Opferrechte in europäischer, rechtsvergleichender und österreichischer Perspektive -  - E-Book

Opferrechte in europäischer, rechtsvergleichender und österreichischer Perspektive E-Book

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Beschreibung

Zum Opferrecht in Österreich Die Stellung des Opfers im Strafverfahren hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene ist eine klare Tendenz zur Stärkung der strafprozessualen Opferrechte zu konstatieren. Jüngste Höhepunkte markieren die EU-Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten aus dem Jahr 2012, die in Österreich durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 teilweise umgesetzt wurde, und das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Einblicke in die aktuelle Rechtslage Der vorliegende achte Band der vom WEISSEN RING Österreich herausgegebenen Reihe "Viktimologie und Opferrechte" beschäftigt sich mit dem großen Themenbereich der Opferrechte. Er spannt den Bogen von den einschlägigen europäischen Rechtsakten über einen Vergleich der Opferrechte in den Strafrechtsordnungen Österreichs, Deutschlands und der Schweiz bis hin zu ausgewählten Fragestellungen betreffend Opferrechte in Österreich. Erörtert werden dabei nicht nur Fragen des Strafprozessrechts, sondern auch der Opferhilfe, des Medien-, Zivil- und Zivilprozessrechts. Der Band gibt somit auf breiter Basis Einblick in die aktuelle Rechtslage zu Opferrechten.

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Viktimologie und Opferrechte (VOR)Schriftenreihe der Weisser Ring Forschungsgesellschaft

Band 8

Lyane Sautner/Udo Jesionek (Hrsg.)

Opferrechte in europäischer,rechtsvergleichender undösterreichischer Perspektive

StudienVerlag

InnsbruckWienBozen

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort

I. Grundlagen

Marianne Johanna HilfNeue Maßstäbe durch die EU-RL über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten?

Silvia Ulrich/Ines RösslDas Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt

Michael KilchlingOpferrechte und Restorative Justice

II. Rechtsvergleich Österreich – Deutschland – Schweiz

Lyane SautnerOpferrechte im Strafprozess in Österreich

Heinz SchöchOpferrechte im Strafprozess in Deutschland

Marianne Johanna Hilf/Marianne SchwanderOpferrechte im Strafprozess in der Schweiz

III. Opferrechte in Österreich vor bekannten und neuen Herausforderungen

Udo JesionekOpferrechte in der Kritik

Karin Bruckmüller/Barbara UnterlerchnerSchutz- und Schonungsrechte für Opfer – insbesondere durch die neue individuelle Begutachtung

Dina NachbaurDie richtige Linie. Gesetzliche Grundlagen und praktische Umsetzung der Unterstützungsleistungen für Opfer in Österreich

Wolfgang GappmayerOffene Rechtsfragen der Prozessbegleitung im Strafverfahren

Maria Eder-RiederOpfer und Rechtsmittelrechte

Franz GallaOpfer und Medien – Genügt die geltende Rechtslage den Interessen der Opfer?

Astrid Deixler-Hübner/Alexander MeisingerOpferrechte im Zivilverfahren

Julius Ecker/Erika WagnerZivilrecht und Strafrecht am Beispiel der Opfer sexueller Belästigung – neueste Entwicklungen

Autorinnen und Autoren

Geleitwort

Die Stellung des Opfers im Strafverfahren hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Lange Zeit wurde das Opfer primär als Zeuge gesehen. Seit der Jahrtausendwende steht sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene der Ausbau der Rechte des Opfers im Strafverfahren verstärkt auf der politischen Agenda. Auf Unionsebene haben diese Arbeiten mit der Opferschutz-Richtlinie 2012/29/EU ihren Höhepunkt erreicht. Die Richtlinie, die in Österreich durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 umgesetzt wurde, setzt vor allem mit der individuellen Begutachtung besonderer Schutzbedürfnisse der Opfer und der Verbesserung der Stellung von Opfern einer im EU-Ausland begangenen Tat neue Akzente. Auch zahlreiche Europaratsübereinkommen der letzten Jahre wie das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt verpflichten die Vertragsstaaten, den Schutz und die Unterstützung von Opfern zu gewährleisten. Österreich hat bereits in den vergangenen Jahren konsequent Opferrechte verbessert und Maßnahmen für einen effizienten Opferschutz getroffen. Ich bin daher als Bundesminister für Justiz besonders stolz, dass Österreich im Bereich der Opferrechte und des Opferschutzes eine international anerkannte Vorreiterrolle einnimmt. Dies wird auch von allen Experten ausnahmslos anerkannt.

Vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungen im Bereich der Opferrechte beschäftigt sich der nunmehr vorliegende achte Band der Reihe „Viktimologie und Opferrechte“ mit dem Thema „Opferrechte in europäischer, rechtsvergleichender und österreichischer Perspektive“. Neben grundsätzlichen, länderübergreifenden Themen widmen sich die AutorInnen auch einem unmittelbaren Rechtsvergleich der Stellung des Opfers im Strafprozess in Österreich, Deutschland und der Schweiz sowie aktuellen österreich-spezifischen Fragestellungen.

Ich freue mich, dass die Beiträge das Thema Opferrechte und Opferschutz aus so vielen verschiedenen Perspektiven beleuchten, woran wir uns bei der auch künftigen Weiterentwicklung des Opferschutzes sicher orientieren werden, und wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.

Dr. Wolfgang Brandstetter

Vorwort

Der vorliegende achte Band der vom Weissen Ring Österreich herausgegebenen Reihe „Viktimologie und Opferrechte“ dient der Standortbestimmung im großen Themenbereich der Opferrechte. Er spannt den Bogen von einschlägigen europäischen Rechtsakten über einen Vergleich der Opferrechte in den verwandten Strafrechtsordnungen Österreichs, Deutschlands und der Schweiz bis hin zu ausgewählten Fragestellungen betreffend Opferrechte in Österreich.

Seit im Jahr 2008 in Österreich das Strafprozessreformgesetz 2004 in Kraft trat, steht die Beteiligung von Opfern am Strafprozess im Rang eines Prozessgrundsatzes. Opfer haben das Recht, als Verfahrenssubjekte unabhängig von ihrer Rolle als Zeugin/Zeuge und einer allfälligen Privatbeteiligung am Strafverfahren mitzuwirken. Mit der Ankerkennung von Opfern als Verfahrenssubjekte, in der die Ankerkennung ihrer legitimen Interessen an der Durchführung eines Strafverfahrens zum Ausdruck kommt, wurde Österreich zum Vorreiter im Bereich strafprozessualer Opferrechte in Europa.

Seither ist viel geschehen. 2012 wurde die EU-Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten (OpferschutzRL) erlassen, die den Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren aus dem Jahr 2001 ablöste. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) trat 2014 völkerrechtlich in Kraft und wurde im selben Jahr von Österreich ratifiziert. Eine Reihe von Novellen zur StPO führte zu einem weiteren Ausbau, Umbau und teilweisen Rückbau der Opferrechte. Das Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 diente der Umsetzung der OpferschutzRL. Unterdessen gerieten Opferrechte in der kriminalpolitischen Diskussion zunehmend in Kritik. All das lässt es angebracht erscheinen, den aktuellen Stand der Opferrechte einer breit angelegten Überprüfung zu unterziehen.

Die Grundlage dafür bilden die Beiträge des ersten Teils des Bandes, die einer europäischen Perspektive gewidmet sind: Prof.in Dr.in Marianne Johanna Hilf beleuchtet die OpferschutzRL, die den zentralen Maßstab für Opferrechte in der EU darstellt. Univ.-Prof.in Dr.in Silvia Ulrich und Univ.-Ass.in Mag.a Ines Rössl analysieren die Istanbul-Konvention und gehen dabei der Frage nach, inwiefern sich daraus Umsetzungsbedarf für die österreichische StPO ergibt. Mit besonderem Fokus auf Opfer von Straftaten befasst sich der Beitrag von Dr. Michael Kilchling zu einer Restorative Justice.

Der zweite Teil des Bandes soll einen Rechtsvergleich der strafprozessualen Opferrechte in Österreich, Deutschland und der Schweiz ermöglichen. Die Beiträge von Univ-.Prof.in Dr.in Lyane Sautner, Prof. em. Dr. Heinz Schöch sowie Prof.in Dr.in Marianne Johanna Hilf und Prof.in (FH) Dr.in Marianne Schwander folgen einer einheitlichen Gliederung, was es der Leserin/dem Leser erleichtern soll, Regelungsstrukturen und die spezifische Ausgestaltung von Opferrechten in diesen Ländern zu vergleichen.

Ausgewählten Fragen zu Opferrechten in Österreich ist der dritte Teil des Bandes gewidmet. Die hier versammelten Beiträge setzen zum einen die österreichische Rechtslage in Bezug zu den Vorgaben der einschlägigen europäischen Rechtsakte; zum anderen fließen in sie die Erfahrungen aus nunmehr fast zehn Jahren der Opferbeteiligung im österreichischen Strafprozess ein. Das Themenspektrum reicht über den Strafprozess und die Opferhilfe hinaus und umfasst ebenso Fragen des Medien-, Zivil- und Zivilprozessrechts. Eröffnet wird der dritte Teil des Bandes mit dem Beitrag von Hon.-Prof. Dr. Udo Jesionek, der die strafprozessualen Opferrechte in einen historischen Kontext stellt und sich mit der zunehmenden Kritik an der Opferbeteiligung im Strafverfahren auseinandersetzt. Die Rechte auf Schutz und Schonung von Opfern behandeln Dr.in Karin Bruckmüller und Mag.a Barbara Unterlerchner, MA die dabei besonderes Augenmerk auf die von der OpferschutzRL vorgegebene individuelle Begutachtung von Opfern legen, durch die eine allfällige besondere Schutzbedürftigkeit ermittelt werden soll. Die gesetzlichen Grundlagen und Fragen der praktischen Umsetzung der Opferhilfe in Österreich erörtert MMag.a Dr.in Dina Nachbaur, ebenfalls mit besonderem Fokus auf die aus der OpferschutzRL abzuleitenden neuen Standards für die Unterstützung von Opfern. Offene Rechtsfragen der Prozessbegleitung im Strafverfahren diskutiert RA Ing. Dr. Wolfgang Gappmayer. Univ.-Prof.in DDr.in Maria Eder-Rieder analysiert die Opfern im Strafverfahren zur Verfügung stehenden Rechtsmittelrechte. Der Frage, ob Persönlichkeitsrechte von Opfern im Zusammenhang mit medialer Berichterstattung ausreichend geschützt werden, geht RA Mag. Franz Galla nach. Welche Rechte Opfer in einem Zivilprozess haben, auf den sie nach einem Strafverfahren zur Geltendmachung ihrer zivilrechtlichen Ansprüche häufig angewiesen sind, erörtern Univ.-Prof.in Dr.in Astrid Deixler-Hübner und Univ.-Ass. Mag. Alexander Meisinger. Schließlich zeigen Univ.-Prof.in Dr.in Erika Wagner und Univ.-Ass. Mag. Julius Ecker anhand des neu gefassten Tatbestands der sexuellen Belästigung und daran anknüpfender Ansprüche auf Schadenersatz auf, wie Zivilund Strafrecht im Bereich der Opferrechte miteinander verschränkt sind.

