Patchwork – Leben mit einer psychischen Krankheit - Ulrike Infante - E-Book

Patchwork – Leben mit einer psychischen Krankheit E-Book

Ulrike Infante

0,0

Beschreibung

»Ich will ohne weitere Medikamente leben, solange es geht. Ich will nicht gedämpft vor mich hin starren und sagen, es geht mir gut. Ich will die Zeit intensiv erleben.« (Tagebuchaufzeichnung vom fünfzehnten Oktober 1986) Mit zweiundzwanzig Jahren wurde ich schwer krank und musste lange Zeit in einer psychiatrischen Klinik bleiben. Mir gefiel nicht, dass andere über psychisch kranke Menschen berichteten, ich wollte es selbst schaffen, ein Buch zu schreiben. Heute weiß ich, dass Schreiben hilft, zu leben. (Ulrike Infante) Frau Infante wurde 1991 aufgrund ihrer Schizophrenie invalidisiert. In Briefen, Aufsätzen, Tagebuchaufzeichnungen und Gedichten erzählt sie aus ihrem Leben, das sich zwischen Hochgefühl, lähmender Antriebslosigkeit und Wahn bewegt. Obwohl ihr psychisches Leiden ihren Lebensentwurf immer wieder durchkreuzt, begegnet sie uns als eine engagierte Frau. In der ehemaligen DDR als Studentin und Geliebte eines peruanischen Mannes, nach der Wiedervereinigung als Mutter und auch als psychisch Kranke.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 75

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ulrike Infante

in enger Zusammenarbeit mit Scarlett Müller

PATCHWORK – LEBEN MIT EINER PSYCHISCHEN KRANKHEIT

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Über das Buch: Ulrike Infante wollte mit ihrer Geschichte der Öffentlichkeit begegnen. Es war ihr wichtig, dass die Menschen erfahren und anerkennen, welche Kraft sie täglich aufbringen musste, um als Mitglied unserer Gesellschaft respektiert zu werden. Im Jahre 1991 wurde sie aufgrund ihrer Schizophrenie invalidisiert. In Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Aufsätzen und Gedichten erzählt sie aus ihrem Leben, das sich zwischen Hochgefühl, lähmender Antriebslosigkeit und Wahn bewegte. Die Briefe erlauben einen Einblick in ihre letzten Lebensjahre. In den anderen Texten begegnet man der früheren Ulrike, die Träume und Ziele wie viele junge Frauen hatte. Obwohl ihr psychisches Leiden ihren Lebensentwurf immer wieder durchkreuzte, blieb sie eine engagierte Frau, die ihren Platz in der Gesellschaft suchte und sich stets neu erkämpfen musste. In der ehemaligen DDR als Studentin, Dolmetscherin, Geliebte und Frau eines peruanischen Mannes, nach der Wiedervereinigung als Mutter und auch als psychisch Kranke.

Ulrike Infante verstarb kurz vor Veröffentlichung ihres Buches im Alter von fünfzig Jahren.

Wir werden sie vermissen.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Über das Buch

Widmung

Berlin, dritter Advent 2006

Ein kleines Stück Kindheit

Mutters Kleider

Mauerfall

Berlin, den 16.12.2007

Tagebuchaufzeichnungen

Zweiter Advent 2008

Berlin, Mitte Dezember 2009

Berlin, den 5.12.2010

Abschied

Zitronensäure

Ich bin da

Ana-Maria lernt Rollschuhlaufen

Am Rande

Die alte schlimme Klinik

Bernsteinkette

Endnoten

Für meine Tochter

Berlin, dritter Advent 2006

Liebe Freunde, Verwandte und Bekannte, liebe Scarlett,

ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünscht Euch Ulrike!

Wir, mein Freund Toralf und ich, können auf ein schönes und glückliches Jahr zurückblicken. Wir haben viel zusammen erlebt und sind uns näher gekommen. Ich schicke Dir eine Kopie meines letzten Romanentwurfes, den ich im Sommer geschrieben habe. Das ist ungelogen mein sechster Romanentwurf, aber leider habe ich nicht die Kraft, weiterzuschreiben, den Text fertigzustellen.

