Patient Null - Wer wird überleben? - Daniel Kalla - E-Book
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Patient Null - Wer wird überleben? E-Book

Daniel Kalla

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Beschreibung

Wir dachten, wir hätten sie besiegt: die Seuche, die vor 700 Jahren 25 Millionen Menschen dahinraffte. Doch jetzt ist die Pest zurück - noch tödlicher, noch verheerender - und bedroht die ganze Menschheit Dr. Alana Vaughn, Expertin für Infektionskrankheiten bei der NATO, wird nach Genua gerufen, um eine schwerkranke Frau zu untersuchen. Entsetzt stellt Alana fest, dass die Patientin Symptome einer neuen und besonders aggressiven Form der Lungenpest aufweist, deren Erreger Antibiotika resistent ist. Alana kommt ein fürchterlicher Verdacht: Könnte hier Bioterrorismus im Spiel sein? Zusammen mit Byron Menke von der WHO macht sie sich auf die verzweifelte Suche nach Patient Null, dem ersten Infizierten, um die Epidemie einzudämmen. Während die tödliche Seuche Rom und Neapel erreicht, stoßen Alana und Byron auf ein 800 Jahre altes Kloster und ein Tagebuch aus dem Mittelalter, das vielleicht die Erklärung für den gegenwärtigen Pest-Ausbruch enthält. Können sie die Wahrheit enthüllen, bevor tausende Menschen sterben? Ein hochspannender Medizin-Thriller mit brandaktuellem Thema: der Ausbruch einer Epidemie in Europa

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Patient Null - Wer wird überleben?

Der Autor

DANIEL KALLA ist ausgebildeter Notfallmediziner und arbeitet seit vielen Jahren im kanadischen Gesundheitswesen. Seine Erfahrungen als Mitglied in der Taskforce zur Bekämpfung der SARS-Epidemie brachten ihn 2003 auf die Idee für seinen ersten Thriller. Mittlerweile hat Daniel Kalla zehn Bücher geschrieben und ist internationaler Bestsellerautor. Er lebt mit seiner Familie in Vancouver.

Das Buch

Was passiert, wenn die Pest in die Gegenwart zurückkehrt, noch tödlicher als je zuvor?Dr. Alana Vaughn, Expertin für Infektionskrankheiten bei der NATO, wird nach Genua gerufen, um eine schwerkranke Frau zu untersuchen. Entsetzt stellt Alana fest, dass die Patientin Symptome einer neuen und besonders aggressiven Form der Lungenpest aufweist, deren Erreger Antibiotika resistent ist. Alana kommt ein fürchterlicher Verdacht: Könnte hier Bioterrorismus im Spiel sein? Zusammen mit Byron Menke von der WHO macht sie sich auf die verzweifelte Suche nach Patient Null, dem ersten Infizierten, um die Epidemie einzudämmen. Während die tödliche Seuche Rom und Neapel erreicht, stoßen Alana und Byron auf ein 800 Jahre altes Kloster und ein Tagebuch aus dem Mittelalter, das vielleicht die Erklärung für den gegenwärtigen Pest-Ausbruch enthält. Können sie die Wahrheit enthüllen, bevor tausende Menschen sterben?

Daniel Kalla

Patient Null - Wer wird überleben?

Thriller

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

Ullstein

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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2020© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020. © Daniel Kalla, 2019. Titel der kanadischen Originalausgabe: We all fall down (Simon & Schuster, Toronto)Published in agreement with the author.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Michael BednarE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comISBN 978-3-8437-2354-1

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Widmung

Für meine TöchterChelsea und Ashley

Kapitel 1

Da ist er wieder. Und beobachtet. Immer beobachtet er. Hat der alte Blödmann nichts anderes zu tun?, fragt sich Vittoria Fornero, als sie den Plan zusammenrollt und unter ihren Arm klemmt.

Der kleine Mönch taucht täglich auf, seit das erste Team herkam, um das alte Kloster abzureißen. Wie immer trägt er die traditionelle schwarze Kutte der Benediktiner, die Kapuze zurückgezogen, sodass der zauselige weiße Haarkranz an dem ansonsten kahlen Kopf zu sehen ist. Jeden Morgen gegen neun erscheint er mit einem rostigen Klappstuhl unter dem einen Arm und einer abgewetzten schwarzen Aktentasche unter dem anderen. Manchmal trinkt er aus einer Thermoskanne oder liest in einem zerblätterten Gebetbuch. Doch normalerweise, wie jetzt, sitzt er einfach nur am Rand der Baugrube und beobachtet das Geschehen wie eine Taube auf einer Dachrinne.

Die meiste Zeit fügt sich der Mönch wie selbstverständlich ins Bild ein, ähnlich den riesigen gelben Baggern, den Holzstapeln und den Schutt- und Geröllhaufen. Heute Morgen jedoch fehlen Vittoria die Nerven für den ungeladenen Zuschauer.

»Se nè andata!«, ruft sie ihm zu, während sie ihre Windjacke fester zuzieht, weil sie ein scheußliches Frösteln überkommt. »Ihre Reliquie ist weg, alter Mann, tot. Und die Beerdigung ist vorbei!«

Tatsächlich kann Vittoria das alte Kloster noch vor sich sehen: ein schlichter romanischer Bau, der an der Südseite bereits bröckelte; vor Jahren schon war ein Teil des Klostergangs eingestürzt. Doch bei aller Baufälligkeit hatte Vittoria den besonderen Charme der Abtei gemocht. Und obwohl sie überzeugte Atheistin ist, bewirken die Kindheitserinnerungen an Furcht einflößende Nonnen doch, dass ihr beim Gedanken an den Abriss des uralten Gotteshauses mulmig wurde.

Der alte Mönch beantwortet ihre absichtlich aggressive Äußerung mit einem freundlichen Winken, sodass sie sich fragt, ob es an seinem Gehör ebenso hapern könnte wie offenbar an seinem Verstand. Dennoch gibt sie nicht nach; nicht heute Morgen, nachdem er bereits ihre Arbeit beeinträchtigt und ihre stechenden Kopfschmerzen verschlimmert hat.

Eine Viertelstunde hatte sie in dem engen, überheizten Containerbüro damit vergeudet, einen der Arbeiter, einen pickligen Lehrling namens Emilio, zu beruhigen.

»Jetzt hör mal zu, Emilio!«, hatte Vittoria ihn mitten im Satz unterbrochen, weil sie seine Panik keine Sekunde länger aushielt. »Dieser schmarotzende Mönch ist sauer, weil er sein Dach überm Kopf verloren hat, sonst nichts!«

»Aber, Vittoria«, murmelte Emilio. »Bruder Silvio … er sagt, es geht nicht nur um das Kloster.«

»Und um was dann?«

»Bruder Silvio sagt, das Kloster … es steht auf geheiligter Erde.«

»Für einen Mönch vielleicht. Für uns ist es bloß eine Baustelle. Genau wie jede andere.« Allerdings musste sie zugeben, dass die Krypta unter dem Kloster eine Überraschung gewesen war. Keiner hatte erwartet, solch einen komplexen Keller mit kreuz und quer verlaufenden Gängen freizulegen. Und all die winzigen Knochen. Als Vittoria sie sah, dachte sie zuerst unwillkürlich an ihre zwei Kinder. Doch sie war nicht in der Stimmung, über mittelalterliche Architektur zu diskutieren.

»Was ist mit Yas?«, fragte Emilio.

»Was soll mit ihm sein?« Vittoria klang trotziger als beabsichtigt.

»Vorgestern ging es ihm nicht so gut«, antwortete Emilio. »Und gestern ist er nicht gekommen. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.«

»Na und? Wahrscheinlich ist er verkatert.«

»Yas trinkt nicht. Und er antwortet nicht auf Textnachrichten oder Anrufe. Bruder Silvio sagt …«

»Es reicht, Emilio! Um Gottes willen!« Vittoria hielt die Hände in die Höhe. »Kein Wort mehr! Sonst kannst du dir am Hafen Arbeit als Decksschrubber auf den Fischkuttern suchen. So wie Yas bald auch.«

Vittoria drückt die Daumen gegen ihre Schläfen, um das Pochen zu lindern und die Erinnerung an das Gespräch mit dem panischen Jungen zu vertreiben. Sie wünschte, Emilio hätte Yas nicht erwähnt.

Ihre Beine zittern, und wieder überkommt sie ein Frösteln. Die überdrehte Wetterfrau im Fernsehen hatte für Genua an diesem Morgen Rekordtemperaturen angekündigt. Die Aprilsonne steht bereits hoch über den Hügeln oberhalb der Stadt, wo die Baustelle ist, doch Vittoria scheint die Wärme nichts zu bringen.

