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Ann-Kristin Gelder

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Beschreibung

Ein Liebesroman, spannend wie ein Thriller, ab 14 Jahren.

Der Konzern Neurogaming-Systems (NGS) will die Computerspiel-Welt revolutionieren: Er bietet Spielern mit der Technik der Bewusstseinssynchronisierung die Möglichkeit, Aussergewöhnliches zu erleben – im Körper eines Anderen. Nora arbeitet für NGS und erkennt, dass der Konzern für seine illegalen Forschungen auch über Leichen geht. Noras neuerster Auftrag ist der junge Musiker Alex. Während sie in Vorbereitung für die Bewusstseinssynchronisierung sein Vertrauen gewinnt, entwickelt sich eine ernste Beziehung zwischen den beiden. Doch Nora muss die Synchro machen – und dann werden die Liebenden nicht mehr zueinander finden, denn ist der eine wach, schläft der andere. Nora weiß, dass Alex nun in Lebensgefahr schwebt, denn die Technik funktioniert noch nicht risikolos...

Für Fans von Colleen Hoover und Ursula Poznanski

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Das Buch

Niemals hätte Nora damit gerechnet, sich in eine Zielperson zu verlieben. Aber ihr Herz schlägt schon schneller, wenn sie nur an Alex denkt. Und nach einigen Aufträgen weiß sie, dass der Technologiekonzern NGS für seine illegalen Forschungen notfalls über Leichen geht. Aussteigen ist keine Option, auch dafür hat der Konzern gesorgt. Also muss Nora die Bewusstseinssynchronisierung mit Alex durchführen. Doch dann werden die Liebenden nicht mehr zueinander finden, denn ist der eine wach, schläft der andere … Und schlimmer noch: Nora weiß, dass Alex Leben nun am seidenen Faden hängt!

Ein Liebesroman, spannend wie ein Thriller – für Fans von Colleen Hoover und Ursula Poznanski.

Die Autorin

© Bea Rietz

Ann-Kristin Gelder, Jahrgang 1981, ist Deutsch- und Musiklehrerin und Sängerin in einer Rockband. Sie lebt mit einem Mann, zwei Katern, drei Kindern und zwölf Musikinstrumenten an der Weinstraße und hat ständig zu viele Pläne und zu wenig Zeit. Wenn sie nicht als Revuegirl oder Nashorn auf der Bühne steht oder sich für irgendein anderes verrücktes Projekt ködern lässt, spielt sie Videogames, geht geocachen und gibt unfassbare Summen für Bücher und Chucks aus.

Mehr über Ann-Kristin Gelder: www.akgelder.de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.thienemann.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Jana. Always.

Prolog | Drei Monate zuvor

»Himmel, Prinzessin. Was ist los? Hast du was getrunken?«

Lily kneift die Augen zusammen und schwankt fast unmerklich. Schon zum zweiten Mal umgeben atypische, schwarze Schlieren ihr Gesichtsfeld und sorgen dafür, dass ihr leicht übel wird. Wobei, eigentlich ist es eher ein unterschwelliger Schwindel, als hätte sie sich zu schnell im Kreis gedreht. Dieses Phänomen beunruhigt mich, denn es ist bei meinen letzten Aufträgen nicht aufgetreten. Veränderungen sind selten gut. Das gilt insbesondere dann, wenn alles perfekt läuft.

Nachdem die Benommenheit nachgelassen hat, schließt sie mit wenigen Schritten zu ihren Freunden auf, die bereits am Eingang des Sturmschiffs warten. »Kann losgehen«, verkündet sie knapp. »Vielleicht war die Milch in meinem Cappuccino schlecht. Das wird bestimmt gleich besser.«

»Na also«, dröhnt Devin, legt den Arm um ihre Schultern und zieht sie an sich. Prompt veranstalten die Schmetterlinge in ihrem Bauch eine Pirouette. Zum wiederholten Mal frage ich mich, was sie an ihm findet. Er ist zu groß, zu muskulös und zu laut und hält sich selbst für unglaublich geistreich. Trotzdem ist sie völlig in ihn verschossen, vergöttert ihn geradezu, und ihre Hormone befinden sich in seiner Nähe in höchstem Aufruhr.

Hingerissen lehnt sie den Kopf an seine Schulter und schaut zu ihm auf. Seine Augen haben die Farbe von schlammigen Tümpeln. Er fletscht die Zähne, seine Art des liebevollen Lächelns, und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen, der sofort dafür sorgt, dass ihre Knie weich werden.

Direkt neben ihrem Ohr hört sie das genervte Schnauben von Tina, ihrer besten Freundin. In den vergangenen Wochen hat sie viel Zeit mit ihr verbracht und fühlt sich in ihrer Gesellschaft einigermaßen wohl. Allerdings hat sie den – meiner Meinung nach begründeten – Verdacht, dass sich Tina zu sehr für ihren Freund interessiert. Es ist offensichtlich, dass diese auf eine Gelegenheit wartet, sich Devin zu krallen. Auch wenn Lily Tinas Bemühungen nach Kräften ignoriert, hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Freundinnen merklich abgekühlt.

Voller Vorfreude beobachtet Lily das riesige Schiff, das vor ihr hin und her schwingt. Nur wenige Besucher befinden sich im Park, lediglich vereinzelte Plätze sind besetzt, und es gibt keine Wartezeiten. Im Gegenteil. Bei der Chaos-Krake durften wir sogar sitzen bleiben und mehrere Runden hintereinander fahren.

Lily hatte daran unfassbar viel Spaß und wäre am liebsten gar nicht mehr ausgestiegen. Emil neben ihr hatte jedoch eine verdächtig grünliche Färbung angenommen, sodass die Gruppe vorsichtshalber zur nächsten Attraktion weiterzog.

Sie fasst Devins Hand und zerrt ihn hinter sich her bis zum vorderen Ende des Wartebereichs, das durch eine dicke, weiße Linie abgetrennt ist. Ziemlich gefährlich, denn es gibt weder ein Geländer noch eine andere Art der Sicherung. Eltern müssen ihre Kinder wirklich gut im Auge behalten. Andererseits ist deutlich zu erkennen, dass die Nutzung des Fahrgeschäfts mindestens eine Größe von 1 Meter 20 voraussetzt.

Wir stehen so nahe an dem einschüchternden Ungetüm, dass Lily bei jedem Vorbeirauschen den scharfen Luftzug auf ihren Wangen spürt. Wieder färbt sich ihr Gesichtsfeld an den Rändern schwarz. Verdammt, was ist das nur? Sie zwinkert und löst ihren Griff um Devins Finger. Völlig unerwartet wirft sie sich mit ganzer Kraft nach vorne, genau in dem Moment, in welchem das Sturmschiff erneut heranrast.

Sekundenbruchteile später wird sie unsanft zurückgerissen.

»Lily!«, herrscht Emil sie an. »Bist du wahnsinnig geworden?« Er ist leichenblass und starrt sie aus weit aufgerissenen Augen an. Mit festem Griff umklammert er ihr Shirt. »Was soll der Scheiß? Willst du dich umbringen?«

»Das war haarscharf!«, stößt Devin hervor. »Fast wärst du von diesem Riesenteil erwischt worden. Das hätte dich glatt zermatscht.«

Lily blinzelt heftig und schüttelt wortlos den Kopf. Desorientiert taumelt sie ein paar Schritte zurück. Nur am Rande nehme ich wahr, dass uns ein aufgeregter Parkmitarbeiter mit harschen Worten verscheucht und im gleichen Atemzug ein Fahrverbot für die Attraktion erteilt.

Zu sehr bin ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Was ist hier gerade geschehen?

Wie betäubt lässt Lily zu, dass Tina ihren Arm ergreift und sich bei ihr unterhakt.

