Ostfriesentod - Klaus-Peter Wolf - E-Book + Hörbuch

Ostfriesentod Hörbuch

Klaus-Peter Wolf

4,5

Beschreibung

Aufwühlend und hoch-spannend: Ann Kathrin Klaasen unter Mordverdacht! Der elfte Fall für Ostfrieslands beliebteste Kommissarin. Kultautor Klaus-Peter Wolf zieht uns in einen Fall von Manipulation, Lüge und Verführbarkeit, der den Leser bis zur letzten Seite mitfiebern lässt. Schlimmer hätte es nicht kommen können: Ann Kathrin Klaasens Twingo war geblitzt worden, aber zu einer Zeit und an einem Ort, an dem sie nicht gewesen sein konnte. Definitiv nicht gewesen war. Dann der noch größere Schock: Sie soll eine Frau erschossen haben. Mit ihrer eigenen Dienstwaffe. Die Beweise gegen Ann Kathrin sind erdrückend. Jemand hat sich ihrer Identität bemächtigt. Jemand verübt in ihrem Namen Straftaten. Jemand will sie vernichten. Nervenaufreibend, perfide und einmal mehr unglaublich spannend: Der neue Kriminalroman mit Ann Kathrin Klaasen lässt den Leser mitfiebern, er wohnt einem riesengroßen Unrecht bei, das niemanden kaltlässt.

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Zeit:18 Std. 38 min

Sprecher:Klaus-Peter Wolf

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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesentod

Der elfte Fall für Ann Kathrin Klaasen

FISCHER E-Books

Inhalt

[Ostfrieslandkarte][Zitate]Es hatte alles ganz [...]Martin Büscher wirkte merkwürdig [...]Sie saß mit drei [...]In der Garage schnippte [...]Als Katja Schubert die [...]Auf dem Marktplatz in [...]Charlie Thiekötter hatte nach [...]Ann Kathrin fuhr zum [...]Ann Kathrin Klaasen hatte [...]Im dunklen Büroraum spiegelte [...]»Du bist so hart, [...]Solche Sonnenaufgänge konnten Menschen [...]Auf dem Weg nach [...]Leseprobe OstfriesenfluchLuft! Endlich wieder frische [...]»Die Wahrheit suchen«

»Wenn dir dein Gott, dein Guru oder dein Staatsoberhaupt befiehlt zu töten, dann lauf weg! Dein Gott irrt sich. Dein Guru lügt. Dein Staatsoberhaupt wird bald schon keins mehr sein.«

Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, Kripo Aurich

»Ich glaube manchmal, Ann Kathrins Zweitwagen ist ein Besen.«

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich

»Wer wirklich etwas erreichen will, sucht und findet Wege. Wer keinen Bock hat, sucht und findet Gründe.«

Martin Büscher, Leiter Zentraler Kriminaldienst der Polizeiinspektion Aurich-Wittmund

Es hatte alles ganz harmlos begonnen. Ein kleiner Spaß. Ein Studentenstreich. Mehr nicht. Aber jetzt brannte das Haus, und einer war tot …

Innerlich wehrte Sigmar sich dagegen, dafür verantwortlich zu sein, und gleichzeitig weidete er sich an seiner Macht. Er hatte Hauke Hinrichs tatsächlich so weit getrieben, selber Schluss zu machen.

Er stand auf der Norddeicher Straße und sah zu, wie die Flammen hinter den Fenstern flackerten.

Entweder hat der Idiot keinen Rauchmelder, oder er hat vorher die Batterien rausgenommen, dachte er. Ja, vermutlich wollte er verhindern, dass jemand aufmerksam wird und rechtzeitig Rettung kommt. Die Hütte sollte bis auf die Grundfesten niederbrennen.

Er fühlte sich, als würde er Hauke Hinrichs’ letzten Willen erfüllen, indem er jetzt nicht die Feuerwehr rief, sondern dabei zusah, wie sich die Flammen zum Dachstuhl durchfraßen.

Schon als Kind hatte er gern Streiche gespielt, nur war er dabei meist erwischt worden. Die Strafen hatte er stets gelassen ertragen. Manchmal musste er dabei sogar grinsen, denn er stellte sich die Folgen seiner Taten vor, ließ sie vor seinem inneren Auge passieren und lachte noch Tränen, nachdem der Schmerz der Ohrfeige längst verflogen war.

Sein Vater hatte ihn ermahnt: »Sigmar! Ein Indianer kennt keinen Schmerz.«

Er war kein Indianer und nahm den Satz als Zeichen für die galoppierende Verblödung seines Vaters. Er hatte doch nicht geweint, weil die Ohrfeige weh tat, sondern weil der Anblick so herrlich gewesen war, als die Nachbarin, die blöde Ziege, an dem Faden gezogen hatte. Nie wieder würde er dieses Bild vergessen! Er hatte zwölf mit Wasser gefüllte Plastikbecher, in denen einmal Joghurt gewesen war, aneinandergebunden und auf die Fensterbank gestellt. Eine Schnur baumelte herunter, daran hing ein Zettel. Und darauf stand: Bitte ziehen!

Sie hatte daran gezogen, und zwölf Plastikbecher waren nach unten gesegelt. Frau Sudhausen wurde pudelnass und kreischte vor Wut. Sie trat zornig mit dem Fuß auf. Puterrot war sie im Gesicht.

Leider gab es damals noch keine Filmchen auf Facebook. Herrje, das wäre dort ein Hit geworden! So hatte er es nur in seinem Kopf gespeichert.

Er lachte noch heute, wenn er an diesen gelungenen Streich dachte. Schadenfreude war die schönste Freude, besonders, wenn der andere sich den Schaden selbst zufügte und sich deswegen auch noch schämte.

Die Norddeicher Straße war jetzt kaum befahren. Noch vor einer halben Stunde war das ganz anders gewesen, weil viele Touristen zum Fähranleger unterwegs waren. Die Frisia V hatte noch auf den verspäteten IC gewartet. Als der endlich Norddeich Mole erreichte, war es schon fast zu spät, um nach Juist auszulaufen. Der Rhythmus von Ebbe und Flut war pünktlich wie immer und ließ sich nicht ernsthaft von menschlichem Termindruck oder der Deutschen Bahn beeinflussen.

Irgendjemand war da noch im Haus und schrie. Waren das Kinder? Oder Katzen?

Auf einem Kymco-Motorroller näherte sich eine Frau von beeindruckender Gestalt. Sie hieß Gudrun Garthoff und war unterwegs zu Ann Kathrin Klaasen.

Sie sah die Flammen, bremste und stieg vom Motorroller. Sie nahm ihren schwarzen Helm ab.

Mist, dachte er. Die wird noch alles verderben.

Jetzt winkte sie ihm auch noch. Er tat, als ob er nichts bemerken würde.

Sie rief: »Hallo! Da brennt es! Haalloooo!«

Er reagierte nicht. Sie vermieste ihm ja das ganze Vergnügen. Er wollte ruhig hier stehen, zuschauen und genießen, und nun versaute sie alles.

Sie machte ihn echt wütend!

Jetzt sprach sie in ihr Handy. Sie hatte ein lautes Organ. So, wie sie telefonierte, hatte sie überhaupt kein Handy nötig. Die Polizeiinspektion war ja keinen Kilometer weit entfernt.

Verflucht! Polizei und Feuerwehr werden gleich hier sein. Besser, ich verziehe mich …

Es war zwar so gut wie unmöglich, einen Zusammenhang zwischen ihm und dem tragischen Geschehen herzustellen, aber es war trotzdem besser, in keiner Polizeiakte aufzutauchen.

Gudrun Garthoff überquerte jetzt die Straße und lief auf ihn zu.

»Wir müssen helfen! Schnell! Vielleicht sind da noch Menschen drin! Da schreit doch einer!«, rief sie und lief zum Haus zurück.

Er stand stocksteif. Die Motorrollerfahrerin versuchte jetzt, die Haustür zu öffnen. Sie klingelte, und gleichzeitig warf sie sich gegen die Holztür.

Er rannte weg.

Gudrun Garthoff rief hinter ihm her: »He! Sie können doch jetzt nicht weglaufen! Haallooo?!«

Ann Kathrin Klaasen hatte aufgegeben. Sie musste es sich zugestehen: Sie schaffte es einfach nicht. Manchmal, wenn sie nach einem Zehnstundentag nach Hause kam, saß sie geschafft vor dem Fernseher, sah sich Sendungen an, die weder ihrem Geschmack noch ihrem Bildungsniveau entsprachen, und wenn Weller nicht gekocht hatte, aß sie irgendetwas, das gerade greifbar war. Sie sah dann nicht, ob die Fenster geputzt werden mussten oder ob sich die Bügelwäsche im Badezimmer türmte.

Wenn sie versuchte, sich in einen Fall wirklich zu versenken, erst alles aus der Perspektive des Opfers zu sehen und dann aus der des Täters, dann war sie wenig alltagstauglich, wurde blind für Hausarbeit oder Geburtstagspost. Sie vergaß, die Blumen zu gießen, Rechnungen zu bezahlen oder den Wagen zum TÜV zu fahren.

Nein, an Weller lag es nicht. Dem konnte sie nun wirklich keinen Vorwurf machen. Er kochte gern und gut, hatte keine Angst vor einem Staubsauger, sondern tanzte mit ihm, dass sie beim Zuschauen fast eifersüchtig wurde, hörte Steppenwolf, am liebsten Born to be wild, und grölte laut mit:

»Get your motor runnin’,

head out on the highway,

looking for adventure

in whatever comes our way.«

Manchmal sah es aus, als würde er Hausarbeit mit einer Orgie verwechseln, und dabei trank er mit Vorliebe spanischen Rotwein. Aber er machte es eben nicht regelmäßig, sondern nur anfallartig. Manchmal mitten in der Nacht, wenn sie noch Dienst hatte und er schon zu Hause war. Wenn sie sich dann ihrem Haus im Distelkamp näherte, hörte es sich an, als würde dort eine Party steigen.