Maria hatte sie gewarnt, dass sie zu krank sei, um zu arbeiten. Natürlich war das typisch für Maria, die schon beim leisesten Schniefen ihre Zwillinge zu Hause behielt. Vittoria muss unweigerlich schmunzeln. Für sie beide war es in einer traditionsverhafteten Stadt wie Genua nicht immer leicht gewesen, trotzdem ist und bleibt Maria das Beste, was Vittoria jemals passiert ist. Und wie immer hatte sie recht. Vittoria kann sich nicht erinnern, sich schon mal mieser gefühlt zu haben. Das Atmen fällt ihr seltsam schwer. Jeder Schritt ist anstrengend. Ihr Kopf steht in Flammen. Doch die größte Sorge macht ihr ihre Achsel. Die bläuliche Beule dort ist angeschwollen und mittlerweile so groß wie ein Ei und pocht wie ein entzündeter Zahn. Schon der kleinste Kontakt mit ihrem Overall schmerzt höllisch.

Aber Vittoria hat in zwanzig Jahren keinen einzigen Tag wegen Krankheit gefehlt. Und ganz sicher wird sie es jetzt nicht, denn sie sind bereits im Verzug, und der Chef bangt um die Finanzierung. Ihre erste Amtshandlung heute wird sein, diesen aufdringlichen Mönch dauerhaft loszuwerden, ehe er die anderen Arbeiter vergrault und sie noch mehr Rückstand ansammeln. Schon vor Wochen hätte sie die Sicherheitsleute das mit ihm regeln lassen sollen, doch jetzt muss sie es eben selbst erledigen. Sie strafft ihre Schultern und marschiert auf Bruder Silvio zu.

Als sie nahe genug ist, um seinen Kaffee zu riechen, muss Vittoria stehen bleiben, um zu verschnaufen. Eine unsichtbare Flamme erhitzt ihr Inneres von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln, und ihre Knie zittern so sehr, dass sie beinahe erwartet, ein Klappern zu hören.

Der alte Mönch schraubt seine Thermoskanne zu und lehnt sich auf seinem Stuhl nach vorn. Seine Augen blitzen. »Was ist mit Ihnen, meine Liebe?«, fragt er. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja! Sie können verdammt noch mal von meiner …« Ein plötzlicher Hustenanfall lässt sie verstummen.

Vittoria fühlt Schleim ihre Luftröhre emporsteigen und hebt eine Hand an ihren Mund. Einen Moment lang kann sie nicht atmen. Als es endlich vorbei ist, spürt sie etwas klebriges Warmes in ihrer Hand und wird panisch, noch ehe sie die Handfläche öffnet und den Klumpen geronnenen Bluts sieht.

Kapitel 2

Die arme Frau sieht wie eine aufgewärmte Leiche aus, denkt Sonia Poletti, als sie den Unterarm der Patientin nach einer Vene absucht. Die Haut fühlt sich unnatürlich kalt an, und die Patientin atmet trotz der großen Sauerstoffmaske über Mund und Nase sehr schwer. Ihre Erfahrung sagt Sonia, dass die Frau bald an einem Beatmungsgerät auf der Intensivstation hängen wird, doch es steht ihr nicht zu, irgendwas dazu zu sagen.

Sie legt bunte Teströhrchen neben dem Ellbogen der Patientin auf die Liege. Wenn sie gefüllt sind, werden sie in unterschiedliche Prüfapparate gesteckt, von einem hochmodernen Proteinspektrometer bis hin zu einem Objektträger im Mikroskop des Pathologen.

Die Frau hebt den Kopf vom Kissen, kann ihn jedoch nur wenige Sekunden halten, bevor er wieder nach unten sackt. »Sind Sie Ärztin?«, fragt sie heiser und kurzatmig.

»Ich bin aus dem Labor und hier, um mehr Blutproben zu nehmen.«

»Noch mehr? Lassen Sie mir noch was übrig?«

»Ja.« Sonia lächelt hinter ihrer Gesichtsmaske. »Mehr als genug.«

Die Patientin hustet so heftig, dass die Teströhrchen auf der Matratze klimpern. »Wissen Sie immer noch nicht, was ich habe?«

Die Schwestern draußen hatten eine mögliche Tuberkulose erwähnt, doch Sonia hatte nicht weiter mit ihnen gesprochen. Heute will sie unbedingt pünktlich Feierabend machen. Sie berührt den Arm der Frau. »Wir haben hier die besten Ärzte. Wenn sie es jetzt noch nicht wissen, werden sie es bald.« Sie stockt. »Sind Sie Vittoria Fornero?«

Die Patientin nickt.

Sonia kniet sich neben das Bett. Aus Gewohnheit dreht sie das Krankenhausarmband am Handgelenk um und überprüft den Namen. Dann befestigt sie das Tourniquet oberhalb des Ellbogens und zieht es so stramm, dass die Vene darunter hervortritt. Mühelos führt sie die Nadel der Butterfly-Kanüle durch die Haut in die Ader. Blut läuft in den dünnen Schlauch. Sonia steckt das andere Ende auf das erste Teströhrchen.

»Haben Sie Kinder?«, fragt Vittoria.

»Eins.« Sonia unterdrückt ein Lächeln. »Florianna – Flori –, sie ist fünf.«

»Ich habe zwei. Zwillinge. Acht Jahre. Junge und Mädchen.«

»Wie schön, von jedem Geschlecht eines.« Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Sonia noch ein Kind bekommt, ob Junge oder Mädchen. Floris Vater hatte sie noch vor dem Ende des ersten Trimesters verlassen. Zwar ist Sonia erst einunddreißig und könnte, wie ihre Mutter immer wieder sagt, noch mehrere Kinder bekommen, aber das wird sie nicht. Flori ist für sie Freude genug.

Vittoria hustet wieder würgend. »Ich würde meine gerne wieder im Arm halten.«

»Bald«, murmelt Sonia, die in Gedanken schon bei Floris Tanzaufführung heute Abend ist. Sie muss dringend rechtzeitig zu Hause sein, um den Schwanz am Tutu ihrer Tochter fertig anzunähen.

Vittoria wird von einer neuen Hustenattacke durchgeschüttelt. Es klingt furchtbar, wie ein alter Lkw-Motor mit Startschwierigkeiten. Sonia bemerkt, dass Vittoria sich die Augen wischt. Blutiges Sputum ist unter der Sauerstoffmaske hervor- und auf ihre Stirn gespritzt.

Sonia nimmt ein Papiertuch aus der Schachtel in ihrem Korb, beugt sich vor und wischt den Schleim weg. Vittoria lächelt matt. Als sich ihre Blicke begegnen, sieht Sonia Angst in den Augen der anderen Frau.

Plötzlich verkrampft Vittoria sich hustend. Sonia fühlt etwas Feuchtes, das ihre Haut oberhalb der Maske trifft, und reißt den Kopf zurück.

Verdammt! Sie stolpert einen Schritt rückwärts, greift nach einem alkoholgetränkten Tuch – mit dem eigentlich die Instrumente gereinigt werden – und schrubbt damit grob ihre Haut.

Vittoria kann nicht aufhören zu husten. Die Liege wackelt mit jedem Keuchen.

Sonia beruhigt sich damit, dass ihr Tuberkulin-Hauttest schon seit Langem positiv ist, was bedeutet, dass sie der Tuberkulose bereits ausgesetzt war und sie nicht wieder bekommen kann. Trotzdem müsste sie den Vorfall ihrem Vorgesetzten und der Stelle für Mitarbeitergesundheit und -sicherheit melden. Doch dafür hat sie keine Zeit. Sie hat ihrer Mutter versprochen, ihr ein Video von Floris Tanz zu schicken, und sie muss den Kameraakku noch laden. Also wischt sie ihre Wange stattdessen mit noch einem Tuch ab, nimmt die Teströhrchen auf und eilt aus dem Zimmer.

Kapitel 3

Acht Jahre. Alana Vaughn hat ihn seit über acht Jahren nicht gesehen. Und wie wenig er sich verändert hat. Ja, seine Wangen sind ein wenig voller und auch geröteter. Doch sein Lächeln – »ganz blaue Augen zum Dahinschmelzen und endlose Grübchen«, wie eine englische Krankenschwester einst schwärmte – ist dasselbe.

»Ah, Alana. Ciao bella … Noch schöner als in meiner Erinnerung!«, sagt Dr. Nico Oliva.