»Geht’s?«, will sie wissen. »Ist dir schwindlig? Hast du das Gleichgewicht verloren? Kannst du laufen?«

»Keine Ahnung.« Lily massiert ihre Schläfen. Kein Schwindel, keine Benommenheit. Auch die schwarzen Schleier sind verschwunden.

»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist«, wiederholt sie beunruhigt.

Ich merke deutlich, dass sie völlig aufgelöst ist, selbst wenn sie äußerlich gefasst wirkt. Sie ist nur einen Atemzug von einer Panikattacke entfernt, und das will ich wirklich nicht miterleben.

Devin mustert seine Freundin abschätzig. »Echt, Prinzessin«, tadelt er milde und klingt dabei unangenehm überheblich. »Wieder dein Kreislauf? Hast du deine Tage oder was? Wobei, das wüsste ich«, fügt er mit einem schmierigen Grinsen hinzu.

Was für ein Arschloch. Für diesen demütigenden Spruch wird sie ihn hoffentlich in seine Schranken weisen. Tatsächlich fühlt sie einen Anflug von Ärger, den sie jedoch umgehend unterdrückt. Sie ist diesem Idioten restlos verfallen.

Lily bleibt stehen und lässt sich von ihm in eine enge Umarmung ziehen. Dabei schmiegt sie sich vertrauensvoll an ihn. Okay, das ist ihre Angelegenheit. Es steht mir nicht zu, über sie zu urteilen. Abgesehen davon habe ich die Sache in wenigen Tagen überstanden.

»Sollen wir eine kurze Pause einlegen?«, schlägt Emil zögerlich vor. »Bestimmt war das eine Nachwirkung der Chaos-Krake. Kann ich gut verstehen. Die fünf Runden hintereinander waren heftig, vor allem auf leeren Magen. Wir hätten vorher eine Kleinigkeit essen sollen.«

Lily nickt dankbar und lässt sich zu einer Bank führen, auf der sie wie eine Puppe in sich zusammensinkt. Vielleicht wäre es besser, den Ausflug hier abzubrechen, denn sie ist in schlechter Verfassung. Statt ihr Unbehagen zu formulieren, nimmt sie den Cappuccino entgegen, den ihr Tina am nahe gelegenen Imbissstand besorgt hat. Das Getränk ist zwar nicht mein Fall – ich hasse Kaffee in jeglicher Form –, aber Lily liebt es über alles.

»Eine Dosis Koffein hilft immer«, murmelt sie mit einem schwachen Lächeln.

Obwohl die Flüssigkeit ziemlich heiß ist, nimmt sie einen beherzten Schluck und genießt die Geschmacksexplosion von cremiger Milch, herbem Röstaroma und süßem Kakaopulver, die sich auf ihrer Zunge ausbreitet.

Nach wenigen Minuten erinnert nur die leichte Beklommenheit in Lilys Innerm an die riskante Situation am Sturmschiff.

»Vor mir aus können wir weitergehen«, sagt sie gespielt munter und befördert ihren Pappbecher in einen Mülleimer.

»Bist du sicher?« Emil beugt sich vor und wirft ihr einen skeptischen Blick zu. »Wir können nach Hause fahren und an einem anderen Tag herkommen.«

»Und den sauteuren Eintritt in den Wind schießen«, wehrt Lily ungehalten ab. »Bestimmt nicht. Mit mir ist alles super.«

Emil nickt, obwohl er nicht vollständig überzeugt wirkt.

Devin stößt erneut sein dröhnendes Lachen aus und klopft ihr viel zu fest auf die Schulter. »Das ist meine Prinzessin!«

»Wohin jetzt?«, fragt Tina.

Lily zuckt mit den Schultern. »Mir egal. Entscheidet ihr das.«

»Wie wär’s mit dem Skytower?«, schlägt Devin vor. »Ich teile mir auch mit dir einen Partnersitz. In achtzig Metern Höhe sind wir garantiert ungestört. Vielleicht kannst du mich von dem Schreck ablenken, den du mir eingejagt hast.« Er setzt ein anzügliches Grinsen auf.

Gott, was für ein Widerling. Gleichzeitig spüre ich, wie sich ein aufgeregtes Kribbeln in Lilys Magen breitmacht. Sie kann es kaum erwarten, mit ihrem Freund alleine zu sein, um seinem befremdlichen Vorschlag nachzukommen. Und ich werde live dabei sein. Mal wieder.

Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Skytower. Nach dem Schock beim Sturmschiff bemühen sich alle darum, zur ursprünglichen Ausgelassenheit zurückzufinden, sodass die Stimmung in der Gruppe fast überdreht ist.

An der Attraktion angekommen, legt Lily den Kopf in den Nacken und sieht zu dem sternförmigen Karussell empor, das sich in luftiger Höhe um die eigene Achse dreht. An jedem der zwölf Zacken ist ein Doppelsitz angebracht. Umgehend wird sie von Adrenalin gepaart mit unglaublicher Vorfreude durchflutet. Entweder ist der Skytower ihre absolute Lieblingsattraktion oder es ist der Gedanke daran, was sie gleich mit Devin anstellen wird, der diese Euphorie verursacht.

Ungeduldig warten sie an der Absperrung, die auch hier aus nicht mehr als einem weißen Streifen besteht. Als sich das Kettenkarussell abgesenkt hat und schließlich stillsteht, laufen Lily und Devin zusammen zu einem der Doppelsitze.

»Bevorzugst du die rechte oder die linke Hand?«, erkundigt er sich unschuldig.

»Ich bin Rechtshänder. Das müsstest du doch wissen«, erwidert Lily mit einem nervösen Kichern, während ich einfach nicht nachvollziehen kann, weshalb sie auf diese grottenschlechte Anmache eingeht.

»Dann sitzt du außen«, beschließt Devin, was sie mit einem erneuten Kichern bestätigt.

Mit einem metallischen Rattern schiebt Lily den Bügel nach oben und lässt sich auf den linken Sitz gleiten. Sie wartet, bis Devin ebenfalls Platz genommen hat, und zieht die Sicherung wieder vor ihren Körper. Anschließend schlingt sie sich den dunkelgrauen Gurt um den Bauch, der klickend in den Verschluss einrastet. Das rückständige Sicherungssystem zeigt deutlich, dass es sich beim Skytower um eine ältere Attraktion handelt, denn die neuen Fahrgeschäfte besitzen alle automatische Verriegelungen.

Auch Devin hat sich mittlerweile angeschnallt. Er bemerkt ihren interessierten Blick und zwinkert verschwörerisch. »Gleich sind wir allein. Fast zumindest«, verspricht er und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch.

Wenig später ertönt der Signalton, der den Beginn der Fahrt ankündigt. Lilys Füße lösen sich vom Boden. Sie lehnt sich entspannt zurück und genießt den frischen Wind, der an ihren Haaren und an der leichten Sommerbluse zerrt. Neben ihr am Mittelpfeiler befindet sich die erste Markierung. 20 Meter Höhe.

»Ich glaube, ich bekomme Angst.« Devin lehnt sich ein wenig zu ihr und fährt aufreizend über ihren Oberschenkel. »Du musst mich ablenken.«

»Wenn wir oben sind«, verspricht sie geziert. »So lange musst du dich wohl gedulden.«

»Ich hoffe, du bist effektiv«, provoziert er. »Ansonsten müssen wir eine zweite Runde fahren, damit du fertig bringen kannst, was du angefangen hast.«

Das ist völlig bizarr. Mit Sicherheit ist die Attraktion videoüberwacht. Lily wird nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, diesem Ekel hier oben an die Wäsche zu gehen?

Zumindest für den Moment scheint mein Seelenfrieden eine Schonfrist zu erhalten. Lily streicht sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn und schaut sich um. Ich muss zugeben, dass die Aussicht einfach fantastisch ist. Man kann über den gesamten Park bis hin zu den Ausläufern des Waldes sehen. Es ist ein wundervoller Tag. Der Himmel ist blau und wolkenlos. 60 Meter.