Für die mit großer Sorgfalt und unermüdlichem Einsatz durchgeführte redaktionelle Bearbeitung der Beiträge sei Frau Univ.-Ass.in Mag.a Melanie Halbig, Abteilung für Strafrecht und Rechtspsychologie der Johannes Kepler Universität Linz, herzlich gedankt!

Linz, Wien im März 2017

Lyane Sautner, Udo Jesionek

I. Grundlagen

Marianne Johanna Hilf

Neue Maßstäbe durch die EU-RL über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten?

1 Einführung

1.1 Titel und Inhalt der OpferschutzRL

Die häufig abgekürzt als EU Opferrechtsrichtlinie oder OpferschutzRL apostrophierte Richtlinie1 ist das Herzstück eines EU Gesamtpakets zur stärkeren Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen von Opfern von Straftaten, das aktuell geschnürt ist aus der im Jahr 2004 erlassenen EU RL zur Entschädigung der Opfer von Straftaten2, dem Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung3 aus 2002 und 2008, der RL zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer4 aus 2011, der RL über die Europäische Schutzanordnung5 aus 2011, der RL zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie6 aus 2011 sowie der Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen7 aus 2013, und ersetzt zugleich den aus dem Jahr 2001 stammenden Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren8.

Nach dem Titel der OpferschutzRL, der von „Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten“ spricht, geht es um mehr als um Opferschutz im eigentlichen Sinne, der lediglich als ein Aspekt neben den Rechten und der Unterstützung genannt wird. Freilich kann man den Begriff „Opferschutz“ auch in einem umfassenden Sinne verstehen, dies tut der Titel der OpferschutzRL aber gerade nicht. Der Titel war von Anbeginn an (und auch nach dem Erlass der OpferschutzRL) in Diskussion und unterscheidet sich wesentlich vom Titel des ersetzten Rahmenbeschlusses; bloß geringfügig auch von jenem des Kommissionsvorschlags für die RL9, der noch von „Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe“ sprach.

Aus dem Inhalt der OpferschutzRL, der gem den Kapiteln 2 bis 4 „Information und Unterstützung“, „Teilnahme am Strafverfahren“ sowie „Schutz der Opfer und Anerkennung von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen“ umfasst, geht hervor, dass Opfer auch explizit als solche bezeichnete „Rechte“ auf Unterstützung und auf Schutz haben (sollen). Insoweit müssten sich die „Rechte“ im Titel der OpferschutzRL, die ja neben Unterstützung und Schutz genannt werden, sowohl auf prozedurale Rechte ieS, also insb Beteiligungsrechte, Informationsrechte sowie Einflussnahmerechte, als auch auf Unterstützungs- und Schutzrechte beziehen. Weshalb neben (den Rechten auf) Unterstützung und Schutz im Titel ausgerechnet die prozeduralen Rechte, etwa durch explizite Bezeichnung als solche bzw als Teilnahmerechte, nicht eigens hervorgehoben werden, erklärt sich erst aufgrund eines eingehenderen Studiums des Inhalts der OpferschutzRL, wonach gerade bei der prozessrechtlichen Stellung des Opfers angesichts der unterschiedlichen in der EU vertretenen Rechtssysteme äußerste Zurückhaltung geübt wird10. Nicht zuletzt deshalb fokussiert sich die OpferschutzRL tatsächlich auf den Schutz und die Unterstützung von Opfern von Straftaten und nicht so sehr auf deren Stellung im Strafverfahren, wie man aufgrund ihrer Substitutenrolle betreffend den Rahmenbeschluss, der immerhin im Titel explizit bzw sogar ausschließlich auf „die Stellung des Opfers im Strafverfahren“ Bezug nahm, hätte annehmen können. Was die geforderte Rolle des Opfers im Strafverfahren betrifft, so geht allerdings auch der Rahmenbeschluss nicht über die Vorgaben der Richtlinie hinaus.

1.2 Vom Rahmenbeschluss zur OpferschutzRL

International betrachtet hat sich die Europäische Union vergleichsweise spät mit den Opfern von Straftaten auseinandergesetzt. Während im Rahmen der Vereinten Nationen11 sowie des Europarats12 die Sensibilisierung für die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten und die Erkenntnis der Notwendigkeit der Einführung von Rechten von Opfern – als Ergebnis (aber auch Basis weiterer) viktimologischer Forschungen – gegen Mitte der 1980er-Jahre eingesetzt hatte, war dies in der Europäischen Union erst 15 Jahre später der Fall. Der Grundstein wurde mit dem Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren im Jahr 2001 gelegt13. Nach Pemberton/Groenhuijsen14 war der Hauptantrieb für die Befassung mit dem Opferschutz auf europäischer Ebene die Verringerung der besonderen Schwierigkeiten von „cross-border victims“ im Lichte der Personenfreizügigkeit, was nicht ohne eine Synchronisierung mit der Position aller Opfer, also auch der Opfer im eigenen Staat, geschehen konnte. In diesem Sinne liegt die Stellung jener Personen, die in einem anderen Staat als ihrem Wohnsitzstaat Opfer einer Straftat wurden, im Herzen des Rahmenbeschlusses15. Mit dem Rahmenbeschluss nahm auch eine (durchaus stete) weitere Entwicklung ihren Ausgang, die allerdings bis zum heutigen Tage (wir schreiben das Jahr 2017) noch keinen vollkommen zufriedenstellenden Abschluss gefunden hat. Zwar ist als Erfolg zu verbuchen, dass der Opferschutz bzw die Opferrechte mittlerweile allgemein – wenngleich in einem europäischen Nordwest/Südost-Gefälle16 – als essenzielle Aspekte (auch) der Strafrechtsordnung anerkannt werden, doch besteht die bisherige weitere Entwicklung vorrangig im Monitoring der Umsetzung der existierenden europäischen Verpflichtungen und der konsequenten Feststellung immer noch erheblicher Umsetzungsdefizite, was wiederum vorrangig zur Schaffung weiterer – wenngleich rechtlich durchschlagskräftigerer – europäischer Rechtsdokumente geführt hat17, auf deren nationale rechtliche und praktische Umsetzung man baut.

Der Befund, „dass der Rahmenbeschluss [an sich] unzureichend war, um den Bedürfnissen der Opfer angemessen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass ihnen in allen Mitgliedstaaten bestimmte Verfahrensrechte zuteil werden“18 in Verbindung mit dem Ergebnis der Umsetzungsberichte der Europäischen Kommission zum Rahmenbeschluss aus den Jahren 200419 und 200920 – kurz zusammengefasst: mangelnde Compliance der Mitgliedstaaten, und dies sowohl mit Blick auf die rechtliche Umsetzung als auch auf die praktische Handhabung21 – waren die Auslöser für den Erlass der OpferschutzRL.

In diesem Sinne kommt auch die vom DG Justice in Auftrag gegebene Untersuchung „A Study for an Impact Assessment on Ways of Improving the Support, Protection and Rights of Victims across Europe“ aus dem Jahr 2010 zum folgenden Schluss22: Trotz der Schaffung eines Mindestkanons an Opferrechten im Rahmenbeschluss aus dem Jahr 2001 sowie der Richtlinie aus 2004, wird den Opferbedürfnissen in der EU durchwegs noch nicht gehörig Rechnung getragen. Dies manifestiert sich darin, dass Opfer weder darauf vertrauen können, mit Würde und Respekt behandelt zu werden, noch ausreichend Unterstützung zu erhalten; ebenso wenig werden Opfer ausreichend vor Eingriffen in ihre Privatsphäre sowie Gefährdungen durch die Täterin/den Täter geschützt. Opfer können sich darüber hinaus nicht darauf verlassen, ausreichend Zugang zum Recht zu erhalten (sei es aufgrund mangelnder Information, sprachlicher oder rechtlicher Unterstützung oder schlicht logistischer Unzulänglichkeiten), hinzu kommt mangelnde Entschädigung sowie restorative justice.

Auf dem Weg bis zum Erlass der OpferschutzRL forderte der Europäische Rat im Stockholmer Programm23, welches die Leitlinien der Europäischen Union im Bereich der Innen- und Sicherheitspolitik für die Jahre 2010 bis 2014 festlegt, unter der Überschrift „Opfer von Straftaten, einschließlich Terrorismus“ die Kommission sowie die Mitgliedstaaten ua auf zu prüfen, wie zum einen die Rechtsvorschriften und zum anderen die praktischen Unterstützungsmaßnahmen zum Schutz von Opfern verbessert werden könnten sowie die Durchführung der bestehenden Rechtsinstrumente zu verbessern; speziell sollte geprüft werden, ob ein umfassendes europäisches Rechtsinstrument zum Opferschutz erstellt werden könnte, welches die RL zur Opferentschädigung aus dem Jahr 2004 sowie den Rahmenbeschluss aus dem Jahr 2001 auf Basis deren Bewertung zusammenfasst. Der Europäische Rat hebt in diesem Kontext neben den Terrorismusopfern weitere besonders schutzbedürftige sowie besonders gefährdete Personen hervor, wie etwa Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt oder Opfer mit einer fremden Staatsangehörigkeit.

Die Europäische Kommission stufte die Schaffung eines höheren Schutzniveaus für Opfer von Straftaten als strategische Priorität ein und begründete in ihrer Mitteilung zur „Stärkung der Opferrechte in der EU“24 vom 18. Mai 2011 den Handlungsbedarf im Bereich des Opferschutzes auf europäischer Ebene insb damit, dass ein Mindestsockel an Opferrechten das gegenseitige Vertrauen der Menschen in die Justizsysteme der Mitgliedstaaten stärke. Es seien die Grundrechtestandards auch für Opfer im Strafverfahren zu wahren. Überdies reduziere die Befriedigung der Opferbedürfnisse die Gesamtkosten der Straftat25. Zugleich legte die Kommission ein Legislativpaket, bestehend aus einem Vorschlag für eine RL über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe und einem Vorschlag für eine Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen vor26.

Es folgten der Budapest-Fahrplan27 des Rates zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insb im Strafverfahren im Juni 2011 sowie die Mitteilung der Kommission: „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht“28 im September desselben Jahres.

