen zu lieben.

Keine einzige Patrouille hat unseren Wagen angehalten, und wir fuhren in die Admiralitätsvorstadt ein – unsern eigenen Augen kaum trauend, so unwahrscheinlich kam uns der Erfolg vor, obwohl die unwiderlegliche Häßlichkeit der Straßen und Häuser uns von allen Seiten eilig davon zu überzeugen suchte, daß es kein Traum, sondern zweifellos das schiefäugige, knochige, vom weißgardistischen Fieberwahn erfaßte Kasan ist.

„Wohin bringt Ihr uns, Gevatter – wißt Ihr, wo wir unter­kommen können?“

Der Kirgise wandte uns sein munteres, listig lächelndes Gesicht zu.

„Das weiß ich schon, ihr habt ja Ruhe nötig. Ruhiger werdet ihr es nirgends haben. Ich bringe euch zum Polizeiwachtmeister. Er ist ein guter Mann, verläßlich und wohlwollend. Er und ich sind gute Freunde.“ Und er klatschte zufrieden mit der Leine auf den dicken Rücken des kleinen Pferdes.

Mischka und ich sahen uns an. Der Gevatter hat es wirklich gut gemeint, das muß man ihm lassen. Und ausgerechnet ein Polizeiwachtmeister!

Der Wagen bog in eine staubige, breite Vorstadtstraße ein. Durch die Ritze des hölzernen Bürgersteiges schossen einfältige Grashalme hervor; einstöckige Holzhäuschen, Hoftore mit geschnitzten Hähnen und unerträglichem Knarren, mit grünen und weißen, immer schläfrigen Fensterläden. Kurz, es war ein Gemälde von Kustodijew: tadellose Bläue des Kaufmannshimmels, mit Wölkchen wie der Dampf des Nachmittagssamowars, das Städtchen Okurow in seidenglänzenden, öligen, grellen Farben dieses Malers. Der pfiffige Gevatter machte vor einem aufgeputzten Häuschen halt, küßte uns zum Abschied und übergab Mischka und mich dem vor dem Hauseingang erschienenen Polizeiwachtmeister.