Seine vertraute tiefe Stimme und das stets amüsierte Timbre lösen längst vergessene Schmetterlinge in ihrem Bauch aus. »Und du, Nico, bist sogar noch italienischer, als ich es in Erinnerung habe.«

Nico bedeutet ihr mit einem Schulterzucken, dass er dagegen machtlos ist, und Alana weiß wieder, warum sie sich damals in ihn verliebt hatte.

Sein Büro ist typisch minimalistisch eingerichtet. An den Wänden sind nur einige gerahmte Urkunden von medizinischen Abschlüssen und drei Schwarz-Weiß-Bilder von afrikanischen Landschaften, von denen Alana eine aus ihrer gemeinsamen Zeit in Angola wiedererkennt. Nico tritt hinter seinem Schreibtisch vor und küsst sie auf die Wangen, wobei er eine Spur von Zitrusduft zurücklässt. »Du hättest nicht persönlich kommen müssen.«

»Doch, musste ich.« Seine Textnachricht war so unerwartet und willkommen gewesen.

»War es schwer, mein Büro zu finden?«

»Eigentlich nicht.« War es tatsächlich doch.

Alana war schon in einigen der berühmtesten Krankenhäuser gewesen, vom Johns Hopkins bis zur Mayo Clinic, doch das Ospedale San Martino zählt zu den weitläufigsten, als wäre es über Jahrzehnte immer wieder ausgebaut worden. Und die Schilder waren keine Hilfe. Alana spricht passabel Deutsch, weil sie als Teenager in Heidelberg gelebt hatte, als ihre Eltern dort für ein Jahr stationiert gewesen waren; ihr Italienisch hingegen ist praktisch nicht vorhanden. Entsprechend war es nicht leicht, durch die verwinkelten Korridore und versteckten Treppenaufgänge dieses Labyrinths zu Nicos Büro in der Abteilung für Infektionskrankheiten zu finden.

Nico mustert sie unverhohlen. »Wir müssen unbedingt mal wieder richtig reden. Gehen wir bald zusammen essen? Ich bestehe darauf.« Er lächelt wieder. »Aber bestimmt willst du die Patientin sehen, oder?«

»Ja, sehr gern.«

»Komm, ich bringe dich zu ihr.« Er greift nach ihrem Arm und hakt sich bei ihr ein. Der Kontakt ist vertraut und angenehm. Eventuell zu angenehm.

Der Korridor ist von Neonröhren beleuchtet und riecht nach Desinfektionsmittel. Es wimmelt von Personal und Patienten, die in Gespräche vertieft sind und dabei ihre Hände ebenso viel bewegen wie ihre Lippen. Niemand scheint die beiden Leute zu beachten, von denen einer einen Laborkittel trägt, die Arm in Arm vorübergehen. Alana schmunzelt. Das gibt es nur in Italien.

»Wo wohnst du?«, fragt Nico.

»Im Grand Hotel Savoia.«

»Ah, am Bahnhof.« Nico blickt zur Seite. »Ich hätte dich ja gerne zu uns eingeladen, aber Isabella … und die Kinder … du hättest keine Sekunde Ruhe.«

Natürlich gibt es eine Isabella. Alana hatte nichts anderes erwartet, dennoch zieht sie ihren Arm aus seinem. »Kinder, Nico? Plural? Ich hatte keine Ahnung.«

»Ja. Enzo ist inzwischen drei, Simona ist erst vier Monate. Kannst du dir das vorstellen? Ich?« Er lacht und schaut für einen Moment zur Seite. »Ein langweiliger Familienvater.«

»Nein, eigentlich nicht.«

Nico sieht wieder zu ihr. »Und du? Hast du …?«

»Ich bin nie lange genug an einem Ort, um mir einen Hamster anzuschaffen, geschweige denn eine Familie.«

Sie weiß, dass er ihre Unbeschwertheit durchschaut. »Mir fehlt die Action, Alana. Was wir früher gemacht haben. Was du immer noch tust.«

Sie denkt an ihre vorherigen Einsätze in der Seuchenbekämpfung wie beim Gelbfieber in Guyana, bei der multiresistenten Tuberkulose in Zentralasien und natürlich Ebola in Westafrika. An die Gesichter der Toten und Sterbenden, vor allem der Kinder, die immer die Anfälligsten sind. »Manche Dinge möchte man lieber nicht sehen, Nico.«

Er antwortet nicht, aber sie merkt, dass er anderer Meinung ist. Als sie um eine Ecke gehen, sagt er: »Übrigens hatte ich es zuerst unter deiner WHO-Adresse versucht, und die E-Mail kam zurück. Natürlich habe ich immer noch deine Handynummer, aber …«

Alana erinnert sich an seine Textnachricht und wie aufgeregt sie war, von ihm zu hören. Ihre schmerzliche Trennung hatte sie vergessen. Sie hätte auch ungeachtet der Umstände einen Vorwand erfinden können, ihn zu besuchen, doch die beiden Worte in seiner Nachricht – die Pest – bewirkten, dass sie sofort für Genua packte. »Ich bin nicht mehr bei der WHO.«

»Aha? Ich dachte, du wärst das, was wir damals ›Lebenslängliche‹ nannten.«

Dachte ich auch mal. Sie überlegt, ihm von ihrem katastrophalen letzten Einsatz während der Ebolakrise in Liberia zu erzählen. Nico hat selbst für die WHO gearbeitet. Gerade er würde es verstehen. Doch sie sagt nur: »Ich brauchte eine Veränderung.«

»Bist du nicht in Genf?«, fragt er verwirrt.

»Nicht weit von dort«, antwortet sie ausweichend.

»Alana.« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Du bist doch nicht wieder beim Militär, oder?«

»Reden wir später beim Wein«, sagt sie und bereut es im selben Moment. »Nico, erzähl mir bitte von der Patientin.«

»Vittoria Fornero, eine zweiundvierzigjährige, vormals gesunde Bauarbeiterin. Sie ist vor zwei Tagen hier ins Krankenhaus gekommen, hatte Fieber und hat Blut gehustet. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden mussten lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden.«

Alana fühlt, wie die Anspannung in ihrer Schulter zunimmt. »Ihr habt sie hoffentlich gleich isoliert?«

»Natürlich.« Nico schnaubt. »Anfangs haben die anderen Ärzte es für Tuberkulose gehalten.«

»Und wie bist du darauf gekommen, dass es keine ist?«

»Ich habe die Schwellung in ihrer rechten Achselhöhle gefunden. Die ist eindeutig. Ein klassischer Bubo.«

»Hast du eine Biopsie gemacht?«

»Nicht nötig, Alana. Die Sputumkulturen verraten es. Keine Frage, es ist die Pest. Das Yersinia pestis-Bakterium ist in den Petrischalen schneller gewachsen, als sich Ratten in einem Slum vermehren.«

Alana findet diese Metapher zynisch, hält aber den Mund, als sie zu zwei Putzkräften in einen Fahrstuhl steigen, die sich in einer anderen Sprache unterhalten, bei der es sich um Russisch oder Ukrainisch handeln könnte.

Nico und sie steigen im fünften Stock aus. Obwohl sie allein auf dem Korridor sind, senkt Alana die Stimme. »Hast du frühzeitig mit einer Antibiotikabehandlung angefangen?«

Nico verzieht das Gesicht. »In dem Moment, in dem ich sie gesehen habe! Noch bevor die Ergebnisse der Kulturen da waren. Breitspektrumantibiotikum, einschließlich Levofloxacin und Doxycyclin.«

»Trotzdem hängt sie noch am Beatmungsgerät?«

»Es gab eine kurze Verzögerung, solange die Arbeitshypothese noch Tuberkulose war«, gesteht er. »Und es ging ihr sehr schnell sehr schlecht. So etwas habe ich noch nie gesehen, Alana.«

»Wann war der letzte Pestfall in Italien?«

Nico bleibt stehen, und Alana tut es ihm gleich. »Vor sechs oder sieben Jahren. Zwei Missionare aus Madagaskar hatten sie nach Mailand eingeschleppt.«

»Und wie in aller Welt fängt sich eine Bauarbeiterin in Genua die Pest ein?«

»Vittoria war vor drei Wochen mit ihrer Familie in Afrika, in Addis Abeba, wo ihre jüngste Schwester mit ihrem äthiopischen Ehemann lebt. Es wurden in letzter Zeit Fälle in Ostafrika gemeldet.«

Alanas Gedanken überschlagen sich. »Das ist zu lange her. Die Inkubationszeit beim Pestbakterium beträgt normalerweise zwei bis sechs Tage. Da hätte sie vor Wochen krank werden müssen.«

»Es kann länger dauern. Und wie wäre es sonst zu erklären?«

Alana fallen einige Möglichkeiten ein, doch die behält sie für sich. »Nico, das ist nicht bloß die Beulenpest …«

»Natürlich nicht. Es ist in ihrer Lunge. Sie hat die Lungenpest.«

»Und wann gab es von der den letzten Fall in Italien?«

»Vor drei-, vierhundert Jahren? Wer weiß! Vielleicht seit dem Mittelalter nicht mehr.«

Für einen Moment verstummen sie, bis es aus einem Lautsprecher an der Decke knackt. Eine Stimme ruft dringlich dreimal hintereinander denselben Satz. Alana muss es nicht verstehen, um zu begreifen, was es bedeutet.