Ab jetzt sollte alles in geordneteren Bahnen laufen. Ann Kathrin hatte sich mit ihrer Freundin Gudrun Garthoff geeinigt. Gudrun war bereit, die beiden als Haushaltshilfe zu entlasten. Heute Morgen sollte ihr Dienst beginnen.

Ann Kathrin sah auf die Uhr. Sie hatte Mühe, alles so zu lassen, wie es war. Am liebsten hätte sie saubergemacht, die Spülmaschine ausgeräumt und noch schnell die Hemden gebügelt, bevor Gudrun kam. Ein bisschen genierte sie sich vor ihr, weil sie es einfach nicht alleine hinbekam. Gleichzeitig kam sie sich lächerlich dabei vor, sauberzumachen, bevor Gudrun kam, nur um dann vor ihr besser dazustehen …

Das alles wird sich mit der Zeit abschleifen, dachte sie. Ich könnte nicht jeden in unseren Haushalt lassen. Gudrun schon.

Ann Kathrin zwang sich, jetzt nicht die Küche aufzuräumen und die große Pfanne zu spülen, in der Weller am Vorabend die Zanderfilets auf der Haut gebraten hatte. Stattdessen ging sie die Holztreppe hoch in ihr Arbeitszimmer und sah sich den Schreibtisch an, der wie eine Papiermüllhalde auf sie wirkte.

Das hier konnte Gudrun nicht für sie erledigen, da musste sie schon selber ran. Es galt, Rechnungen zu überweisen, den Stromzähler abzulesen und … ach …

Den blauen Brief aus Emden öffnete sie zuerst. Sie wusste, darin konnte nur eine Verwarnung für eine Verkehrsordnungswidrigkeit stecken, vermutlich mit einem Zahlschein.

Angeblich war Ann Kathrin auf der Auricher Straße in Emden, wo nur fünfzig Stundenkilometer erlaubt waren, achtzig gefahren. Sie wusste genau, wo der Blitzautomat stand. Manchmal hatte sie direkt dahinter bei der Jet-Tankstelle getankt. Zweimal war sie Ende Mai während der Matjes-Wochen dort geblitzt worden. Weller hatte über sie gelacht: »Den Kasten kennt doch jeder! Da kassiert die Stadt Emden eine Dummensteuer für Touristen.«

War er jetzt selbst mit achtzig in die Falle gerasselt? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er kannte doch diese Stelle nur zu genau.

Dann guckte sie sich das Foto an, und für einen Moment stockte ihr der Atem.

Auf dem Bild war eine blonde Frau, die eine für ihr Gesicht viel zu große Sonnenbrille trug. Damit sah sie aus wie Puck, die Stubenfliege, fand Ann Kathrin. Trotzdem hatte sie zweifellos Ähnlichkeit mit ihr, aber Ann Kathrin war sich sicher: Sie war das hier ganz sicher nicht!

Zunächst hielt Ann Kathrin alles für einen Irrtum. Sie sah sich das Autokennzeichen an. Es stimmte.

Ann Kathrin holte die Lupe aus der Schreibtischschublade, um das Foto genauer zu untersuchen. Nein, sie kannte diese Frau nicht.

Wer, verdammt, dachte sie, fährt mit unserem C4 durch die Gegend und verstößt dabei gegen Verkehrsregeln?

Gudrun Garthoff wusste nicht, ob sie wirklich ein Kind schreien hörte oder sich das nur einbildete. In ihrer Phantasie steckte hier ein Kind in einer brennenden Wohnung fest.

Sie war selbst Mutter und kannte jetzt keine Hindernisse mehr, sondern nur noch Lösungen.

Da rennt der einfach weg … Männer!, dachte Gudrun und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür. Das Holz krachte, und oben lockerten sich bereits die Scharniere. Sie nahm Anlauf, trat noch einmal gegen das Schloss, und die Tür flog auf.

Hier unten sah sie keine Flammen, sondern nur Qualm. Sie wedelte mit den Armen durch die Luft. Sie wollte nicht gegen irgendwelche Gegenstände laufen. Ihre Augen brannten, und sie hustete.

Sie fragte sich, ob die Motorradkleidung sie vor Hitze und Flammen schützen würde. Ein Atemgerät wäre ihr aber lieber gewesen.

»Hallo!«, schrie sie, »hallo, ist hier jemand?« Und wieder war ihr, als würde sie das Kreischen eines Kindes hören. Jämmerlich.

Sie stellte sich ein Kleinkind vor, höchstens zwei oder drei Jahre alt. Vor ihrem inneren Auge tobte das verzweifelte Kind in einem Laufstall.

Intuitiv entschloss Gudrun sich, nicht die Treppe hochzulaufen, sondern unten weiterzusuchen. Auch hier eine verschlossene Tür.

Zum zweiten Mal an diesem Tag brach sie eine Tür auf und war froh über die gepolsterten Schultern ihrer Motorradjacke.

Es war, als würde das Feuer aus der Decke kommen. Es brannte über ihr. Hier war kein Kind, aber sie sah die Spielsachen. Legosteine. Sie stolperte über ein Feuerwehrauto aus Plastik. Die Ironie der Situation wurde ihr aber erst sehr viel später bewusst.

»Hallo«, rief sie, »wo bist du? Hallo! Keine Angst, ich bin schon da …«

Sie bekam keine Antwort, als hätte ihre Stimme das Kind verstummen lassen.

Dicke schwarze, nach verbranntem Plastik riechende Rauchschwaden griffen nach ihr wie Gespensterwesen. Sie sah nur die Gegenstände auf dem Boden. Ab Hüfthöhe stand sie im Qualm.

Langsam tastete sie sich vorwärts. Sie hätte nur zu gern mit ihrem Handy noch einmal die Polizei verständigt, doch sie musste es beim Eindringen ins Haus verloren haben.

Sie rief noch einmal nach dem Kind. Vielleicht, dachte sie, ist es ohnmächtig geworden. Sie wehrte sich selbst gegen ein Schwindelgefühl.

Sie ging auf alle viere runter und krabbelte über den Boden. Hier unten war die Luft besser, und sie konnte auch mehr sehen. Ein Sessel. Ein Sofa. Eine Packung Zigaretten auf dem Tisch.

Die nächste Tür stand halb offen. Das war das Kinderzimmer, ganz klar. Gudrun kroch über einen Lernteppich für Verkehrsregeln.

Dann sah sie das Kind. Starr vor Angst, mit weit aufgerissenen Augen, unterm eigenen Bett.

Gudrun versuchte, das Kind zu beruhigen. »Keine Angst, ich komme, um dich zu holen. Komm. Wir gehen nach draußen.«

Das Kind wich auf dem Bauch kriechend zurück.

»Wie heißt du denn? Komm zu mir.« Gudrun streckte die Hand aus.

Irgendwo hinter ihr im Wohnzimmer oder Hausflur krachten Deckenstücke herunter. Die Kinnlade des kleinen Mädchens zitterte. Ihr Mund verzog sich.

Es tat Gudrun Garthoff in der Seele weh, aber es ging jetzt nicht anders. Sie griff unters Bett, langte nach dem Kind, bekam es zu fassen und zog das Mädchen hervor. Die Kleine brüllte, schrie und schlug um sich. Gudrun presste das Mädchen an sich und hatte den Impuls, mit ihm nach draußen zu rennen. Gleichzeitig wollte sie das Kind nicht dem über ihr wabernden Qualm aussetzen, deswegen klemmte sie sich das Kind unter den Arm und robbte auf dem Boden in den Flur.

Draußen hielt mit quietschenden Reifen ein Polizeiwagen.

Im Flur richtete Gudrun sich mit dem Kind auf und lief in den Vorgarten.

Das Kind lebte und sie auch. An der frischen Luft packte sie, noch während sie von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde, eine unbändige Freude. Sie hatte es geschafft!

Weller und Rupert stiegen aus dem Polizeiwagen.

»Ich weiß nicht, ob da drin noch mehr Menschen sind!«, rief Gudrun ihnen zu, »ich habe dieses Kind rausgeholt! Ich habe das Mädchen schreien gehört!«

»So ein kleines Kind lässt man doch nicht alleine«, sagte Weller trocken.

Rupert zuckte nur mit den Schultern.

Die Alarmsirenen mehrerer Feuerwehrautos wirkten beruhigend auf Gudrun.

Sie hatte nicht vor, noch einmal ins Haus zu laufen. Sie setzte sich mit dem Kind ins Gras.

Ann Kathrin Klaasen hatte vergeblich auf ihre Haushaltshilfe gewartet. Sie wertete das Ganze als ein Zeichen, doch besser alles selbst zu machen, und begann nun aufzuräumen.

Konzentriert stopfte sie Bettlaken in die Waschmaschine. Dieses Foto ging ihr nicht aus dem Kopf. Nein, auch wenn die Frau auf dem Bild ihr ähnlich sah, sie konnte es nicht sein. Sie hatte an dem Tag zu der Zeit Dienst gehabt. Sie war exakt zu dem Zeitpunkt nicht in Emden, sondern in Greetsiel gewesen und hatte einem gewalttätigen Ehemann den Unterarm gebrochen. Sie konnte nicht von sich behaupten, stolz darauf zu sein, aber sie bedauerte es auch nicht gerade.

Sie hatte schon mehrfach mit ihm Kontakt gehabt. Er galt als Frauenschläger. Niemals prügelte er sich mit Männern, sondern wenn Wut und Alkohol ihn toll gemacht hatten, ging er auf Frauen los. Seine vierzehnjährige Tochter und seine Noch-Ehefrau gehörten zu seinen Lieblingsopfern. Aber auch eine Aushilfskellnerin hatte er bereits attackiert, weil sie ihn angeblich herablassend behandelt hatte.