Die Krankheit ist immer so stark. Ich freue mich über jede Kleinigkeit, die ich getan habe. Das heißt einkaufen, kochen, waschen, saubermachen. Ich liege aber auch viele Stunden im Bett, kämpfe gegen die Antriebslosigkeit.

Mit Ana-Maria telefoniere ich immer am Wochenende. Manchmal bekomme ich auch Post. Leider habe ich kein Internet. Ana-Maria kommt im Sommer für drei oder vier Wochen nach Deutschland, um ihre deutsche Familie zu besuchen. Dann fliegt sie für eine Woche nach London, zu einem Welttreffen der Pfadfinder. In zwei Jahren macht Ana-Maria an einer deutschen Schule in Lima ihr Abitur. Danach kommt sie nach Deutschland, um hier zu studieren. Ihr Studienwunsch ist das Lehramt oder die Richtung Übersetzer/Dolmetscher.

Einmal im Monat gehe ich zum Nervenarzt, einmal im Monat mit Toralf zur Therapie. Im Therapiezentrum wird im Januar eine Ausstellung mit meinen Textilarbeiten eröffnet. Gegenwärtig bin ich mit der Vorbereitung der Ausstellung beschäftigt. Einmal pro Woche fahre ich nach Lichtenberg, um meine beste Freundin und ihren behinderten Sohn zu besuchen. Er ist jetzt achtzehn Jahre alt und macht eine Ausbildung zum Archivar. Mit meiner Freundin habe ich immer Gesprächsstoff. Für einen Russischkurs habe ich mich auch angemeldet, hier in der Nähe, im Ewa-Frauenzentrum. Deshalb habe ich mir auch einen Russisch-Sprachkurs, CD und Buch gekauft und mich wieder ins Russische eingehört. Dass ich Russisch konnte, liegt lange Zeit zurück, doch aus den Tiefen kommt eine Menge wieder empor. Allerdings fällt es mir schwer, zum Unterricht zu gehen. Ich bin auch Abonnentin der Spanisch-Zeitung „Ecos“, bekomme einmal im Monat die Zeitung und die CD und arbeite von Zeit zu Zeit auch damit.

Im April besuchte ich die Isabell Huppert Retrospektive. Isabell Huppert ist meine Lieblingsschauspielerin. Ebenfalls im April haben wir das Gegenwartsstück „Greifswalder Straße“ im Deutschen Theater gesehen, für mich nah an der Schmerzgrenze. Im November sahen wir an der Volksbühne „Schuld und Sühne“. Die Vorstellung dauerte bis spät in den Abend, war sehr unterhaltsam und anspruchsvoll inszeniert. Im Kino sahen wir uns den spanischen Film „Volver“ an, distanziert humorvoll, typisch Spanien, mit ganz eigener Handschrift. Die Fußball-WM haben wir interessiert verfolgt, und uns später den Film „Deutschland ein Sommermärchen angesehen. Auf der Fan-Meile am Brandenburger Tor konnte man das WM-Fieber richtig spüren. Anfang Juni fand ein Klassentreffen statt, fünfundzwanzig Jahre Abitur. Es wurde in einem Hotel in A. gefeiert, vom Samstag zum Sonntag. Es ging mir an diesem Tag nicht all zu gut, doch ich war froh, mit dabei zu sein. Nachts kamen die Stimmen der alten Schulkameraden zurück, „bajaron los Espiritos“ würde man in Peru sagen. Das heißt, die Stimmen und Geister kamen nach vielen Jahren zurück. Die beste Ausstellung in diesem Jahr in Berlin war „Melancholie“ – Genie und Wahnsinn - in der Neuen Nationalgalerie. Außerdem sahen wir uns die Rembrandt-Ausstellung im Kunstforum und die Ausstellung „das Gold der Inka“ an. Im Museum fühle ich mich immer sehr kreativ.

Wenn ich gut drauf bin, ist meine Phantasie in Museen auf dem Höhepunkt.