Nico dreht um und läuft los. Alana rennt ihm hinterher und huscht durch eine Glasschiebetür, bevor sie sich schließt. Drinnen steht auf einem Schild über einem Schreibtisch SALA DI RIANIMAZIONE, und Alana erkennt sofort, dass sie auf der Intensivstation sind.

Alarme schrillen. Intensivpflegepersonal schart sich vor einem verglasten Raum hinten in der Ecke. Irgendwo heult eine Frau, doch Alana kann sie in der Menge nicht ausmachen.

Nico drängt sich durch, und Alana bleibt dicht hinter ihm. Eine mollige Frau mittleren Alters packt seinen Arm. »Dottore Oliva! Mia Vittoria!«, ruft sie schluchzend und sehr schnell.

Nico legt tröstend einen Arm um sie, und ihr Weinen wird noch schlimmer.

Alanas Blick wandert zu dem Fenster des Zimmers. Die Szene darin erinnert sie an die schlimmsten Tage der Ebolakrise. Vier Mitarbeiter tragen maximale persönliche Schutzausrüstung, besser bekannt als PSA, von Kapuzen mit durchsichtigen Gesichtsmasken bis hin zu wasserfesten Stiefeln. Sie wuseln um eine Frau auf einer Liege herum, und ihre panische Energie ist durch das Glas zu fühlen. Auch die Patientin – die an einer Vielzahl von Schläuchen und Drähten hängt – ist nicht still. Sie wirft sich in einem unkontrollierbaren Krampf hin und her.

Nico schaut über seine Schulter zu Alana und hat den hilflosen Gesichtsausdruck eines Rettungsschwimmers, der jemanden ertrinken sieht und wegen des starken Wellengangs nichts tun kann.

Der durchsichtige Schlauch, der vom Mund der Patientin zum Beatmungsgerät führt, wird rot, als wäre er plötzlich an eine Arterie anstelle der Lunge angeschlossen. »DIG«, murmelt Alana vor sich hin: disseminierte intravasale Gerinnung. Die Blutgerinnung der Patientin versagt genauso wie ihr Herz.

»Vittoria! Vittoria!« Die Frau vor dem Fenster reißt sich von Nico los und wirft sich gegen die Scheibe. Sie schlägt auf das Glas ein, bis zwei Schwestern sie wegziehen.

Die Patientin biegt den Rücken nach oben, bis nur noch ihr Kopf und ihre Fersen auf dem Bett sind, als wollte sie abheben. Diese unnatürliche Stellung hält sie eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie nach unten sackt und sich nicht mehr rührt.

Doch es ist keine gute Ruhe. Das weiß Alana schon, bevor das Blut aus Vittorias Nase und Augen zu sickern beginnt.

Kapitel 4

Dies ist der dreiundzwanzigste Tag des Januars im Jahre des Herrn dreizehnhundertundachtundvierzig.

Ich, Rafael Pasqua, Sohn des Domenico, wurde im Jahr dreizehnhundertundelf hier in Genua geboren. Und ich werde höchst gewiss auch hier sterben.

Nie zuvor habe ich meine Erinnerungen auf Pergament festgehalten, bin jetzt indes genötigt, es zu tun. Vergebt mir, dass ich kein Mann des Wortes bin. Ich bin ein Bader, keiner der gelehrten Doktoren, die an einer Universität ausgebildet wurden. Ich hatte jedoch das Glück, bei dem großen Antonio Calvi in die Lehre zu gehen, der unser Handwerk auf eine Weise praktizierte, wie es ihm sehr wenige gleichtun und noch weniger jemals übertreffen werden.

Heute habe ich meine geliebte Frau begraben, Camilla. Wie sehr zittert meine Hand, wenn ich ihren Namen schreibe! Sie war neunundzwanzig Jahre alt und so schön wie Frühlingsflieder. Ich kann ihre Stimme noch hören. Und ich könnte ihr Grab mit meinen Tränen füllen.

In dieser entsetzlichen Leere tröstet mich dennoch ein Gedanke. Hatten Camilla und ich es ehedem als einen Fluch gesehen, dass sie uns kein Kind schenken konnte, dünkt es mich jetzt ein kleiner Segen. Sie starb, wie ich es werde, ohne jemals den Schmerz zu erfahren, das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen. Könnte ich doch dasselbe von so vielen anderen in Genua sagen! Oberto, der Wirt der hiesigen Taverne, hat bereits zwei Söhne und vier Töchter begraben. Ich kümmerte mich in ihren letzten Stunden um Obertos Gemahlin und glaube fest, dass sie nicht an der Pestilenz gestorben ist, sondern am gebrochenen Herzen.

Was bei Camilla nicht so war. Sie ging bei bester Gesundheit zu Bette und erwachte an ihrem eigenen Phlegma erstickend. Eines von unzähligen Opfern der Brustpest.

Heute schaufelte ich ihr Grab mit Hilfe meines Kollegen Jacob ben Moses. Anders als viele andere Doktoren hat Jacob sich meiner Zunft gegenüber nie hochmütig gezeigt. Wir bilden sogar eine gewisse Bruderschaft. Dem Gesetz nach darf er ausschließlich andere Juden behandeln, aber ich wende mich ratsuchend an ihn, bin ich gelegentlich allzu perplex. Und im Gegenzuge führe ich Operationen an seinen Patienten durch, so es erforderlich ist. Jacob ist weit über sechzig Jahre alt, arbeitet aber bis dato so schwer wie jeder andere in Genua. Und heute erfuhr ich, dass der alte Jude für einen Mann seines fortgeschrittenen Alters einen bemerkenswert starken Rücken hat.

Warum, fragt Ihr Euch gewiss, sollen zwei Männer, die ihr Leben dem Studium der Medizin gewidmet haben, mit eigenen Händen ein Grab schaufeln? Es mag widersinnig erscheinen, aber ich kann den Preis für einen Totengräber nicht aufbringen. Überdies kann jeder von Glück sagen, wenn er einen Totengräber findet, der noch am Leben und nicht zu ängstlich ist, die Arbeit zu tun.

Ich nehme nicht an, dass ich lange genug leben werde, um viele Seiten zu füllen. Vielleicht wird es nur diesen einen Eintrag geben. Doch solange ich atme, bin ich der Nachwelt wie auch all den verlorenen und vergeudeten Leben verpflichtet, insbesondere dem meiner teuren Camilla, niederzuschreiben, wie diese Pestilenz meine einst große Stadt dem Erdboden gleichmacht.

Mag sein, dass die Apokalypse schon begonnen hat, wie viele Priester und Bischöfe predigen, herbeigeführt durch unsere Sünden. Doch ich muss aufzeichnen, was ich sehe. Mein Arbeitsleben habe ich der Wissenschaft gewidmet, und was wäre wissenschaftlicher als eine sorgfältig dokumentierte Beobachtung?

Wie so vieles, das Genua erreicht, kam auch die Pest südwestwärts übers Meer herbei. Es war kein Dämon oder Ghul, der sie brachte. Es waren aus Genua gebürtige Kaufleute und Matrosen. Sie trugen diesen Fluch den weiten Weg aus dem Osten herbei, aus Caffa, jenseits von Kleinasien.

Die ersten pestgeplagten Schiffe erschienen im späten Herbst am Horizont. Wir waren von neapolitanischen Händlern gewarnt worden, dass sie kämen, und unsere Soldaten konnten sie mit Flammenpfeilen und anderem zur Umkehr zwingen. Ende Dezember, nur wenige Tage nachdem wir die Geburt unseres Herrn gefeiert hatten, schlich sich ein anderes infiziertes Schiff in den Hafen. Der hinterlistige Kapitän versteckte die Toten und Sterbenden unter Deck. Gierig verkaufte er seine verpesteten Waren an ahnungslose Händler im Hafen und vergiftete unsere edle Stadt. Als der Schaden angerichtet war, segelte er mit seinem verfluchten Schiff davon, und es heißt, dass er die Pestilenz in Sizilien und Griechenland verbreitet hat.

Innerhalb von wenigen Tagen begann das Sterben. Die faulenden Kadaver von Schweinen, Ziegen, Ratten, Katzen und Hunden waren die Vorboten der Pestilenz.

