Pädagogik und Zeitgeist - Rolf Göppel - E-Book

Pädagogik und Zeitgeist E-Book

Rolf Göppel

4,9

  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Die Fragen, was "falsch läuft" in der Erziehung und wie "richtiges pädagogisches Handeln" aussehen könnte, ob wir mehr Disziplin, Autorität, Unterordnung oder aber mehr Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Mündigkeit brauchen, sorgen immer wieder für heftig-kontroverse öffentliche Debatten. Entsprechend finden sich dort Klagen über eine vermeintliche "Erziehungskatastrophe", eine "Erziehungsvergessenheit" einen "Erziehungsnotstand" ebenso wie Klagen über die überzogene Fürsorglichkeit, Ambitioniertheit und "Förderwut" heutiger Eltern, Lehrer und Erzieher. Gerade der Bereich der Erziehung ist also in besonderem Maße den Konjunkturen des pädagogischen Zeitgeistes ausgeliefert. Diese betreffen aber nicht nur die Ebene der Alltagskultur und der populären Bestseller. Auch die Erziehungswissenschaft selbst ist nicht frei davon. Das Buch nimmt markante Entwicklungen, die sich auf dem Erziehungs- und Bildungssektor in den letzten Jahren ereignet haben, unter die Lupe. Es sind Entwicklungen, die einmal die "Erziehungsmentalitäten" betreffen. Es sind andererseits aber auch Entwicklungen, die eher die "Erziehungsdiskurse" betreffen. Das Buch will hier in kritischer Funktion zu einer Klärung und Versachlichung beitragen.

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Die Fragen, was 'falsch läuft' in der Erziehung und wie 'richtiges pädagogisches Handeln' aussehen könnte, ob wir mehr Disziplin, Autorität, Unterordnung oder aber mehr Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Mündigkeit brauchen, sorgen immer wieder für heftig-kontroverse öffentliche Debatten. Entsprechend finden sich dort Klagen über eine vermeintliche 'Erziehungskatastrophe', eine 'Erziehungsvergessenheit' einen 'Erziehungsnotstand' ebenso wie Klagen über die überzogene Fürsorglichkeit, Ambitioniertheit und 'Förderwut' heutiger Eltern, Lehrer und Erzieher. Gerade der Bereich der Erziehung ist also in besonderem Maße den Konjunkturen des pädagogischen Zeitgeistes ausgeliefert. Diese betreffen aber nicht nur die Ebene der Alltagskultur und der populären Bestseller. Auch die Erziehungswissenschaft selbst ist nicht frei davon. Das Buch nimmt markante Entwicklungen, die sich auf dem Erziehungs- und Bildungssektor in den letzten Jahren ereignet haben, unter die Lupe. Es sind Entwicklungen, die einmal die 'Erziehungsmentalitäten' betreffen. Es sind andererseits aber auch Entwicklungen, die eher die 'Erziehungsdiskurse' betreffen. Das Buch will hier in kritischer Funktion zu einer Klärung und Versachlichung beitragen.

Prof. Dr. Rolf Göppel lehrt Allgemeine Pädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Rolf Göppel

Pädagogik und Zeitgeist

Erziehungsmentalitäten und Erziehungsdiskurse im Wandel

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten © 2010 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-020955-8

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-022838-2

epub:

978-3-17-027792-2

mobi:

978-3-17-027793-9

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I Wandel der Problembeschreibungen und Problemlösungsstrategien

Kapitel 1 Von einstmals intakten erzieherischen Verhältnissen zur „Erziehungskatastrophe“ der Gegenwart? Brauchen Kinder heute wieder mehr Erziehung, Disziplin und Gehorsam?

1 Die mediale Darstellung der gegenwärtigen erzieherischen Lage

2 Wellen der Erziehungskritik

3 Schwierigkeiten mit dem „rechten Maß“

4 Widersprüche und Ungereimtheiten in den aktuellen Klagen

5 „Verlust der natürlichen Ordnung“ oder „Emanzipation der Kinder und Jugendlichen“?

6 Rückkehr konservativer Werte seit Mitte der 1990er Jahre?

7 Rückkehr zu traditionsgeleiteter Eindeutigkeit und intuitiver Sicherheit durch pädagogische Appelle?

8 Autorität durch „Autoritätsgebaren“?

9 Entwarnung mit Blick auf die Ergebnisse empirischer Untersuchungen

10 Ist Mangel an Autorität oder Mangel an Zeit das gegenwärtige Kernproblem?

11 Die problematischen Folgen eines patriarchalen Erziehungsfurors in einer pluralistischen Umgebung

Kapitel 2 Von der Beschreibung der „Grundbedürfnisse des Kindes“ zur Reflexion über die „Konstruktionen der Kindheit“? Was brauchen Kinder für ein gelingendes Aufwachsen?

1 Erstes Bedenken: Wenn Kindheit ein „Konstrukt“ ist – kann man dann überhaupt noch sinnvoll über kindliche Bedürfnisse sprechen?

2 Zweites Bedenken: Wann kann man eigentlich von „gelungenem“ bzw. „misslungenem“ Aufwachsen eines Kindes, eines Jugendlichen oder gar einer ganzen Jugendgeneration sprechen?

3 Drittes Bedenken: Alles längst gesagt? – Ein Blick auf die populäre Ratgeberliteratur

4 Versuche, auf wissenschaftlicher Grundlage „Kataloge kindlicher Grundbedürfnisse“ zu erstellen

5 Viertes Bedenken: Was können Listen „kindlicher Grundbedürfnisse“ und Kataloge „elementarer Erziehungsgebote“ in der konkreten Praxis überhaupt leisten?

Kapitel 3 Von der Ausnahme zur Normalität von „Erziehungsschwierigkeiten“? Grenzen und Grenzüberwindung in der schulischen Erziehungshilfe

1 Schulische Erziehungshilfe als „Sisyphosarbeit“?

2 Das System der professionellen schulischen Erziehungshilfen – eine „Endlosschraube“?

3 Endstation Rütli? – Schulische Erziehung definitiv an den Grenzen angekommen?

4 Ist Rütli „überall“?

5 Was lief schief? – Ursachenforschung

6 Was kommt jenseits der „Grenzen der Erziehung“ nach dem „Zusammenbruch pädagogischer Felder“?

7 Neubeginn Rütli? – Erfolgsmeldungen von der ehemaligen „Horrorschule“

8 Neukonstitution des Erzieherischen durch eine Renaissance von Autorität und Disziplin?

9 Rigorose Grenzdurchsetzung, Härte und Sanktionen statt Empathie und Mitgefühl als letzte Chance für die Erziehungshilfe?

10 Das Problem von Grenzen, Gehorsam und Konfrontation aus der Perspektive der Psychoanalytischen Pädagogik

Kapitel 4 Von der Fürsorglichkeit zur Konfrontation? Kulturen und „Unkulturen“ des Grenzensetzens in der Pädagogik

1 Kulturen der Fürsorge – Kulturen der Konfrontation

2 Das Anti-Aggressivitäts-Training – eine Erziehungssituation?

3 (Wann) sind sozialpädagogische Interventionen sittlich erlaubt?

4 „Inszenierte Konfrontation“ statt „absolute Milde und Güte“? – Das Anti-Aggressivitäts-Training aus der Perspektive der Psychoanalytischen Pädagogik

5 Das „Arbeitsbündnis“ im Anti-Aggressivitäts-Training

6 „Konfrontative Aufklärung“?