Gleich haben wir die maximale Höhe erreicht, und das Karussell wird damit beginnen, sich zu drehen. Wir befinden uns weit über den Baumkronen. Die Menschen unten sind zu kleinen Punkten geschrumpft und sehen aus wie Miniaturfiguren in einer Modelllandschaft. Die Luft wirkt hier oben viel reiner und unverbrauchter, und Lily nimmt einen tiefen Atemzug. Besorgt bemerke ich, dass sich am Rande ihres Sichtfeldes erneut schwarzer Nebel gebildet hat. Das gleiche seltsame Phänomen wie vorhin. Zum vierten Mal an diesem Tag.

»Prinzessin?«, meldet sich Devin von der Seite. »Wir sind oben.«

Lily hebt die Hände. Statt zu ihrem Freund hinüberzulangen und seiner unausgesprochenen Aufforderung nachzukommen, greift sie nach dem Verschluss vor ihrem Bauch. Mit einem Klicken öffnet sich ihr Sicherheitsgurt. Gleichzeitig wird sie von einer gigantischen Welle der Angst durchflutet. Ihr Magen verkrampft sich zu einem harten Knoten, und in ihr steigt Übelkeit hoch.

Was tut sie da?

Nein. Nein, nein, nein.

Auch Devin hat erkannt, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. »Prinzessin?«, wiederholt er alarmiert. Seine Stimme klingt bei Weitem nicht mehr so selbstgefällig wie zuvor. »Was zum Teufel machst du da?« Er starrt sie unschlüssig an und scheint zu überlegen, ob er etwas tun soll. Ja, du Idiot. Halt sie fest!

Lily ignoriert Devins Frage, drückt mit dem Zeigefinger den Dorn und löst die Verriegelung. Mit einer kräftigen Bewegung reißt sie den metallenen Bügel nach oben über ihren Kopf und sitzt nun völlig ungesichert in 80 Metern Höhe. In ihr breitet sich eisige Furcht aus, und sie beginnt heftig zu zittern.

Ich will aufwachen.

Ich muss aufwachen.

Irgendetwas läuft gerade unfassbar schief.

Ich kann nicht aufwachen.

Wieso begibt sie sich freiwillig in Lebensgefahr? Ist sie ein Adrenalinjunkie? Ausgeschlossen, das wüsste ich. Ich habe die Akten mehrfach und wie immer äußerst sorgfältig gelesen und auswendig gelernt. Außerdem empfindet sie statt eines reizvollen Kicks lähmendes Entsetzen und alles überschattende Panik. Todesangst.

Sie will das nicht.

Weshalb tut sie es trotzdem?

Der Wind, der Lilys Haut eben noch zart gestreichelt hat, erscheint mir nun gnadenlos und bösartig. Er tastet mit klammen Fingern nach ihr, um sie in die Tiefe zu ziehen.

»Lily!«, brüllt Devin neben ihr und streckt jetzt endlich den Arm nach seiner Freundin aus. Er bekommt den Ärmel ihrer dünnen Sommerbluse zu fassen.

Im selben Moment wirft sich Lily mit Schwung aus dem Doppelsitz.

Oh Gott. Nein.

Sie hat keine Chance.

»Lily!«

Mit einem endgültigen Geräusch reißt der leichte Stoff, den Devin verkrampft umklammert. Erbarmungslos wird Lily fortgerissen und der Erde entgegengeschleudert.

Schon Sekundenbruchteile später höre ich nichts mehr von Devins hysterischen Schreien.

Mit erschreckender Klarheit realisiere ich, dass diese Reise bloß mit dem Tod enden kann. Soeben durchlebe ich die letzten Sekunden dieses Lebens.

Lily stürzt rasend schnell in die Tiefe, kann oben und unten nicht mehr unterscheiden. Der freie Fall ist unermesslich lang und scheint gleichzeitig nur wenige Augenblicke zu dauern. Die letzten Momente ihrer Existenz verbringe ich damit, mich für den Aufprall zu wappnen.

Vergeblich.

Nichts kann mich auf diese Schmerzen vorbereiten. Mit zerstörerischer Wucht schlägt Lily am Boden auf, und ich spüre bei vollem Bewusstsein, wie ihr Körper förmlich in Stücke gerissen wird. Unvorstellbare Qual. Dann wird die Welt endlich schwarz.

1 | Haltung bewahren

Äußerst angespannt betrete ich den Club, in dem später die Band meines Links auftreten wird. Ich kann sämtliche Informationen im Schlaf, bin meine Methodik mehrfach im Kopf durchgegangen und habe Alternativen entwickelt, sollte etwas nicht so laufen wie geplant. Zum ersten Mal dem Auftrag gegenüberzustehen, den man bisher nur aus Akten mit Berichten, Zusammenfassungen und Bildern kennt, ist ein besonderer Moment, auf den wir Regulatoren lange hinarbeiten. Es ist also nicht außergewöhnlich, vor dem Erstkontakt nervös zu sein. Bei mir kommt allerdings noch dazu, dass mein letzter Auftrag in einer Katastrophe geendet hat. Ich kann mir keinen weiteren Fehler leisten. Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen und schiebe den Gedanken an Lily weit weg.

Bisher sind erst wenige Leute da. Auch von der Gruppe meiner Mitschüler, mit denen ich mich treffen will, fehlt jede Spur.

Das kommt mir gelegen, denn es ist mein erster Besuch im Saitensprung. Mein überpünktliches Erscheinen verschafft mir die Möglichkeit, mich in Ruhe zu orientieren und mir einen ersten Eindruck zu verschaffen, was mir später sicher nützlich sein wird. Ich muss für alle Eventualitäten gerüstet sein.

Als Erstes suche ich die Toiletten auf, wo ich im fleckigen Spiegel mein Aussehen überprüfe. Passend zum Anlass habe ich es mit dem Make-up nicht übertrieben, sondern lediglich meine grauen Augen mit einem dunklen Lidstrich betont und etwas Mascara aufgetragen.

Meine Miene wirkt entspannt, aber mein blasses Gesicht verrät, dass es in meinem Innern ganz anders aussieht. Verärgert kneife ich mir in die Wangen, um etwas Farbe zu bekommen. So ein Mist. Selbstbewusstes Auftreten ist unverzichtbarer Bestandteil meiner Taktik. Unsicherheit könnte die gesamte Strategie ruinieren. Ich drehe am Wasserhahn, halte die Handgelenke unter den kalten Strahl und fahre mir anschließend mit gespreizten Fingern durch meine kinnlangen, kastanienbraunen Locken. Währenddessen konzentriere ich mich auf die von NeuroGaming Systems entworfenen Grundsätze.

Keine Gefühle zeigen.

Haltung bewahren in allen Lebenslagen.

Ich bin perfekt vorbereitet. Es wird alles reibungslos funktionieren.

Im Verlauf der folgenden Viertelstunde schlendere ich scheinbar ziellos durch den Club, sichte in Wirklichkeit aber die Umgebung. Obwohl kaum Gäste da sind, riecht es schal und abgestanden. Trotz des Rauchverbots hängt unterschwellig der Geruch von kaltem Qualm in der Luft. Vor einem langen Tresen, der sich an der rechten Seite des Raumes erstreckt, steht eine Reihe Barhocker. Ansonsten gibt es eine freie Fläche vor der Bühne und einige Tischgruppen an den Wänden. Alles in allem ist der Club eher von der kleineren Sorte, und es ist offensichtlich, dass das Saitensprung schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Theke weist verschiedene Flecken und Kratzer auf, das Leder der Sitzgelegenheiten ist brüchig, und der Lack an den Tischen ist teilweise abgeplatzt. Die Wände hängen voll mit Plakaten von Bands, die im Verlauf der letzten Jahre – oder besser Jahrzehnte – hier aufgetreten sind. Ob als Hommage an die Musiker oder zur Tarnung von Rissen im Verputz, kann ich nicht sagen. Das einzig Bemerkenswerte sind die zahlreichen Gitarren- und Basssaiten, die den Club schmücken und seinen Namen aufgreifen.