Nun, da die Pest uns erreicht hat, kann niemand dem Tod entfliehen, ungeachtet seiner Stellung. Nicht nur die Totengräber setzen sich einer schrecklichen Gefahr aus. Doktoren, die Kranke versorgen, Priester, die letzte Ölungen geben, und Anwälte, die Testamente aufsetzen, sie alle siechen dahin.

Als Jacob und ich heute die letzte Ruhestätte meiner Frau gruben, murmelte er in seiner unverständlichen Sprache vor sich hin. Ich fragte ihn, was er da singe, und er antwortete mir, es sei ein hebräisches Totengebet. Als ich vorschlug, es wäre weiser, seine Gebete für die Lebenden aufzusparen, lachte er und wies mich darauf hin, dass die Toten die Einzigen seien, für die noch Hoffnung bestehe.

Ich fragte ihn, warum er weiterhin seine Arbeit verrichte, wenn er glaube, dass dem so sei. Und er antwortete mir, dass er alt sei und schon vor vielen Wintern hätte sterben sollen. Die Medizin sei alles, was er je gekannt habe, und es sei zu spät für ihn, jetzt mit ihr aufzuhören, so unnütz seine Arbeit auch sein möge.

Jacob stellte die Schaufel hin. Er erzählte mir, dass er verstehe, was es bedeute, eine Ehefrau zu begraben, habe er doch vor zehn Wintern seine Miriam verloren. Und er versicherte mir, der Schmerz würde nachlassen, die Einsamkeit jedoch nicht weichen. Er fragte mich, warum ich in Genua bleiben wolle, nachdem ich Camilla begraben hatte. Warum wolle ich eine gewisse Ansteckung riskieren, wenn ich gen Norden nach Frankreich oder ins Heilige Römische Reich entkommen könne, wie so viele unserer Kollegen es bereits getan haben?

Ich erwiderte: »Glaubst du nicht, dass mir die Pestilenz folgen würde?«

»Zweifellos«, stimmte er mir zu. Doch manche Zufluchtsorte würden verschont.

»Und was ist mit den Kranken hier in Genua?«, lautete meine Frage. »Sind wir ihnen nicht verpflichtet?«

Jacob zeigte auf die Gräber um uns herum und fragte, was wir den Siechen denn noch anbieten können.

Ich beharrte, vielleicht nur aus demselben trotzigen Stolz heraus, der Camilla so gründlich verärgerte, dass sie mich einst mit einem blinden Esel verglich. Wie ich Jacob erklärte, helfen wir sehr wohl, indem wir die Furunkel der Patienten öffnen, ihr Blut ablassen, wenn die Körperflüssigkeiten aus dem Gleichgewicht geraten sind, und andere bewährte Heilmethoden anwenden.

Jacob betrachtete mich ungläubig. Dann sprach er Worte, die mich noch stärker entmutigten: »Rafael, wir Doktoren haben unsere Patienten so unsagbar enttäuscht, mich wundert, dass sie sich noch nicht gegen uns gewandt haben.«

»Wiewohl wir sie bisher enttäuscht haben mögen, heißt es nicht, dass wir es fürderhin werden«, entgegnete ich.

Die einzige Antwort des alten Juden war, seine Schaufel aufs Neue in die unnachgiebige Erde zu stechen. Wir sprachen nicht mehr, als wir meine Camilla der Erde zurückgaben.

Ihr mögt fragen, ob ich mich nicht vor der Pestilenz fürchte. Ja, ich fürchte mich fürwahr mit jedem qualvollen Tod, den ich bezeuge, mehr vor ihr. Mit jedem Opfer, das von eiternden Wunden bedeckt ist. Jedem Mann, jeder Frau, jedem Kind, deren Lunge so voller blutigem Phlegma ist, dass kein Platz für andere lebenswichtige Flüssigkeiten bleibt. Doch der Gedanke, einer der wenigen Verschonten zu sein, allein und verarmt, schreckt mich so viel mehr.

Kapitel 5

Nico wartet vor dem Hotel auf Alana, in jeder Hand einen Espresso, und küsst sie zur Begrüßung auf beide Wangen. Die Frühlingsluft ist unerwartet kühl, und Alana freut sich ebenso sehr über die Wärme des Kaffees wie über dessen erfrischende Wirkung.

Nicos Haar ist nach hinten gegelt, jede Strähne sitzt, und sein gebügeltes Hemd und das passende blaue Sakko schmiegen sich wie angegossen an seine Brust. Sein Gesicht jedoch erzählt etwas anderes. An diesen Blick erinnert sich Alana allzu gut. Und acht Jahre später ist er umso ausgeprägter. Seine Augen sind noch blutunterlaufener, und die Tränensäcke darunter sind dicker. Ihr fallen auch winzige geplatzte Gefäße auf seinen Wangen auf, die sie gestern nicht wahrgenommen hatte. Sie denkt an all die Abende früher – in ihrer gemeinsamen Zeit –, an denen Nico darauf bestand, eine zweite oder dritte Flasche Wein zu öffnen, als er lieber mindestens eine Flasche früher hätte aufhören sollen.

Die Zeit hat ihre Erinnerungen nicht gedämpft. Alana kann sich immer noch den Moment vor Augen rufen, als sie Nico zum ersten Mal in der Hütte sah, die im ländlichen Angola als Hospital durchging. Da hatte sie bereits lang und breit von der kettenrauchenden englischen Krankenschwester, die sie vom Flughafen hinbrachte, alles über den italienischen Arzt gehört und dass er »umwerfend wie ein Filmstar« sei. Doch Alana hatte nicht damit gerechnet, dass er solch eine natürliche Führungsfigur war. Er war zu der Zeit erst zweiunddreißig gewesen, ein Jahr älter als Alana, leitete das kleine Hospital aber mit versierter Autorität, traf schnell schwere Entscheidungen und löste qualvolle Konflikte wie die Rationierung ihres begrenzten Vorrats an potenziell lebensrettenden Infusionen. Allerdings war Alana damals, als sie frisch aus der Ausbildung kam und entschlossen war, sich bei ihrem ersten WHO-Einsatz zu beweisen, nicht gewillt, sich beeindrucken oder gar übertrumpfen zu lassen. Zunächst blieb sie auf Distanz. Erst als Nico an Cholera erkrankte und Alana ihn gesund pflegen musste, brach sich ihre gegenseitige Anziehung Bahn. Binnen einer Woche nach seiner Genesung schliefen sie unter demselben Moskitonetz. Viel Schlaf bekamen sie allerdings nicht, da ihre Tage achtzehn Stunden hatten und sie ihre Freizeit in verschwitzten Umarmungen verbrachten. Die hitzige sexuelle Chemie wurde noch befeuert durch den Einsatz auf Leben und Tod. Nach zwei Monaten in Angola war Alana auf eine Weise verliebt, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte.

Jetzt sagt sie nichts zu Nicos Aussehen, doch ihre Miene muss sie verraten. »Eine lange Nacht«, erklärt er mit einem bemühten Lächeln. »Man verliert ja nicht alle Tage eine Patientin an die Pest.«

Sie nickt nur. Auch damals gab es immer irgendeine Ausrede.

»Und Vittorias Frau, Maria …« Er massiert sich die Schläfen mit der freien Hand. »Sie ist außer sich vor Sorge um die Kinder. Die Zwillinge.«

Alana versteift sich. »Sind sie krank?«

»Nein. Italienische Mütter sind schon übermäßig besorgt, wenn die Bambini erkältet sind. Stell dir mal vor, die Pest …«

Sechs Tage noch, bis sie außer Gefahr sind, denkt Alana, aber sie muss Nico nicht an die Inkubationszeit für Yersinia pestis erinnern. »Ist die Familie in Quarantäne?«

»Ja, bei sich zu Hause.«

»Und was ist mit ihren Arbeitskollegen?«

»In Quarantäne?« Er schüttelt den Kopf. »Sie hatte vor dem Tag ihres Zusammenbruchs nicht gehustet. Und der Arbeitsplatz ist eine Baustelle im Freien.«

»Trotzdem, Nico …«

Der Nebel seines Katers scheint sich zu lichten, und sein Blick wird schärfer. »Meine Patientin ist tot. Der einzige Fall. Jetzt ist es Sache des Gesundheitsamts.« Er runzelt die Stirn. »Was ist mit dir, Alana? Warum bist du so interessiert?«

»Die Lungenpest in Europa! Ich weiß, es ist nur ein einzelner – wahrscheinlich importierter – Fall. Aber, Nico, … hast du dir jemals vorgestellt, dass das passieren könnte?«

»Aha. Also bleibst du nur aus … medizinischer Neugier hier?«

Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, hält aber den Augenkontakt. »Ich bin jetzt bei der NATO.«

Er verzieht das Gesicht. »Der NATO?«

»Ja«, antwortet sie und senkt ihre Stimme, als könnte sie dadurch seine Lautstärke eben ausgleichen. »Seuchenaufsicht.«

»Ah, natürlich. Bioterrorismus verhindern.«

»Das ist ein bisschen dramatisch«, sagt sie, obwohl sie nicht umhinkann, sich auf der Straße umzublicken, ob sie jemand hört. »Außerdem stellen natürliche Epidemien ein genauso hohes Sicherheitsrisiko dar wie biologische Kriegsführung. Vor allem die Pest.«

Er lacht leise, denn er glaubt ihr nicht. Wortlos machen sie sich auf den Weg zum Ospedale San Martino, gehen durch die Via Cairoli, bis sie auf die prächtige Via Garibaldi mündet. Sie ist gesäumt von großen Palazzi mit barocken Torbögen und Säulen in opulenten Farben. Obwohl sie schnell gehen, mimt Nico den Fremdenführer und benennt jedes architektonische Juwel, das von einer mächtigen Bankiersfamilie während der Renaissance erbaut wurde.