»Versuch’s doch mal mit mir!«, hatte Ann Kathrin ihm vorgeschlagen, und er war dumm genug gewesen, dieses Angebot ernst zu nehmen.

Da der Vorfall genau dokumentiert worden war, wusste Ann Kathrin, dass sie auf keinen Fall die Frau sein konnte, die in Emden in ihrem C4 geblitzt worden war.

Vielleicht hatte ihr Sohn Eike sich den Wagen ausgeliehen und vergessen, es ihr zu erzählen. Aber Eike war keine blonde Frau Anfang vierzig. Hatte er den Wagen verliehen? Hatte Weller eine Freundin? Das alles ergab überhaupt keinen Sinn.

Ann Kathrin war jetzt wieder zurück in der Küche, wollte die Spülmaschine einräumen und sich einen Kaffee kochen, fragte sich aber, ob sie die Waschmaschine oben überhaupt eingeschaltet hatte. Sie lief noch einmal die Treppe hoch. Sie war noch nicht ganz oben, da heulte der Seehund in ihrem Handy auf. Ann Kathrin hatte das Gerät sofort am Ohr.

»Moin.«

»Ann? Die Firma braucht dich. Der Wellnessurlaub ist beendet.«

»Was für ein Wellnessurlaub?«

»Das sollte ein Scherz sein«, sagte Weller. »Wir sind in der Norddeicher Straße. Es brennt. Gudrun Garthoff ist bei mir, sie hat ein Kind aus dem Haus gerettet und einen Typen weglaufen sehen. Oben wird gerade eine Leiche geborgen. Ich glaube, du solltest …«

»Bis gleich«, sagte sie, knipste das Gespräch weg und gab dann dem Handy einen Kuss, als sei es Weller.

Gudrun Garthoff hat ein Kind gerettet, dachte Ann Kathrin, während sie den Wagen aus der Garage fuhr. Irgendwie hat sie dann ja doch meine Arbeit erledigt, wenn auch völlig anders, als ich mir das vorgestellt hatte.

Sie bog in den Flökershauser Weg ein und nahm dann die neue Umgehungsstraße. Das Foto ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.

Verdammt, wer fährt während meiner Dienstzeit mit unserem Auto herum?

Die fünfzehnjährige Chantal Haase lief schreiend auf das brennende Gebäude zu. Zwei Feuerwehrmänner hielten sie auf.

Chantal konnte vor Aufregung und Empörung kaum sprechen. Es war, als würde sie jeden Moment hyperventilieren. Schon war Hauptkommissar Weller bei ihr. Er sah ihr an, dass sie etwas wusste: »Sind noch Personen im Haus?«

Chantal wollte »meine kleine Schwester« sagen, aber es kamen nur Schreckenslaute aus ihrem Mund.

»E… Esther!«, glaubte Weller herauszuhören. Er zeigte auf das Kind in Gudrun Garthoffs Armen. »Sind außer der Kleinen da noch mehr Personen im Haus?«

Der Blick auf ihre Schwester löste einen Weinkrampf aus.

Als Ann Kathrin Klaasen ankam, drückte Chantal ihr Gesicht schluchzend gegen Wellers Brust. Er streichelte ihre Haare. Die beiden wirkten wie der Welt entrückt, im Fluchtraum einer anderen Dimension.

Ann Kathrin kannte solches Verhalten. Manchmal flohen Menschen in sich selbst hinein. In seelische Kindheitsräume. Wenn das Geschehen um sie herum zu horrormäßig wurde, klinkten sie sich einfach aus, waren zwar körperlich noch da, aber seelisch nicht mehr anwesend.

Dieses weinende Mädchen in seinen Armen erinnerte Weller an seine zwei Töchter aus erster Ehe, die er schon lange nicht mehr so anlehnungsbedürftig erlebt hatte. Er vermisste dieses Kuscheln. Die körperliche Nähe. Es tat ihm gut, Chantal väterlichen Schutz zu gewähren.

Sie versuchte wieder, etwas zu sagen. »… schlagen mich tot …«, hörte Weller.

»Wer schlägt dich?«, fragte er mit einem Tonfall, der klarmachte, dass er sie in Zukunft beschützen würde, aber Chantal antwortete nicht, sondern weinte nur noch lauter.

Ann Kathrin erkannte sofort, dass ihr Mann hier gerade seine Vatergefühle auslebte. Oben schlugen die Flammen aus dem Fenster, und unten trugen Feuerwehrleute eine Leiche nach draußen.

Gudrun Garthoff hielt dem kleinen Kind die Augen zu und sah selbst weg. Solche Bilder wollte sie erst gar nicht in ihren Gedächtnisspeicher aufnehmen.

Ann Kathrin Klaasen sah sich den Toten genau an. Schon oft hatten ihr die ersten Eindrücke bei der Lösung eines Falles geholfen.

An seinem Hals baumelte ein Strick wie eine falsch gebundene Krawatte.

»Wir haben ihn im Dachgeschoss abgeschnitten«, sagte der Hauptfeuerwehrmann.

Rupert brummte: »An einer Rauchvergiftung ist der jedenfalls nicht gestorben.«

Rupert war ein bisschen neidisch auf Weller. Er hätte die kleine Chantal mit den hübschen blonden Haaren auch gerne getröstet. Ihn sah sie aber nicht mal an.

Aus Wellers schützender Umarmung riskierte Chantal jetzt einen Blick und kreischte: »Hauke!«

Die Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge lockten Neugierige an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite und auf dem Radweg hatten sich Menschentrauben gebildet. Handyfotos wurden gemacht.

Ein Notarzt untersuchte das kleine Mädchen und Gudrun Garthoff.

Rupert hatte die Hände in den Hosentaschen. Er sagte: »Im Grunde gibt es für uns doch hier jetzt nichts mehr zu tun. Das ist was für die Spusi und die Jungs von der Kriminaltechnik. Hier müssen Sachverständige her und die Brandursache feststellen …« Er beugte sich zu Weller und flüsterte: »Mich macht so ein Feuer immer durstig. Ich meine, dieser ganze Qualm und all der Mist in der Luft, da brauche ich erst mal dringend ein Pils.«

Weller reagierte nicht, und Rupert rief Ann Kathrin zu: »Ich hab den Schreibtisch voll! Also, wenn ich hier jetzt nicht gebraucht werde, dann …«

Ann Kathrin zeigte auf die Menschenansammlung. »Die Zeugen müssen befragt werden«, mahnte sie.

»Was denn für Zeugen?«, maulte Rupert. »Zwischen Zeugen und Schaulustigen ist ja wohl ein Unterschied.«

»Geh rüber und befrag sie. Hör dir Vermutungen an und Verdächtigungen. Dein Feierabendbier muss warten, bis du Feierabend hast!«

Missmutig ging Rupert zu den Zuschauern. Die Autos fuhren jetzt auf der Norddeicher Straße so langsam, dass lange Schlangen in beide Richtungen entstanden.

Rupert entdeckte drei äußerst attraktive junge Frauen, die mit ihren Rädern aus Norddeich gekommen waren. Sie trugen knallbunte, enganliegende Funktionswäsche. Rupert beschloss, die drei zuerst zu befragen, und seine Laune besserte sich schlagartig.

Gudrun Garthoff erzählte ihrer Freundin Ann Kathrin, was sie selbst erlebt hatte. Sie hustete dabei noch und räusperte sich ständig. Sie war wütend auf einen Mann, der angeblich nicht geholfen hatte: »Ich dachte, was ist das denn für ein Idiot?! Wieso steht der da rum wie ein Schluck Wasser, statt zu helfen? Der muss doch blöd sein wie fünf Meter Landstraße! Ein echter Vollpfosten!«

»Wie sah er denn aus? Steht er noch da drüben bei den anderen?«, fragte Ann Kathrin.

»Nee, der ist getürmt oder einfach weggegangen. Vielleicht«, spottete Gudrun Garthoff, »hat er ja noch irgendwo einen ganz dringenden Termin.« Sie lachte Ann Kathrin an. »Ich hatte ja eigentlich auch einen. Ich wollte heute deinen Haushalt auf Vordermann bringen.«

Ann Kathrin schmunzelte. »Ein Kind vor den Flammen zu retten ist eine ziemlich gute Entschuldigung.«

Gudrun nickte und schnappte heftig nach Luft. »Das kann man wohl sagen.«

Sie hustete und klopfte sich mit der Faust gegen die Brust. Nach einer Weile fragte sie: »Wer lässt denn so ein kleines Kind alleine? Oder war das der Vater, den sie da gerade rausgetragen haben?«

»Die Eltern kennen wir noch nicht, aber das junge Mädchen da in Franks Armen ist wohl die Schwester. Ich vermute, sie sollte auf die Kleine aufpassen und hat sie dann bestimmt nur ganz kurz alleine gelassen.«

Ann Kathrin sah auf die Uhr. Sie hatte schon beim Hingucken ein schlechtes Gewissen. Sie wollte längst bei ihrer alten Schulfreundin Astrid gewesen sein. Sie kannten sich aus Gelsenkirchener Zeiten, vom Grillo-Gymnasium. Inzwischen hatte es Astrid nach Ostfriesland verschlagen. Im Moment befand sie sich zur Chemotherapie in Aurich in der Ubbo-Emmius-Klinik.

Schon Ann Kathrins erster Versuch, sie zu besuchen, war durch einen dringenden Polizeieinsatz verhindert worden.