Vom Kommissionsvorschlag bis zum definitiven Erlass der OpferschutzRL vergingen gerade einmal eineinhalb Jahre. Dieses ausgesprochen zügige Verfahren fand allerdings keine Entsprechung bei der Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Mit Ablauf der Frist am 16. 11. 2015 (Art 27) hatten nach Auskunft der Kommission gerade einmal fünf Mitgliedstaaten die Vorgaben der OpferschutzRL innerstaatlich umgesetzt. Eine Handvoll weiterer Mitgliedstaaten war bzw ist gerade daran, die Vorgaben umzusetzen. Der Umsetzungsbericht der Kommission folgt am 16. 11. 2017 (Art 29). Bis zum 16. 11. 2017 (und danach alle drei Jahre) haben die Mitgliedstaaten der Kommission jene Daten zu übermitteln, aus denen hervorgeht, wie und in welchem Umfang die Opfer ihre in der OpferschutzRL festgelegten Rechte wahrgenommen haben (Art 28).

1.3 IVOR Report 2016

Die jüngste Studie, IVOR29, die sich mit der Umsetzung opferorientierter Reformen in den Strafjustizsystemen der EU-Mitgliedstaaten befasst, ist soeben (2016) erschienen und attestiert weiterhin signifikante Umsetzungsdefizite.

Das sich auf die Jahre 2014 bis 2016 fokussierende Projekt IVOR will basierend auf einem Überblick über die existierende Forschung betreffend Opferrechte und Opferhilfe sowie vor dem Hintergrund der „societal ecology“ dazu beitragen, praktische Empfehlungen und Maßnahmen zur Förderung der Umsetzung der OpferschutzRL zu entwickeln. IVOR eruiert den Entwicklungsstand der Opferhilfe (im Sinne aller Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung von Opfern, einschließlich der Opferrechte) in den Mitgliedstaaten sowie die fördernden und hemmenden Faktoren, um letztlich Ideen zu formulieren, wie die Opferhilfe künftig weiterentwickelt werden kann. Zu diesem Zweck erfolgt eine Analyse der (als besonders wichtig eingestuften) internen Kohärenz der Opferhilfe (betreffend Gesetzgebung und Organisationspraxis in den Mitgliedstaaten, einschließlich der Erfüllung der Standards der OpferschutzRL) sowie deren externen Kohärenz (also vor dem jeweiligen ökologischen Hintergrund). Als Hauptproblembereiche, die überwiegend die praktische Umsetzung innerhalb bestehender Opferhilfemechanismen betreffen, werden identifiziert: die Definition des Opferbegriffs (Art 2 der OpferschutzRL), Opferunterstützungsdienste (Art 8 und 9), Wiedergutmachungsdienste (Art 12), Opfer mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat (Art 17), individuelle Begutachtung (Art 22), besonders schutzbedürftige Opfergruppen (Art 23 und 24), Schulung (Art 25), Zusammenarbeit und Koordinierung von Diensten (Art 26). Die drei Hauptbefunde bzw Monita sind laut IVOR Report: 1. das Fehlen jeglicher empirischer Fundierung opferorientierter Reformen; 2. die Existenz eines Nord/West – Süd/Ost Gefälles im Bereich der „societal ecology“ (als Zusammenfassung all jener Faktoren, in deren Umfeld Opferhilfe geschieht, also etwa Gesundheitswesen, Sozialhilfeorganisationen, Versicherungen als spezifische Akteure, aber auch historische, kulturelle und politische Realitäten, das Vertrauen in Polizei und Gerichte); 3. der Umstand, dass die OpferschutzRL zu einer Verbesserung der Stellung von Opfern zwar beiträgt, doch noch nicht im zu erwartenden Ausmaß, wobei die Hauptprobleme bei der Umsetzung in nationales Recht in Auslegungsunterschieden von Schlüsselbegriffen und -konzepten liegen, wie zB die Art der individuellen Begutachtung oder die Bedeutung von „restorative justice“.

2 Ziele, Grundprinzipien, Inhalt der OpferschutzRL

2.1 Ziele

Die in der OpferschutzRL formulierten Bestimmungen verfolgen gem Art 1 Abs 1 das Ziel, „… sicherzustellen, dass Opfer von Straftaten angemessene Informationen, angemessene Unterstützung und angemessenen Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können.“

Auf die Interpretationsbedürftigkeit bzw Dehnbarkeit des Begriffes „angemessen“ muss nicht eigens hingewiesen werden. „Angemessene“ Informationen beziehen sich freilich stets (nur) auf jene Rechte, die Opfern in einer Rechtsordnung überhaupt zugestanden werden; sofern sich Informationen nicht auf die Ausübung von Rechten beziehen, ergibt sich deren Reichweite aus den in der OpferschutzRL festgelegten Mindeststandards. Dasselbe gilt für die angemessene Unterstützung sowie den angemessenen Schutz. Eine Beteiligungsmöglichkeit am Strafverfahren muss nicht in angemessenem Ausmaß gewährt werden, worin sich bereits ein Hinweis auf die besondere Zurückhaltung der OpferschutzRL in Bezug auf Teilnahmerechte von Opfern verbirgt.

Unter der Überschrift „Ziele“ wird in Art 1 des Weiteren auf die fundamentale Bedeutung der Anerkennung als Opfer und der „respektvolle[n], einfühlsame[n], professionelle[n] und diskriminierungsfreie[n] Behandlung“ hingewiesen30 sowie auf besondere Bedürfnisse von Kindern als Opfer, wobei letzteres sowohl mit Blick auf die Überschrift als auch mit Blick auf den Ansatz der OpferschutzRL, sämtliche vulnerablen Opfer besonders zu schützen, ein wenig restriktiv erscheint. Im Rahmenbeschluss, der hinsichtlich des zu gewährleistenden Schutzniveaus im Übrigen auch bei der vagen Umschreibung als „angemessen“ verblieb, findet sich Achtung und Anerkennung noch als im Titel des Art 2 explizit hervorgehobener Grundsatz, nicht als ein Ziel. Allerdings gekoppelt mit der auffallend weichen Formulierung, wonach sich die Mitgliedstaaten lediglich weiterhin nach Kräften bemühen, die entsprechende Behandlung des Opfers zu gewährleisten. Gem der OpferschutzRL „stellen“ die Mitgliedstaaten dies immerhin „sicher“.

Hinter der Zielformulierung in Art 1 verbirgt sich allerdings – in Zusammenschau mit den in der OpferschutzRL festgelegten Mindeststandards, den (insgesamt 72!31) Erwägungsgründen sowie den Vordokumenten32 – das Ziel der weiteren Stärkung des Opferschutzes, dh Verbesserung der schon existierenden (angemessenen?) Mindeststandards, durch Einführung eines höheren Mindeststandardniveaus auf dem Boden des im Jahr 2012 seit 11 Jahren bestehenden Rahmenbeschlusses sowie der damals bereits seit 27 Jahren existierenden Resolutionen und Empfehlungen der Vereinten Nationen sowie des Europarats33. Dies gilt auch für den endgültigen Richtlinientext, wenngleich sich dieser als Kompromisspapier teilweise erheblich vom Kommissionsvorschlag unterscheidet.

2.2 Opferbegriff

Hauptbezugspunkt für die in den weiteren Kapiteln der OpferschutzRL verbrieften Rechte bildet die Definition des Opferbegriffs in Art 2 Z 1 lit a. Die OpferschutzRL folgt dabei nicht dem Rechtsgutskonzept, sondern wählt vielmehr – wie dies auf internationaler Ebene nicht zuletzt wegen des Zusammentreffens von civil lawund common law-Systemen üblich (aber auch der Thematik inhaltlich angemessener) ist – ein Betroffenheitskonzept.

„Opfer“ einer Straftat ist nicht die Trägerin/der Träger des durch den konkreten Straftatbestand geschützten Rechtsguts, sondern – gemäß der deutschsprachigen Fassung – jede „natürliche Person, die eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust, der direkte Folge einer Straftat war, erlitten hat“ (sog direkte Opfer)34.

Auffallend ist an dieser Opferdefinition, dass auf der einen Seite Beeinträchtigungen etwa der Ehre, der Freiheit oder der sexuellen Integrität nicht explizit aufgezählt, auf der anderen Seite aber geistige und seelische Schädigungen als selbstständige Kategorien genannt werden, was letztlich bedeutet, dass alle (so auch Kollektivrechtsgüter schützende) Delikte individuelle Opfer zeitigen können, sofern im konkreten Fall Personen individuell unmittelbar seelisches Leid davontragen können. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie etwa den Körperverletzungs- bzw Gesundheitsschädigungsdelikten sowie allenfalls Drohung, wird schließlich die geistige oder seelische Integrität allein und als solche von keinem Straftatbestand geschützt. Im Übrigen begründet wirtschaftlicher Verlust als solcher, dh ohne besondere emotionale Betroffenheit, die Opfereigenschaft.

Will man Ehre, Freiheit oder sexuelle Integrität nicht notwendigermaßen lediglich unter seelisches Leid subsumieren, so überrascht deren Fehlen in der ansonsten so umfassenden Opferdefinition doch ein wenig. Vergleicht man nun zunächst die Opferdefinition der OpferschutzRL mit jener des Rahmenbeschlusses in der jeweils deutschen Fassung, so zeigt sich, dass Übereinstimmung bezüglich der Arten der Beeinträchtigungen bzw Betroffenheit besteht: Explizit aufgelistet werden jeweils körperliche, geistige, seelische und wirtschaftliche Schäden. Der – entscheidende! – Unterschied liegt jedoch darin, dass es im Rahmenbeschluss noch hieß: Opfer ist „eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge“ von Straftaten erlitten hat. Ausgerechnet der Hinweis auf die bloß demonstrative Aufzählung fehlt aber in der OpferschutzRL, was einen Unterschied für die rechtliche Interpretation macht, wenngleich freilich geistige und seelische Beeinträchtigungen – wie erwähnt – bereits sehr umfassende Kategorien darstellen.

Der Blick in die englischen Sprachfassungen von Rahmenbeschluss und OpferschutzRL führt allerdings zu dem überraschenden Ergebnis, dass es in beiden Fassungen „including“ heißt. Selbst wenn man „including“ nicht als Hinweis auf eine demonstrative Aufzählung werten würde, was allerdings nicht ernsthaft begründbar erscheint, so bliebe dennoch die Frage offen, wie es auf dieser Basis zu zwei – unterschiedlichen Sinn generierenden – deutschen Übersetzungen kommen konnte.

Als „Opfer“ betrachtet die OpferschutzRL überdies (unterschiedslos alle) „Familienangehörige[n] einer Person, deren Tod eine direkte Folge einer Straftat ist, und die durch den Tod dieser Person eine Schädigung35 erlitten haben“ (sog indirekte Opfer)36. Im Rahmenbeschluss waren indirekte Opfer noch nicht explizit in der Opferdefinition zu finden. Die Gruppe der indirekten Opfer gem OpferschutzRL kann – ebenso wie jene der Nicht-Opfer-Familienangehörigen gem Art 2 Z 1 lit b – im Einzelfall zahlenmäßig beschränkt werden; bei indirekten Opfern kann bestimmten Familienangehörigen ein Vorrang der Rechteausübung eingeräumt werden (Art 2 Z 2).