Konzentriert mustere ich den etwas erhöhten Bühnenbereich an der Stirnseite des Raums, auf dem später die Musiker stehen werden. Er ist durch eine improvisierte Metallabsperrung abgetrennt und nur über eine schmale Treppe am rechten Rand zu erreichen. Offenbar existiert kein Backstage-Raum. Hätte mich auch gewundert. Abgesehen davon bezweifle ich, dass die Gage der Musiker aus mehr als Freigetränken besteht.

Die Black Biscuits, wie sich die Band meines Links nennt, spielen bereits zum dritten Mal im Saitensprung. Das stand in seiner Akte, außerdem erkenne ich in der Masse der Plakate die gekreuzten Sticks unter einem stilisierten Keks, die sich die Musiker als Logo ausgesucht haben.

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass es keinen anderen Weg auf die Bühne gibt, stelle ich mich an die Theke und warte.

Meine Freunde erscheinen etwa fünfzehn Minuten später. Ich hebe die Hand, um auf mich aufmerksam zu machen. Glücklicherweise entdecken sie mich und kämpfen sich durch den mittlerweile gut gefüllten Innenraum.

»Nora«, begrüßt mich Alice, die mit ihrem eleganten Kleid eher für ein klassisches Konzert als für einen Abend im Club angezogen ist. »Bist du schon lange da?«

»Es geht«, erwidere ich vage und mustere die anderen. Bastian und Felix tragen beide dunkle Hemden, während sich Marie für eine rote Bluse entschieden hat. Gegen sie wirke ich in meinem mehrfach gewaschenen Bandshirt fast abgerissen. Sehr gut.

Bastian drängt sich neben mich an die Bar, wobei er um ein Haar mit dem Arm meine Bierflasche vom Tresen wischt. Es hat einige Wochen gedauert, mich an den herben Geschmack zu gewöhnen und mir meine Abneigung nicht anmerken zu lassen. Auch die Wahl des Getränks gehört zu dem sorgsam ausgearbeiteten Plan, den ich heute Abend verfolge.

Nachdem er für sich und die anderen Getränke bestellt hat, dreht sich Bastian komplett zu mir um. »Guardian?«, liest er von meinem T-Shirt ab. »Interessante Wahl. Ist das von einem Film? Und seit wann trinkst du Bier?«

»Eine Progressive-Metal-Band«, erkläre ich und übergehe seine zweite Frage.

»War mir nicht klar, dass du solche Musik magst«, mischt sich Marie ein. »Aber von dir bekommt man ohnehin kaum etwas mit.«

»Das stimmt«, bekräftigt Alice. »Seit deiner Aufnahme in dieses Begabtenförderungsprogramm sieht man wenig von dir. Wir waren total von der Rolle, dass ausgerechnet du vorgeschlagen hast, gemeinsam ein Konzert zu besuchen.«

»Umso schöner, dass wir heute etwas zusammen machen«, gebe ich mit einem Lächeln zurück und ignoriere die Spitze in ihrem letzten Satz. Natürlich hat sie recht. Im Verlauf der letzten zwei Jahre haben mich die anderen außerhalb des Unterrichts kaum zu Gesicht bekommen. Ich kann froh sein, dass sie sich überhaupt darauf eingelassen haben, mich in den Club zu begleiten. Die Arbeit für NGS macht einsam und entfremdet mich meinen Freunden immer mehr. Früher war es selbstverständlich, gemeinsam etwas zu unternehmen. Das fehlt mir. Sie fehlen mir.

Mittlerweile hat der Leadgitarrist der Black Biscuits die Bühne betreten und fängt an, sein Instrument zu stimmen. Eine Welle der Nervosität überläuft mich. Gleich werde ich meinem Link zum ersten Mal persönlich gegenüberstehen. Ich strecke mich und halte Ausschau nach weiteren Bandmitgliedern, aber bisher ist der Gitarrist alleine. Dafür quetscht sich ein dicker Typ in einem löchrigen Shirt, der das Durchschnittsalter garantiert um die Hälfte hebt, neben mich und bestellt mit einer ausufernden Geste ein Bier. Seiner Fahne nach zu urteilen, hat er bereits mit deutlich härteren Sachen vorgeglüht.

Wieder spähe ich zur Bühne. Inzwischen hat sich auch der Rhythmusgitarrist eingefunden. Hinter der Bass Drum entdecke ich den blonden Schlagzeuger, der an seiner Fußmaschine herumschraubt.

Nach weiteren fünf Minuten, in denen ich mich darauf konzentrieren muss, nicht ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu wippen, betritt endlich mein Link gemeinsam mit dem Sänger die Bühne.

Bei seinem Anblick bleibt mir für einen Moment die Luft weg. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Kerl mit dem Bier rammt mir mit voller Wucht seinen Ellbogen in den Magen.

»Sorry, Kleine«, lallt er undeutlich, dreht sich um, wobei er einen beträchtlichen Schwung seines Getränks auf dem Boden verteilt, und verschwindet torkelnd in der Menge.

Ich drücke meine Hand auf die schmerzende Stelle und ringe um Atem. Idiot.

»Alles in Ordnung?«, erkundigt sich Felix besorgt.

»Ja«, stoße ich abgehackt hervor und warte darauf, dass das fiese Stechen abklingt. Dann hebe ich erneut den Kopf, um endlich meinen Link ohne unliebsame Ablenkung zu betrachten.

Okay. Er ist … hübsch.

Bereits bei der Durchsicht seiner Akte war mir klar, dass Alex recht ansehnlich ist, aber die Realität übertrifft die Bilder bei Weitem.

Das Grün seiner Augen ist so durchdringend, dass ich es sogar auf die Entfernung erkenne, und seine Haare glänzen im Scheinwerferlicht fast schwarz. Er trägt eine ausgewaschene Jeans, die ihm tief auf den Hüften hängt, darauf ein dunkelgraues Shirt mit einem unauffälligen Druck. Im Gegensatz zu der schlichten Uhr an seinem linken Handgelenk hat er um das rechte mehrere Lederbänder geschlungen, die ein Drittel seines Unterarms bedecken.

Ich muss zugeben, dass er nicht nur hübsch ist, sondern verdammt gut aussieht.

Ohne mir eine Regung anmerken zu lassen, beobachte ich, wie er sich seinen Bass umhängt und mit routinierten Bewegungen die Saiten nachstimmt.

Nacheinander nicken die Musiker dem Schlagzeuger zu, der mittlerweile hinter seinem Set Platz genommen hat. Er gibt vier Schläge vor, und die Band eröffnet ihren ersten Song.

Für einige Minuten erlaube ich mir, einfach zuzuhören und die Musik zu genießen. Eine kurze Auszeit, bevor ich meine Strategie weiterverfolge. Ich war schon ewig nicht mehr zum Spaß unterwegs, geschweige denn auf einem Konzert. Die meisten Abende, die nicht von meiner Arbeit für NeuroGaming Systems in Beschlag genommen werden, verbringe ich mit der Wiederholung des Schulstoffes. Die glänzenden Zukunftsaussichten, die mir NGS nach dem Abi garantiert, nutzen nichts, wenn ich gar nicht bis dahin komme. Immerhin sind gerade Sommerferien, sodass zumindest im schulischen Bereich der Druck etwas nachlässt. Zum Glück, denn mein Job bei NGS wird mir in den kommenden Wochen alles abverlangen.

Resigniert mustere ich die begeisterten Gäste um mich herum, die einen unbeschwerten Abend verbringen, ohne dabei um das Gelingen eines Auftrags bangen zu müssen.