Teil II Wandel der einzelnen pädagogischen Felder

Kapitel 5 Von der Partnerschaftlichkeit zur Unterordnung in der Familie? Fragwürdige Tendenzen in aktuellen Erziehungsratgebern

1 Pädagogische Apokalyptik ohne empirische Basis

2 Die Idee der „Partnerschaftlichkeit“ als Sündenfall der Pädagogik?

3 Ab wann haben Kinder eine eigene Persönlichkeit?

4 Gegen welche konkreten pädagogischen Konzepte wendet sich die Kritik?

5 Lässt sich der „Höllenritt der modernen Gesellschaft“ mit einem Erziehungsratgeber zügeln?

6 Wie äußern sich Kinder und Eltern heute tatsächlich über die erzieherische Lage?

7 Die Kinder der „Partner-Eltern“ – Glückskinder oder Stresskinder?

8 Verbürgt ein tiefenpsychologisch-therapeutischer Hintergrund pädagogische Vernunft und Sachlichkeit?

Kapitel 6 Vom Kindergarten zum „Bildungshaus“ … oder zum „Kinderdepot“? Aktuelle Entwicklungstrends und Kontroversen in der Pädagogik der frühen Kindheit

1 Welche Motive stehen hinter dem aktuellen „Bildungsboom“ im Bereich Frühpädagogik?

2 PISA als Auslöser

3 Die Neurowissenschaften als Verstärker

4 Zurück in die Zukunft bzw. vorwärts in die Vergangenheit?

5 Je früher, je intensiver, je spezifischer die Förderung – desto größer die „Bildungseffekte“?

6 Beginnt Bildung tatsächlich mit der Geburt?

7 Bildung in früher Kindheit als „Selbstbildung“ oder als „Instruktion“?

8 „Selbstbildung“ und die Anfänge der Kindergartenidee

9 Die „hundert Sprachen des Kindes“ und die Sprache der modernen Bildungspläne

Kapitel 7 Von der „Unterrichtsvollzugsanstalt“ zum „emotionalen Raum“? Die Bedeutung emotionaler Aspekte beim schulischen Lehren und Lernen

1 Schule als „emotionaler Raum“

2 Kleine Phänomenologie der schultypischen Emotionen und Emotionsanlässe

3 Literarisch-autobiographische Beschreibungen emotional getönter Erfahrungen aus dem Schulalltag

4 Ausgewählte Ergebnisse empirischer Studien zu den emotionalen Befindlichkeiten der Schüler und zu ihrer Haltung gegenüber der Institution Schule

4.1 Kränkungserfahrungen in der Schule (V. Krumm)

4.2 Das emotionale Erleben schulischen Lernens aus Schülersicht (J. Zinnecker u. a.)

4.3 Das Wohlbefinden und das Glückserleben der Kinder in der Schule (LBS Kinderbarometer/Kinderglücksstudie von A. Bucher)

4.4 Wunsch und Wirklichkeit im Hinblick auf die Lehrer (Kanders u. a.)

4.5 Das Erleben von Schulstress (I. Seiffge-Krenke)

4.6 Die psychische Gesundheit in der Schule (Die HBSC-Studie)

5 Welche pädagogischen und didaktischen Lehren sind aus der modernen Hirnforschung zu ziehen?

Kapitel 8 Vom Risikofaktor zum Schutzfaktor? Resilienzförderung als schulische Aufgabe?

1 Schule als Schutzfaktor oder als Risikofaktor?

2 Forderungen an eine „humane“, „kindgerechte“, „fürsorgliche Schule“

3 Auf welche konkreten Dispositionen und Fähigkeiten kommt es eigentlich an, wenn „Resilienz“ gefördert werden soll?

4 Konkrete Programme für die „Resilienzförderung“ in der Schule

5 Schulkummer und Rettung

Kapitel 9 Von der Verleugnung zur Propagierung des Bildungsanspruchs in der Jugendarbeit? Welche Motive stehen hinter dem aktuellen „Bildungsboom“ im Bereich der Jugendarbeit?

1 Der Bildungsdiskurs in der Tradition der Schulpädagogik

1.1 „Moderne Klassiker“ der schulpädagogischen Bildungstheorie I: Wolfgang Klafki

1.2 „Moderne Klassiker“ der schulpädagogischen Bildungstheorie II: Hartmut von Hentig

2 Der Bildungsdiskurs in der Tradition der Jugendarbeit

2.1 Der Bildungsbegriff in den frühen Theoretisierungsversuchen der Jugendarbeit

2.2 Hinwendung zur Bildung als Rettung aus der Not?

2.3 Der „Bildungsboom“ in der Jugendarbeit Anfang der 2000er Jahre

2.4 Der erweiterte Bildungsbegriff des 12. Kinder- und Jugendhilfeberichts

2.5 Wie schätzen Kinder und Jugendliche selber die Bildungsbedeutsamkeit unterschiedlicher „Bildungsorte“ und „Lernwelten“ ein?

3 Der Bildungsdiskurs im Rahmen der Philosophie

Teil III Wandel der grundlegenden Begriffe und Konzepte

Kapitel 10 Von der „Ungezogenheit“ zur „Verhaltensstörung“? Das Bild des „schwierigen Kindes“ in der Geschichte der Pädagogik

1 „Verkommene Söhne“ und „missratene Töchter“ – Die Schatten- und Leidensseiten der Erziehung und die Vielfalt der in diesem Zusammenhang geprägten Begrifflichkeiten

2 Die historische Relativität von Kindheit und damit auch von „kindlichen Verhaltensstörungen“

3 Was wandelt sich? – Zum Verhältnis von Phänomenen, Benennungen und Deutungen

4 Schwierige Kinder als „sittlich verwilderte Kinder“

5 Schwierige Kinder als „psychopathisch minderwertige Kinder“

6 Schwierige Kinder als „seelisch belastete Kinder“

Kapitel 11 Von der Sozialisation zur „Selbstsozialisation“? Die Sozialisationsforschung und die „Eigentätigkeit des Subjekts“

1 Die Kontroverse um die „Selbstsozialisation“

2 Wie lässt sich ein Fazit dieser Diskussion ziehen?

3 Exkurs: Ein ähnlich gelagerter Streit um den Sozialisationsbegriff vor mehr als 30 Jahren

4 Lässt sich der Begriff „Selbstsozialisation“ sinnvoll in das „Gefüge pädagogischer Grundbegriffe“ integrieren?

5 Wird die „moderne“, „revisionistische“ Sozialisationstheorie der Eigentätigkeit des Subjekts gerecht?

6 Der biographische Prozess und die Möglichkeiten seiner Erforschung

7 „Selbstsozialisation“ in speziellen Entwicklungspfaden

7.1 Resilienz und „Selbstsozialisation“

7.2 Dissozialiät und „Selbstsozialisation“

Kapitel 12 Von der „Bildung“ zur „Kompetenz“? Realer Fortschritt oder bloßer Wechsel des Jargons?

1 Die aktuelle „Kompetenzinflation“

2 Welche Assoziationen und Konnotationen sind mit den Begriffen „Bildung“ und „Kompetenz“ verknüpft?

3 Thesen zum Verhältnis von „Kompetenz“ und „Bildung“

4 „Bildung“ und „Kompetenz“ – zwei unterschiedliche Sprachspiele mit unterschiedlichen Akzenten

5 Verbesserung der (Lehrer-)Bildung durch „Kompetenzorientierung“? – Offene Fragen

Teil IV Wandel der übergreifenden Zielpersepektiven

Kapitel 13 Von der „Verfolgung von Erziehungszielen“ zur „Kultur des pädagogischen Umgangs“? Was leisten „Erziehungsziele“ in der pädagogischen Realität?