Eine andauernde Diskussion auf internationaler Ebene dreht sich um die Frage der korrekten Bezeichnung des Opfers im Lichte der Unschuldsvermutung als bloß mutmaßliches Opfer37. Die OpferschutzRL selbst bezeichnet und behandelt als („echtes“) Opfer jede der Opferdefinition entsprechende Person, „unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde“38. Wesentlich ist, und dem trägt die OpferschutzRL Rechnung, dass – gerade im Lichte eines ihrer obersten Gebote, nämlich der Vermeidung sekundärer Viktimisierung – alle Personen, die durch eine Straftat beeinträchtigt wurden, von Anfang an – freilich unter Wahrung der Unschuldsvermutung gegenüber der/dem Verdächtigen – als Opfer mit den entsprechenden Rechten anerkannt und behandelt werden. Eine Bezugnahme auf die – die Tatverdächtige/den Tatverdächtigen schützende – Unschuldsvermutung in der Opferdefinition ginge fehl. Die Unschuldsvermutung bleibt auch bei Anerkennung einer Person als Opfer einer Straftat unangetastet, schließlich wird mit der Behandlung als Opfer keine Aussage darüber getroffen, ob die/der (konkrete) Tatverdächtige schuldig ist, die konkrete Tat begangen zu haben.

Was aber zur Vermeidung von sekundärer Viktimisierung essenziell ist, ist die Behandlung einer Person, der (offensichtlich) Leid zugefügt wurde, als Opfer mit Respekt und unter Gewährung sämtlicher ihm zustehender Rechte. Dass sich darunter vereinzelt auch Nichtopfer befinden, ist zum Schutze der Mehrzahl der tatsächlichen Opfer (von welcher Täterin/welchem Täter auch immer) hinzunehmen. Nicht erst mit der rechtskräftigen Verurteilung der Täterin/des Täters wird die beeinträchtigte Person zum Opfer, das ist sie vielmehr schon zuvor (mit Ausnahme jener Fälle, in denen dies wahrheitswidrig behauptet wird). Mit der rechtskräftigen Verurteilung einer konkreten Person wird allerdings erst definitiv bestätigt, dass eine konkrete Person nachgewiesener Maßen Opfer einer Straftat des konkret hierfür Verurteilten ist, was aus Opferperspektive bedeutet, dass die Täterin/der Täter hiermit zur Verantwortung gezogen wird. Ein (echtes) Opfer als lediglich „mutmaßliches“ Opfer zu desavouieren (und damit indirekt der Verleumdung zu verdächtigen) und ihm damit den nötigen Respekt zu versagen, vermag mehr Schaden anzurichten als einem Nichtopfer eine Zeit lang ihm nicht gebührende Anerkennung als Opfer zu gewähren, zumal gerade die Unschuldsvermutung durch die Zuschreibung der Opferrolle gar nicht tangiert werden kann. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass Verfahren zur Anerkennung des Opferstatus als degradierend empfunden werden können, was einen besonders gravierenden Fall sekundärer Viktimisierung darstellen kann.

Der Begriff der „Straftäterin“/des „Straftäters“ wird in der OpferschutzRL nicht definiert, doch stellt Erwägungsgrund 12 aus gutem Grund explizit klar, dass er sich für „die Zwecke dieser Richtlinie … auch auf eine verdächtige oder angeklagte Person, bevor ein Schuldeingeständnis oder eine Verurteilung erfolgt ist“, bezieht und „nicht die Unschuldsvermutung“ berührt.

Für eine gehörige Umsetzung der OpferschutzRL ist es im Übrigen entscheidend, dass all jene Personen, die unter den weiten Opferbegriff der OpferschutzRL zu subsumieren sind, von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auch definitionsgemäß als „Opfer“ bezeichnet und damit als Opfer anerkannt werden. Die von den meisten Mitgliedstaaten gewählte allzu enge Fassung des Kreises jener Personen, die als Opfer gelten, betrifft einen der Hauptumsetzungsmängel betreffend den Rahmenbeschluss.

Das Ausmaß der Opfern zu gewährenden prozeduralen Rechte ist damit schließlich noch nicht festgelegt39.

An verschiedenen Stellen hebt die OpferschutzRL spezifische Opfergruppen – insb Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt (va Frauen), Kinder, Opfer von Menschenhandel sowie Opfer von Terrorismus40 – hervor, konkret aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse bzw ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nicht zuletzt im Hinblick auf die Gefahr sekundärer Viktimisierung. Insgesamt gibt es also zwei Gruppen: Opfer und besonders schutzbedürftige Opfer.

2.3 Grundprinzipien

2.3.1 Individueller Ansatz – besondere Schutzbedürftigkeit

Ein Grundprinzip, das in der OpferschutzRL im Vergleich zum Rahmenbeschluss essenziell weiterentwickelt wurde, ist jenes der Berücksichtigung der Individualität und damit Unterschiedlichkeit der Opfer von Straftaten. Opfer sind keine homogene Gruppe, sondern vielmehr Individuen in individuellen Situationen und haben daher unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen41. Relevant sind neben dem Delikt und den konkreten Tatumständen die persönlichen Eigenschaften des Opfers, insb Alter, Geschlecht, Ausländereigenschaft, Schwächen und Fähigkeiten, aber auch frühere Erfahrungen, nicht zuletzt mit der Strafjustiz. Manche Opfer bedürfen besonderer Unterstützung, allenfalls bestehen auch besondere Schutz-bedürfnisse. Viktimologische Forschung hat zutage gebracht, dass zwar insgesamt lediglich eine Minderheit der Opfer besondere Unterstützung iwS benötigt, jedoch von den besonders unterstützungsbedürftigen Opfern nur etwa ein Drittel eine solche tatsächlich erhält42.

Ein besonderes Anliegen der OpferschutzRL ist neben der Nichtdiskriminierung, der adäquaten Unterstützung und dem adäquaten Schutz die – freilich auch schon im Rahmenbeschluss geförderte, nunmehr aber noch stark intensivierte – Vermeidung sekundärer Viktimisierung, somit Schutz insb im Sinne von Schonung, welche in den Erwägungsgründen 9, 17, 46, 52 bis 55, 57 und 58 sowie den Art 9, 12, 18, 22 und 26 ihren besonderen Ausdruck findet.

Die OpferschutzRL handelt die – sich zwar teilweise überschneidenden, jedoch grundlegend unterschiedlichen – Fragen des Schutzes vor Beeinträchtigungen der Privatsphäre, des Schutzes vor Gefährdungen insb durch die Verdächtige/den Verdächtigen bzw die Verurteilte/den Verurteilten sowie des Schutzes im Sinne von Schonung, dh Schutz vor sekundärer Viktimisierung durch unziemliche Behandlung im Rahmen des Strafverfahrens, unter einem Titel, nämlich dem (allumfassenden) „Schutz“ der Opfer, ab (vgl Art 18 ff, 22 ff) und befindet sich damit in guter Gesellschaft mit vielen anderen internationalen Opferschutzrechtsakten.

Seinen Höhepunkt findet der individuelle Zugang der OpferschutzRL in Art 22, der eine frühzeitige (und bei wesentlichen Änderungen zu aktualisierende) individuelle Begutachtung der Opfer zur Ermittlung besonderer Schutzbedürfnisse vorsieht43. Diese Begutachtung dient gem Abs 1 der Feststellung,

„ob und inwieweit ihnen Sondermaßnahmen im Rahmen des Strafverfahrens gem Artikel 23 und Artikel 2444 infolge ihrer besonderen Gefährdung hinsichtlich sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung zugute kommen würden.“

Aus dem Wortlaut ergibt sich mehr oder weniger deutlich, dass grundsätzlich alle Opfer und nicht lediglich bestimmte – mutmaßlich besonders schutzbedürftige – Opfer (überhaupt) einer individuellen Begutachtung zu unterziehen sind45. Die Formel, Opfer seien „nach Maßgabe der einzelstaatlichen Verfahren“ einer solchen Begutachtung zu unterziehen, stellt jedenfalls eine Möglichkeit dar, richtlinienkonform konkretisierende Modalitäten vorzusehen; das Ausmaß der Begutachtung darf nach Art 22 Abs 5 entsprechend der mutmaßlichen Schutzbedürftigkeit variieren. Eine explizite Aufzählung erfahren Opfergruppen, die ihrerseits „im Rahmen“ der individuellen Begutachtung „besondere Aufmerksamkeit“ erhalten sollen.

Es sind dies gem Art 22 Abs 3 Opfer, die infolge der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben; Opfer von Hasskriminalität und von in diskriminierender Absicht begangenen Straftaten; sowie Opfer, die aufgrund ihrer Beziehung zur/zum und Abhängigkeit von der Täterin/vom Täter besonders gefährdet sind. „Dabei“ (wiederum) sollen folgende Personen „gebührend“ berücksichtigt werden: Opfer von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel, geschlechtsbezogener Gewalt, Gewalt in engen Beziehungen, sexueller Gewalt oder Ausbeutung, Hassverbrechen sowie Opfer mit Behinderungen. Opfer „im Kindesalter“, dh vor Vollendung des 18. Lebensjahres (siehe Art 2 Z 1 lit c), gelten gem Art 22 Abs 4 als Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen, es bedarf (dennoch) einer individuellen Begutachtung zur Feststellung der Notwendigkeit von Sondermaßnahmen gem Art 23 und 24. Insgesamt erschließt sich der Inhalt des Art 22 nur mühsam.

Abs 6 fordert überdies explizit, die Opfer „eng“ in die individuelle Begutachtung einzubeziehen, was bei einer ernsthaften individuellen Begutachtung freilich „state of the art“ sein müsste, und daher auch ihre Wünsche zu berücksichtigen, so „unter anderem auch [den] Wunsch, nicht in den Genuss von Sondermaßnahmen … zu kommen“. Gar nicht erst in den Genuss einer individuellen Begutachtung zu kommen, scheint allerdings nicht zur Disposition zu stehen. So wird aus diesem neuen Recht eine Pflicht des Begutachten-Lassens für das Opfer, was im Lichte des zugrundeliegenden Zwecks, nämlich der Vermeidung von sekundärer Viktimisierung, einen kontraproduktiven Aspekt darstellt. Umgekehrt gibt es im Übrigen kein Rechtsmittel gegen den Entscheid, Opfer ohne besonderes Schutzbedürfnis zu sein46.