Wer mit mir befreundet sein will, muss verdammt geduldig sein, dachte sie und schickte Astrid eine WhatsApp-Nachricht:

Bitte sei nicht sauer. Wir hatten einen Brand und einen Toten. Ich glaube, ich schaffe es erst heute Abend.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Mit einem Smiley verkündete Astrid:

Kein Problem, Ann. Hier wird alles ambulant gemacht. Ich vertrage die Chemo gut, besser als früher so manchen Whisky bei unseren Zimmerpartys. Erinnerst du dich noch? Komm am Abend, wenn du Lust hast, dann bin ich auch wieder zu Hause.

Sigmar hielt es nicht länger aus. Er musste einfach dabei sein. Sie würde ihn auslachen, wenn es keine Fotos, keine Filmchen, keine Beweise gab. Sie konnte verdammt gemein lachen. Ihre Häme riss selbst großkotzige Denkmäler vom Sockel. Ihre Verachtung pulverisierte jede noch so arrogante Persönlichkeit. Sie machte aus Professoren Schuljungen und aus Prinzen Landstreicher.

Er liebte und bewunderte sie dafür, aber er hatte auch Angst, vor ihren Augen zum Insekt zu werden und zur Zielscheibe ihres vernichtenden Spottes.

Wie würde sie reagieren? Was fand vor ihren Augen Gefallen? Würde sie ihn zum Idioten stempeln, wenn er jetzt zurückging und alles mit dem Handy filmte, weil es viel zu riskant war und die Möglichkeit, entdeckt zu werden, zu groß? Oder würde er für sie zum Helden, der trotz der Gefahr cool blieb und sich nicht nervös machen ließ?

Er hatte sich den schwarzen Fahrradhelm aufgesetzt und darunter ein Stirnband bis tief über die Ohren gezogen. Dann die große Sonnenbrille. Er sah jetzt anders aus als vor einer Viertelstunde, aber er war trotzdem froh, als er sah, dass diese Motorrollerfahrerin, die in das brennende Haus eingedrungen war, mit dieser blonden Frau wegfuhr. Das war also Ann Kathrin Klaasen. Die echte.

Er hielt sein Handy hoch und filmte die zwei, wie sie ins Auto stiegen. Er versuchte sogar, die Gesichter heranzuzoomen. Es gelang, aber die Szene verwackelte.

Maggie war anspruchsvoll. Sie gab sich nicht mit Halbheiten zufrieden. Für Maggie musste es perfekt sein.

Sie nannte ihn »ihren Krieger«. Sie sollte stolz auf ihn sein können!

Sigmar hoffte, viele gute Aufnahmen vom Brand und vom Einsatz der Feuerwehr im Netz zu finden. Bestimmt wurden jetzt schon die ersten Filme auf Facebook gepostet. Er konnte daraus etwas für Maggie zusammenschneiden, das ihr Freude machen würde. Eigentlich wollte sie jetzt keine Kontaktaufnahme. Das war eine strenge Regel. Sie hatte es ihm klar untersagt, aber er musste sie doch informieren … Wenigstens das. Kommentarlos ein Filmchen. Galt das auch schon als verbotener Kontaktversuch?

Er hoffte vor allem, ein paar gute Aufnahmen von Hauke Hinrichs zu finden, dem toten, verkohlten Hauke. Ein Häufchen Elend, mehr war von ihm nicht übriggeblieben.

Er wunderte sich, wie schnell es möglich war, aus einem aufgeblasenen, eitlen Gockel die Luft herauszulassen, wenn man wusste, welche Knöpfe man drücken musste, und genug von Psychologie verstand. Die Schwächen und Absturzstellen des Gegenübers zu erkennen war Maggies größte Gabe, und er befürchtete, dass sie auch über ihn genug wusste, um ihn zu vernichten. Darum ging es doch am Ende: um Vernichtung.

Zunächst hatten sie diesem Hauke Hinrichs nur einen Denkzettel verpassen wollen, aber dann, als sie merkten, wie leicht er zu verunsichern war, da fanden sie Spaß daran, immer weiter zu gehen. Es war ein aufregendes Spiel voller Möglichkeiten, Überraschungen und Zufälle. Das Spiel des Lebens.

Er wollte nie, niemals zur Zielscheibe ihres Hasses werden, sondern ihr immer nur assistieren, als hilfreicher Lehrling.

Für diese Bilder erhoffte er sich ihr Wohlwollen. Neben ihm interessierte sich jetzt ein Polizeibeamter, der sich aufführte, als sei er hier der Chef im Ring, für drei Radfahrerinnen aus Bochum-Wattenscheid. Sie erzählten ihm von ihrem Ostfrieslandtrip. Sie hatten im letzten Jahr schon Mallorca während der Mandelblüte mit dem Rad erkundet, aber Ostfriesland sei, offen gestanden, für sie viel geiler. Es sei nicht so heiß, und es ginge nicht so sehr bergauf und bergab.

Nein, über den Brand und die Ursache konnten sie nichts sagen, aber der Polizist stellte sich als Rupert vor und wollte trotzdem wissen, wo sie übernachten würden: »Falls ich noch Fragen habe … Oder wenn Sie Hilfe benötigen …«

Die Fensterscheiben der Polizeiinspektion am Markt in Norden glänzten im milden Sonnenlicht. Gudrun Garthoff, Frank Weller und Chantal Haase gingen vom Parkplatz auf das Backsteingebäude zu. Ann Kathrin schritt hinter ihnen her, als müsse sie ihnen den Rückzug decken.

Vor dem Marktcafé saßen Menschen bei Mineralwasser und Milchkaffee. Aus der Osterstraße kamen eisschleckende Urlauber und fotografierten die Polizeiinspektion. Der Marktplatz und das Leben darauf signalisierten Ann Kathrin, dass alles gut werden könnte. Die Welt spaltete sich für sie auf in einen hellen, gemütlichen, friedlichen Teil und in einen dunklen, bösen, abgründigen. Manchmal tat sich irgendwo unter einem schön gepflegten Vorgarten die Hölle auf.

Sie hatte das Gefühl, gerade so etwas auf der Norddeicher Straße erlebt zu haben. Jetzt kam es darauf an, Ruhe zu bewahren, sich nicht kirre machen zu lassen und die Sachlage klar und vorurteilsfrei zu bewerten. Nichts geschah für Ann Kathrin Klaasen ohne Grund. Alles hatte seine Ursachen, und sie wollte so schnell wie möglich herausfinden, wer das Höllentor geöffnet hatte, um es dann wieder zu verschließen, bevor noch mehr Unheil geschah.

All das sagte sie nicht. Sie bot stattdessen Sitzplätze an und Kekse. Weller machte Kaffee für alle, und Chantal trank ein großes Glas Leitungswasser in einem Zug leer.

Mit einem Blick verständigten Weller und Ann Kathrin sich darauf, Chantal und Gudrun getrennt voneinander zu befragen. Weller nahm Chantal mit nach nebenan.

Gudrun Garthoff hatte ihre Atmung jetzt unter Kontrolle, lehnte aber den Kaffee ab. Sie sei sowieso schon viel zu flatterig. Sie bat ebenfalls um Leitungswasser.

»Ist das dein Schreibtisch?«, fragte sie Ann Kathrin. Die nickte.

»Hier müsste auch mal jemand aufräumen und ausmisten.«

Ann Kathrin gab ihr recht. »Ja, aber ich fürchte, das muss ich selber tun. Dabei kannst du mir nicht helfen.«

Der Journalist Holger Bloem rief an und fragte, ob er die ostfriesische Heldin sprechen könne, die das Kind gerettet habe. Er wollte ein Porträt machen.

»Später«, sagte Ann Kathrin, »später, du Guter. Dann gerne. Ich finde es toll, wenn Menschen, die etwas Gutes gemacht haben, vorgestellt werden. Leute mit Zivilcourage und dem Mut zu helfen. Die Welt braucht solche Vorbilder, Holger, aber du bist einfach zu früh dran.«

»Besser zu früh als zu spät«, scherzte er.

Gudrun Garthoff konnte sich noch gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, eine Heldin zu sein und im Ostfriesland-Magazin vorgestellt zu werden. Ann Kathrin setzte sich ihr gegenüber hin und sah sie an: »Also, jetzt erzähl noch mal ganz genau von Anfang an. Was war das für ein Mann, den du gesehen hast?«

Gudrun Garthoff stand auf und hielt die Hand in Schulterhöhe. »Er war etwa so groß, vielleicht Mitte zwanzig. So ein Spargeltarzan.«

»Dürr?«, fragte Ann Kathrin.

Gudrun nickte. »Kein Arsch in der Hose, aber Hände in der Tasche, steht der da und guckt zu, wie das Haus brennt.«

»Würdest du ihn wiedererkennen?«

Gudrun Garthoff riss die Augen weit auf und starrte Ann Kathrin an. »Glaubst du, der hatte was damit zu tun?«

Weller legte auf. Er hatte Frau Haase telefonisch informiert. Sie war unterwegs zur Ubbo-Emmius-Klinik, um dort nach ihrer kleinen Tochter zu sehen.

Chantal war erleichtert. Sie hatte wohl befürchtet, ihre Mutter könne hier auftauchen.

Jetzt unterhielt Weller sich mit Chantal, die Kekse in sich hineinstopfte, als sei sie völlig ausgehungert. Weller kannte so eine Reaktion. Manchmal begannen aufgeregte Menschen, Opfer von Verbrechen oder Beschuldigte, in einer Übersprungshandlung zu essen, ohne es auch nur zu merken. Er hatte mal einen Mann erlebt, der eine Tüte Erdnussflips leer aß und danach behauptete, allergisch gegen Erdnüsse zu sein. Noch vor wenigen Tagen hatte eine Zeugin sich eine Zigarette angezündet und mehrfach tief inhaliert, obwohl sie seit Jahren Nichtraucherin war.

Er vermutete, dass Chantal nicht einmal mitkriegte, dass sie die ganze Zeit kaute. Krümel lagen auf ihren Lippen wie Sandkörner, und beim Sprechen flogen weitere Krümel aus ihrem Mund heraus.