So eindrucksvoll die historische Straße auch sein mag, ist Alana zu abgelenkt, um richtig zuzuhören. »Ich werde nicht lange bleiben«, sagt sie. »Nur noch vier oder fünf Tage, um zu sehen, ob sich die Pest von Patient Null weiter ausbreitet.«

»Vittoria. Ihr Name war Vittoria Fornero.«

»Hör mal, mir tut ihre Familie leid, aber ich sorge mich um die mögliche Ausbreitung.«

»Und du gehst natürlich davon aus, dass sie Patient Null ist.«

Das fragt Alana sich schon, seit sie erstmals von dem Fall hörte. »Ich hatte gehofft, dass ich mit Vittorias Frau sprechen kann.«

»Warum? Was willst du sie fragen?«

»Einzelheiten über ihre Afrikareise. Wie Vittoria dem Erreger ausgesetzt gewesen sein könnte.«

»Das habe ich schon mit Maria besprochen.« Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Auch mit Vittoria, bevor sie ins Koma fiel. Sie hatte einen Tagesausflug ohne den Rest der Familie gemacht – aus Addis Abeba hinaus – zum Menagesha National Park. Dort gibt es viele Wildtiere. Und sie sind alle potenzielle Träger von pestinfizierten Flöhen.«

»Aber es hat keine gemeldeten Fälle nahe Addis Abeba gegeben«, sagt sie. »Oder irgendwo anders in Äthiopien.«»Nein, aber gleich nebenan, im Südsudan. Allein im letzten Jahr waren es sieben.«

»Vom Südsudan nach Äthiopien? Das ist ein ziemlich weiter Sprung für einen Floh.«

»Das zu ermitteln, ist Sache der WHO, nicht der NATO.«

»Wie wäre es, wenn wir zumindest mal ihren Arbeitsplatz besuchen, Nico? Und mit ihren Kollegen reden?«

Nico sieht Alana skeptisch an und bricht in das erste richtig heitere Lachen aus, das sie an diesem Tag von ihm hört. »Warum nicht? Es ist eine Weile her, seit ich mit dir einem Ausbruch nachgejagt bin. Außerdem, Alana, deine grünen Augen …« Sie spürt, dass sich ihre Wangen erwärmen. »Für die würde ein Mann über Glasscherben kriechen.«

Sie erreichen die Garage neben dem Hospital, in der Nicos silberner Audi-SUV parkt. Nico fährt sie durch das Stadtzentrum, vorbei an noch mehr bunten Kirchen und Palazzi – mit Säulen, Kuppeln, Pilastern und Ziergiebeln –, als Alana mitzählen kann. Während Nico sie durch die verwinkelten Straßen lenkt, gibt er ihr einen Crashkurs zur Geografie und Geschichte der Stadt. Alana ist schon überall in Europa herumgereist und hat an vielen Orten gelebt, doch ihr fallen wenige Städte ein, die so viel lebendige Geschichte verkörpern wie Genua, von dem Netz aus engen mittelalterlichen Gassen in der Altstadt, hier Caruggi genannt, bis hin zu den prächtigen, mit Blattgold verzierten Bauten der Aufklärung in der Via Garibaldi.

Als sie sich vom Wasser wegbewegen, weichen die protzigen Mauern den Hügeln über der Stadt. Nico erklärt, dass Genua wie ein Amphitheater angelegt ist und sich vom hufeisenförmigen Hafen aus stetig aufwärts erstreckt. Obwohl er in Rom aufgewachsen ist, merkt man ihm seinen Stolz auf die Wahlheimat an. »Trotz der alternden Bevölkerung boomt die Wirtschaft hier wieder. Man könnte sagen, Genua erlebt eine zweite Renaissance.«

»Es scheint auf jeden Fall die passende Kulisse für eine neue Renaissance zu sein«, sagt Alana.

»Die Baustelle, auf der Vittoria gearbeitet hat, ist hier von besonderer Bedeutung. Und umstritten.«

»Warum?«

»Zunächst mal, weil Marcello Zanetti dahintersteckt.« Er wartet auf eine Reaktion, doch es kommt keine. »Hast du noch nie von ihm gehört?«

»Wieso sollte ich?«

»Ach, Marcello ist eine Lokalberühmtheit. Er war sechs Jahre lang der Bürgermeister der Stadt, und viele haben ihn schon in einem höheren Amt gesehen.«

»Aber?«

»Er hat sich aus der Politik zurückgezogen und ist zu seinem Baugeschäft zurückgekehrt. San Giovanni ist sein ehrgeizigstes Projekt. Es wird der höchste Apartmentturm in Genua mit einer sagenhaften Aussicht vom Hügel oben.«

»Was ist daran umstritten?«

»Auf dem Gelände war vorher eine alte Abtei.«

»Und die Kirche hat dem Abriss zugestimmt?«

»Marcella sagt, der Bau fiel sowieso in sich zusammen.«

»Moment mal. Kennst du ihn?«

»Natürlich. Er ist Isabellas Onkel.«

»Der Onkel deiner Frau? Was für ein Zufall.«

Nico zuckt mit den Schultern. »Und zu unserem Vorteil. Wie kämen wir sonst auf die Baustelle?«

Er biegt auf einen Sandweg ab, an dessen Rand sich Strommasten reihen. Staub weht über die Windschutzscheibe, und nach rund einer Meile taucht vor ihnen eine riesige Baustelle auf. Hier steuert Nico einen mit Kies ausgestreuten Platz an und parkt zwischen einem Kleintransporter und einem Laster. Sie steigen aus in den wärmeren Sonnenschein. Der Himmel ist von Schönwetterwolken marmoriert, und es riecht nach Diesel.

Als sie auf einige Container zugehen, kommt ihnen ein kleiner Mann in einer schwarzen Kutte entgegen. Er wird von zwei schlaksigen Sicherheitsleuten flankiert, und der Kontrast könnte kaum auffälliger sein. Keiner der Sicherheitsmänner berührt den Mönch mit dem schütteren Haar, trotzdem ist offensichtlich, dass sie ihn von der Baustelle führen. Der Mönch lächelt Alana und Nico zu, als er an ihnen vorbeigeht, und seine Augen blitzen amüsiert, als würde er sich zusammen mit den Security-Männern heimlich über einen Witz freuen.

Aus der Nähe ist die ausgehobene Baugrube noch größer, als Alana erwartet hatte. Sie schneidet tief in den Berghang. Unten sind kreuz und quer Betonfundamente, dazwischen Haufen von Schutt, Holzstapel und Betonstahlroste. Männer mit gelben Helmen arbeiten in Gruppen, während Bulldozer vor- und zurückrumpeln. Sägen brummen, und Bohrer kreischen. Der Boden vibriert unter dem schweren Gerät.

Die Tür zu einem der nahen Container fliegt auf, und ein junger Mann tritt heraus, der sich fahrig seinen Helm aufsetzt. Er sieht sie nicht an, als er an Alana vorbeieilt, doch sie bemerkt, dass sein aknegeplagtes Gesicht gerötet und schweißbedeckt ist.

Zwei weitere Männer kommen aus dem Container. Einer ist in Arbeitskleidung, während der andere einen schwarzen Anzug trägt. Gepflegt und mit silbernem Haar strahlt er eine ruhige Autorität aus. Sobald er Nico sieht, kommt er mit ausgebreiteten Armen zu ihnen, umarmt Nico und küsst ihn auf beide Wangen. Lachend unterhalten sie sich auf Italienisch, und der andere im Blaumann bleibt seitlich auf Abstand.