Während der individuelle Ansatz der OpferschutzRL an sich als sehr positiv und weiterführend bewertet wird, hat die Regelung des Art 22 über die individuelle Begutachtung in Bezug auf ihre Details zu erheblichen Kontroversen geführt und steht immer noch in der Kritik, dass damit zum einen Unmögliches und zum anderen Unzumutbares gefordert werde47. Konkret stellt sich die Frage, wer zu Beginn des Strafverfahrens innerhalb welchen Zeitraums (fünfzehn Minuten? eine Stunde?) mithilfe welcher Instrumente eine solche Begutachtung seriöser Weise vornehmen soll. Beim – im Lichte des Gesagten kaum bewerkstelligbaren – Versuch der richtlinienkonformen Umsetzung entsteht zudem die nicht gering zu schätzende Gefahr der Überbeanspruchung, dh Belastung und abermaligen Viktimisierung der Opfer48 sowie der Überbeanspruchung bzw eigentlich die unrealistische Erwartungshaltung gegenüber den damit beauftragten bzw involvierten Behörden und Stellen, was anstelle der gewünschten Stärkung des Opferschutzes aufgrund des dadurch eintretenden Phänomens der „victim fatigue“49 zum gegenteiligen Effekt führen kann.

2.3.2 Anwendungsbereich der Opferschutzstandards

Der räumliche, sachliche und zeitliche Geltungsbereich der in der OpferschutzRL festgelegten Standards und Rechte wird dem Grundsatz nach in den Erwägungsgründen umschrieben. Die Opferrechte finden demnach Anwendung auf Straftaten, die in der Europäischen Union begangen werden sowie auf Strafverfahren, die in der Europäischen Union geführt werden50. Dies bedeutet, dass die OpferschutzRL auch auf EU-Auslandstaten Anwendung findet, somit Opfern von Straftaten, die nicht in der EU begangen wurden, Rechte gewährt, sofern das Strafverfahren in der EU geführt wird.

Sowohl mit Blick auf EU-Inlandstaten als auch (in der EU verfolgten) Auslandstaten spielt es keine Rolle, ob das Opfer EU-Bürgerin/EU-Bürger, EU-Ausländerin/EU-Ausländer oder staatenlos ist; ebensowenig kommt es auf seinen Aufenthaltsstatus an51. Opfern von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit kommen allenfalls besondere Schutzrechte zu.

Art 17, der sich im Kapitel über die Teilnahme am Strafverfahren findet, nimmt schwerpunktmäßig Bezug auf die Rechte der Opfer mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, insb auf die Aufnahme der Aussage sowie die Anzeigeerstattung.

Aus den Erwägungsgründen52 ergeben sich im Übrigen die Leitlinien für jenen Fall, in dem das Opfer das Hoheitsgebiet des EU-Tatorts verlässt. Danach soll der EU-Tatortstaat nicht weiter verpflichtet sein, dem Opfer

„Hilfe, Unterstützung und Schutz zu gewähren, es sei denn dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Strafverfahren, die der Mitgliedstaat aufgrund der betreffenden Straftat durchführt, wie es bei besonderen Schutzmaßnahmen während des Gerichtsverfahrens der Fall wäre.“

Der EU-Wohnsitzstaat des Opfers „sollte in einem Umfang Hilfe, Unterstützung und Schutz gewähren, der der Erholungsbedürftigkeit des Opfers gerecht wird.“

Erwägungsgrund 38 fordert die Gewährung „spezialisierte[r] Unterstützung“ und rechtlichen Schutz für besonders schutzbedürftige Personen, sowie explizit auch für Personen, „die sich in Situationen befinden, in denen sie einem besonders hohen Risiko einer Schädigung ausgesetzt sind, wie beispielsweise“ Gewaltopfer oder „Personen, die Opfer anderer Arten von Straftaten in einem Mitgliedstaat werden, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen oder in dem sie nicht ihren Wohnsitz haben“. Das „Recht auf eine Entscheidung über Entschädigung durch den Straftäter und das einschlägige anwendbare Verfahren sollten“ nach Erwägungsgrund 49 „auch für Opfer gelten, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Straftat begangen wurde, ansässig sind.“

Zum zeitlichen Anwendungsbereich hält die OpferschutzRL in Erwägungsgrund 37 fest: Unterstützung soll dem Opfer gewährt werden, von „dem Zeitpunkt an, zu dem die zuständigen Behörden Kenntnis von dem Opfer haben, während des Strafverfahrens wie auch für einen angemessenen Zeitraum nach dem Verfahren“. Aus Erwägungsgrund 22 ergibt sich im Übrigen, dass das Strafverfahren mit der Anzeigeerstattung bzw der Aufnahme amtswegiger Ermittlungen beginnt.

2.3.3 Rechtsstellung des Opfers
2.3.3.1 Das Opfer als Partei?

Keine Weichenstellung enthält die OpferschutzRL betreffend die Rolle des Opfers im Strafverfahren. Ein Grundprinzip der OpferschutzRL ist vielmehr jenes, wonach der Umfang der von den Mitgliedstaaten zu gewährleistenden prozeduralen Opferrechte von der jeweils bestehenden nationalen formellen Rolle des Opfers abhängig gemacht werden darf, während Unterstützung und Schutz allen Opfern iSd Richtlinien-Definition zuteil zu werden hat. Positiv formuliert handelt es sich um das Grundprinzip der Achtung der formellen Rolle des Opfers in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung.53 Die OpferschutzRL übt also allergrößte Zurückhaltung bezüglich der in den Mitgliedstaaten anzutreffenden unterschiedlichen rechtlichen Rollen, in denen das Opfer die Strafrechtsbühne betritt. Erwägungsgrund 20 hält fest:

„Die Stellung von Opfern in der Strafrechtsordnung und die Frage, ob sie aktiv am Strafverfahren teilnehmen können, sind im Einklang mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich … Die Mitgliedstaaten sollten [sic!] festlegen, welche … Kriterien [also, ob Opfer Parteistellung bzw welche sonstige Stellung sie haben] einschlägig sind, um den Anwendungsbereich der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zu bestimmen, wenn Bezugnahmen auf die Stellung des Opfers in der einschlägigen Strafrechtsordnung vorhanden sind“54.

Inwieweit einem Opfer daher aktive Teilnahmerechte am Strafverfahren zukommen, hängt letztlich und ausschließlich von der ihm nach der jeweiligen nationalen Rechtsordnung zugebilligten verfahrensrechtlichen Stellung – sei es etwa als Zeugin/Zeuge, partie civile, Nebenklägerin/Nebenkläger, Privat(an)klägerin/ Privat(an)kläger, Subsidiaranklägerin/Subsidiarankläger oder Partei – ab und wird von der OpferschutzRL gerade nicht bestimmt.

Wenngleich auf der offiziellen Website der EU nachzulesen ist, dass bereits der Rahmenbeschluss – und umso mehr die OpferschutzRL – dazu dienen sollte, sicherzustellen, „dass Opfer aktiv an den Verfahren teilnehmen können, angemessene Rechte haben und während des Strafverfahrens gerecht behandelt werden“55, so fordert die OpferschutzRL dennoch keine bestimmte (Mindest-)Stellung, geschweige denn Parteistellung, des Opfers im Strafverfahren, sondern lässt dies lediglich als eine Option offen.

Nicht zu vernachlässigen ist allerdings der Umstand, dass lediglich diese Zurückhaltung eine Einigung auf die (übrigen) in der OpferschutzRL enthaltenen Rechte des Opfers ermöglicht hat. Hinzu kommt der Umstand, dass die prima vista stärkste Verfahrensrolle in Form der Parteistellung auch mit erheblichen Einbußen hinsichtlich des Schutz- und Schonungsaspekts verbunden ist. Ist das Opfer Partei, so wird der Grundsatz der „Waffengleichheit“ plötzlich auch auf das Opfer anwendbar, wodurch dieses zur direkten Zielscheibe und verwundbar wird.

Das EU Guidance Document der Kommission, das als Interpretationshilfe der Erleichterung der Umsetzung der OpferschutzRL dienen soll, hält dazu fest, dass sich die „formelle Rolle“ des Opfers lediglich auf die Bestimmung (des Ausmaßes) seiner prozeduralen Rechte bezieht, dh viele der in der OpferschutzRL stipulierten Teilnahmerechte kommen nur Opfern mit einer entsprechenden nationalen Verfahrensstellung zugute (siehe dazu unten 2.4). Die Definition des Opferbegriffs an sich steht demgegenüber nicht zur Disposition. Eine Person, die unter die Opferdefinition des Art 2 der OpferschutzRL fällt, ist Opfer, unabhängig von ihrer nationalen rechtlichen Stellung im Strafverfahren56! Der vorhandene Ermessensspielraum sollte die Mitgliedstaaten keinesfalls zu einer „zu restriktiven“ Umsetzung der OpferschutzRL verleiten, um deren Zwecke, nämlich alle Opfer zu unterstützen und zu schützen, zu verwirklichen57.

2.3.3.2 „Rechte“ des Opfers?

Unabhängig von der konkreten Rolle, die einem Opfer in einem mitgliedstaatlichen Strafverfahren zuteil wird, stellt sich die ebenso fundamentale Frage, ob die gemäß der OpferschutzRL zu gewährleistenden Mindeststandards überhaupt Rechte des Opfers verbriefen bzw ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, „echte“ Opferrechte (im Einklang mit der jeweiligen Rolle des Opfers im nationalen Strafverfahrensrecht) einzuführen. Dies würde voraussetzen, dass diese durchsetzbar sind.

Rechtsmittel sieht die OpferschutzRL allerdings gerade keine zwingend vor. Der langen Liste an „Rechten“ stehen – abgesehen von Art 7 Abs 7 im Kontext von Dolmetschleistung und Übersetzung58 – lediglich zwei Bestimmungen gegenüber, die Bezug auf die Überprüfung von Entscheidungen nehmen, einmal betreffend den Verfolgungsverzicht (Art 11; siehe unten 2.3.5) sowie einmal betreffend die Verletzung von Opferrechten durch Strafbehörden generell (Art 4 Abs 1 lit h; siehe unten 2.4.1.1). Beide Bestimmungen überlassen allerdings die Einführung entsprechender Kontrollmöglichkeiten, insb in Gestalt von Beschwerdeverfahren, dem völlig freien Ermessen der Mitgliedstaaten, indem einmal die Einschränkung „im Einklang mit ihrer [also der Opfer] Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung“, einmal die Einschränkung „verfügbare“ Beschwerdeverfahren gewählt wird. Auch Erwägungsgrund 33 fordert die Unterrichtung der Opfer „über ein etwaiges Recht, gegen eine Entscheidung über die Freilassung des Täters Rechtsbehelf einzulegen“, lediglich dann, „wenn nach den einzelstaatlichen Vorschriften ein solches Recht besteht.“

Ein einziges als solches nicht im Belieben der Mitgliedstaaten stehendes Anfechtungsrecht59 sieht die OpferschutzRL in Art 7 Abs 7 vor, wonach sicherzustellen ist,

„dass die zuständige Behörde begutachtet, ob das Opfer Dolmetschleistung oder Übersetzung … benötigt. Das Opfer kann die Entscheidung, keine Dolmetschleistung oder Übersetzung bereitzustellen, anfechten. Die Verfahrensvorschriften für eine solche Anfechtung richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht“,

wobei Abs 8 festhält, dass sowohl die Dolmetschleistung und Übersetzung als auch „die Prüfung der Anfechtung einer Entscheidung, keine Dolmetschleistung oder Übersetzung … bereitzustellen, … das Strafverfahren nicht ungebührlich verlängern“ dürfen. In diesem Sinne führt Erwägungsgrund 35 aus, dass die Mitgliedstaaten durch Art 7 Abs 7

„nicht dazu verpflichtet [werden], einen gesonderten Mechanismus oder ein gesondertes Beschwerdeverfahren einzurichten, mit dem solche Entscheidungen angefochten werden können …. Eine interne Überprüfung der Entscheidung gemäß den bestehenden einzelstaatlichen Verfahren würde ausreichen.“

Im Übrigen sieht die OpferschutzRL auch für eine strukturelle Missachtung der Opferrechts- und Opferschutzmindeststandards keine Handhabe vor.