1 Rückblick auf die Würzburger Studiensituation: Allgemeine Pädagogik und Psychoanalytische Pädagogik im Dialog und in Konkurrenz

2 Gibt es bestimmte Zielvorstellungen, die allem pädagogischen Denken und Handeln gemein sind und gemein sein müssen, so es denn als „pädagogisches Denken und Handeln“ soll gelten können?

3 Welche Rolle spielen konkrete „Erziehungsziele“ für das „Werden der Person“?

4 Wie steht die Psychoanalytische Pädagogik zu jener Art von idealistischer pädagogischer Zielbeschreibung?

5 Welche Erziehungsziele standen/stehen im Vordergrund der Psychoanalytischen Pädagogik?

6 Wie funktionieren eigentlich „Erziehungsziele“ und welche Rolle spielen sie in der erzieherischen Alltagswirklichkeit?

7 Absichten oder Gründe?

8 Wer braucht wozu Erziehungsziele?

9 Je präziser die pädagogische Zielformulierung, desto höher die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung?

Kapitel 14 Von der normativen Pädagogik zur „Erziehungsethik“? Gibt es einen „kategorischen pädagogischen Imperativ“?

Kapitel 15 Von der „Leidabwehr“ zur „Lebenskunst“? Die Psychoanalytische Pädagogik und die Frage nach dem Glück

1 Die „Freudlosigkeit der psychoanalytischen Kultur“

2 Verschluckt die Psychoanalyse das Leben? – Ein früh geprägtes persönliches Unbehagen

3 Welches Maß an Selbstreflexion ist dem guten Leben bekömmlich?

4 Ist Glück im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen? – Einige Anmerkungen zu Freuds Liste der „Techniken der Leidabwehr“

5 Gehören zur „weltlichen Seelsorge“ auch Hinweise zur „Lebenskunst“?

6 Ist „Glück“ lehrbar?

Literatur

Quellennachweise

Einleitung

Die Frage, wie „richtig“ erzogen werden soll, welche Erwartungen, Ansprüche, Haltungen und Umgangsformen im Verhältnis zwischen den Generationen angemessen sind, welche Versäumnisse, Einseitigkeiten und Fehlentwicklungen hier kritisiert und korrigiert werden müssen, ist eine Frage, die wie wenige andere immer wieder für heftige Diskussionen sorgt. Dass diese Diskussionen je zu einem Ende kommen könnten, sei es in dem Sinne, dass irgendwann einmal ein allgemeiner Konsens bezüglich der „richtigen“ Erziehungsformen und der angemessenen Umgangsweisen gefunden wird, sei es in dem Sinne, dass es irgendwann einen Zustand allgemeiner Zufriedenheit mit den bestehenden erzieherischen Verhältnissen und mit den gegebenen Denk- und Verhaltensweisen der nachwachsenden Generation gibt, ist kaum zu erwarten.

Erzieherische Prozesse sind nicht mit Präzision steuerbar, erwünschte Ergebnisse nicht mit Sicherheit herstellbar, Um- und Irrwege in Entwicklungsverläufen nicht mit Gewissheit kontrollierbar. Alles was sich in diesem Feld ereignet und entwickelt ist nicht nur von den Absichten und Angeboten, den Ansprüchen und Anreizen der Erziehenden, sondern stets auch vom Eigensinn und vom Entgegenkommen der Betroffenen abhängig, also von deren Einsichten, Interessen, Stimmungen, Launen, Widerständen … Und diese werden wiederum stets von vielfältigen weiteren Einflussquellen mit geprägt: Von den Erwartungen der Peers, von den Trends der Jugendkultur, von den Botschaften der Medien, von den Einflüsterungen der Konsumwerbung …

Da aber im Zusammenhang mit der Erziehung letztlich viel auf dem Spiel steht, nämlich nichts weniger als die individuelle künftige Lebensbemeisterung und der Fortbestand kollektiver sozialer Spielregeln und zivilisatorischer Errungenschaften, ist das „Projekt Erziehung“ sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene immer wieder mit hohen Ambitionen, großen Hoffnungen, also mit intensiven Gefühlen und somit unvermeidlich bisweilen auch mit großen Sorgen und mit herben Enttäuschungen verbunden. Und damit natürlich auch immer wieder mit Kritik und mit Klagen, mit Mahnungen und Warnungen, mit Mutmaßungen und Auseinandersetzungen darüber, was warum falsch läuft in der Erziehung, wer daran Schuld hat und was zur Besserung und Rettung getan werden müsste.

Da die Bedeutsamkeit der erzieherischen Einstellungen und Maßnahmen der Erwachsenen prinzipiell also als sehr hoch eingeschätzt wird, da die konkrete Zuordnung von bestimmten Entwicklungsresultaten zu unterschiedlichen erzieherischen Ideen und Praktiken aber angesichts der Vielfalt der Einflüsse aus ebenso prinzipiellen Gründen stets mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet bleibt, da sich zudem in diesem Feld empirische Aussagen über das, was der Fall ist und normative Aussagen über das, was der Fall sein soll, in komplexer Weise überlagern, ist es nicht sehr verwunderlich, dass gerade der Bereich der Pädagogik in hohem Maße den Konjunkturen des Zeitgeistes ausgeliefert ist. Immer wieder gab es gravierende Umschwünge hinsichtlich dessen, was als „richtiger“, angemessener, kindgemäßer, entwicklungsförderlicher erzieherischer Umgang beschrieben wurde und damit natürlich auch hinsichtlich dessen, was als erzieherisches Fehlverhalten beklagt und angeprangert wurde.

Von daher gilt für den Bereich der Pädagogik in ganz besonderem Maße das, was der Philosoph Ralf Konersmann ganz allgemein über das Phänomen Zeitgeist ausgeführt hat: „Philosophisch gesehen, versucht der Zeitgeist die Antwort auf eine Frage. Sie lautet: Wie kann das Wissen, das als wahres Wissen zeitlos ist, in einem gegebenen Augenblick, vorzugsweise im Hier und Jetzt, gültig werden? Wie passen die Zeitlosigkeit der Wahrheit und der Zeitbezug der Erkenntnis zusammen? Seit dem 18. Jahrhundert machen wir die Erfahrung der Geschichtlichkeit des Wissens, und seither strapaziert diese Erfahrung des Wandels das alte, idealerweise in der Mathematik verkörperte Wissensmodell der Zeitlosigkeit. Der Zeitgeist ist eine Art Hilfskonstruktion, um hier einen Ausgleich zu finden. Mit diesem Hilfsangebot verbunden ist aber auch seine Macht als Verführer. Daher ist Skepsis geboten“ (Konersmann 2005, S. 2).

So gab es in den letzten Jahren in der öffentlichen Erziehungsdebatte etwa einen ausgesprochen „Rollback“ hin zu Forderungen nach mehr Disziplin, Autorität und Führung. Entsprechend wurde ein allgemeiner Mangel an Erziehung im Sinne von Regeleinhaltung, Grenzdurchsetzung und Strenge beklagt. Prominente Bücher, die diese Forderungen und Klagen populär machten, waren etwa die Bücher von Bernhard Bueb „Lob der Disziplin“ (2006) und „Von der Pflicht zu führen“ (2008) sowie Michael Winterhoffs Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ und „Tyrannen müssen nicht sein“ (2009). Nicht, dass es immer wieder Autoren gibt, die solche Positionen vertreten ist dabei das eigentlich Überraschende, sondern eher die Tatsache, dass jene Bücher, die vor 30 Jahren vielleicht gänzlich unbeachtet geblieben wären oder die, wenn sie wahrgenommen worden wären, dann eher Verwunderung und Protest ausgelöst hätten, auf einmal auf so große positive Resonanz beim breiten Publikum stoßen, dass sie zu Bestsellern werden und dazu führen, dass jene Thesen und Forderungen plötzlich die öffentliche Erziehungsdebatte dominieren und zum Gegenstand von unzähligen Zeitschriftenartikeln, Hörfunksendungen, Podiumsdiskussionen und Talkshows werden.