Weller hatte das neue Aufnahmegerät eingeschaltet und sprach laut und deutlich, weil er dem Apparat noch nicht traute.

»Du solltest also auf deine kleine Schwester aufpassen und dann …«

»Ich war wirklich nur ganz kurz draußen.«

»Was heißt ganz kurz«, fragte Weller.

»Zehn Minuten, eine Viertelstunde höchstens. Sie schlief, und ich dachte, da könnte ich doch auch mal … Immer muss ich auf die Kleine aufpassen«, klagte sie. »Meine Mutter arbeitet halbtags, aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit ist das ganztags, sie wird bloß halbtags bezahlt, das ist es nämlich! Und ich häng immer mit meiner Schwester rum, und wenn ich mal was für mich tun will, dann …«

»Wann hast du denn das Haus verlassen, und wohin bist du gegangen?«

»Ich war höchstens mal eine Viertelstunde weg.«

»Wohin?«, hakte Weller nach.

»Ich bin zum Bowling gewesen.«

»Zum Bowling?«

Chantal hielt die Hände geradezu flehentlich in Wellers Richtung. »Wenn Sie das meiner Mutter erzählen, rastet die völlig aus! Die steht doch sowieso immer kurz vor einem Nervenzusammenbruch, und alles dreht sich nur um ihren Scheißjob, den Dieter oder die Kleine … Ich komme mir vor wie der Punchingball beim Boxen, der von jedem ein paar reingeballert kriegt.«

»Wer ist Dieter?«

Statt zu antworten, stopfte Chantal sich Schokoladenplätzchen in den Mund. Sie schluckte, würgte und sprach dann mit einer Mehlwolke in Wellers Richtung: »Ich hab’s ihr schon zigmal gesagt! Der nutzt dich nur aus, Mama. Der wird seine Frau nie verlassen. Aber sie hängt nur rum und wartet darauf, dass er mal wieder Zeit für sie hat. So will ich nicht enden, echt nicht!«

»Du warst also beim Bowling. Im Ocean Wave?«

»Nein, in New York!«, giftete sie zurück. Aber sofort wurde sie wieder umgänglicher und rang um Wellers Verständnis: »Das ist meine Clique. Ich will mich doch nicht immer von allem ausschließen.« Sie äffte ihn nach: »Im Ocean Wave?!«

Die Wut, die sie auf ihre Mutter hat, dachte Weller, überträgt sie gerade auf mich, weil ich ein erwachsener Mann bin. Vielleicht ist es auch die Wut auf ihren Vater.

Er fragte nach ihrem Vater, aber Chantal winkte nur ab, als seien Väter genauso ausgestorben wie Dinosaurier.

»Bist du nach Hause zurück, weil du mitgekriegt hast, dass es brennt?«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, weil ich mich mit Kevin gestritten habe.«

»Kevin?«

»Ja, Kevin. Weil ich mich von Kerlen nicht genauso mies behandeln lasse wie meine Mutter.«

»Wie möchtest du denn gerne behandelt werden?«

Sie sah vor sich auf den Tisch. Sie sagte es leise, und Tränen traten in ihre Augen: »Anständig. Als sei ich ein wertvoller, liebenswerter Mensch.«

»Das finde ich gut«, sagte Weller, »denn genau das bist du auch.«

Sie sprang auf, und ehe Weller es sich versah, saß sie halb auf seinem Schoß und kuschelte ihren Kopf an seinen.

»Ich kann nicht nach Hause zurück«, sagte sie. »Nicht nach dem, was passiert ist. Warum kannst du nicht mein Papa sein?«

Weller versuchte, sie von sich wegzuschieben. »Besser, du setzt dich wieder auf den Stuhl …«

Sie zeigte auf das Aufnahmegerät. »Bitte – wenn das hier vorbei ist, dann können Sie mich nicht einfach nach Hause zurückschicken!«

»Nein«, sagte Weller, »vermutlich nicht. Die Löscharbeiten dauern ja noch an. Wir wissen noch nicht, wann das Gebäude überhaupt wieder bewohnbar sein wird.«

»Ich meine nicht das Gebäude.«

»Ich weiß«, sagte Weller. »Ich weiß.«

Weller versuchte, wieder sachlich zu werden: »Was weißt du über diesen Hauke Hinrichs?«

»Der wohnte über uns. Kann ich noch mehr von den Plätzchen haben?«

Weller öffnete einen Aktenschrank. Darin hatte er Chips. Sanddornkekse und eine edle Flasche Rotwein gebunkert. Er riss die Packung mit den Sanddornkeksen auf und bot sie ihr an.

Es war, als würde das Gebäck ihren Redefluss wieder in Gang setzen. »Also, der hat über uns gewohnt und war ein ganz Netter. Der hat mir manchmal bei den Hausarbeiten geholfen.«

»Er war dein Nachhilfelehrer?«

»So würde ich es nicht nennen. Nachhilfelehrer werden doch bezahlt. Der hat das so gemacht, weil er halt nett war. Er hat ganz toll Gitarre gespielt und mir auch Unterricht gegeben.«

Kritisch hakte Weller nach: »Hat er dich angegraben?«

»Nee, so einer war er nicht. Der war nur gut in Mathe. Der konnte Aufgaben schneller im Kopf rechnen als ich am Computer.«

»Was für Aufgaben?«

»Textaufgaben.«

»Was war er denn von Beruf?«

»Er sagte von sich immer, er sei in der Gastro…«

»Koch? Kellner?«

»Ich glaube, am liebsten wäre er Barmixer geworden. Der hat immer so Bücher darüber gelesen und Videos geschaut und alle möglichen Drinks ausprobiert.«

»Hat er die mit dir zusammen ausprobiert?«

Chantal senkte den Blick, schielte Weller dann verstohlen von unten an: »Manchmal schon.«

Weller fragte es freiheraus: »Kannst du dir vorstellen, warum er sich umgebracht hat? Hat er mit dir über seine Probleme geredet?«

»Ich habe versucht, ihm zu helfen. Wirklich.«

Jetzt wurde es für Weller interessant. »Zu helfen? Wobei?«

»Der hatte schreckliche Bewertungen auf diesen Portalen, in denen über Restaurants geschrieben wird. Er sei unfreundlich, unhöflich, unbeholfen.«

»Verstehe ich das richtig? Es kursierten schlechte Kritiken über ihn als Kellner im Internet?«

Sie nickte. »Ja, und ich hab dann versucht, positive dagegenzusetzen.«

»Hat er dich dazu aufgefordert?«

»Ja, nicht direkt, aber …« Sie verzog das Gesicht, als könne sie niemandem helfen, der das nicht verstand.

»Hat er mal davon gesprochen, dass er sich umbringen will oder vorhat, das Haus anzuzünden?«

Sie bestritt das heftig, und Weller fragte: »Hatte er eine Freundin? Eine Frau? Eine Familie? Was weißt du darüber?«

»Die kenne ich alle nicht. Er hat ja immer nur ein halbes Jahr bei uns gewohnt. Zur Saison. Als Kellner. Und im Winter war er dann immer woanders. St. Moritz zum Beispiel oder auf einem Schiff. Das machen viele so …«

Weller nippte an seinem Kaffee und erwischte sich bei dem Gedanken, was aus diesem Mädchen wohl mal werden würde. Mit welchem Männerbild wuchs sie auf? Er musste an seine Töchter denken, und er spürte einen Kloß im Hals. Er räusperte sich.

Chantal beugte sich zu ihm vor und suchte Blickkontakt. »Was ist jetzt?«, fragte sie. »Nimmst du mich mit? Kann ich bei dir bleiben? – In ein Heim will ich nicht!«

Weller schluckte schwer.

Sie saß im Panoramarestaurant Seekrug auf Langeoog und genoss den Meerblick. Die Nordsee war aufgewühlt. Bei klarem Wetter und nur wenigen Schäfchenwolken rollten die Wellen mit einer Wucht an den Strand, als hätten sie vor, die Insel zu fressen. Die weiße Gischt schäumte höher als in den letzten Tagen. Oder kam es ihr von hier oben nur so vor?

Sie liebte die Kraftbrühen im Seekrug. Vom Inselwild, vom Salzwiesenkalb, vom Deichlamm oder vom Langeoog-Rind. Sie hatte das Gefühl, mit diesen Suppen wirklich neue Kraft, Inselenergie, in sich aufzunehmen.

Dieser Ort hier hatte eine besondere Magie für sie. Es gab im Seekrug nur saisonale Produkte aus der Region. Dazu alles in Bioqualität. Das gefiel ihr.

Sie bat den Kellner, noch zu warten, bevor er ihr die bestellte große Senfonie brachte. Käse- und Wurstspezialitäten von ostfriesischen Käsereien und Landhöfen mit drei hausgemachten Senfsorten. Dazu nahm sie einen Sherry. Den hatte sie noch nicht ausgesucht. Aber jetzt wollte sie erst einmal dem Geschmack der Kraftbrühe nachspüren und die Wärme in sich wirken lassen.

Sie atmete tief durch. Alles lief gut. Die Dinge entwickelten sich zu ihrer größten Genugtuung. Sie war inselsüchtig wie so viele, die noch offen genug dafür waren, ihre archaischen Anteile zuzulassen. Ohne die Meere wäre dieser ganze Planet doch ein lebloses Nichts, dachte sie. Alles Leben brauchte das Element Wasser. Das Meer war für sie der Inbegriff von Schöpferkraft. Ein Symbol für Gott, wenn nicht sogar Gott selbst.

Sie lächelte und sagte es leise zu sich selbst: »Der Ozean des Lebens.«

Ja, hier ganz nah an den Naturgewalten wollte sie sitzen und schauen und staunen.