2.3.4 Fair trial

Jedenfalls – allerdings eben unabhängig von seiner konkreten verfahrensrechtlichen Stellung (sic!) – hat das Opfer laut EU Guidance Document „eine Schlüsselrolle“60 im Strafverfahren. Die gesamte OpferschutzRL dient denn auch der Stärkung der Stellung des Opfers im (und um das) Strafverfahren durch dessen gehörige Unterstützung, Schutz sowie durch Gewährung gewisser (wenn auch bloß rudimentärer, keineswegs zwingender und auch nicht durchsetzbarer61) Rechte, einschließlich des essenziellen Zugangs zum Recht62. Diese umfassende Handreichung und Berücksichtigung der Opferinteressen steht letztlich im Dienste der Gewährleistung eines gesamthaft fairen Verfahrens, dh im Dienste einer Ausweitung des „fair trial“-Grundsatzes auf alle vom Strafverfahren essenziell Betroffenen, so insb auch die Opfer63. Ezendam/Wheldon64 weisen allerdings zu Recht darauf hin, dass das Recht auf ein faires Verfahren als solches für Opfer nicht konstituiert wird.

Wenn die OpferschutzRL selbst explizit von „fairem Verfahren“ spricht65, so bezieht sie sich damit immer noch auf das fair trial im traditionellen Sinn des Art 6 EMRK und damit auf die Stellung der beschuldigten Person. Einzig der Wortlaut des Erwägungsgrundes 66, der von der Stärkung der Grundrechte sowie des fairen Verfahrens durch die OpferschutzRL spricht, scheint einer weitergehenden Auslegung zugänglich. Die Gewährung von Opferrechten hat jedenfalls stets unter Wahrung des fair trial im traditionellen Sinne bzw „unbeschadet der Verteidigungsrechte“66 zu erfolgen: „Die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte berühren nicht die Rechte des Straftäters“, so der Erwägungsgrund 12. Dies ist in der Tat essenziell, schließlich handelt es sich bei einem Strafverfahren nicht um ein „Nullsummenspiel“67.

In Erwägungsgrund 9 wird explizit festgestellt, dass eine Straftat „ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers“ darstellt. Zumindest mit Bezug auf geschlechtsbezogene Gewalt wird in Erwägungsgrund 17 von der dadurch begangenen „Verletzung der Grundrechte des Opfers“ gesprochen68. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) stellt zu Recht fest, dass jegliche „Straftat … eine besonders schwere Verletzung der Grundrechte“ darstellt. Das Strafrecht und die Strafrechtspflege sollten demnach dem Grundrechtsschutz dienen, was einer wirksamen Vollziehung einschließlich der Gewährung wirksamer Opferunterstützung bedürfe.

Auch wenn Art 6 EMRK dem Opfer ein Recht auf ein faires Verfahren lediglich im Falle der Geltendmachung seiner privatrechtlichen Ansprüche im Strafverfahren in eben diesen Belangen gewährt69, so ergeben sich dennoch Ansätze einer grundrechtlichen Fundierung des fair trial für Opfer aus Art 13, aus der Rsp des EGMR zu den strafprozessualen Verpflichtungen aus Art 2, 3 und 8 und insb aus dem aus Art 2 und 3 abgeleiteten Anspruch auf umfassende und wirksame Ermittlungen, die geeignet sind, die verantwortlichen Personen zu identifizieren und zu deren Bestrafung zu führen70. Weiter geht die erheblich jüngere Bestimmung des Art 47 EU Grundrechtecharta71, die unter dem Titel „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“ sowohl Angeklagten als auch Opfern ein faires Verfahren garantiert72.

2.3.5 Zugang zum Recht

Access to justice, der Zugang zum Recht, für die Opfer von Straftaten, ist von grundlegender Bedeutung für die Gewährleistung eines umfassenden fair trial sowie Restoration und Reintegration des Opfers in einem umfassenden Sinne. Information sowie Unterstützung, insb in Form von Opferhilfsdiensten, sind wesentliche Aspekte der Gewährleistung des Zugangs zum Recht73. Von ebenfalls entscheidender Bedeutung sind Kontroll- und Durchsetzungsmittel in der Hand des Opfers. In diesem Bereich bleibt die OpferschutzRL bei Art 11 stecken, wenngleich diese Regelung eine der wesentlichen Errungenschaften gegenüber dem Rahmenbeschluss darstellt. Zur äußerst zögerlichen Haltung der OpferschutzRL bezüglich der Gewährung von Rechtsmitteln siehe oben 2.3.3.2.

Nach dem Guidance Document stellen Subsidiar- oder Privatanklage wegen der Belastung, des zeitlichen Aufwands sowie des Kostenrisikos keine adäquaten Mittel zur Sicherstellung der Verfolgung dar74. Art 11 sieht daher ein Recht des Opfers auf Überprüfung des Verzichts auf Strafverfolgung vor. Auch dieses Recht steht den Opfern allerdings bloß „im Einklang mit ihrer Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung“ zu. Erwägungsgrund 43 erläutert, dass Art 11 Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, der Untersuchungsrichterin/des Untersuchungsrichters oder von Strafverfolgungsbehörden wie der Polizei, nicht jedoch gerichtliche Entscheidungen umfasst. Nach Erwägungsgrund 44 „sollte“ eine „Entscheidung über die Beendigung eines Strafverfahrens … auch die Fälle abdecken, in denen ein Staatsanwalt entscheidet, die Anklage zurückzuziehen oder das Verfahren einzustellen“. Letzteres erscheint sachgerecht, auch wenn es sich aus dem Wortlaut der Bestimmung nicht ergibt. Aufgrund seiner weiten Formulierung erfasst Art 11 jedenfalls sämtliche Verfolgungsverzichts- bzw Einstellungsentscheidungen mit Ausnahme der unter Abs 5 zu subsumierenden. Der Grund für den Verzicht auf die (weitere) Verfolgung – sei es mangelnder Tatverdacht, seien es Opportunitätserwägungen – spielt somit keine Rolle75.

Gem Art 11 Abs 5 steht das Recht auf Überprüfung des Verfolgungsverzichts bzw der Verfolgungseinstellung nicht zu im Fall der „Entscheidung der Staatsanwaltschaft über den Verzicht auf Strafverfolgung, wenn diese Entscheidung einen außergerichtlichen Vergleich zur Folge hat“. Damit soll zu Recht sichergestellt werden, dass im Falle intervenierender Diversion in Form des Täter-Opfer-Ausgleichs deren materiell verfahrensbeendende Funktion respektiert wird. Weshalb andere Fälle intervenierender Diversion davon nicht erfasst sind, bleibt unklar bzw stellt dies einen sachlich nicht begründbaren Wertungsunterschied dar. Intervenierende Diversion stellt zum einen niemals einen Verfolgungsverzicht, zum anderen jedoch stets eine materielle Verfahrensbeendigung dar. Insofern erscheint die Regelung des Art 11 nicht konsistent. Erwägungsgrund 45 schränkt demgegenüber ein, dass eine staatsanwaltschaftliche Entscheidung, die zu einer außergerichtlichen Regelung und damit zu einer Beendigung des Strafverfahrens führt, ein Opfer nur dann vom Recht der Überprüfung des Verfolgungsverzichts ausschließt, wenn mit der Regelung eine Verwarnung oder eine Verpflichtung einhergeht76. Dies steht indes in klarem Widerspruch zum Wortlaut der Bestimmung.

2.4 Einzelne Mindest„rechte“

2.4.1 Information und Unterstützung
2.4.1.1 Information

Schon der Rahmenbeschluss sah weitgehende Informationsrechte bzw -pflichten vor, doch geht die OpferschutzRL insb in Kapitel 2 noch darüber hinaus. Im Wesentlichen geht es um Informationen über die Rechte der Opfer (hinsichtlich ihrer Rechtsstellung sowie der zur Verfügung stehenden Unterstützungsmaßnahmen) einerseits sowie über den Stand des Verfahrens andererseits. So enthält Art 4 eine lange Liste betreffend Informationen, die bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde zu geben sind. Art 6 regelt im Detail das Recht der Opfer auf Informationen zu ihrem Fall. Zur Gewährleistung ihrer Wirksamkeit werden die behördlichen Informationspflichten ergänzt durch Vorgaben zu sprachlicher Verständlichkeit, Dolmetschleistung und Übersetzung sowie weiterer notwendiger Unterstützung (schriftliche Bestätigungen, Kostenfreiheit, Begleitperson etc). Die Pflichtenträger sind Behörden, Opferhilfs- und Wiedergutmachungsdienste.

Es muss hier nicht abermals betont werden, dass Information und Unterstützung die Grundlage für die Ausübung aller (anderen) Rechte darstellen sowie insb die Basis für den Zugang zum Recht überhaupt bilden. Erwägungsgrund 26 hält fest, dass die Opfer „so genau informiert werden“ sollten, dass „sichergestellt ist, dass sie eine respektvolle Behandlung erfahren und in Kenntnis der Sachlage über ihre“ – geschützte und unterstützte – „Beteiligung am Verfahren entscheiden können“. Viktimologische Forschungen haben allerdings gezeigt, dass bislang selbst die „besten“ Länder nur in 70 % der Fälle „erfolgreich“ Opferinformation betreiben77. Zur Gewährleistung des Informationsanspruchs in Verfahren mit großer Opferzahl sowie damit indirekt auch zur Eindämmung der Gefahr der victim fatigue weist im Übrigen Erwägungsgrund 27 auf die Nutzung von Presse oder Websites der Behörden hin.