Schließlich dreht Nico sich zu Alana um und streckt eine Hand aus. »Marcello, darf ich dir Dr. Alana Vaughn vorstellen?«

Zanetti umfängt ihre Hand mit seinen beiden. »Es ist mir eine Ehre, Dr. Vaughn.« Sein Akzent ist stärker als Nicos. »Von Nico habe ich schon Gutes über Sie gehört. Sehr Gutes!«

Zwar freut es Alana, dass Nico mit dem Onkel seiner Frau über sie gesprochen hat, doch zugleich ist sie unangemessen verärgert, als hätte er ein Geheimnis über sie ausgeplaudert. »Vielen Dank, Mr Zanetti!«

Er drückt ihre Hand noch einmal, bevor er sie loslässt. »Marcello. Ich bestehe darauf. Nur Marcello für jemanden von Ihrem Ruf und Ihrer Strahlkraft, meine Teure.«

»Alana.« Sie lächelt. Sein altmodischer Charme ist sympathisch, auch wenn sie sich fragt, wie oft ihm dieser Satz wohl über die Lippen kommt.

»Wir haben gehofft, dass du uns etwas über Vittoria Fornero erzählen kannst, Marcello«, sagt Nico.

Zanettis Züge werden traurig. »Ich habe Vittoria seit Jahren gekannt. Ihr Vater, Bruno, war einer meiner ersten Vorarbeiter. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hat er sie mit auf die Baustellen gebracht. Sie hat bei ihm die Lehre gemacht. So gut Bruno war, Vittoria war sogar besser. Die Beste. Und es war nie leicht für sie. Hier in Italien ist der Bau immer noch eine Männerwelt.«

Alana nickt verständnisvoll. »Und keiner auf der Baustelle hat bemerkt, dass sie krank war?«

Zanetti winkt ab. »Sie hat kein Wort gesagt. Nicht ein einziges. Und sie war zuvor noch nie krank, bis zu ihrem … Zusammenbruch.«

Alana kann nach wie vor nicht begreifen, wie jemand mit Lungenpest einen Tag auf einer Baustelle durchhalten konnte. »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Das muss vor drei Tagen gewesen sein.« Zanetti nickt zu dem Container. »Ja, da hatte sie sich mit den Architekten und mir zusammengesetzt, um die Pläne durchzugehen.«

»Drinnen?« Alana runzelt die Stirn.

»Selbstverständlich.« Zanetti blickt zu Nico. »Wo sonst?«

»Wie hat sie ausgesehen?«, fragt Nico.

»Wie immer. Vollkommen ernst. Vittoria war stets sehr konzentriert.«

»Und Sie haben sie nicht husten gehört?«, fragt Alana.

»Nein, gar nicht.« Zanettis Stimme ist ruhig, doch seine Augen haben einen berechnenden Ausdruck. »Denken Sie, da könnte sie schon ansteckend gewesen sein?«

»Nein«, beruhigt Nico ihn. »Nicht, wenn sie nicht gehustet hat.«

»Wir haben jeden hier gefragt. Kein Husten«, sagt Zanetti. »Vittoria ging es gut, und plötzlich …« Er schnippt mit den Fingern.

Eine Pause scheint angebracht, also wartet Alana ein wenig, ehe sie fragt: »Marcello, haben Sie von sonst jemandem auf der Baustelle gehört, der krank geworden ist? Fieber, Husten oder nur einen Ausschlag bekommen hat?«

»Nichts.« Zanetti wendet sich zu dem Mann in Latzhose und Turnschuhen um, mit dem er aus dem Container gekommen ist, und spricht kurz mit ihm, bevor er wieder auf Englisch umschwenkt. »Nein. Nicht mal ein Niesen. Paolo sagt, dass er alle angesprochen hat.«

»Wie wäre es, wenn Sie trotzdem die Arbeit hier für einige Tage einstellen?«, schlägt Alana vor. »Höchstens eine Woche. Bis wir wissen, dass keine Gefahr besteht.«

Zanetti sieht sie blinzelnd an. »Die anderen Ärzte, die von der Regierung …«

»Vom Gesundheitsamt«, hilft Nico ihm aus.

»Si! Gesundheitsamt. Sie haben uns versichert, dass es kein Risiko mehr gibt. Außerdem, meine Liebe, eine Woche …« Er hebt eine Hand und lässt sie über seinem Kopf flattern. »Sie haben keine Vorstellung, was das kosten kann.«

Weniger als ein Pestausbruch. Alana behält den Gedanken für sich. »Marcello, eben ist uns ein Mönch entgegengekommen. Er wurde weggeführt …«

»Bruder Silvio! Was für ein Kauz! Komischer kleiner Mann. Er kommt jeden Tag her.«

»Warum?«

Zanetti tippt sich lachend an die Schläfe. »Er verliert den Verstand. Senil, ja? Manchmal ist er im Weg. Es ist nicht seine Schuld.«

»Ach nein?«, fragt Alana.

»Machen Sie sich wegen unseres kleinen Mönchs keine Sorgen, meine Liebe. Er ist morgen wieder zurück! Das ist das Einzige, was er nie vergisst!« Wieder atmet er aus. »Es ist so schade.«

Sie nimmt an, dass er von Bruder Silvio spricht, doch er zeigt auf die Baustelle. »Wir haben versucht, sie zu retten. Die alte Abtei. Wir wollten sie zu einem schönen Museum machen, als Teil der Anlage.«

»Und was ist passiert?«

»Die Ingenieure. Sie haben ihre magischen Messungen gemacht, und sie haben uns gesagt, sie ist …« Er wendet sich zu Nico und spricht wieder Italienisch.

»Die Statik war nicht solide«, übersetzt Nico.

»Unsicher. Ja. Wir mussten sie abreißen. Aber wir bauen eine Gedenkstätte gleich hier im Erdgeschoss. Etwas Besonderes. Da wird sogar Bruder Silvio stolz sein.« Er tritt mit dem Fuß in den losen Sand. »Glauben Sie mir, der Geist von San Giovanni wird bald wiederauferstehen.«

Kapitel 6

Heute ist der siebenundzwanzigste Tag des Januars im Jahre unseres Herrn dreizehnhundertundachtundvierzig.

Hättet Ihr mich vor einer Woche gefragt, ob das Leid schlimmer oder der Kummer größer sein könnte, ich hätte Euch gesagt, es sei weder menschlich noch göttlich vorstellbar. Wie sehr ich geirrt hätte. Niemand bleibt unversehrt, keine Familie verschont. Der Tod wächst unersättlich.

Ich habe kaum noch Kraft, die Feder zum Pergament zu führen. Die Muskeln in meinen Armen pochen. Der Eitergeruch hat sich in meinen Nasenlöchern festgesetzt. Noch lange nach Sonnenuntergang habe ich Bubonen geöffnet und frische Salben aufgetragen.

In unserer einst großartigen Stadt geht die Geduld zur Neige. Heute haben sich die Leute gewaltsam gedrängelt, einen Platz in der Schlange zu finden, um mich zu konsultieren. Mehrmals mündete das Geschrei in Faustkämpfe. Ich musste einen Mann, den hiesigen Gerber, mit einem Bann belegen, nachdem er in mein Zimmer gestürmt war und sofortige Behandlung verlangt hatte, als meine Finger noch tief in der Achsel eines anderen steckten.

Die Menschen sind nicht die alleinigen Opfer dieser Krankheit. Auch Werte wie Anstand, Mitgefühl oder bloße Ordnung fallen ihr anheim. Was ich in jüngster Zeit bezeugt habe, würde auch den erfahrensten Mann erschüttern. Diese Pestilenz treibt die Leute zu extremem Gebaren. Ich habe Panik auf den Gesichtern gestandener Soldaten gesehen und stoische Akzeptanz in den Augen junger Naivlinge. Manch einer sagt, diese Pest führt Menschen entweder in den Himmel oder in die Hölle.

Viele klammern sich mit blindem Eifer an Gebete und Rituale. Sie verbringen die meiste Zeit in der Kirche, um ihr Opfer vor Gott zu demonstrieren. Manche verzichten sogar auf die grundlegendsten Dinge wie Essen oder Trinken bei Tage oder ein Bett bei Nacht.