Nach den ersten Songs hat sich die Stimmung im Club deutlich aufgeheizt. Zwar sind nicht wahnsinnig viele Menschen anwesend, aber da der Club nur etwa 300 Personen fasst, ist es trotzdem äußerst voll.

Nach stürmischem Applaus und wildem Gejohle aus der ersten Reihe erklingt das Intro von Lost Hope, der Song, den ich mir zur Annäherung auserkoren habe.

Sofort tippe ich Marie auf die Schulter. »Ich würde gerne weiter nach vorne«, brülle ich gegen den dröhnenden Gitarrensound an.

Alice lehnt sich zur Seite und flüstert etwas in Maries Ohr. Diese antwortet umgehend, und beide tauschen einen wissenden Blick.

Ich nehme mir fest vor, dass ich mich nach dem erfolgreich abgeschlossenen Auftrag mehr um das Aufrechterhalten unserer Freundschaft kümmere, obwohl das ziemlich herausfordernd werden dürfte. NGS vereinnahmt mich komplett.

Ohne auf eine Reaktion zu warten, drehe ich mich um und schiebe mich entschlossen durch die Menge. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass mir die Gruppe zögerlich folgt. Dennoch verlangsame ich mein Tempo kaum und bemühe mich um die nötige professionelle Abgeklärtheit. Es macht nichts, wenn ich die vier jetzt verliere. Bloß in den Pausen zwischen den Sets sollte ich nicht alleine herumstehen. Sollte alles nach Plan verlaufen, wird mich Alex irgendwann ansprechen, und es würde seltsam wirken, wenn ich ohne Begleitung unterwegs wäre.

Ich ignoriere das schlechte Gewissen beim Gedanken daran, dass die anderen heute nur als Mittel zum Zweck dienen, und erkämpfe mir unter vollem Einsatz meiner Ellbogen einen Platz mit freiem Blick zur Bühne, ungefähr zwei Meter Luftlinie von meinem Link entfernt. Im selben Moment beginnt das Basssolo. Punktlandung.

Mit geschlossenen Augen spielt Alex den komplizierten Lauf, der alle Bassistenwitze, die ich im Verlauf meiner Vorbereitung gelesen habe, Lügen straft. Lead- und Rhythmusgitarre bilden gemeinsam mit dem Schlagzeug eine Klangfläche, unter welcher der satte Ton des Basses liegt.

Sobald Alex den Kopf hebt, wird sein Blick genau auf mich fallen. Unauffällig ziehe ich mein T-Shirt zurecht, sodass er den Bandschriftzug auf keinen Fall übersehen kann. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet habe, hefte ich meine Augen auf ihn. Alex wirkt völlig versunken, als bekäme er nicht das Geringste von seiner Umwelt mit. Als existierten lediglich er und sein Instrument. Sein Ausdruck ist so voller Leidenschaft, dass es mir überhaupt nicht schwerfällt, ihn pausenlos anzustarren. Ganz im Gegenteil.

Zum ersten Mal seitdem mir der Auftrag zugewiesen wurde, überkommt mich Vorfreude. Ich freue mich darauf, die Verlinkung mit ihm einzugehen und diese heftigen Emotionen in seinem Bewusstsein mitzuerleben. Es muss ein gigantisches Gefühl sein, sich derart in der Musik zu verlieren. Vielleicht habe ich Glück und kann während der Synchronisierung ein Konzert miterleben. Es ist einfach unglaublich, wie er sich fallen lässt und dabei alles andere vergisst.

Mit sicherem Griff beendet er den Lauf, hebt den Kopf und sieht mir dabei direkt in die Augen. Ich habe meine Position tatsächlich ideal gewählt.

Gelassen erwidere ich seinen Blick und achte darauf, nicht zu lächeln. Seine Pupillen sind geweitet, seine Lippen leicht geöffnet, und es scheint, als würde er nur langsam in der Realität ankommen. Wenn ich nicht in seiner Akte gelesen hätte, dass er Zigaretten und Drogen verabscheut, würde ich sagen, er hat etwas eingeworfen. So weiß ich, dass es die Musik ist, die das mit ihm macht. Für einen Moment sehen wir einander an, dann wandert sein Blick weiter.

Sehr gut. Der erste Kontakt wurde hergestellt.

Während der letzten Takte und auch während des nächsten Titels, in dem er den Gesangspart übernimmt, halte ich die Augen kontinuierlich auf ihn gerichtet. Seine tiefe, leicht heisere Stimme, die perfekt zu dem melancholischen Song passt, führt dazu, dass er kurzzeitig das Interesse des hysterischen Groupiehaufens vor der Bühne auf sich zieht. Erst nachdem er sein Solo unter lautem Gekreische beendet hat, wenden sich alle wieder dem Sänger zu. Alle außer mir. Allmählich müsste es ihm auffallen.

Im Verlauf des nächsten Stückes ist es endlich so weit. Er betrachtet das Publikum, bleibt an meinen Augen hängen, wandert weiter und kehrt Sekundenbruchteile später zu mir zurück. Obwohl der Sänger gerade Anstalten macht, unter hysterischem Quietschen der Fans sein Shirt auszuziehen, fixiere ich Alex, der nachdenklich die Stirn runzelt. An seiner Reaktion erkenne ich, dass wir einen Schlüsselmoment erreicht haben. Wenn ich ihn weiterhin bewegungslos taxiere, wird er mich als unheimlich wahrnehmen und im schlimmsten Fall als Verrückte abtun. Es ist Zeit für den nächsten Schritt.

Während ich ihm weiterhin tief in die Augen schaue, verziehe ich die Lippen zu der Andeutung eines Lächelns. Minimal und lediglich so viel, dass sich mein Ausdruck von Ernsthaftigkeit zu Neugierde ändert, doch so wenig, dass kaum nachvollziehbar ist, von wem die Annäherung ausging. Unzählige Male musste ich diesen Wechsel vor dem Spiegel üben, um ihn perfekt zu beherrschen.

Alex’ Miene wandelt sich ebenfalls. Er legt den Kopf schräg und hebt fragend die Brauen. Ich spiegle seine Bewegung, woraufhin er schief grinst. Ohne die Verbindung abreißen zu lassen, setze ich meine Bierflasche an die Lippen und trinke einen Schluck. Er verfolgt aufmerksam die Bewegung und mustert mich derart intensiv, dass mir unwillkürlich ein Schauer den Rücken hinabläuft. Während die Menschenmenge um uns herum weiterhin tobt, befinden wir uns in unserer eigenen Welt, führen einen stummen Dialog aus spärlicher Mimik und Gestik.

Als der Sänger die erste Pause ankündigt und wir gezwungen werden, den Kontakt abzubrechen, bin ich sicher, Alex’ Interesse geweckt zu haben. Umso überraschender ist es, dass er sein Instrument zur Seite stellt und gemeinsam mit dem Drummer die Bühne verlässt, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich unterdrücke ein Seufzen. Offenbar ist er nicht so leicht zu manipulieren, wie ich dachte. Dafür macht er mich deutlich nervöser, als ich dachte.

Scheinbar ungerührt wende ich mich zu meinen Freunden um und lasse mich von ihnen in eine oberflächliche Unterhaltung verstricken. Immer wieder schiele ich auf meine Armbanduhr und warte darauf, dass die Band ihre Pause beendet.

Um heute zu einem nennenswerten Ergebnis zu kommen, muss ich im nächsten Set offensiver werden. Ärgerlich und ziemlich seltsam. Ich hätte wetten können, dass Alex auf meine Provokation angesprungen ist. Immerhin hatte er während der letzten Songs ausschließlich mich angeschaut. Seine volle Aufmerksamkeit lag auf mir. Alles ist optimal gelaufen. Ich beiße mir auf die Lippen und dränge die aufsteigende Panik zurück. Wenn diese Annäherung schiefgeht, stecke ich in heftigen Schwierigkeiten.