Die eindrucksvollen Listen mit Informationspflichten dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass einzelne dieser Pflichten nur bestehen, wenn das zugrundliegende Recht, über das zu informieren ist, von der jeweiligen nationalen Rechtsordnung überhaupt gewährt wird. Manche der Informationspflichten vermitteln das trügerische Bild der Existenz weitreichender Opferrechte, in Wahrheit handelt es sich aber lediglich um Informationspflichten für den Fall der Existenz solcher Rechte. Dies gilt etwa für „verfügbare Beschwerdeverfahren für den Fall, dass die zuständige Behörde, die im Rahmen des Strafverfahrens tätig wird, die Rechte des Opfers verletzt“ (Art 4 Abs 1 lit h) oder für „verfügbare Wiedergutmachungsdienste“ (Art 4 Abs 1 lit j). Weder sieht die OpferschutzRL Beschwerdeverfahren bei Opferrechtsverletzungen vor noch verpflichtet sie zur Einführung von Wiedergutmachungsdiensten. So bleiben freilich letztlich auch Informationspflichtverletzungen – außerhalb des Dolmetsch- und Übersetzungskontexts (siehe oben 2.3.3.2) – unrügbar.

Neben einer Überforderung der Justizbehörden durch Auferlegung weitreichender Informationspflichten sowie einer Beeinträchtigung des Verfahrens oder Dritter (einschließlich der Straftäterin/des Straftäters) durch übermäßige oder unzeitige Herausgabe von Informationen (dem trägt die OpferschutzRL insb in Erwägungsgrund 28 sowie Art 6 Abs 2 lit b und Abs 6 Rechnung) können auch Opfer durch unerwünschte Information über Gebühr belastet werden. Positiv hervorzuheben ist daher, dass die OpferschutzRL zumindest partiell auch das Recht auf Nichtinformation berücksichtigt.

Einen entscheidenden Schutz des Opfers in dieser Hinsicht bildet bereits das Antragserfordernis als Voraussetzung für Informationserhalt (siehe Art 6 Abs 1 sowie Abs 6)78. Gem Art 6 Abs 4 ist überdies der

„Wunsch des Opfers, Informationen zu erhalten bzw nicht zu erhalten, … für die zuständige Behörde verbindlich, es sei denn, dass die Informationen wegen des Rechts des Opfers auf aktive Teilnahme am Strafverfahren erteilt werden müssen [sic!]. Die Mitgliedstaaten gestatten dem Opfer, seinen Wunsch jederzeit zu ändern, und sie berücksichtigen eine solche Änderung“79.

Dies setzt freilich voraus, dass die zuständigen Behörden und Stellen dafür Sorge tragen, dass Opfer über ihre Wunschmöglichkeit bzw die Notwendigkeit der expliziten Äußerung des Wunsches, keine Informationen zu erhalten, informiert werden. Doch selbst, wenn das Opfer einen solchen Wunsch artikuliert, kann es allenfalls unerwünschte Information erhalten müssen. Sensibel geht die OpferschutzRL jedoch mit der Regelung der Information über Freilassung oder Flucht der Täterin/des Täters um, indem eine unverzügliche Informationspflicht auf Antrag des Opfers zumindest für Risikofälle in Abwägung des Risikos einer Schädigung der Straftäterin/des Straftäters vorgesehen wird (Art 6 Abs 5 und 6)80.

2.4.1.2 Unterstützung

Unter dem Titel „Unterstützung“ befasst sich Kapitel 2 der OpferschutzRL neben dem Recht auf Dolmetschleistung und Übersetzung mit „Unterstützung durch Opferunterstützungsdienste“ (Art 9). In Art 8 sieht sie hierfür ein weit gefasstes und individualisiertes „Recht auf [kostenlosen] Zugang zu [zur Vertraulichkeit verpflichteter] Opferunterstützung“ für Opfer und deren Familienangehörige vor, das sich auf die Phase „vor, während sowie … einen angemessenen Zeitraum nach Abschluss des Strafverfahrens“ bezieht (Art 8 Abs 1).

Die OpferschutzRL verpflichtet nicht nur zur Einrichtung allgemeiner Opferunterstützungsdienste, sondern – entsprechend ihrem individuellen Ansatz – auch zur Gewährleistung spezialisierter Unterstützungsdienste (Art 8 Abs 3) und stellt überdies einen Mindestleistungskanon für allgemeine Opferunterstützungsdienste auf. Dieser Mindestkanon stellt einen entscheidenden qualitativen Schritt dar und umfasst neben weitreichender Information auch emotionale (allenfalls psychologische) Unterstützung, Beratung und Unterstützung betreffend Rechte, Entschädigung sowie sonstige finanzielle und praktische Aspekte, Vorbereitung auf die Verfahrensteilnahme, Vermittlung an spezialisierte Unterstützungsdienste sowie allenfalls Beratung zum Risiko und zur Vermeidung sekundärer und wiederholter Viktimisierung (Art 9 Abs 1). Auch für die spezialisierten Unterstützungsdienste werden Mindestleistungen definiert, sofern diese nicht bereits anderweitig abgedeckt sind, konkret: Gewährung (vorläufiger) sicherer Unterkunft sowie „gezielte und integrierte Unterstützung von Opfern mit besonderen Bedürfnissen“, wie Opfern von sexueller, geschlechtsbezogener oder in engen Beziehungen ausgeübter Gewalt, einschließlich Traumaverarbeitung. Der der OpferschutzRL besonders wichtige Zugang zur Opferunterstützung im beschriebenen Ausmaß darf nicht davon abhängig gemacht werden, „ob ein Opfer eine Straftat einer zuständigen Behörde förmlich angezeigt hat“ (Art 8 Abs 5). Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hebt unter Bezugnahme auf ihre Forschungen sowie ihren zusammenfassenden Bericht aus dem Jahr 2015 zu Recht hervor, dass gezielte Opferhilfsdienste das Vertrauen in die Behörden und damit die Strafanzeigequoten fördern, was insgesamt für eine Verbesserung der Strafverfolgung unabdingbar ist81.

2.4.2 Teilnahme am Strafverfahren – Wiedergutmachung

Die Überschrift des Kapitels 3 „Teilnahme am Strafverfahren“ (Art 10 bis 17) lässt eine Liste prozessualer Aktivrechte82 erwarten. Dies wird mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör und Beweismittelbeibringung (Art 10) auch erfüllt, wenngleich es die OpferschutzRL bei der Postulierung des Grundsatzes belässt bzw angesichts der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen belassen muss und sich daher Umfang, Art und Weise (die „entsprechenden Verfahrensvorschriften“) nach dem jeweiligen „einzelstaatlichen Recht“ richten (dürfen). Schon die OpferschutzRL selbst erachtet allerdings in Erwägungsgrund 41 das Recht auf rechtliches Gehör als gewahrt, „wenn das Opfer schriftliche Erklärungen oder Erläuterungen abgeben darf“, was einmal mehr ein Zugeständnis an das common law ist83.

Zur Gewährleistung der Möglichkeit einer aktiven Teilnahme erhalten Opfer nach diesem Kapitel überdies die Rechte auf Prozesskostenhilfe (Art 13: „wenn sie als Parteien im Strafverfahren auftreten“) sowie auf Kostenerstattung (Art 14: „im Einklang mit ihrer Stellung in der betreffenden Strafrechtsordnung“).

Weitere die Teilnahme am Strafverfahren sichernde Rechte dieses Kapitels beziehen sich auf Schadensgutmachung bzw Wiedergutmachung(sdienste). Darunter fällt zunächst das im Wesentlichen der Regelung im Rahmenbeschluss entsprechende Recht auf Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens gem Art 16. Damit sind insb Instrumente wie das (altbekannte, in vielen Rechtsordnungen vorhandene, aber von der Praxis idR ungeliebte) Adhäsionsverfahren bzw die partie civile angesprochen, doch sind jenen Mitgliedstaaten Ausnahmen erlaubt, in denen diese Entscheidung „im Rahmen eines anderen gerichtlichen Verfahrens ergehen muss“, womit va der Rechtslage im Vereinigten Königreich Tribut gezollt wird. Im Übrigen sieht die OpferschutzRL, wie dies auch der Rahmenbeschluss tat, ein Recht auf Rückgabe von Vermögenswerten vor (Art 15).

Darüber hinaus sieht die OpferschutzRL unter dem Titel „Recht auf Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Wiedergutmachungsdiensten“ in einem insgesamt interpretationsbedürftigen und nicht gerade Anlass zu überschwänglicher Freude gebenden Art 12 Abs 1 – versteckt hinter dem (bzw gewährleistet durch den) hervorgehobenen Schutzaspekt – ein Recht der Opfer auf „Zugang zu sicheren und fachgerechten Wiedergutmachungsdiensten“84 vor.

Unter Wiedergutmachung (in der englischen Fassung: restorative justice) versteht die OpferschutzRL gem der – im Einklang mit den existierenden internationalen Definitionen, va jener des Europarats stehenden85 – Legaldefinition in Art 2 Z 1 lit d „…ein Verfahren, das Opfer und Täter, falls sie sich aus freien Stücken dafür entscheiden, in die Lage versetzt, sich mit Hilfe eines unparteiischen Dritten aktiv an einer Regelung der Folgen einer Straftat zu beteiligen“. Erwägungsgrund 46 zählt als Beispiele für Wiedergutmachungsdienste (restorative justice services) die Mediation zwischen Straftäterin/Straftäter und Opfer, also Täter-Opfer-Ausgleich, Familienkonferenzen und Schlichtungskreise auf.

Nach dem Wortlaut des Art 12 Abs 1 ist das Zugangsrecht auf sichere und fachgerechte Wiedergutmachungsdienste bezogen. Die Schutzmaßnahmen wiederum sind anzuwenden, wenn Wiedergutmachungsdienste zur Verfügung gestellt werden. Das ob des Angebotes von Wiedergutmachungsdiensten steht (somit bzw allerdings) im Ermessen der Mitgliedstaaten. Zwar steht Art 12 auf dem Boden des Art 10 des Rahmenbeschlusses, der sich auf die (begrifflich engere) Schlichtung (in der englischen Fassung: penal mediation) in Strafsachen bezog. Allerdings wurden demnach die Mitgliedstaaten zu nichts Weiterem aufgefordert als diese zu fördern. Und dies auch nur bezüglich jener Straftaten, die sie jeweils für geeignet erachteten. In Fortführung dieses Postulats verpflichtet nunmehr Art 12 Abs 2 der OpferschutzRL die Mitgliedstaaten, „die Vermittlung an Wiedergutmachungsdienste“ zu unterstützen, „wenn dies sachdienlich ist, indem sie unter anderem Verfahren oder Leitlinien betreffend die Voraussetzungen für die Vermittlung an solche Dienste festlegen“86, woraus sich letztlich auch keine Verpflichtung zur Zur-Verfügung-Stellung von Wiedergutmachungsdiensten ergibt. Auch wenn Kilchling zu Recht feststellt, dass die „wenig konkrete und noch weniger verbindliche Bestimmung“ des Rahmenbeschlusses „nunmehr durch sehr viel konkretere Vorschriften ersetzt“ wurde87, so bezieht sich die (im Übrigen eher einseitige und ansonsten eher fragwürdige)88 Konkretisierung dennoch nur auf eine dem Grundsatz nach dem freien Ermessen der Mitgliedstaaten überlassene Maßnahme. Auch das in Art 4 Abs 1 lit j stipulierte Informationsrecht bezieht sich lediglich auf verfügbare Wiedergutmachungsdienste. Aus dem betont zurückhaltenden, weil auch die wiedergutmachungsablehnende Position mancher Mitgliedstaaten berücksichtigenden, Wortlaut der OpferschutzRL ergibt sich – so auch das Guidance Document89 – keine Pflicht, Wiedergutmachungsdienste vorzusehen, und damit auch nur ein Anspruch auf Zugang, sofern es solche eben überhaupt gibt90.