Eine schwarze Wolke war nicht zu sehen, aber Regentropfen perlten an den Scheiben herunter, und ein Regenbogen, in so kraftvollen Farben, als müsse er eine feste, belastbare Struktur haben, wuchs aus dem Wasser.

Ja, in diesem Moment war sie glücklich. Sie schloss angesichts des wunderbaren Augenblicks die Augen. Jetzt war es, als hätte sie das Meer in sich. Genauso wie die Kraftbrühe. Innenwelt gleich Außenwelt. Außenwelt gleich Innenwelt. Deshalb war es für sie wichtig, sich an guten, energiegeladenen Orten aufzuhalten und sie zu verinnerlichen.

Sie öffnete die Augen, bog den Rücken durch, streckte die Beine unter dem Tisch aus und gab dem Kellner ein Zeichen. Ja, sie war bereit für die große Senfonie und erst recht für einen Sherry.

Sie hoffte, von Michael Recktenwald, dem Küchenchef und Sherrybotschafter, persönlich beraten zu werden. Der letzte Tipp von ihm war eine Offenbarung gewesen. Bernsteinfarben, aus der Gegend um Jerez de la Frontera, mit einem nussigen, salzigen Aroma und einem Hauch Mokka. Sie hatte den Sherry probiert, und während sie geradezu einen Gaumen-Orgasmus erlebte, hatte sie beschlossen, dass Hauke Hinrichs sterben sollte.

Auf ihrem Tablet sah sie sich die Bilder an. Das Gerät war auf lautlos gestellt. Sie wollte sich auf der Insel nicht die Stimmung durch Klingeltöne oder Jingles verderben lassen. Die Zeiten, in denen ein Handy, ein Computer oder ein Telefon Macht über sie hatten, waren vorbei. Wie oft hatte ihr früher so ein technisches Gerät die guten inneren Schwingungen gestört und eine tiefe Kontemplation durch Tagesmüll ersetzt? Oberflächlicher Alltagsstress statt Bewusstseinserweiterung – das war gestern. Es kam ihr vor wie ein anderes Leben. Eins, das sie einmal geführt, aber nun doch durch einen neuen Bewusstseinszustand ersetzt hatte.

Jetzt war dieser Bildschirm kein Appell der Welt, ihr noch mehr Aufmerksamkeit zu geben, und zwar sofort. Jetzt war er ein Fenster in die Außenwelt geworden. Ein Fenster, vor dem sie gern die Rollläden herunterließ, um ungestört zu sein. Kein Klingelton sollte um Aufmerksamkeit heischen.

Sie lächelte. Ihr Krieger hatte sich nicht an die Kontaktsperre nach der Tat gehalten. Grund genug, ihn zu bestrafen. Aber die Bilder vom brennenden Haus auf der Norddeicher Straße gefielen ihr. Sie betrachtete die Aufnahmen von Ann Kathrin Klaasen, wie sie ins Auto stieg. Diese Kommissarin hatte eine burschikose, raumgreifende Art, sich zu bewegen, und scheinbar übergangslos konnte sie sich in ein elfenhaftes Wesen verwandeln, das durch die Wirklichkeit schwebte wie Morgennebel durch die Vorgärten. Diese Frau wusste genau, was sie wollte.

Der Kellner brachte die Senfonie. Sie drehte das Tablet um und legte es mit der Bildschirmseite auf die weiße Tischdecke. Voller Vorfreude betrachtete sie, was der Kellner ihr servierte. Sie inhalierte tief, um die Gerüche in sich aufzunehmen. Und da kam auch schon Michael Recktenwald, um ihr einen passenden Sherry zu empfehlen. Welch ein Tag!

Polizeichef Martin Büscher griff zum Telefon, um Ann Kathrin Klaasen in sein Büro zu zitieren. Aber dann legte er wieder auf. Nein, so ging das nicht. Er wollte ein gutes Betriebsklima, und in einer so heiklen Sache war es besser, sich von Anfang an in die Augen zu sehen.

Er ging schnell zur Toilette und erwischte sich dabei, dass er dies nur tat, um in den Spiegel zu schauen und seine Haare zu ordnen, bevor er Ann Kathrin gegenübertrat.

Irgendwie tat ihm Ostfriesland gut. Seit er von Bremerhaven hierhergezogen und Ubbo Heides Stelle übernommen hatte, kam er sich jünger vor. Frischer. Und er hatte die Erfahrung gemacht, dass die Ostfriesen, wenn man sie gut behandelte, nett sein konnten.

Er ging die Treppe hinunter zu Ann Kathrins Büro. Im Flur stand Rupert am Kaffeeautomaten und fragte: »Sag mal, wie war das? Wenn man Milchkaffee drückt, kommt Gemüsesuppe, bei Espresso Milchkaffee, und wenn man Gemüsesuppe drückt, kommt Caffè Crema. Oder war es umgekehrt?«

Büscher zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich trinke Tee.«

Er klopfte an Ann Kathrins Bürotür, öffnete sie einen Spalt und lugte hinein. »Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören … Aber ich habe da etwas, Ann Kathrin, darüber müssten wir dringend sprechen. Wenn du vielleicht mal in mein Büro kommen könntest …«

»Jetzt nicht«, antwortete Ann Kathrin, und Rupert, der das alles mitkriegte, fragte laut den Kaffeeautomaten, als würde er von ihm eine Antwort erwarten: »Haben die beiden sich in einem Dominastudio kennengelernt? So unterwürfig spricht er mit mir nie.«

Martin Büscher ging wieder an Rupert vorbei. Er blieb kurz stehen und sagte: »Jetzt weiß ich es wieder: Du musst Doppelter Espresso drücken, dann kommt Caffè Crema.«

Rupert bedankte sich und versuchte es.

Die Brühe, die herauslief, kam ihm aber merkwürdig vor. Rupert bückte sich, hielt die Nase nah an den Strahl und schnüffelte. Sein Iliosakralgelenk meldete sich. Der Rückenschmerz jagte durch die Wirbelsäule bis in seine Haarspitzen hoch.

»Verdammt, das ist ja doch Gemüsesuppe!«, rief Rupert hinter Büscher her.

Ohne sich umzudrehen, sagte Büscher: »Oh, tut mir leid. Dann habe ich mich wohl geirrt.«

Rupert glaubte, die Schadenfreude aus seiner Stimme herauszuhören, und schwor sich, dem Chef das noch heimzuzahlen.

Gudrun Garthoff stand nun im Türrahmen. Sie war einen Kopf größer als Rupert und überragte auch Ann Kathrin.

»Kümmer dich mal wieder um deine Geschäfte, Mädchen«, sagte sie. »Ich fahre jetzt in den Distelkamp und bringe deinen Haushalt auf Vordermann.«

»Nein«, sagte Ann Kathrin, »heute doch nicht! Du stehst doch im Grunde noch unter Schock. Nimm dir frei, das hat doch alles Zeit.«

Gudrun Garthoff winkte ab. »Nur die Harten kommen in den Garten, das weißt du doch.«

Rupert nahm seinen Becher mit Gemüsesuppe aus dem Automaten und überlegte, ob er gleich alles wegkippen sollte oder ob es sich lohnen würde, vorher wenigstens mal zu probieren.

Gudrun Garthoff lächelte ihn an. »Suppe aus so einem Automaten, das kann doch nichts taugen. Das ist doch voller Geschmacksverstärker und so. Ich kann Ihnen ja mal eine richtige Gemüsesuppe vorbeibringen, wenn Sie drauf stehen, Herr Kommissar.«

Rupert staunte. Er bekam kein Wort heraus. Er sah hinter Gudrun her, als sie nach draußen verschwand.

Martin Büscher wirkte merkwürdig unbeholfen auf Ann Kathrin, als sei es ihm peinlich, ihr zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Er sah an Ann Kathrin vorbei, guckte sich ständig um, als sei er fremd in diesem Raum und müsse sich erst vergewissern, wo sich die Gegenstände befanden.

»Also, Ann, ich habe hier eine Beschwerde vorliegen.«

»Beschwerde? Über Rupert?«

»Nein. Über dich. Und offen gestanden, ist das eine ziemlich dumme Sache. Die fahren gleich große Geschütze auf, mit Rechtsanwalt und so.«

Sie schien überhaupt nicht erschrocken, und Büscher wusste aus Erfahrung, dass Menschen mit gutem Gewissen, die in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen waren und daher ohne Schuldgefühle groß werden konnten, juristische Probleme meist einfach für einen Irrtum hielten. Sie hatten sich selbst nichts vorzuwerfen, außer mal falsch geparkt zu haben oder einem falschen Eintrag in der Steuererklärung. Deshalb sahen sie der Welt gelassen ins Auge.

»Eine Katja Schubert aus Oldenburg behauptet, du hättest widerrechtlich ihren Laptop beschlagnahmt und nicht wieder rausgegeben.«

Ann Kathrin lachte: »Warum sollte ich in Oldenburg einen Laptop beschlagnahmen? Das ist doch dummes Zeug, Martin. Wir sind dafür gar nicht zuständig. In Oldenburg, da …«

»Ich weiß, wie unsere Dienststellen organisiert sind.«

Er wollte sachlich sein, doch nun hatte er sich im Ton vergriffen. Er klang gegen seinen Willen zurechtweisend.

Irritiert sah sie ihn an. »Ist etwas mit dir, Martin?«

»Na ja, ich muss das hier bearbeiten. Es ist eine unangenehme Sache. Es gibt zwei Zeugen, dass du …«

»Blödsinn!«

»… in ihre Wohngemeinschaft gekommen bist, eine Hausdurchsuchung gemacht hast und dabei den Laptop, verschiedene Akten und private Briefe beschlagnahmt hast. Es geht aber hauptsächlich um den Laptop. Die junge Frau studiert nämlich in Oldenburg Kunst und Medienwissenschaft, und auf dem Laptop sind Vorarbeiten zu einer Hausarbeit, Masterarbeit oder wie man das heutzutage nennt. Sie braucht das dringend, und ihr Anwalt macht uns ganz schön die Hölle heiß.«

Martin Büscher hob einen Papierstapel hoch und ließ ihn auf den Tisch fallen, als müsse er seine Worte so unterstreichen.