Andere fühlen sich von Gott verlassen und mithin frei jeglicher Pflicht, nach seinen Gesetzen zu leben. Sie betragen sich mit lüsterner Missachtung und bisweilen schamloser Frechheit. Sie spielen auf den Straßen, trinken sich am hellen Tag in die Besinnungslosigkeit, zechen offen mit anderen, die ihnen nicht angetraut sind. Ich habe gehört, dass viele von ihnen ihren Hedonismus stützen, indem sie den Besitz frisch Verstorbener plündern oder, schlimmer noch, jener, die zu gebrechlich sind, sich zu wehren.

Wer bin ich zu urteilen? Jeder von uns trägt seine Last auf seine eigene Weise. Dennoch muss ich gestehen, dass mich traurig macht zu hören, dass mein früherer Schützling sich den Hedonisten angeschlossen hat.

Lorenzo Mirandolo hatte zwei Jahre bei mir gelernt. Und er war ein vielversprechender Junge. Einmal beobachtete ich, wie er den gebrochenen Knöchel eines Hausierers behandelte, dem sein schwerer Karren über den Fuß gerollt war. Lorenzo richtete den deformierten Fuß und Knöchel mit solcher Präzision, dass der Hausierer innerhalb von drei Monaten wieder ohne das kleinste Humpeln gehen konnte.

Leider diente Lorenzos Familie als früher Zunder für dieses neu entfachte Fegefeuer des Todes. Seine Mutter starb noch vor Neujahr, und sein Vater, zwei Schwestern und der jüngste Bruder erlagen der Pest in der darauffolgenden Woche. Lorenzo war beinahe wahnsinnig vor Trauer.

Eines Morgens im frühen Januar erschien er nicht zur vereinbarten Stunde, um bei der Reinigung der chirurgischen Utensilien zu helfen. Pünktlichkeit zählte zu seinen verlässlichsten Tugenden, weshalb ich mich sorgte, er könnte auch krank geworden sein. Als ich Camilla sagte, ich würde ihn suchen gehen, ermahnte sie mich, meine Erwartungen zu zügeln. Und ihre Mahnung sollte sich als klug herausstellen, wie so oft. Nie werde ich vergessen, wie sie vor zwei Sommern Tränen vergoss, als sie mir sagte, sie sei guter Hoffnung. Sie ahnte, dass sie das Kind nicht austragen würde.

Ich fand Lorenzo in einer der schäbigsten Spelunken am Hafen. Als ich hereinkam, jagte ein dreibeiniger Hund ein Ferkel über den mit Stroh ausgestreuten Boden und machte nur hin und wieder halt, um an ein Tischbein zu urinieren. Obwohl es nicht einmal Mittag war, füllten Zecher die Taverne, in der es nach verschüttetem Bier und verbranntem Fleisch stank. Es dauerte einen Moment, bis ich Lorenzo hinten in dem Raum entdeckte, wo er auf seinem Stuhl schwankte und eine Hure auf seinem Schoß saß.

»Rafael«, rief er mich, nicht wie üblich Signore Pasqua. »Komm und trink mit uns, mein guter Meister!«

»Du bist schon betrunken, Lorenzo«, erwiderte ich, als ich an seinem Tisch war.

»Und das solltest du auch sein«, verkündete er, worauf die Dirne auf seinem Schoß kicherte und ihren Bierkrug anhob.

»Es ist Arbeit zu tun«, sagte ich. »Mehr Arbeit denn je.«

Lorenzo lachte verbittert, und seine Stimme wurde noch lauter. »Die einzige Arbeit, die uns noch bleibt, ist, uns die Zeit zu vertreiben, bis der Tod auch uns holt.«

»Nicht alle Befallenen sterben«, wandte ich ein. »Für manche besteht Hoffnung. Und es ist unsere Pflicht als Bader, ihnen die besten Aussichten auf ein Überleben zu ermöglichen. Wenn nicht die, so doch wenigstens etwas Erleichterung beim Sterben.«

»Erzähl das meinen Eltern, meinen Schwestern und erst recht meinem Bruder!«

»Es gibt keine Worte, solche Verluste zu mildern«, sagte ich. »Dennoch erlaubt uns kein Verlust, egal wie groß, den Luxus, unsere Pflicht zu vergessen.«

Lorenzo knallte seinen Krug auf den Tisch, dass Bier überschwappte, und stemmte sich hoch, sodass die Hure auf den Boden fiel. »Du bist ein anständiger Mann und ein guter Lehrer, Rafael«, schrie er. »Aber du bist ein grausamer Narr, wenn du Hochherzigkeit mit Hoffnung verwechselst!«

Kapitel 7

Die langen Pausen sind das Schlimmste, denkt Alana, als sie ihrer Chefin Monique Olin am anderen Ende der sicheren Voiceover-Internetleitung beim Atmen zuhört. Ihr fallen die Abschiedsworte von Gavin Fielding ein, ihres schottischen Vorgängers bei der NATO: »Sitz ja nicht dieser beknackten Mutter-Teresa-Nummer auf! Monique kann eine Furcht einflößende alte Kuh sein, wenn sie ihren Willen nicht bekommt.«

In den achtzehn Monaten, seit Alana ihren Posten als Leiterin für Biomonitoring bei der NATO angetreten hat, ist ihr klar geworden, dass es nur halb gescherzt war. Alana respektiert und bewundert die Französin in den Fünfzigern sogar, die sich zum Assistant Secretary General hochgearbeitet hat und nur noch einen Karriereschritt von der Spitze des Altherrenclubs entfernt ist, der die NATO bis heute ist. Unter anderem leitet sie die chemische, biologische, radiologische und nukleare Verteidigung, kurz CBRN, wie es in der Zentrale heißt. Sie kann kollegial in ihrem Ansatz sein, doch hat sie sich einmal entschieden, verlangt sie absoluten Gehorsam. Und Gott stehe jedem bei, der dem nicht Folge leistet.

Endlich bricht Olin das Schweigen. »Also sind Sie entgegen meiner expliziten Anweisung nach Genua gefahren?«

»Monique, es ist der erste Fall von Lungenpest in Westeuropa seit mehreren Jahrhunderten!«

»Und was hat der mit Ihnen zu tun?«, fragt Olin ruhig. »Oder mit der NATO?«

»Wie kann das Wiederauftauchen der Pest in Europa keine potenzielle Sicherheitsbedrohung sein?«

»Das ist das Problem der italienischen Gesundheitsbehörden«, murmelt Olin, und ihre Erschöpfung äußert sich in ihrem sonst nicht hörbaren französischen Akzent. »Würde die NATO sich jedes Mal einmischen, wenn ein europäischer Tourist irgendwas aus Entwicklungsländern mitbringt …«

»Wir reden hier nicht über einen antibiotikaresistenten Tripper, den sich ein Sextourist in Kambodscha eingefangen hat. Es ist die verdammte Pest, Monique!«

»Wir schalten uns nur ein, wenn wir darum gebeten werden«, erwidert Olin ungerührt. »Und erst dann.«

»Sie könnten dafür sorgen, dass man uns bittet«, beharrt Alana. Zweifellos wäre Aufgeben klug, aber sie kann sich nicht bremsen.

»Mag sein«, sagt Olin. »Aber das werde ich nicht versuchen. Und Sie kommen nach Brüssel zurück. Auf der Stelle.«

»Ich brauche noch einen Tag oder so, Monique. Nur um herauszufinden, ob dieser Fall …«

»Ich habe Nein gesagt, Alana! Außerdem ist die WHO schon unterwegs nach Genua.«

Die Worte verletzen Alana mehr als Olins scharfer Ton. Wäre Alana bei der WHO geblieben, hätte sie eventuell diesen Auftrag bekommen. »Wer leitet das Team der WHO?«

»Byron Menke.«

Alana schüttelt den Kopf, hält aber den Mund. Sie hat nie persönlich mit dem kanadischen Epidemiologen gearbeitet, doch sie erinnert sich an seinen Ruf, plump und bisweilen taktlos zu sein – ein Ermittler, für den der Zweck alle Mittel heiligt.

»Kommen Sie zurück nach Brüssel, Alana«, sagt Olin frostig.

»Gleich morgen früh.«

»Falls nicht, haben Sie hier vielleicht kein Büro mehr, in das Sie zurückkehren können.« Nach diesen Worten ist die Leitung tot.

Alana erinnert sich an etwas, das ihre Mutter – Orthopädin und Unfallchirurgin –, die als Colonel aus der Army ausschied, einst gesagt hat: »Mit deinen allerersten Worten hast du uns schon widersprochen, Schatz. Wie konntest du je beim Militär landen?« Es ist wahr. Army-Spross hin oder her, fragt Alana sich, welcher selbstzerstörerische Instinkt konnte einen Sturkopf wie sie verleiten, sich die Institutionen mit der rigidesten Hierarchie auszusuchen – das US-Militär, die WHO und, eventuell die übelste, die NATO?

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