Mit Verspätung bemerke ich, dass die Diskussion der anderen verstummt ist. Alle fixieren einen Punkt hinter mir.

»Nora?«, fragt Bastian und deutet mit dem Kinn an mir vorbei.

Irritiert drehe ich mich um und sehe direkt in ein Paar grüner Augen. Alex. Er hat sich auf die mittlere Stufe der Bühnentreppe gekniet und starrt mich wortlos an. Das ist vermutlich die Revanche für meine Herausforderung im ersten Set. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass er auf Konfrontationskurs geht. Anscheinend will er es auf ein Kräftemessen anlegen. Kann er haben.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen habe ich mich der neuen Situation angepasst und erwidere seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Keiner von uns beiden gibt einen Ton von sich.

Zugegebenermaßen beeindruckt mich seine Reaktion. Bisher ist es keinem meiner Links gelungen, mich zu überraschen. Immerhin bereite ich mich auf jeden Einsatz gewissenhaft vor und kann die Verhaltensweisen meiner Aufträge mit fast hundertprozentiger Trefferquote vorhersagen. Außer bei Alex.

Hinter mir höre ich Marie und Alice kichern. Das kann ich ihnen nicht verdenken, denn mittlerweile ist bestimmt eine Minute vergangen. Alex und ich mustern uns weiterhin bewegungslos.

Das Grün seiner Augen ist von winzigen, goldenen Sprenkeln durchsetzt, die wirken, als würden sie im Licht flirren. Seine Wimpern sind unglaublich dicht und lang. Aus den zahlreichen Nahaufnahmen in seiner Akte ging das nicht hervor, und ich erkenne es nur, weil unsere Gesichter lediglich wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. Ich lese in seiner Miene Belustigung, leisen Spott, aber auch unverhohlene Sympathie.

Gespannt warte ich darauf, wie sich die Situation weiterentwickelt. Gleichzeitig spüre ich, wie sich in meinem Magen ein Kribbeln ausbreitet. Für einige Sekunden vergesse ich, dass wir uns inmitten einer Menschenmenge befinden, und schaue wie hypnotisiert in seine Augen, während sich mein Herzschlag fast unmerklich beschleunigt.

»Wir machen weiter«, informiert plötzlich eine Stimme durchs Mikrofon. »Würde sich der Playboy am Bass von seiner neuen Bekanntschaft losreißen und auf die Bühne kommen?«

Ich lande unsanft wieder in der Realität, und auch Alex hebt bedauernd die Schultern. Dann nickt er und senkt den Kopf, um etwas aus seiner Hosentasche zu holen.

Einen Filzstift.

Ohne ein Wort deutet er auf meinen linken Arm und streckt die Hand aus. Offensichtlich will er mir seine Nummer geben.

Umgehend leiste ich seiner Aufforderung Folge, woraufhin er mein Gelenk mit den Fingern umschließt. Sie sind erstaunlich kühl und schicken ein Summen meinen Arm empor. Ich umfasse die Bierflasche fester, die ich noch immer in der rechten Hand halte.

Mit den Zähnen entfernt er die Kappe des Stiftes und beugt sich nach vorne. Erleichterung durchflutet mich, und ich verberge mein unbeabsichtigtes Aufatmen hinter einem ironischen Grinsen. Ich werde bei meinem NGS-Bericht morgen früh ein Ergebnis vorweisen können.

Natürlich ist seine Nummer in den Akten vermerkt, und ich kann sie längst auswendig, doch wenn er sie mir offiziell gibt, hat er den ersten Schritt getan und bietet mir damit eine Kontaktaufnahme an.

Alex drückt konzentriert die Spitze des Stifts auf meine Haut. Er ist mir so nah, dass ich trotz der stickigen Luft des Clubs sein Rasierwasser riechen kann. Herb und fruchtig.

Dann beginnt er langsam zu schreiben, wobei ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckt.

Nachdem er fertig ist, streicht er mit den Fingerspitzen über meinen Unterarm, was das Kribbeln in meinem Magen schlagartig verstärkt. Er drückt die Kappe auf den Stift, legt mir diesen in die Hand und schließt meine Finger darum.

Ich inspiziere den Schriftzug und kann mit Mühe ein Ächzen unterdrücken. Entgeistert schaue ich zu Alex, auf meinen Unterarm und danach wieder zu ihm.

Er nickt mir freundlich zu, dreht sich um und verschwindet mit einem leisen Lachen auf die Bühne.

Während ich ihm fassungslos hinterherstarre, werden mir zwei Dinge klar:

Er hat mir gerade nicht seine Nummer, sondern ein Autogramm gegeben.

Und dieser Auftrag wird bei Weitem nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe, denn ich fürchte, was Gerissenheit angeht, ist er mir ebenbürtig.

2 | Prinzessin

»Nora?« Alice kichert aufgeregt. »Was war das denn? Hat der dir gerade ein Autogramm gegeben?«

»Offensichtlich«, erwidere ich mit einem gezwungenen Grinsen, um mir meine Irritation nicht anmerken zu lassen. Verärgert stecke ich den Stift, den er mir in die Hand gedrückt hat, in meine Hosentasche. Verdammter Mist. Das ist richtig schlecht gelaufen.

»Kennt ihr euch?«, hakt Marie nach.

»Wieso habt ihr euch so lange angeschaut?«, fragt Bastian gleichzeitig.

»Ich kenne ihn nicht, und ich weiß auch nicht, was das sollte«, erkläre ich knapp. »Ich habe einfach mitgemacht.«

»Zumindest war es eine außergewöhnliche Art, dir sein Interesse zu bekunden«, stellt Marie fest.

Ich verzichte auf den Hinweis, dass Alex’ scheinbare Initiative eher als Reaktion auf meinen Starrangriff oder sogar als offene Provokation zu verstehen ist. Abgesehen davon ist es unangenehm, dass die ganze Gruppe Zeuge meiner Niederlage geworden ist, selbst wenn sie diese nicht als solche erkannt haben.

»Ich fand’s seltsam«, sagt Felix schulterzuckend und wendet sich der Bühne zu, auf der die Black Biscuits gerade ins zweite Set starten.

Alex ist mit seinem Instrument beschäftigt und wirkt so neutral, als wäre zwischen uns nicht das Geringste passiert. Er sieht nicht mal ansatzweise in meine Richtung. Scheiße.

Angespannt denke ich über mein weiteres Vorgehen nach. Jetzt ist auf jeden Fall eine Veränderung angebracht. Nach diesem Misserfolg muss ich von meinem ursprünglichen Plan, erneuten Blickkontakt aufzunehmen, abweichen. Das wäre nach seiner Aktion ein Rückschritt und zudem total lächerlich. Er hat garantiert bemerkt, dass er mich für einige Sekunden aus dem Konzept gebracht hat. Gereizt stoße ich die Luft durch die Nase aus. Ich werde wohl doch die Initiative ergreifen müssen, um nicht ohne Ergebnis dazustehen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was die Chefs von NGS dazu sagen würden.

Nachdem sich die Aufmerksamkeit der Gäste der Bühne zugewandt hat, beschließe ich, mir fürs zweite Set ein neues Getränk zu holen. Vielleicht zur Abwechslung etwas, das mir wirklich schmeckt. Meine Taktik, seine Vorlieben zu imitieren und dadurch seine Sympathie zu erlangen, scheint wenig zu nützen.

»Gleich wieder da«, schreie ich in Maries Ohr und halte die leere Flasche hoch. Sie dreht sich halb um und nickt. Ohne Alex weiter zu beachten, schiebe ich mich durch die Menge Richtung Bar. Dort angekommen muss ich feststellen, dass diese entgegen meiner Erwartung gut besucht ist. Am anderen Ende des Tresens entdecke ich eine Lücke, die ich umgehend ansteuere. Dabei kreisen meine Gedanken kontinuierlich um Alex und um die Möglichkeit eines neuen Annäherungsversuchs. Kurz bevor ich mein Ziel erreiche, stolpere ich über ein Stuhlbein, eine Unebenheit im Boden oder über einen Fuß – genau kann ich das im Dämmerlicht nicht ausmachen. Ich fange mich mit einem Ausfallschritt, stoße allerdings ziemlich heftig an einen Typ im dunkelgrünen Muskelshirt.