»Wann soll das denn gewesen sein?«, fragte Ann Kathrin.

Büscher nahm ein Papier in die Hand, überflog es und sagte dann: »Am vierten Juli um 21 Uhr 30.«

Ann Kathrin setzte sich und klatschte in die Hände, als wolle sie ihm Beifall spenden. »Na bitte, da war ich auf Wangerooge und habe Ubbo besucht. Ich bin mindestens einmal im Monat bei ihm …«

»Ich weiß, Ann, genau so steht es auch in deinem Kalender.«

Es verunsicherte sie, dass er die Sache so ernst nahm. Er hatte also tatsächlich in ihren Dienstplan geschaut und auch ihre privaten Aufzeichnungen gelesen.

»Ich habe auch schon mit Ubbo telefoniert«, sagte er jetzt.

Sie lächelte, und ihre Gesichtszüge entspannten sich.

»Willst du wissen, was er wörtlich gesagt hat, Ann?«

Sie nickte.

»Nun, ich habe ihm natürlich nicht gesagt, worum es geht, sondern nur gefragt, ob du am vierten Juli bei ihm warst. Er hat nur gelacht und mir zu verstehen gegeben, dass Wochentage für ihn keine Rolle mehr spielen, weil er aus unserer Firma ausgestiegen ist und die Zeit damit verbringt, in seiner Ferienwohnung zu sitzen und aufs Meer zu schauen. Außer«, so sagte er wörtlich, »er wisse immer, wann Mittwoch ist, denn da hat der Compass zu, und deswegen kochen sie dann selbst oder gehen im Friesenjung Burger essen. Ja, er sagte Burger und schwärmte mir davon vor. Einer sei mit Rinderfetzen und nicht mit diesen üblichen Frikadellen.«

»Beneidenswert«, sagte Ann Kathrin und freute sich für Ubbo, obwohl seine Aussage sie ein wenig in Bedrängnis brachte.

»Hast du irgendein Flugticket?«

»Nein, ich glaube, ich bin mit der Fähre gefahren. Martin, jetzt mach aber mal einen Punkt! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich …«

Er erläuterte es ihr, als sei sie eine Anfängerin: »Was ich glaube, spielt überhaupt keine Rolle. Die Sache hier könnte übel werden. Da sollten wir uns auf beweisbare Fakten stützen.«

»Beweisbare Fakten?« Sie schwieg eine Weile und taxierte ihn. Er hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten. Er wollte so gerne ein guter Chef sein. Einer, der sich mit breiten Schultern vor seine Mitarbeiter stellte, wenn sie von außen angegriffen wurden. Jetzt fragte er sich, ob er das hier falsch anfasste.

»Ist die Dame denn glaubwürdig?«, fragte Ann Kathrin. Es kam ihr vor, als würde er sich wie ein Aal winden, der das rettende Wasser sucht.

Büscher legte wieder die Hand auf den Papierstapel. »Das ist ja alles schon ein paar Tage alt. Ich wollte dir die ganze Angelegenheit vom Leib halten. Ich habe unsere Psychologin …«

»Du hast was?« Jetzt flackerte echte Empörung in ihren Augen.

Er hob beschwichtigend die Hände: »Elke Sommer hält die Kleine jedenfalls für absolut glaubwürdig.«

Wütend verschränkte Ann Kathrin die Arme.

Rupert betrat das Büro, merkte, dass dicke Luft herrschte, und blieb zunächst schweigend stehen, um die Lage zu peilen.

»Jetzt guck mich nicht so an! Was passt dir nicht, Ann?«, fragte Büscher.

»Was ihr nicht passt, kann ich dir sagen: Kleidergröße 38?«, sagte Rupert, und Büscher war ihm im Grunde dankbar, denn jetzt entlud sich Ann Kathrins Zorn an Rupert.

»Verzieh dich, das hier ist ein vertrauliches Dienstgespräch!«

»Entschuldigung, dass ich geboren wurde, Frau Klaasen«, konterte Rupert, »aber andere Leute haben auch Probleme. Ich finde, wir sollten das mit dem Kaffeeautomaten nicht länger durchgehen lassen. Da muss endlich mal eine vernünftige Beschwerde …«

Martin Büscher deutete Rupert mit einer flüchtigen Handbewegung an, er solle den Raum verlassen, und Rupert hielt es für klüger, dem Wink zu folgen. Dieses Büro hier war gerade zum Tretminenfeld geworden, und er hatte keine Lust, einen unbedachten Schritt zu machen.

Er schloss die Tür hinter sich ungewöhnlich leise, blieb aber noch im Flur stehen, um zu hören, wie es drinnen weiterging.

Ann Kathrin explodierte. »Was mir nicht passt, willst du wissen? Offensichtlich weiß hier jeder Bescheid, und hinter meinem Rücken werden bereits Ermittlungen angestellt, weil ich von irgendwelchen Spinnern beschuldigt werde?! Na, herzlichen Dank! So etwas hätte es unter Ubbo Heide nicht gegeben!«

Der Vorwurf saß. Büscher machte sich gerade, drückte sein Kreuz durch und versuchte, seine Rolle als Polizeichef zu verteidigen: »Ich wollte dich damit nicht belasten. Ich habe versucht, die Sache aus der Welt zu schaffen. Ich wollte mir erst selbst ein Bild machen. Verdammt, ist das so schlimm? Ich dachte, ich könnte dich entlasten, aber …«

Er sah auf seine Uhr. Ann Kathrin wertete das als Verlegenheitsgeste.

»Die junge Frau ist im Haus. Die Sache eilt ziemlich. Sie braucht den Computer wirklich für ihre Arbeit. Wenn die ein ganzes Semester wiederholen muss, bloß weil wir irgendeinen Mist gebaut haben, dann …«

Ann Kathrin sprang auf. »Ich will sie sprechen.«

»Ich weiß nicht, ob eine Gegenüberstellung zum gegenwärtigen Zeitpunkt …«

»Gegenüberstellung? Ja, drehen jetzt hier alle am Rad?«

»Ann, der Anwalt hat die Kleine heißgemacht. Hier ist von Amtsanmaßung die Rede. Du hattest weder einen Durchsuchungsbeschluss, noch durftest du etwas beschlagnahmen.«

»Verdammt, ich kenne die Frau gar nicht!«, keifte Ann Kathrin und war mit zwei Schritten bei der Tür. Sie richtete den Zeigefinger wie eine Waffe auf Büscher: »Wenn wir nicht mehr zusammenhalten, Martin, kann jeder Idiot daherkommen und Einzelne von uns fertigmachen. Einen nach dem anderen. Wer weiß, ob du nicht morgen dran bist?! Polizisten sind nicht nur beliebt, für einige Leute sind wir die Objekte ihres Hasses …«

»In dem Fall ist das aber nicht so, Ann.«

Sie knallte die Tür zu. Der Kalender an der Wand mit Schwarzweißbildern der Stadt Norden aus den dreißiger Jahren wackelte.

So aufgebracht, wie Ann Kathrin Klaasen jetzt war, wollte sie nicht zurück in ihr Büro. Wahrscheinlich wäre es besser für sie, einmal um den Block zu gehen, irgendwo einen Kaffee zu trinken oder auf einen Sandsack einzuprügeln. Irgendetwas lief gerade absolut schief …

Draußen vor der Polizeiinspektion sah sie eine junge Frau auf den Soziussitz eines Motorrads mit Oldenburger Kennzeichen steigen. Ann Kathrin brauchte keinen Beweis, um zu wissen, dass dies die Frau war, die sie beschuldigte, den Laptop gestohlen zu haben. Ann Kathrin kehrte um und ging in die Polizeiinspektion zurück.

Sylvia Hoppe trug Akten in ihr Büro und sah Ann Kathrin schuldbewusst an.

Ann Kathrin wusste sofort Bescheid. »War sie bei dir? Diese Katja Schubert?«

»Ja. Ich habe ihr ein paar Fotos vorgelegt.«

»Fotos? Aus unserer Lichtbilddatei?«

»Nein, vom letzten Betriebsausflug. Sie hat dich auf drei Fotos erkannt, Ann.«

»Ja, aber das ist doch dummes Zeug! Warum rufst du mich nicht dazu? Was soll dieser ganze Mummenschanz? Habe ich keine Rechte?«

»Ann, auf dem Foto waren zwei Dutzend Personen. Sie hat auf dich gezeigt und gesagt: Die da. Sie war nur nicht ganz so trutschig angezogen.«

Ann Kathrin sah an sich runter. »Trutschig?«

»Ja, sie hat gesagt, trutschig.«

Sylvia Hoppe hätte am liebsten einen Arm um Ann Kathrin gelegt und sie zu sich gezogen. Sie mochte ihre Kollegin. Aber Ann Kathrin ging einen Schritt zurück und wich der Berührung aus.

»Ist das irgendeine geheime Aktion, von der keiner was wissen darf? Verfassungsschutz oder so?«, fragte Sylvia Hoppe und kam sich selbst blöd dabei vor.

Ann Kathrin fand ihre Frage so dumm, dass sie darauf nicht einmal antwortete.

Weller – immer auf der Suche nach großen Entdeckungen in kleinen Verlagen – hatte sich drei neue Bücher besorgt: Axel Bergers Der Eindringling, Kristina Seiberts Tod und Helau und Christian Jaschinskis neuen Roman. Jetzt warteten die Bücher auf ihn. Es kam ihm so vor, als würde sich geradezu jeder Roman danach drängeln, von ihm zuerst gelesen zu werden.