Zu anderen Zeiten waren es andere Bücher mit gänzlich anderen pädagogischen Konzepten, die das breite Publikumsinteresse auf sich zogen und die mit dem Versprechen und der starken Hoffnung verknüpft waren, dass eine Orientierung an den dort dargestellten Prinzipien im erzieherischen Bereich – ja im gesellschaftlichen Bereich überhaupt – alles zum Besseren wenden würde. So beschreibt Andreas Flitner etwa die erstaunliche Rezeptionsgeschichte von Alexander Neills Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ folgendermaßen: „Eine kleine Sammlung von Praxisberichten des – aus der deutschen Reformpädagogik hervorgegangenen – Erziehers Alexander Neill über seine Privatschule Summerhill, die seit langem unbeachtet auf dem Buchmarkt war, erschien 1969 als Taschenbuch unter dem neuen Titel Antiautoritäre Erziehung und erreichte binnen kurzem eine deutsche Auflage von mehr als einer Million Exemplaren“ … „Ein Generationsereignis, zugleich ein publizistisches Phänomen“ (Flitner 1999, S. 168).

Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre waren es die Bücher von Alice Miller, die einen regelrechten Boom auslösten und der „antipädagogischen Bewegung“ erhebliche Schubkraft verliehen. Sie war vor dem Hintergrund ihrer psychoanalytischen Arbeit mit erwachsenen Patienten zu der Überzeugung gekommen, dass am Anfang aller psychischen Leiden und aller zwischenmenschlichen Tragödien stets eine erzieherisch verbrämte Traumatisierung des Kindes gestanden habe. Und sie kam von daher zu der These, dass alle erzieherischen Absichten im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, d.h. alle Versuche, Kinder aufgrund erzieherischer Ideen einzuschränken und in bestimmte Richtungen zu lenken, verwerflich seien, weil sich dahinter stets das aus dem unbewussten Wiederholungszwang stammende Motiv der Erziehenden verberge, sich für die in der eigenen Kindheit erlittenen Erniedrigungen und Demütigungen rächen zu wollen. Entsprechend forderte sie den radikalen Verzicht auf alle erzieherischen Ambitionen.

Nun könnte man sagen, diese Umschwünge seien eben nur Erscheinungen auf der Ebene der populären pädagogischen Schriften, wenn man so will, der „pädagogischen Laienkultur“ und daneben gebe es doch die Erziehungswissenschaft, die ganz unabhängig von diesen wechselhaften Tendenzen in den „Niederungen“ der Alltagsvorstellungen über Erziehung und der dort populären Konzepte, in ihrem Erkenntnisfortschritt stetig und unaufhaltsam voranschreite. Eine solche scharfe Trennung der Ebenen ist in diesem Bereich der realen Sachlage jedoch wenig angemessen. Zwar gibt es inzwischen durchaus in vielen Bereichen der Erziehungswissenschaft eine hoch entwickelte Forschungslandschaft und so wissen wir heute z.B. durchaus sehr viel genauer Bescheid als früher über die Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen und über die Merkmale eines effektiven, lernwirksamen Mathematikunterrichts – aber im Hinblick auf die grundlegenden erzieherischen Fragen nach den vordringlichen Zielen, die pädagogisch befördert werden sollen, ist ein solcher „Erkenntnisfortschritt“ sehr viel schwerer zu realisieren. Eben deshalb, weil diese Fragen ganz stark in die grundlegenden Aspekte unseres kulturellen Selbstverständnisses eingebettet sind: Welche Tugenden halten wir für primär bedeutsam? Welche Ausprägungen von Disziplin, Gehorsam, Unterordnungsbereitschaft bzw. welches Maß von Autonomie, von geistiger Unabhängigkeit, Kritikfähigkeit und Widerstandsbereitschaft halten wir für wünschenswert? In welchem Verhältnis stehen für uns die eher asketischen und arbeitsbezogenen Dimensionen wie Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Fleiß, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit zu den eher hedonistischen Dimensionen wie Lebensfreude, Glücksstreben, Selbstverwirklichung, Genussfähigkeit, Konsumlust? In welchem Verhältnis stehen die eher individualistischen Dimensionen wie Originalität, Kreativität, Spontaneität, Sensibilität zu den eher sozialen Dimensionen wie Geselligkeit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, Solidaritätsfähigkeit, Zivilcourage? Und selbst wenn man sich hier auf einen allgemeinen Prioritätenkatalog der Tugenden verständigen könnte – auf welchen Wegen, mit welchen erzieherischen Mitteln könnte dieses „wünschenswerte Tugendprofil“ gefördert werden? Könnten es überhaupt für alle Kinder die gleichen Mittel sein, oder wäre hier der „Individualität des Kindes“ und natürlich auch der Individualität der jeweiligen Familienkultur Rechnung zu tragen?

Und dann kommt ja das wiederum stark kulturell geprägte Generationenverhältnis ins Spiel: Welche Umgangsformen zwischen Erwachsenen und Kindern halten wir prinzipiell für angemessen? Auf welches Maß an Gehorsam und Respekt sollten die Erwachsenen kraft ihres Erwachsenenstatus ganz selbstverständlichen Anspruch haben? Welches Maß an Fürsorglichkeit und Unterstützung, an Lenkung und Leitung, an Grenzsetzung und Kontrolle brauchen Kinder welchen Alters? Und was soll bei Verletzung der gezogenen Grenzen und der vereinbarten Regeln geschehen? Auf all diese Fragen kann es keine „wissenschaftlichen Antworten“ im strengen Sinne des Wortes geben. Und zwar deshalb nicht, weil die Wissenschaft einerseits nicht die Autorität hat, in jenem Dickicht normativer Fragen letztverbindliche Antworten zu geben, und weil sie andererseits auch nicht in der Lage ist, mit hinreichender Sicherheit die Effekte bestimmter erzieherischer Maßnahmen auf individuelle Kinder und Jugendliche zu prognostizieren.

Günther Bittner ist in diesem Sinne zu dem ernüchternden Fazit gekommen, Erziehung sei „anscheinend ein weitgehend unmöglicher Gegenstand von Wissenschaft: Die Problemlagen sind für die empirische Durchdringung vielfach zu komplex, Erziehungsgeschehen ist eingebettet in Lebensformen und kulturelle Traditionen, die sich der distanzierenden wissenschaftlichen Erörterung entziehen, weil der Wissenschaftler selbst in diesen Traditionen steht; Normen und Wertfragen lassen sich oft nur schwer von Fakten trennen“ (Bittner 1996, S. 237). Dennoch hält auch Bittner die Erziehungswissenschaft keineswegs für überflüssig. Er weist ihr jedoch eine bescheidenere – aber dennoch unentbehrliche – Funktion zu: „Wie der Theaterkritiker das Bühnenleben und der Musikkritiker das Konzertgeschehen kenntnisreich kommentiert, so der Politologe die Vorgänge auf der politischen Bühne und der Erziehungswissenschaftler die Entwicklungen auf dem Erziehungssektor. Der Erziehungswissenschaftler untersucht weder streng methodisch, was der Fall ist, noch sinnt er tiefgründig über die Geltung von Werten und Normen; er ist Chronist, Rezensent und Kommentator von Lebensgeschehnissen“ (ebd.).