Aus Erwägungsgrund 46 geht hervor, dass bei Wiedergutmachungsverfahren „die Interessen und Bedürfnisse des Opfers in den Mittelpunkt gestellt“ werden müssen. Entsprechend unterliegt der Zugang gem Art 12 Abs 1 explizit mehreren Bedingungen: ausschließliche Anwendung von Wiedergutmachungsdiensten, „wenn dies im Interesse des Opfers ist“; freie und aufgeklärte Einwilligung; Information; im Wesentlichen Geständnis der Täterin/des Täters; Vertraulichkeit (mit Einschränkungen91). Aus den beiden getrennt voneinander aufgelisteten Erfordernissen des Opferinteresses sowie der Einwilligung lässt sich mit Bock92 in der Tat die Frage stellen, ob hier nicht eine „äußerst bedenkliche Bevormundung“ des Opfers stattfindet, wenn staatliche Behörden bei ausdrücklichem Wunsch des Opfers, an einem Wiedergutmachungsverfahren teilzunehmen, dessen objektiv (sic!) verstandenes Interesse verneinen.

Auch wenn im Rahmen einer OpferschutzRL notwendig der Schutz der Opferinteressen im Vordergrund steht, der im Übrigen zweifelsohne gerade im Rahmen von Wiedergutmachungsverfahren von essenzieller Bedeutung ist, so erscheint die im Rahmen des Art 12 betriebene höchst einseitige Abstellung auf die „Opfernützlichkeit“93 der spezialpräventiv konstruktiven Reaktionsform der Wiedergutmachung doch hinterfragenswert und wird dem Wesen und Potenzial von Wiedergutmachung nicht gerecht.

Eine deutliche – wenngleich wiederum unter essenziellen Einschränkungsmöglichkeiten stehende – Anhebung des bisherigen Mindeststandards im Bereich der Teilnahmerechte findet sich in Art 11, der das „Recht bei Verzicht auf Strafverfolgung“, konkret das Recht des Opfers auf Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung, normiert. Siehe dazu bereits die Ausführungen oben unter 2.3.5.

2.4.3 Schutz und Schonung

Kapitel 4 befasst sich mit dem „Schutz der Opfer und Anerkennung von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen“. Bereits aus dem Titel ergibt sich der von der OpferschutzRL gewählte zweistufige Schutzmechanismus in Form der Gewährung allgemeiner Schutzrechte sowie besonderer Schutzrechte für bestimmte Opfer. Was sich aus dem Titel nicht explizit ergibt, ist der überdies gewählte zweigestaltige Schutzmechanismus: Schutz bedeutet nicht nur Schutz vor Gefahr (der Tatwiederholung, Vergeltung, Einschüchterung) durch die Verdächtige/den Verdächtigen, sondern überdies Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte (Behörden, Medien etc) während des Strafverfahrens im Sinne von Schonung.

Art 18 gewährt allen Opfern sowie deren Familienangehörigen94 einen grundlegenden Anspruch auf Schutzmaßnahmen zur Vermeidung sekundärer und wiederholter Viktimisierung, wobei Einschüchterung und Vergeltung eigens hervorgehoben werden (allgemeine Schutzrechte). Explizite Regelung erfahren in weiterer Folge das Recht des Opfers auf Vermeidung des Zusammentreffens mit der Straftäterin/dem Straftäter (Art 19), das Recht auf Schutz der Opfer während der strafrechtlichen Ermittlungen in Gestalt der alsbaldigen und auf die Mindestanzahl, konkret auf deren unbedingte Erforderlichkeit, reduzierten Einvernahme(n) und medizinischen Untersuchungen sowie in Gestalt der Begleitung durch ihre rechtliche Vertreterin/ihren rechtlichen Vertreter und eine Vertrauensperson (Art 20) und das Recht auf Schutz der Privatsphäre (Art 21).

Mit Art 22 über die individuelle Begutachtung beginnt der Abschnitt über die besonderen Schutzrechte, die sich auf bestimmte – als besonders schutzbedürftig erkannte – Opfer beschränken, jedoch sowohl Schutz vor von der Verdächtigen/ vom Verdächtigen ausgehender Gefahr als auch sekundärer Viktimisierung bieten sollen (zu Art 22 siehe im Übrigen oben unter 2.3.1).

3 Fazit

Die OpferschutzRL (die inhaltlich in der Tat vorrangig eine Opferschutzrichtlinie ist) strebt – als im Vergleich zum abgelösten Rahmenbeschluss wirkmächtigeres, weil sowohl durch die Kommission als auch durch die Einzelne/den Einzelnen letztlich durchsetzbares, Rechtsinstrument95 – danach, die bestehenden (national allerdings noch nicht ausreichend umgesetzten) europäischen Mindeststandards im Bereich der Opferrechte weiter anzuheben, indem sie zum Teil striktere bzw klarere Formulierungen wählt96, zum Teil auch über die im Rahmenbeschluss niedergelegten Standards hinausgeht, dh Rechte ausdehnt oder neue Rechte, wie etwa in Art 11, 20 oder 22, formuliert, und überdies ein wirkungsvolleres Monitoring-System einführt97.

Auch wenn die OpferschutzRL im internationalen Schrifttum zuweilen als sehr ambitioniertes bzw einen signifikanten Fortschritt repräsentierendes Instrument oder gar als Meilenstein gelobt wird98 und es keinen Zweifel daran gibt, dass ihr Inhalt jedenfalls den aktuellen internationalen „state of the art“ darstellt, so hat diese Einschätzung lediglich für manche Bereiche ihre Berechtigung.

Ein großes Verdienst der OpferschutzRL liegt zweifelsohne in der weiteren Anhebung des Schutz- und Unterstützungsstandards, der stärkeren Berücksichtigung individueller und spezifischer Opferbedürfnisse unter starker Fokussierung auf die Verhinderung sekundärer Viktimisierung sowie in der Ausdehnung des Opferbegriffs auf Familienangehörige. In diesem Bereich schießt die OpferschutzRL zuweilen sogar über das Ziel hinaus (so im Kontext der individuellen Begutachtung).

Äußerst zurückhaltend ist die OpferschutzRL demgegenüber hinsichtlich der Gewährung von aktiven Teilnahmerechten an das Opfer. Dies ist zurückzuführen auf die großen Unterschiede in den einzelnen mitgliedstaatlichen Strafverfahrensordnungen betreffend die Rolle, in welcher das Opfer die strafprozessuale Arena betritt99. Diese vom nationalen Recht jeweils zugestandene Rolle bleibt unangetastet. Die essenziellen prozessualen Aktivrechte der OpferschutzRL sind mit eben dieser Rolle unmittelbar verknüpft, sodass sie nur schlagend werden, wenn dem Opfer überhaupt eine entsprechende Rechtsstellung gewährt wird. Dies gilt etwa für die Rechte auf Information betreffend das Verfahren (Art 6) sowie auf Dolmetschleistung und Übersetzung (Art 7), auf Überprüfung eines Verfolgungsverzichts (Art 11), auf Prozesskostenhilfe (Art 13) oder auf Kostenerstattung (Art 14). Ein Akteneinsichtsrecht des Opfers wird nicht explizit bzw als solches vorgesehen, sondern ergibt sich lediglich aus dem Kontext gewisser Informationsund Übersetzungsrechte100. Unbefriedigend ist auch die reine Fokussierung auf den Schutzaspekt im Rahmen von Wiedergutmachungsdiensten ohne Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Bereitstellung solcher Dienste überhaupt. Selbst für den Fall der Gewährung weitreichender prozeduraler Rechte verlangt die OpferschutzRL aber weitestgehend ohnehin keine Durchsetzungsmöglichkeiten in Form von Rechtsmittelrechten.

Die Wirkung der OpferschutzRL steht und fällt freilich zunächst mit deren Umsetzung in die nationalen Rechtsordnungen, dh mit der Schaffung von niedergeschriebenem Recht, hängt aber letztlich entscheidend von der praktischen Umsetzung bzw Handhabung der Opferbelange in der Praxis ab, die ihrerseits sowohl von Sensibilisierung, Bewusstseinsbildung, Schulung, Training als auch Ressourcen abhängig ist. Entscheidend ist die effektive Gewährleistung ausreichender Unterstützung für Opfer, damit sie imstande sind, ihre Rechte auszuüben101.

„Paper compliance“ ist notwendig, aber nicht ausreichend. Von Seiten der EU wird daher neben der Schaffung von Rechtsakten auch die Tätigkeit von staatlichen sowie nichtstaatlichen Opferhilfeorganisationen finanziell unterstützt102 sowie nunmehr bzw weiterhin insb die „angemessene Übertragung, Umsetzung und Anwendung der vor kurzem angenommenen EU-Maßnahmen“ als „ein Schwerpunkt der EU-Maßnahmen im Bereich Opferrechte“ betrachtet103.

Alles in allem stellen die in der OpferschutzRL postulierten Mindeststandards einen weiteren essenziellen Schritt in die Richtung eines fairen Strafverfahrens auch für Opfer dar, der nur auf Basis gewisser Kompromisse bzw Einräumung von mitgliedstaatlichem Ermessen möglich war und der überdies die Gefahr einer bei den zuständigen Behörden eintretenden victim fatigue vermeidet.

Literatur

Bock, Das europäische Opferrechtspaket: zwischen substanziellem Fortschritt und blindem Aktionismus, ZIS 4/2014, 201–211

Buczma, An overview of the law concerning protection of victims of crime in the view of the adoption of the Directive 2012/29/EU establishing minimum standards on the rights, support and protection of victims of crime in the European Union, ERA Forum (2013), 235–250

Dearing, Das Recht des Opfers auf ein Strafverfahren und die Strafpflicht des Staates nach der EMRK, in Dearing/Löschnig-Gspandl