Ihre Frau Ulrike

Ein kleines Stück Kindheit

Es gibt ein Buch, „Schlüssel des Glücks“, von Michail Soschtschenko. Er beschreibt, wie er seine psychische Krankheit heilen konnte. Nur durch erinnern, verarbeiten, schreiben. Oder auf der anderen Seite durch Analyse und Therapie. Ich hatte damals in meiner ersten Therapiegruppe, als eine andere Patientin das Buch empfahl, nicht daran geglaubt. Ich konnte mich bis zum Schulanfang erinnern, den schwarzen Rock einer Tante, die drückenden Schuhe und die große Zuckertüte. Ich hätte nie geglaubt, dass man sich bis zu seiner eigenen Geburt erinnern kann. Nun gut, gegen die pawlowschen Reflexe kommt man nicht an und die Krankheit ist schwer zu ertragen, aber die gesunden Teile, wenn du sie findest, gib sie dir selbst und einem anderen.

Ich weiß noch, wie ich auf die Welt kam und meine Mutter Gudula Lieselotte Baumann „de Müller“ in der spanisch sprachigen Welt, weiß das auch noch ganz genau. Es war dunkel und sehr eng. Mutter sagt immer, dass es vierundzwanzig Stunden Wehen gedauert hat. Dann rief die Hebamme ganz laut: „Frau Müller! Ein Jungenkopf!“ Doch oh blub, ein Mädchen. Es war an einem Sonntag, zur Mittagszeit, als ich das Licht der Welt erblickte. Es hieß dann immer, ich sei ein Sonntagskind. Man klebte mir ein Pflaster mit meinem Namen an das Ärmchen und ich lag mit vielen anderen Babys in einem großen Saal. Nur zum Stillen wurden wir zu den Müttern gebracht. Ich bekam den Namen Ulrike, weil meiner Tante dieser Name immer so gut gefiel und sie zwölf Tage vor meiner Geburt, im Alter von neunundzwanzig Jahren, verstarb. Sie war meine einzige Tante. Jahre später, nach meinem Aufenthalt in der Psychiatrie, fand Mutter zwischen alten Kleidern in der Bodenkammer ein Nachthemd von Tante Maria - hellgrün geblümt. Sie fragte mich, ob ich es haben wolle. Mir gefiel es und ich war mir sicher, dass ich trotz der schweren Krankheit mindestens neunundzwanzig Jahre werden würde. Was ich genau weiß ist, dass mich mein Vater sehr liebte. Er nahm mich gern hoch, an seine linke Schulter. Meine Mutter legte all ihren Ehrgeiz in mich. Sie schrieb nachts sogar Tagebuch für mich und schreibt mir auch heute noch. Wenn wir uns gestritten haben, verzeihen wir uns auf diese Weise. Schriftlich. Das heißt, wir können uns vergeben.

Als meine Schwester geboren wurde, war es Nacht und tiefer Winter. Mutter war die Fruchtblase geplatzt, sie musste schnell in die Klinik. Ich war wach geworden, denn es gab eine helle Aufregung, weil wir eingeschneit waren. Vater musste erst noch den Weg frei schippen. Dann kam der Krankenwagen. Henriette war ganz schnell da. Mutter Gudula hatte schon bei mir mit einer in Mode gekommenen neuen Atemtechnik eine schmerzarme Geburt gehabt.

Es wird erzählt, dass ich nicht essen wollte. Erst als Henriette da war, kam der Futterneid und ich hätte auch gegessen. Ich erinnere mich an den Geschmack des Apfelbreis und an die Fläschchen. Sie standen noch viele Jahre im Küchenschrank. Nachdem Henriette geboren war, und Mutter nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, kamen Oma und Opa nach H. So konnte Mutter weiter als Lehrerin arbeiten. Vormittags blieben wir Kinder bei Oma Emma und wenn Mutter aus der Schule kam, waren wir bei ihr. Mit den Nachbarkindern spielten wir oft stundenlang in unserem Zimmer. Wir hatten