Ihm kommt dabei insbesondere eine kritische Funktion zu. Da es in pädagogischen Feldern einerseits einen starken und permanenten Innovations- und Verbesserungsdruck gibt – die aktuell bestehende Praxis kann nie als „gut genug“ gelten –, da es dort andererseits aber bisweilen ein ziemlich schwach entwickeltes historisches Gedächtnis gibt, gilt es immer wieder zu prüfen, ob bestimmte Ideen und Vorschläge tatsächlich so innovativ und originell sind, wie sie sich ausgeben und ob nicht zu anderen Zeiten bereits ganz ähnliche Dinge beklagt und ganz ähnliche Forderungen erhoben wurden und ob dort vielleicht sogar Erfahrungen mit der Umsetzung entsprechender Ideen gemacht wurden. Da pädagogische Autorinnen und Autoren, um die Aufmerksamkeit für ihre Botschaften und die Resonanz für ihre Lösungsvorschläge zu erhöhen, häufig auch zu negativen Übertreibungen neigen, d. h. zur Dramatisierung der gegenwärtigen erzieherischen Lage als „Erziehungskatastrophe“, „Erziehungsnotstand“, „Erziehungsvergessenheit“ etc., geht es weiterhin auch stets um eine kritische Prüfung der vorgetragenen Thesen: Wie gut belegt sind die behaupteten pädagogischen Versagens-, Krisen- und Niedergangsphänomene? Wie plausibel ist es, dass die dargestellten Problemlagen mittels der geforderten veränderten erzieherischen Haltungen und Umgangsformen zum Besseren gewendet werden könnten?

In diesem Sinne sollen in dem geplanten Buch markante Entwicklungen, die sich auf dem Erziehungssektor in den letzten Jahrzehnten ereignet haben, unter die Lupe genommen, d.h. beschrieben, analysiert und kommentiert werden. Es sind Entwicklungen, die einerseits eher die „Erziehungsmentalitäten“ betreffen, d. h. die in der Bevölkerung weit verbreiteten Vorstellungen davon, wie Kinder sind, was ihnen zuzutrauen, was ihnen zuzugestehen und was ihnen zuzumuten ist, welche Probleme und Konflikte im Umgang mit Kindern derzeit dominierend sind und welche erzieherischen Ideen, Forderungen und Ratschläge plausibel erscheinen, um jene Probleme und Konflikte zu lösen. Und es sind andererseits Entwicklungen, die eher die Erziehungsdiskurse betreffen, d.h. die Begrifflichkeiten, Leitideen, Zielperspektiven, Konzepte und „Paradigmata“, die im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Fachkommunikation ihre Konjunkturen haben. Dabei sind es einerseits die zentralen Leitbegriffe, die sich wandeln oder die, selbst wenn sie gleich bleiben, doch bisweilen andere inhaltliche Aufladungen und Konnotationen erhalten, es sind unterschiedliche Beschreibungen der zentralen Problemlagen, die in den Fokus treten, es sind natürlich auch innerhalb der einzelnen erzieherischen Felder reale Veränderungen hinsichtlich des jeweiligen fachlichen Selbstverständnisses und der zentralen Aufgabenstellungen und es sind schließlich Wandlungen hinsichtlich der übergreifenden Zielperspektiven, die das ganze Geschäft der Erziehung leiten sollen.

Dabei wird der Bogen der pädagogischen Felder, die in den Blick kommen, ein recht weiter sein: Von der Familie über den Kindergarten, die Schule, die außerschulische Jugendbildung, bis hin zum Studium und zur Lehrerbildung. Anders als in anderen Wissenschaften, die sich mit abgelegenen Winkeln des Weltwissens und mit eher hochspeziellen Problemen und nur für kleine Expertenkreise überhaupt verständlichen Fragen befassen – man denke etwa an die „Glaziologie“ die „Zoologie des Phytoplanktons“, die „Nanostrukturtechnik“ oder die „Historischvergleichende Finnougristik“ – betreffen pädagogische Fragestellungen doch meist Themen, die „unser aller Leben“ irgendwie berühren und zu denen deshalb auch nicht durch Diplom oder Promotion explizit ausgewiesene Fachleute in der Regel eine Meinung haben. Zum einen sind wir in gewissem Sinne als Erzogene und als Erziehende immer schon langjährige „Experten in Erziehungsfragen“, zum anderen betreffen Fragen, die sich auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft und die Gestaltung des Erziehungs- und Bildungswesens beziehen, ja auch Aspekte der „res publica“ und verdienen deshalb unsere Aufmerksamkeit als Staatsbürger.

Von daher gibt es „Erziehungsdiskurse“, Diskussionen über pädagogische Fragen, auch nicht nur auf Kongressen der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ oder in erziehungswissenschaftlichen Vorlesungen oder sonderpädagogischen Seminaren, sondern ebenso im öffentlichen Raum: an Elternstammtischen, in Doku-Soaps und Fernseh-Talk-Shows, in Bild-Zeitungs-, Stern-, Spiegel-, Focus- und Zeit-Artikeln sowie in einer großen Vielfalt von Erziehungsratgebern, die jährlich auf den Buchmarkt kommen. Und diese öffentlichen „Erziehungsdiskurse“ beeinflussen einerseits die in der jeweiligen Epoche vorherrschenden „Erziehungsmentalitäten“ und spiegeln sie gleichzeitig andererseits auch wieder.

Welche Wirkkräfte „hinter“ den Gezeiten des erzieherischen Zeitgeistes stehen, was der heimliche Antrieb für die oftmals erstaunlichen Trendverschiebungen im Erziehungsbereich ist, warum einmal die eine und dann wieder ganz andere Lagebeschreibungen, Problemdeutungen und Handlungsempfehlungen vom breiten Publikum als „plausibel“ und „passend“ bzw. als „progressiv“ und „provokativ“ wahrgenommen werden, ist dabei schwer auszumachen.

Auch ist es schwer anzugeben, in welchem Verhältnis diese außerwissenschaftlichen pädagogischen Diskurse zu jenen Diskursen stehen, die innerhalb der Erziehungswissenschaft als Disziplin geführt werden. Einerseits sind es durchaus Ergebnisse wissenschaftlicher Studien – etwa der TIMMS oder der PISA-Schulleistungsstudien, der Shell-Jugendstudie, der KFN-Jugendstudie, der World-Vision oder der KIGGS-Kinderstudie –, die bisweilen große Medienresonanz finden und die Diskussion an der „Basis“ entfachen, andererseits sind es aber auch Ereignisse im öffentlichen Raum, etwa der zufällige Videomitschnitt einer Gewaltattacke in der Münchner U-Bahn oder die Äußerungen eines konservativen Bischofs zum geplanten Ausbau früher Betreuungseinrichtungen, welche durch ein entsprechendes Medienecho die öffentliche Erregung in Gang bringen und schließlich dann auch die wissenschaftlichen Experten mit fachkundigen Kommentierungen auf den Plan rufen.

In jüngerer Zeit wurde dieses komplizierte Wechselverhältnis in der Erziehungswissenschaft selbst reflexiv zum Thema gemacht. Etwa in dem von Marotzki und Wigger 2008 herausgegebenen Sammelband „Erziehungsdiskurse“, in dem die Herausgeber in der Einleitung schreiben, die Erziehungswissenschaft sei zugleich „eine empirisch forschende und zeitdiagnostisch kritische Disziplin, indem sie ihre Analysen öffentlicher Diskurse und Diskursmedien präsentiert und kritisch diskutiert“ (Marotzki/Wigger 2008, S. 8). Und Micha Brumlik schreibt im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen „Gegenbuch“ zu Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“, mit dem sich die Autoren direkt in eine aktuelle Erziehungsdebatte eingemischt haben: „Gegenstand der Erziehungswissenschaft ist nicht nur, wie und unter welchen Bedingungen erzogen wird und werden soll, sondern auch, wie und mit welchen möglichen Folgen für Kinder und Jugendliche Erziehungsprozesse in der Öffentlichkeit dargestellt oder vorgeschlagen werden“ (Brumlik 2007, S. 7).