»Sorr–« Die Entschuldigung bleibt mir im Hals stecken, als ich mich umdrehe und wahrnehme, wem ich fast die Flasche aus der Hand geschlagen hätte.

»Devin?«, rutscht es mir unüberlegt heraus. Sofort beiße ich mir auf die Zunge, aber es ist zu spät. Unprofessionell. Das kann nur an der vorangegangenen Pleite mit Alex liegen, die mich völlig durcheinandergebracht hat. Mein amateurhaftes Verhalten ist jedoch mein geringstes Problem. Der Anblick des muskulösen, etwas grobschlächtigen Kerls stößt die Tür in meinem Gedächtnis wieder auf, die ich in den vergangenen drei Monaten sorgsam verschlossen gehalten hatte. Schonungslos fluten die Erinnerungen an die letzte Bewusstseinssynchronisierung meine Wahrnehmung. Devin und Lily auf dem Küchentisch. Devin und Lily auf der Couch. Auf der Treppe. Im Auto. Oh mein Gott.

Nachdem ich ihm heute im eigenen statt in Lilys Körper gegenüberstehe, spüre ich statt überschwänglicher Gefühle lediglich Abneigung gepaart mit unterschwelliger Angst. Devin, der sie ungläubig anstarrt. Devin, der den Ärmel ihrer Bluse krampfhaft umklammert, während sie sich in den Tod stürzt. Der Ausdruck namenlosen Entsetzens auf seinem Gesicht.

Ich blinzle und dränge die verstörenden Bilder gewaltsam zurück.

»Kennst du die Kleine?«

Erst jetzt realisiere ich die Blondine in einem tief ausgeschnittenen Top, die an Devins Arm hängt und mit rot lackierten Fingernägeln seinen Nacken streichelt. Tina. Ich wusste es. Sie hat vermutlich bei der ersten Gelegenheit ihre Klauen in ihn geschlagen.

Während ich von regelmäßigen Albträumen heimgesucht werde, hat sich der Arsch also mit Lilys angeblich bester Freundin getröstet. Er scheint ja von ihrem Verlust zutiefst getroffen zu sein.

Devin hebt unentschlossen die Schultern. »Glaube nicht.« Er starrt mich an und sucht offenbar nach Anhaltspunkten.

»Mir ist, als hätte ich sie schon einmal irgendwo gesehen«, behauptet Tina. »Vielleicht eine dieser armseligen Stalkerinnen aus der Mittelstufe, die dir überall hinterherrennen?«

Devin glotzt mich weiterhin an. Dabei spiegelt sich seine begrenzte Denkfähigkeit deutlich in seiner Miene wider. Trottel.

»Nee«, entscheidet er, aber ich höre an seinem Tonfall, dass er selbst an seinen Worten zweifelt. »Kenn ich nicht.«

Ich unterdrücke ein erleichtertes Aufatmen. Glück gehabt.

Jetzt sollte ich schnell aus seiner Reichweite verschwinden, bevor ihm klar wird, dass ich doch keine gänzlich Unbekannte bin. Immerhin hatte ich mich in den Wochen vor der Verlinkung ständig in Lilys Nähe aufgehalten, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Obwohl ich darauf geachtet hatte, so wenig Freunde wie möglich zu treffen, ließ es sich nicht komplett umgehen. Insbesondere Devin ist andauernd um sie herumgeschwirrt und hat versucht, sie mit seinem fragwürdigen Charme zu beeindrucken. Mit Erfolg.

Er darf auf keinen Fall die Brücke von Lily zu mir schlagen, denn das könnte Aufmerksamkeit auf NGS lenken. Sichtbare Verbindungen zwischen Regulator und Firma sind unfassbar riskant. Die Chefs legen größten Wert darauf, im Verborgenen zu agieren.

Ich muss dringend hier weg. Wenn mich Alex mit seiner blöden Aktion nicht verunsichert hätte, wäre mir der Schnitzer mit Devins Namen garantiert nicht unterlaufen.

»Da hörst du’s.« Tina grinst träge. »Keine Ahnung, wer du bist. Gib’s auf, Kleine. Du spielst nicht in seiner Liga.«

Devin hat sich von meinem unverhofften Angriff erholt und zieht seine neue Freundin an sich. »Wollen wir nach vorne, Prinzessin?«

Prinzessin.

So hat er Lily auch immer genannt.

Der Kosename löst einen erneuten Ansturm von Erinnerungen aus. Es fühlt sich an, als hätte mir Devin ein Messer in den Magen gerammt.

Unzählige Male habe ich mit Lennard darüber geredet, um die Tragödie irgendwie zu verarbeiten. In den Wochen nach Lilys Tod war ich fast täglich in seinem Büro, wo wir stundenlange Gespräche geführt haben. Allen gemeinsam war die daraus resultierende Erkenntnis, dass mir ein schrecklicher Fehler unterlaufen ist, der Lily das Leben gekostet hat. Als könnte ich das jemals vergessen. Als könnte ich mir mein Versagen bei dieser Synchro verzeihen. Wenn ich aufgewacht wäre …

Ich balle die Hände zu Fäusten, sodass sich meine Fingernägel in die Handflächen bohren. Der Schmerz holt mich zurück in die Wirklichkeit.

»Hör auf, ihn anzuschmachten, du blödes Huhn«, fährt mich Tina an.

Bevor ich mich verteidigen kann, ist sie bereits einen Schritt auf mich zugetreten. Dadurch habe ich nicht nur weitgehend freien Blick auf ihre beträchtliche Oberweite, sondern kann zusätzlich ihr aufdringliches Parfum riechen.

»Hast du’s nicht kapiert, Kleine? Vergiss es. Devin will nichts von billigen Schlampen wie dir.«

Billige Schlampen wie mir? Die Art, wie sie besitzergreifend über seinen Oberschenkel fährt, weist eher darauf hin, dass sie die Schlampe ist. Wenn die wüsste, dass ich als Lily schon alles von ihrem Angebeteten gesehen habe …

Die beiden sind erst kurz vor der Synchro ein Paar geworden, was ihr Schlafverhalten extrem durcheinandergebracht hat. Es war anstrengend, sich ihrem Rhythmus anzupassen, insbesondere weil die beiden die Osterferien dazu genutzt hatten, in sämtlichen Zimmern des Hauses aktiv zu sein. Und Devin wohnt in einer Villa.

Während Tina darauf lauert, dass ich aufgrund ihrer Gehässigkeit in Tränen ausbreche, entscheide ich mich, ihr etwas zum Nachdenken mitzugeben. Ich beuge mich ein wenig zu ihr. »Hat er dir schon seinen Anker gezeigt, Prinzessin?«

Für einen Moment bleibt Tina der Mund offen stehen. Dann wendet sie sich empört Devin zu, der wiederum mich anstarrt.

»Woher weiß sie von deinem Tattoo?«, fragt sie schrill. Leider bekomme ich Devins Antwort nicht mehr mit, denn ich mache mich auf dem schnellsten Weg zum Ausgang.

Die Genugtuung hält nicht einmal zwei Minuten. Bereits als ich die Straße erreiche, steigt Frustration in mir empor. Dieser Abend war in jeder Hinsicht ein Reinfall. Alex, der sich – statt in die Falle zu gehen – über mich lustig gemacht hat, und direkt im Anschluss der grobe Fehler bei Devin, der dazu führte, dass ich das Konzert verlassen muss, bevor er sich an mich erinnert.

Haltung bewahren in allen Lebenslagen.