Beim Lesen war für Weller immer der Weg das Ziel. Er mochte dieses Herumflanieren in Buchhandlungen, wenn er die Krimitische umflatterte wie eine hungrige Möwe einen verlassenen Frühstückstisch, auf dem noch viele Köstlichkeiten warteten. Er pickte sich hier einen Satz heraus und da ein Kapitel. Immer wieder las er geradezu süchtig den ersten Satz. Wenn der ihn anmachte, blätterte er wahllos in die Mitte und zum Schluss. Überall blitzten ein paar Sätze auf. Es ergaben sich in seiner Phantasie Zusammenhänge. Mögliche Geschichten.

Er kaufte selten nur ein Buch. Einen Leseabend mit nur einer Neuanschaffung mochte er sich nicht vorstellen. Was, wenn das Buch enttäuschte, nicht hielt, was es versprach? Dann wollte er sich nicht lange damit herumärgern, sondern es weglegen und ein neues aufschlagen. Fernsehgucker nahmen sich ja auch das Recht heraus umzuschalten.

Manchmal – in einer anderen Stimmung, an einem anderen Tag oder Jahre später –, wurde ein einst achtlos weggelegter Roman plötzlich zur Offenbarung. Ein Leser musste auch reif sein für ein Buch. Wenn er Romane nach Jahren wieder las, wunderte er sich oft. Was ihm damals aufregend erschienen war, langweilte ihn heute und umgekehrt. Einiges erschien ihm im Nachhinein belanglos, anderes geradezu weise. Mussten einige Bücher im Regal reifen wie guter Rotwein, oder war er es selbst, der Zeit brauchte, reif zu werden für den Roman?

Lesen war für ihn ein unglaubliches Abenteuer. Eins, das er trockenen Fußes im Sessel erleben konnte, mit Erdnüssen und einem guten Tropfen im Glas.

Er brauchte einen Abend für sich und seine Leselust und vorher ein Matjesbrötchen, oder besser zwei, aber er sah seinen Leseabend in weite Ferne rücken, denn jetzt musste er Ann Kathrin beistehen. Sie selbst hatte auch einen Abend mit ihren Kinderbüchern nötig. Sie konnte nicht verstehen, warum ihr Frank Krimis las. Sie bewegten sich doch täglich in diesem Sumpf aus Verbrechen und Lüge. Ihr Lichtblick waren Kinderbücher. Es gab kaum etwas Schöneres für sie, als gemeinsam mit Frank Weller im Wohnzimmer abzuhängen, jeder eine Leselampe neben sich oder eine andere Lichtquelle, jeder ganz versunken in seine eigene Welt, und doch hatten sie etwas gemeinsam.

Manchmal seufzte er laut, wenn ein Kommissar einen methodischen Fehler machte, und sie schlief oft beim Lesen ein. Er nannte es: Du träumst dich weg. Sie nannte es: Kraft schöpfen.

Wegträumen war jetzt gar nicht ihr Ding. Es braute sich etwas Unheimliches um sie herum zusammen. Sie verstand noch nicht genau, was los war, aber es machte ihr Angst, und sie spürte deutlich, dass das, was sie sah, nur die Spitze des Eisbergs war.

Büscher hatte sie gebeten, sich aus den Ermittlungen völlig herauszuhalten. Schweren Herzens akzeptierte sie die Dienstanweisung, aber für Weller galt das strenggenommen nicht.

Er fuhr nach Oldenburg, um die Wohngemeinschaft von Katja Schubert zu besichtigen. Es war nicht ganz nach den Dienstvorschriften. Er handelte jetzt als Ehemann, der seine Frau schützen wollte, nicht als Kommissar. Aber er war eben mehr als nur Polizist.

Katja Schubert wohnte im Stadtteil Donnerschwee. Weller fuhr langsam hinter einem Bus der Linie 309 her. Ein paar Kinder saßen ganz hinten und zeigten Weller den Stinkefinger, streckten ihm die Zunge raus und schnitten Grimassen.

Ob sie das auch tun würden, wenn sie wüssten, dass hinter ihnen ein Polizeibeamter herfährt, fragte Weller sich. Würden sie dann erschrocken aufhören oder erst recht aufdrehen?

Weller parkte in der Nähe des Wasserturms und ging den Rest zu Fuß. Er hatte von Ann Kathrin gelernt, dass es manchmal guttat, den Boden unter den Füßen zu spüren. Jetzt ging es ihm so. Er versuchte, bewusst und fest aufzutreten.

Er hatte Ann Kathrin nicht erzählt, wohin er unterwegs war, aber sie ahnte es natürlich und schickte ihm eine Nachricht aufs Handy:

Lass es, Frank. Du setzt dich nur in die Nesseln.

Er überlegte, ob er überhaupt antworten sollte. Er wollte sie nicht noch mehr belasten. Aber dann schrieb er zurück:

Ich guck mich nur mal um.

Ihre Antwort kam augenblicklich:

Besser, wir halten jetzt die Füße still, Frank, und überlassen das den Kollegen.

Er tippte: Das ist so gar nicht meine Art, Ann. Wer sagt denn immer, man muss im Leben um Handlungsführung ringen?

Sie versuchte jetzt, ihn anzurufen. Die ersten Töne von Bettina Göschls Song »Piraten ahoi« erklangen. Er schaltete sein Handy aus und ließ es in die Tasche zurückgleiten.

Es war ein altes Backsteingebäude. Auf den roten Ziegeln hatte sich dickes Moos angesiedelt. Auf einigen Dachpfannen waren geradezu kleine Oasen entstanden. Wucherten da auf einer die ersten dünnen Äste eines Haselnussstrauches?

Es waren keine modernen Doppelglasscheiben, sondern alte Holzfenster, lange nicht gestrichen. Weller war sich von weitem schon sicher, dass aus einigen Rahmen bröckeliger Kitt fallen würde. Hier hatte schon lange niemand mehr Zeit oder Geld ins Haus investiert.

Links neben dem Gebäude, unter dem angebauten Carport, standen zwei Motorräder. Eine Kawasaki und eine Suzuki.

Im Briefkasten steckte eine taz, statt eines Namensschilds war dort ein gelber Smiley hingeklebt und daneben ein Herzchen.

Hinterm Haus verrotteten umgefallene Sonnenblumen. Hier war früher offensichtlich mal ein Rasen gewesen, der jetzt von Brennnesseln zugewuchert war. In einem Vogelhäuschen aus Birkenholz baumelte ein leergepicktes Meisenknödelnetz.

Wohnten so Leute, die ein Komplott gegen seine Frau schmiedeten? Oder waren sie selbst Opfer?

Warum hat eine Frau hier einen Computer beschlagnahmt und sich als Ann Kathrin Klaasen ausgegeben?, fragte Weller sich.

Zweimal umrundete Weller das Haus. Oben waren die Fenster offen. Er hörte Musik. Er kannte die Gruppe nicht, aber es gefiel ihm, und er konnte ein Buchregal sehen, vollgestopft mit bunten Taschenbüchern. Das alles war nicht unsympathisch.

Weller klingelte.

Eine junge Frau öffnete die Tür und erinnerte ihn so sehr an seine Tochter Sabrina, dass er zunächst kein Wort herausbekam. Es war für einen Moment so, als würde sie wirklich vor ihm stehen. Die Partie um die Augen herum wies eine gewisse Ähnlichkeit auf. Ihr Mund war aber, als sie sprach, völlig anders. Sabrina war lange nicht so volllippig.

Im Hintergrund hörte Weller das Klappern einer Computertastatur.

Der Atem der jungen Frau roch nach Nikotin. Sie war barfuß und trug ein weißes T-Shirt mit einer Knopfleiste, die bis zum letzten Knopf geöffnet war. Weller vermutete, dass sie das T-Shirt auch als Nachthemd benutzte. Es passte ihr überhaupt nicht, auch das erinnerte ihn an seine Töchter, die gern seine Baumwollhemden anzogen hatten, als sie noch jünger waren.

Mein Gott, dachte er, ist meine Sehnsucht nach meinen Kindern so groß, dass ich jetzt schon in jeder Göre eine meiner Töchter sehe?

Ihre glatten braunen Haare hingen tief in der Stirn und verdeckten das linke Auge. Mit einer Kopfbewegung warf sie die Haare zurück und rief: »Katja, die Bullen für dich!«

Dann drehte sie sich um und ließ Weller in der Tür stehen.

Hinten war das T-Shirt verrutscht und gab den Blick auf ihren hellblauen Slip preis, der sich tief in ihre Pospalte geklemmt hatte. Sie lief die Holztreppe hoch.

Wahrscheinlich, dachte Weller, macht sie das absichtlich. Es soll lasziv aussehen, mich in Verlegenheit bringen. Vermutlich hat sie den Gang sogar geübt.

Aber er war Papa genug, auf solche Spielchen pubertierender Mädchen nicht hereinzufallen, sagte er sich, dabei handelte es sich hier nicht um eine Pubertierende, sondern die junge Frau war Anfang zwanzig, schätzte er.

Weller hörte noch ein paar Tippgeräusche und dann das typische Schnarren, das er von seinem Computer kannte, wenn er eine E-Mail abschickte. Er entschied sich, nicht in den Flur zu treten, sondern darauf zu warten, dass ihn jemand hereinbat. Auf keinen Fall wollte er irgendeinem gewieften Anwalt die Möglichkeit bieten, aus seinem Besuch einen Hausfriedensbruch oder unerlaubtes Betreten zu machen.

Am Ende des Flurs, wo jemand Halteringe für eine Schaukel in die Türbalken geschraubt hatte, erschien Katja Schubert. Sie hielt ein Nasensprayfläschchen in der Faust wie eine Waffe, die sie gleich gegen Weller einsetzen würde.