Der „pädagogische Zeitgeist“ während des (Sonder-)Pädagogik-Studiums Anfang der 1980er Jahre in Würzburg

Die Kommunikationssituation an pädagogischen und sonderpädagogischen Ausbildungsstätten stellt noch einmal eine eigene Gemengelage zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen pädagogischen Diskursen dar. Die Studierenden der Pädagogik und Sonderpädagogik sind naturgemäß pädagogischen Fragen gegenüber besonders aufgeschlossen, sie setzen sich in ihrem Studium mit wissenschaftlichen Theorieansätzen und empirischen Studien auseinander, wollen an aktuellen Trends und Entwicklungen partizipieren. Sie bringen aber auch ihre Erfahrungen und Einstellungen aus ihrer Biographie und aus ihrer Alltagswelt mit und auch sie sind natürlich in ihren Vorstellungen über Kindheit und Jugend, über Familie und Schule sowie in ihrem Denken über pädagogische Problemlagen und erzieherische Maßnahmen von ihrer Zeitungslektüre, von ihrem Fernseh- und Internetkonsum und von ihren Diskussionen darüber mit Eltern, Geschwistern und Freunden mindestens ebenso beeinflusst wie von Vorlesungen und Fachbüchern.

In jeder Generation von Pädagogikstudierenden gibt es vermutlich Themen, die besondere Faszinationskraft haben, Bücher, die man gelesen haben muss, um mitreden zu können, Theorieansätze, die als besonders angesagt und spannend gelten, Autoren, denen der Ruf vorauseilt, dass sie besonders wichtig, progressiv und innovativ seien – meist deshalb, weil sie massive Kritik an bestehenden Auffassungen und Verhältnissen vortragen –, und solche, die im Ruf stehen, eher konservativ, bieder oder gar rückschrittlich zu sein. Die jeweiligen studentischen Fachkulturen verstärken und kanalisieren jene Tendenzen und der aufmerksame studentische Novize wird in der Regel ziemlich schnell in die geläufigen Betrachtungs- und Bewertungsschemata „hineinsozialisiert“.

Ich will deshalb hier zu Beginn zunächst ein wenig von der Zeit und von dem Zeitgeist vor nahezu dreißig Jahren Revue passieren lassen, als ich an der Universität Würzburg Sonderpädagogik für das Lehramt mit der Fachrichtung „Verhaltensgestörtenpädagogik“ sowie Diplompädagogik studierte. Ich will mich dabei insbesondere auf Aspekte der Deutung von „Verhaltensstörungen“ konzentrieren, weil sich dort die pädagogischen Grundfragen nach den angemessen Formen des pädagogischen Bezugs und nach den Möglichkeiten der erzieherischen Einwirkung in besonderer Weise zuspitzen. Ich will mehr assoziativ, in einigen knappen Schlaglichtern, Autoren, Titel, Thesen und Trends benennen, die hier während meiner Studienzeit besonders bedeutsam waren. Dass dies insgesamt ein subjektiv eingefärbtes Bild ergeben wird, dass schon Kommilitonen, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort den gleichen Studiengang begonnen haben, vermutlich manches anders wahrgenommen und erlebt haben dürften, liegt auf der Hand.

Die Begriffe „Verhaltensstörung“

bzw.

„Verhaltensgestörtenpädagogik“ als Leitbegriffe der ganzen Fachrichtung standen permanent unter Beschuss und wurden immer wieder kritischen Analysen unterzogen. Die Frage der Normativität –wann Verhalten als „gestört“ gelten soll/kann und die Frage der Definitionsmacht – wer wem mit welchem Recht eine solche Diagnose/ein solches Etikett verpassen darf, wurde in Seminaren immer wieder mit Leidenschaft diskutiert.

Eine wichtige Rolle spielte bei jenen kritischen Auseinandersetzungen auch der „labeling approach“, der „Etikettierungsansatz“, der weniger danach fragte, wie es kommt, dass der Jugendliche P. das Problem X oder die Störung Y entwickelt hat, sondern der eher danach fragt, wie es kommt, dass P. von seiner Umwelt schließlich als „typischer Fall von X oder Y“ betrachtet und behandelt wird, welche Machtverhältnisse sich darin ausdrücken, welche Folgen diese „Stigmatisierung“ für die weitere Biographie von P. hat, und welche Gefährdungen damit für seine Identität verbunden sind. Von daher wurden die betroffenen Kinder und Jugendlichen tendenziell eher als „Opfer“ von Ausgrenzungs-, Unterdrückungs- und Stigmatisierungsprozessen gesehen, denn als „Täter“, die sich antisozial, aggressiv oder destruktiv verhielten und deshalb irgendwie „zur Räson“ gebracht werden sollten (vgl. Goffman 1967).

Ein anderer geläufiger theoretischer Bezugspunkt war auch die Kommunikationstheorie, insbesondere in der Fassung von Paul Watzlawick. Seine „Grundaxiome menschlicher Kommunikation“ – etwa der tiefsinnig-triviale Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“ – wurden immer wieder als eine Art wissenschaftliche Offenbarung über die tiefsten Rätsel, Abgründe und Geheimnisse präsentiert, die im Austausch und Umgang zwischen Menschen vorkommen (vgl. Watzlawick u.a. 1969).

Ein weiterer ziemlich zentraler Punkt, der eng damit zusammenhing, war das Postulat, dass es sich bei „Verhaltensstörungen“ nicht nur irgendwie um Störungen in einem geregelten natürlichen Ablauf oder in einem „komplexen Organismus“

bzw.

„psychischen Mechanismus“ handelt, sondern um „Kommunikationsformen“, mithin eben um „Botschaften“, die von einfühlsamen Pädagogen entschlüsselt, enträtselt, verstanden werden müssen. Ein gängiger Slogan war der, dass sich die Verhaltensgestörtenpädagogik mehr den Problemen widmen solle, die das Kind

hat

, als nur dafür zu sorgen, dass die Probleme aufhören, die es

macht

. In Günther Bittners „Problemkinder-Vorlesung“, die in dieser Richtung für mich ziemlich prägend war, ging es u.a. darum, „die Einsicht zu wecken, daß Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen, die uns befremden, vielleicht sogar stören (weshalb wir dann geneigt sind, sie als ‚Verhaltensstörungen‘ zu etikettieren und damit nichts weiter kundzutun als unser eigenes Unverständnis und unsere Abwehr), in ihrem Kern eine ursprünglich sinnvolle Anpassung an eine gestörte Umwelt enthalten. Diesen ursprünglich sinnvollen Kern der Verhaltensauffälligkeit zu erkennen, macht es uns möglich, unsere eigene Abwehr gegen das Verhalten des Kindes aufzugeben, neue Formen des Miteinanders zu suchen und Interaktionsmuster mit ihm ‚auszuhandeln‘“ (Bittner 1994, S. 9).