Eigene und virtuelle Kontakte trennen.

Keine Affekthandlungen, die die Mission gefährden könnten.

Ich habe gleich drei von NGS’ goldenen Regeln gebrochen, ganz abgesehen davon, dass ich bei Alex wieder von vorne beginnen muss.

Leise schließe ich die Haustür auf. Es ist erst kurz vor zehn, ich bin deutlich früher zu Hause als erwartet – und erhofft.

»Eleonor? Bist du das?«, erklingt die gedämpfte Stimme meiner Mutter aus dem Wohnzimmer. Sie thront im Schneidersitz auf einer flauschigen Matte und hat die Handflächen über ihrem Kopf aneinandergelegt. Offensichtlich eine ihrer üblichen Yogapositionen.

»Ja, ich –«, setze ich zu einer Ausrede an.

»Warst du in diesen Kleidern unterwegs?«, fragt sie tadelnd. Obwohl ihre Worte vor Missbilligung triefen, ist ihre Miene absolut reglos. Jedes Stirnrunzeln, jede Gefühlsregung könnte zu einer unerwünschten Falte führen. Das will sie auf keinen Fall riskieren.

Ich nicke stumm, denn jede weitere Reaktion wäre verschwendet.

»Du bist zeitig zurück«, bemerkt sie.

»Die Band war schlecht«, erwidere ich mit einem Schulterzucken.

»Schade«, sagt sie gleichgültig.

»Ich werde ein wenig lesen und dann ins Bett gehen«, informiere ich. »Gute Nacht.«

Da sie nicht den Eindruck macht, als würde sie das interessieren, verlasse ich das Wohnzimmer und schließe die Tür hinter mir.

Auf dem Weg nach oben tippe ich eine Nachricht an Marie, um mich zu entschuldigen und meinen überstürzten Aufbruch mit plötzlichem Kopfweh zu begründen. Tatsächlich muss ich dafür gar nicht lügen, denn hinter meiner Stirn hat sich ein unterschwelliges Stechen ausgebreitet. Nach den letzten Stunden ist das kein Wunder.

Im Bad putze ich die Zähne, schäle mich aus meinen Kleidern und werfe diese achtlos in die Ecke. Als ich mich unter die Dusche stelle, fällt mein Blick auf den geschwungenen Schriftzug, der meinen Unterarm ziert.

Alexander Theel

Ich seufze resigniert und versuche, zumindest für ein paar Minuten nicht über den vergangenen Fehlschlag und die daraus resultierenden Folgen nachzudenken. Erschöpft drehe ich das Wasser auf und genieße die angenehm warme Temperatur. Beim Verteilen des Schaums berühre ich mit den Fingerspitzen die leichte Erhebung in meinem Nacken. Dort sitzt das Regulator-Implantat mit dem Partnerchip, der als Gegenstück zu Alex’ Nanochip gefertigt wurde, den dieser ohne sein Wissen unter der Haut trägt.

Alex. Gnadenlos holt mich die Realität ein. Morgen um zehn Uhr muss ich mich für meinen Bericht bei NGS einfinden. Natürlich bei André. Er wird mich für das doppelte Scheitern ungespitzt in den Boden rammen. Zuerst Alex, anschließend Devin. Dieser Abend war eine Katastrophe. Trotz meiner umfassenden Vorbereitung hat rein gar nichts funktioniert wie geplant. Und das, nachdem die Chefs deutlich gemacht haben, dass ich mich momentan auf dem Prüfstand befinde.

Nach einer Viertelstunde fruchtloser Grübeleien verlasse ich die Dusche, trockne mich ab und schlüpfe in meinen Schlafanzug, bestehend aus XL-Shirt und Shorts.

Als ich im Bett liege, wandern meine Gedanken fast unmittelbar zu Alex. Die Wärme, die mich bei seiner Berührung durchflutet hat. Das Flattern in meinem Magen bei unserem Blickkontakt.

Entschlossen schiebe ich alle Überlegungen zur Seite und konzentriere mich darauf, meinen Verstand zu leeren. Dank des strengen Trainings von NGS brauche ich nur wenige Minuten, um in den Schlaf zu finden. Allerdings ist er nicht erholsam, und immer wieder muss ich mich fokussieren, um die Albträume zu vertreiben, die ausnahmslos alle Lily, mein Versagen und das bevorstehende Gespräch bei NGS zum Inhalt haben.

Am nächsten Morgen fühle ich mich wie zerschlagen. Der Badezimmerspiegel zeigt erbarmungslos die Spuren einer unruhigen Nacht. Schnell mache ich mich fertig, bin mir jedoch bewusst, dass auch Tonnen von Schminke meine geröteten Augen nicht verbergen können. Selbst wenn ich heute eine schauspielerische Höchstleistung ablege, genügt ein aufmerksamer Blick, um zu sehen, dass der gestrige Abend nicht von Erfolg gekrönt war.

Nachdem ich mich gezwungen habe, zum Frühstück zweimal von einem trockenen Brötchen abzubeißen, nehme ich um kurz nach neun den Zug zum NGS-Gelände. Der Gebäudekomplex befindet sich im Industriegebiet weit vor der Stadt, wodurch ich, je nach Verbindung, bis zu einer halben Stunde unterwegs bin.

Als ich an der Haltestelle vor der Firma aussteige, prüfe ich als Erstes die Uhrzeit. Mir bleibt eine Gnadenfrist von zwanzig Minuten, also mache ich mich nach der Sicherheitskontrolle am Eingang auf den Weg zur Cafeteria.

Das gesamte Gebäudeinnere ist in hellen Cremetönen gehalten, auf dem Boden befindet sich ein dichter Teppich, und an den Wänden hängen abstrakte Gemälde in Pastellfarben, die sich perfekt in das Konzept einfügen. Da ich das alles schon so oft gesehen habe, kann ich mich nicht mehr an der stimmigen Einrichtung erfreuen. Ohne auf meine Umgebung zu achten, steuere ich den Automaten an und drücke auf die passende Taste für eine heiße Schokolade.

Ich weiß zwar jetzt schon, dass ich kaum einen Schluck hinunterkriegen werde, aber zumindest habe ich etwas zu tun – und wenn es nur Warten auf ein Heißgetränk ist. Die Chefs müssen nicht auch noch auf den Videobändern sehen, wie nervös ich vor dem Termin bei André war.

Wenig später sitze ich mit untergeschlagenen Beinen auf einem bequemen Ledersessel und wärme meine kalten Finger am Pappbecher.

»Nora?«

Die unerwartete Ansprache lässt mich zusammenzucken, wodurch ich um ein Haar die Schokolade auf meinem Shirt verteile.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, entschuldigt sich Tess und lässt sich auf den Sessel gegenüber fallen. Sie lehnt sich entspannt zurück und schüttelt ihre rote Lockenmähne aus, deren Farbe sich furchtbar mit ihrer über und über mit pinken Pailletten bedeckten Handtasche beißt.

»Kein Problem«, erwidere ich, und erst jetzt bemerke ich, was es bedeutet, sie hier zu sehen. »Na los, erzähl mir von deiner ersten Synchro!«

»Es war total krass.« Tess atmet einmal tief durch, sichtlich überwältigt von ihren Eindrücken. »Dieses Gefühl, plötzlich jemand anderes zu sein … unbeschreiblich. Natürlich hat man keine Handlungsmöglichkeiten, aber das sorgt dafür, dass man alles noch intensiver wahrnimmt. Mein Link kann windsurfen und hatte dabei riesigen Spaß. Kein Wunder, dass NGS Unmengen an Geld in dieses Konzept steckt. Die Kunden werden ihnen irgendwann die Tür einrennen.«

Ihre Augen leuchten vor Begeisterung. Obwohl Tess bereits 21 ist, also vier Jahre älter als ich, wirkt sie in diesem Moment deutlich jünger.