Eine wichtige Rolle als „Deutungs- und Verstehenshilfe“ für problematische Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen spielte dabei, gerade am sonderpädagogischen Studienort Würzburg, auch die Tradition der psychoanalytischen Pädagogik. Aichhorns Buch „Verwahrloste Jugend“, in dem er das Prinzip der „absoluten Milde und Güte“ als pädagogische Leitlinie seiner „Pädagogik der Versöhnung“ propagierte, galt ebenso als Klassiker, den man gelesen haben sollte, wie Redl/Winemans Buch „Kinder, die hassen“, in dem facettenreich die unterschiedlichen „Ich-Funktionen“ analysiert werden, die bei devianten Kindern beeinträchtigt sein können und in dem in zahlreichen Episoden eine praktische Pädagogik der „Ich-Stärkung“ veranschaulicht wird. Doch selbst ein Autor wie Redl, der sich sehr ausführliche Gedanken darüber machte, wie bei den notwendigen pädagogischen Interventionen in seinem „Pioneer House“ das Prinzip der pädagogischen „Antisepsis“ gewahrt werden konnte, d.h. wie es vermieden werden konnte, dass durch diese notwendigen einschränkenden Interventionen die förderliche Beziehung zum Kind Schaden litt, wurde von den Studierenden bisweilen als „zu technokratisch“ kritisiert. Vor allem deshalb, weil er ein Buch mit dem Titel „Steuerung des aggressiven Verhaltens beim Kind“ (Redl/Wineman 1984) publiziert und dort gleich zwanzig verschiedene entsprechende „Techniken“ präsentiert hatte. Der eigentliche „Heros“ einer nicht-technokratischen, konsequent emphatisch-verstehensorientierten, symptomtoleranten, sich gänzlich in den Dienst des individuellen Kindes stellenden Pädagogik war wohl Bruno Bettelheim. In seinen Berichten aus der Orthogenic School erschien es so, als sei kein Aufwand und keine Anstrengung zu groß, wenn sie nur dem Wohlergehen und den Entwicklungsmöglichkeiten des einzelnen Kindes dienten. Die Themen „Grenzen setzen“, „Konfrontation“, „Sanktion“, „Zwang“ kommt in Bettelheims pädagogischen Reflexionen so gut wie gar nicht vor. (Aus der posthumen Bettelheim-kritischen Diskussion wissen wir, dass Bettelheims Beschreibungen hier nicht unbedingt mit der Realität seiner pädagogischen Praxis an der Orthogenic School übereinstimmen! [vgl. Göppel 1998]).

Dabei ist weiterhin wichtig zu sehen: ADHS als „Krankheitsbild“, unter das sich vielfältige Formen schwierigen, widerspenstigen, unkonzentrierten und unkontrollierten Verhaltens subsumieren lassen, war damals noch gar nicht „entdeckt“

bzw.

„erfunden“. Die Diagnose „ADHS“ hat sich jedoch in den letzten Jahren bei der Betrachtung problematischen kindlichen Verhaltens immer mehr in den Vordergrund geschoben und das Kürzel ADHS wird heute bisweilen fast als Synonym für „Verhaltensstörungen“ schlechthin verwendet. Je nach Autor findet man Prävalenzangaben, nach denen zwischen 5 % (Döpfner 2001), 2–9,5 % (Steinhausen 2000), 6–10 % (Wender 1991)

bzw.

17,8 % (Baumgaertel u.a. 1995) aller Kinder von dieser gehirnorganisch bedingten Informationsverarbeitungs- und Impulskontrollstörung betroffen sein sollen. In dem damaligen Standardwerk der Kinder- und Jugendpsychiatrie, im „Harbauer/Lempp/Nissen/Strunk“ (1976

3

), (mit dem ich mich im Rahmen meines sonderpädagogischen Staatsexamens noch auf die Prüfung beim damaligen Würzburger Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerhardt Nissen, vorbereitet habe), findet sich im Stichwortverzeichnis weder ein „hyperkinetisches Syndrom“ noch ein „Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom“. Es gibt zwar ein Kapitel über „Störungen der Motorik“. Darin ist aber primär von infantiler Cerebrallähmung, von Chorea minor, vom Parkinson-Syndrom, von Myopathien und von Dysmelie die Rede. Das, was heute als „ADS“

bzw.

„ADHS“ in diesem Feld eine so zentrale Rolle spielt, kommt in dem dicken Lehrbuch von 1976 noch überhaupt nicht vor. Ähnlichkeiten gibt es am ehesten noch mit dem von Lempp beschriebenen „frühkindlichen exogenen Psychosyndrom“, für das „erhöhte motorische Unruhe“ und „häufig damit verbundene Konzentrationsschwäche“ als typisch beschrieben werden, wobei Lempp freilich auch den ganzen Bereich der „Teilleistungsschwächen“ mit darunter fasst. Der seitdem erfolgte „Triumphzug“ des neurobiologischen Deutungsmusters ADHS hängt natürlich auch ganz eng mit dem pharmakologischen Siegeszug des Methylphenidats als potenter Wirksubstanz zur Dämpfung des nervenaufreibenden kindlichen Verhaltens zusammen.

Eine weitere Besonderheit der damaligen Studiensituation in der Sonderpädagogik war eine sehr kritische Haltung gegenüber der Form und der Funktion traditioneller sonderpädagogischer Diagnostik. Diese wurde als „Ausgrenzungs-“ und „Überweisungsdiagnostik“ gebrandmarkt. Die sehr rege damalige Würzburger Fachschaftsinitiative der Sonderpädagogen stellte im Wintersemester 1981/82 in eigener Regie eine Vorlesungsreihe „Diagnostik im Interesse der Betroffenen – Ansätze zu einer Umorientierung der Förderdiagnostik“ auf die Beine und lud dazu prominente „progressive“ Sonderpädagogen wie etwa Reimer Kornmann, Holger Probst, Wolfgang Jantzen und Peter Rödler ein. Schließlich wurde das Ganze auch als kleines Bändchen im Selbstverlag herausgebracht. In dessen Vorwort wird das studentische Anliegen verdeutlicht: Es bestünde seit längerem eine Abneigung der Studierenden gegen die „herkömmliche Diagnostik“ und es ginge darum, sich auf wissenschaftlicher Basis „über den Sinn und Unsinn der Testerei“ auseinanderzusetzen. Der kritisch-aufmüpfige Geist, der damals im Bereich der Sonderpädagogik wehte, wird in diesem Vorwort auch in einem Seitenhieb gegen die Uni-Leitung deutlich, die der Fachschaftsinitiative Probleme wegen der Räume für diese Vortragsreihe gemacht hatte. Dort heißt es: „Die Leitung der Universität Würzburg bewies mit ihrem Verhalten einmal mehr, daß sie jegliches eigenverantwortliche Handeln der Studenten in totaler Manier zu verhindern versucht, umso mehr, wenn gesellschaftskritische Inhalte an unsere Untertanen-Uni getragen werden“ (Fachschaftsinitiative 1982, S. 6).

Diese Kritik an der sonderpädagogischen Diagnostik hing natürlich auch eng zusammen mit einer Kritik am deutschen Schulsystem im Allgemeinen und am Sonderschulsystem im Speziellen. Dabei ging die Schulkritik freilich noch keineswegs in die seit PISA dominante Richtung des Vorwurfs, dass die in der Schule vermittelten Kenntnisse und Kompetenzen im internationalen Vergleich zu dürftig ausfallen. Im Zentrum der Kritik standen vielmehr die herrschenden Macht- und Konkurrenzverhältnisse an der Schule sowie die „Weltfremdheit“ des schulischen Lernens und die zu einseitige kognitive Leistungsorientierung. Die sonderpädagogische Integrationsdiskussion hatte Anfang der 1980er Jahre schon beträchtliche Schubkraft gewonnen (die migrationsbezogene war dagegen noch überhaupt nicht in Gang gekommen). Eines der Highlights meiner Studienzeit war ein selbstorganisiertes Seminar über alternative Schulkonzepte, in dem von der Scuola di Barbiana bis zu Tvind in Dänemark, von der Bielefelder Laborschule bis zur Glockseeschule in Hannover die ganzen „magischen Orte“ einer anderen, alternativen Schulkultur unter die Lupe genommen wurden. Aus diesem Seminar ging eine Initiative zur Gründung einer „Freien Schule Würzburg“ hervor, welche dann immerhin über einige Jahre hinweg mit viel Enthusiasmus und Engagement ein kleines Schulprojekt betrieben hat, bei dem die Ideen der „humanistischen Ökologie“, der „Interessenorientierung“, der „Selbstregulation“, der „Ganzheitlichkeit“ und der „Integration“ eine zentrale Rolle spielten (vgl. Scholz 1992). Schließlich zwang die Regierung von Unterfranken die Eltern mit hohen Bußgeldforderungen zur Aufgabe und zum Regelschulbesuch für ihre Kinder. Und dies, obwohl immerhin eine renommierte „erziehungswissenschaftliche Instanz“ wie Wolfgang Klafki damals noch eine positive „gutachterliche Stellungnahme zum Antrag der Freien Schule Würzburg auf Einrichtung einer freien Ersatzschule“ verfasst hatte.

Nicht nur die Organisationsform und die Unterrichtskultur der Regelschule stand in jener Zeit häufig in der Kritik, sondern erzieherische Ansprüche und Ambitionen insgesamt wurden in jener Zeit bisweilen sehr heftig und sehr grundsätzlich in Frage gestellt. Es hatte sich eine „Antipädagogische Bewegung“ formiert, die bei den Studierenden der Pädagogik und der Sonderpädagogik heftige Grundsatzdiskussionen über die prinzipielle Notwendigkeit von Erziehung und über die Legitimation pädagogischer Interventionen auslöste. Die „Abschaffung der Erziehung“ wurde von manchen Autoren ernsthaft gefordert (Braunmühl 1975), „Unterstützen statt Erziehen“ wurde als Parole ausgegeben (v. Schönebeck 1982). Wiederum auf Betreiben der Sonderpädagogik-Fachschaft wurde einer der führenden Köpfe jener Bewegung, Ekkehard von Braunmühl, an die Uni Würzburg eingeladen und er hielt dort, in einem überfüllten Hörsaal vor Pädagogikstudierenden, einen ziemlich polemischen Vortrag über die Schädlichkeit und Verwerflichkeit der erzieherischen Ambition. Eine im Prinzip zutiefst paradoxe Situation. Ich kann mich an die Inhalte dieses Vortrags im Einzelnen kaum mehr erinnern, ich weiß nur noch, dass der Nestor der Würzburger Sonderpädagogik, Andreas Möckel, sich in einem Gespräch hinterher ziemlich irritiert darüber äußerte, dass ein rhetorisch begabter Redner wie von Braunmühl es schaffte, die Studierenden mit seinen „Irrlehren“ so sehr in den Bann zu ziehen. Wie heftig die antipädagogische Provokation die etablierte Erziehungswissenschaft damals getroffen hat, kann man unter anderem daran ersehen, dass eine ganze Reihe bedeutsamer Erziehungswissenschaftler sich herausgefordert sah, in eigenen Büchern gegenzuhalten und sich und die Leser von der Legitimität und Unabweislichkeit des erzieherischen Handelns zu überzeugen (vgl. Flitner 1982, Mollenhauer 1983, Winkler 1982).

Auch andere Autoren hatten in jener Zeit dazu beigetragen, dass die Empfänglichkeit für solche radikale Erziehungskritik in jener Zeit hoch war. Allen voran Alice Miller, die Anfang der 1980er Jahren mit ihren Büchern „Das Drama des begabten Kindes“ (1979), „Am Anfang war Erziehung“ (1980) und „Du sollst nicht merken“ (1981) ein Millionenpublikum erreichte. Viele Leser identifizierten sich offensichtlich mit den Patientinnen aus Millers therapeutischen Fallgeschichten und betrachteten sich selbst als „begabte Kinder“, deren zentrales Lebensproblem darin bestand, dass ihr „wahres Selbst“ in früher Kindheit nicht genügend empathische Spiegelung erhalten hatte und die damit genötigt waren, ein „falsches Selbst“ auszubilden, das nun zu Gefühlen der Entfremdung und der inneren Leere führte.

Insgesamt war das Studium der Pädagogik damals noch von einer eher lockeren Prüfungs- und Studienordnung geprägt, die nur sehr vage Angaben darüber machte, aus welchen Themenbereichen bis zur Anmeldung zur Prüfung welche Scheine beizubringen waren. Das Thema „Kerncurriculum“ spielte noch keine Rolle und es bestand noch nicht der Anspruch, dass möglichst alle Studierenden bis zum Ende ihres Studiums möglichst die gleichen „Wissens- und Kompetenzpakete“ erworben haben sollten. Das Studium der Pädagogik war ein klassisches geisteswissenschaftliches Studium mit großen Freiheiten und damit mit der Chance, es sehr stark von eigenen Interessen und Fragen geleitet als persönlichen Bildungsgang zu gestalten. Maßgeblich für die Auswahl der Lehrveranstaltung waren mehr die konkreten Fragestellungen, die den einzelnen Vorlesungen und Seminaren zugrunde lagen, sowie die Faszinations- und Überzeugungskraft, die von den einzelnen Dozenten ausging, als irgendwelche vorgegebenen „Modulinhalte“, die laut Prüfungsordnung zu absolvieren waren. Zugleich war schnell klar, dass es im Feld der Pädagogik über weite Strecken weniger um „gesichertes positives Wissen“ geht, das man „schwarz auf weiß“ nach Hause tragen kann, das man getreulich zu memorieren und bei Prüfungen feinsäuberlich zu reproduzieren hat, als vielmehr um kritische Auseinandersetzung mit konträren Positionen, also um Diskussion, Argumentation und begründete Stellungnahme.

Teil IWandel der Problembeschreibungen und Problemlösungsstrategien

Kapitel 1Von einstmals intakten erzieherischen Verhältnissen zur „Erziehungskatastrophe“ der Gegenwart? Brauchen Kinder heute wieder mehr Erziehung, Disziplin und Gehorsam?

1 Die mediale Darstellung der gegenwärtigen erzieherischen Lage

In den letzten Jahren fegt ein strenger Wind durch die deutsche Erziehungslandschaft. Allenthalben werden in den öffentlichen Debatten zum Thema Erziehung düstere kulturkritische Niedergangsszenarien ausgebreitet und beschwörende Forderungen nach einer Rückkehr zu mehr Strenge, Autorität und Disziplin erhoben. Die heutigen Kinder und Jugendlichen werden dabei oft ziemlich pauschal in ein recht schlechtes Licht gestellt. Sie seien zu großen Teilen unreif, aufsässig, tyrannisch, verwahrlost, verhaltensgestört, mediensüchtig, gewaltbereit …, ihnen mangele es an traditionellen Tugenden wie Selbstdisziplin, Zurückhaltung, Leistungsbereitschaft, Verlässlichkeit, Engagement, Empathie … Die empirischen Belege dafür, dass die behaupteten Negativtrends tatsächlich zutreffen, sind dabei freilich meist ebenso dürftig wie die Begründungen dafür, warum und inwiefern die geforderten „härteren Gangarten“ in der Erziehung die Dinge zum Besseren wenden könnten.

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