Paul muss ausziehen - Tommi Horwath - E-Book

Paul muss ausziehen E-Book

Tommi Horwath

4,9

Beschreibung

Paul muss ausziehen Eine etwas verspätete Coming-Up-Age Geschichte. Paul ist in so ziemlich allem in seinem Leben ein Erwachsener. Naja, bis auf eine Sache. Und dazu müsste er ausziehen. Es ist diese Sache mit den Frauen. Frauen kennt er nur aus der Entfernung, seiner Arbeit oder vom Computerbildschirm. Dass er mit vierunddreissig Jahren noch zu Hause wohnen muss, verdankt er seiner listigen Mutter, die nicht müde wird, fingierte Selbstmorde zu inszenieren. Zu allem Überfluss schlüpft auch noch die Miniaturausgabe seines verstorbenen Grossvaters aus allen möglichen Blumen und gibt schlaue Sprüche zur Lebenshilfe zum Besten. Da belauscht Paul in der Uni-Bibliothek zwei Professoren, die sich über ein Ritual unterhalten, mit dem man sich angeblich von allen bösen Geistern befreien kann. Nach einigen Aufregungen landet Paul im Gewächshaus einer Gärtnerei. Können ihm das Ritual, ein Cello und eine kleine Chillischote den Weg zu seinem ersten Kuss, geküsst aus Liebe, weisen?

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Nackt

in Turnschuhen

von

Tommi Horwath

Copyright (c) 2016 Die Erzählwerkstatt - der Verlag

Wien: Die Erzählwerkstatt - der Verlag ISBN: 978 -3-903037-15-1

Copyright (c) 2016 - Die Erzählwerkstatt - der Verlag

Cover: Photomas

https://www.facebook.com/PhotomasPics/

Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Einspeicherung und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

http://www.dieerzaehlwerkstatt-derverlag.at/

[email protected]

Und für Facebook: https://www.facebook.com/DrTommiHorwath

für Sonja

Für jedwede Gefühle, die dieses Buch in Ihnen auslösen könnte, übernehme ich keine Verantwortung, gratuliere Ihnen aber zu den Gefühlen.

Nackt in Turnschuhen 2

für Sonja 3

Zum Zahnarzt 5

Guten Appetit 13

Therapiestunde 22

Schwimmkurs 29

Unterhaltung in der Bibliothek 38

Rituelle Terminkollisionen 45

Vorbereitung ist alles 57

Schein und Sein 71

Okupiolizzy 86

Nackt in Turnschuhen 102

Tote leben länger 120

Neue Unterhosen 134

Epilog 148

Nachwort 149

Großvaters schlaue Sprüche 151

Eidesstattliche Erklärung 153

Zum Zahnarzt

Paul war am Weg zum Zahnarzt. Er war im Zug unterwegs nach Bruck an der Leitha. Seine Finger trommelten beruhigend auf das kleine Tischchen vor ihm. Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben prallten, trübten Pauls Sichtfeld. Er ließ seinen Blick über die vorbeiziehende Landschaft schweifen. Selbst als er nach Wien gezogen war, hatte Paul den Zahnarzt beibehalten. Einerseits, weil Paul ohnehin kein Freund von Veränderungen war, und andererseits, weil man einen guten Zahnarzt nicht wechselt. Diese Ansicht hatte er von Mutter übernommen. Man wechselte eigentlich gar nichts, was Mutter gut fand. Nicht einmal die Frisur. Niemals!

Paul war tief in seine Gedanken versunken. Paul war meistens in seine Gedanken versunken, wenn er nicht gerade arbeiten war oder vor seinem Computer saß. Wenn – so wie jetzt – niemand etwas von ihm wollte, dann ließ er seine Gedanken frei durch Zeit und Raum galoppieren. Das Zugfahren bot eine gute Gelegenheit zu einem Ritt durch die weiten Ebenen der Gedankenpuszta. Es schien ihm überhaupt, als wäre Zugfahren etwas, das einen Freiraum für Gedanken schaffen würde. Ein Freiraum, dem es egal war, ob sich nun der Zug über die Schienen oder die Schienen sich unter dem Zug bewegten. Egal, ob sich die Eisenbahn bewegte oder die Welt, in jedem Fall würde sich etwas bewegen.

All die Häuser, die vorbeigezogen sind, dachte Paul, sehen so aus, als wären sie von einem Hausbaugott scheinbar zufällig genau an diesem Platz fallen gelassen worden. Gilt das auch für Kirchen? Gibt es einen eigenen Kirchenbaugott, der überall in der Welt Kirchen und Gebetsplätze fallen ließ? Und wenn ja, zu welcher Religion gehörte der? Oder die? Und gibt es so etwas wie Gottheiten, die Systeme erhalten, also Systemerhaltungsgottheiten, die man nicht anbeten musste, die aber dafür Sorge trugen, dass das „System Erde“ nicht aus den Fugen geraten würde – und wenn doch? Na dann, gab es doch sicher einen anderen Gott beziehungsweise eine Göttin, die daran schuld war.

Und Mutter. Mann, Mutter. Man sollte doch ..., nein, man müsste doch ..., ach, ja, aber wie? Und aus welchem Grund? Würde Mutter vielleicht sogar zustimmen? War es möglicherweise nur eine Frage der richtigen Argumente? Sicher nicht! Ist sie überlistbar? Und wenn ja, wie? Im Grunde half das ganze „Braver-Bub-Spielen“, „Zombie-Erschießen“ und schließlich das „Sich-in-der-Arbeit-vor-dem-Leben-Verstecken“ auch nicht. Würde der Hausbaugott – so es einen gibt – hier hilfreich sein können? Oder der Kirchenbaugott?“ Paul wusste noch immer nicht, wie sich etwas ändern sollte oder könnte, als der Bordlautsprecher des Regionalzuges „Wir halten in Kürze in Bruck an der Leitha!“ krächzte und ihn jäh aus seinen Gedanken riss. Der Zug wurde langsamer und blieb stehen. Paul kam es vor, als würde der stehende Zug zum ersten Mal einen Unterschied daraus machen, ob sich nun der Zug oder die Welt bewegen würde.

„Hilf mir!“

Paul drehte sich um. In der Waggontür stand ein kleines Mädchen, das einen pinken Regenumhang anhatte und pinke Gummistiefeln mit weißen Katzengesichtern trug. Paul lächelte das rosarote Mädchen an und hob es vom Waggon auf den Kies.

„Nicht mir, meiner Mama!“, rief das kleine pinke Mädchen.

Paul sah erst jetzt die Frau in dem Rollstuhl, die noch im Waggon war. Paul rief den Schaffner und gemeinsam hoben sie die Frau aus dem Waggon. Der Schaffner gab das Signal zur Weiterfahrt.

„Danke sehr!“, sagte die Frau. „Wenn Sie wollen, dann nehm ich Sie bei diesem grauslichen Wetter ein Stück mit, mein Auto steht gleich da vorne.“

„Ja, äh … Nein, nein danke, ich komm schon zurecht.“

„Das ist kein Problem, wirklich.“

„Nein!“, erwiderte Paul energisch.

Das Mädchen reichte Paul ihre Hand, um sich zu bedanken. Paul zog instinktiv seine Hand zurück. Kleine Kinder haben doch nur Bakterien an den Händen, dachte er, hob seine Hand zum Gruß und ging schnell fort.

Im Vorbeigehen bekam Paul gerade noch mit, wie das kleine Mädchen ihre Hände betrachtete, dann wurde es von ihrer Mutter auf den Schoß genommen.

„Na, sind noch alle Finger dran?“, fragte sie ihre Tochter und beide fuhren lachend zum Auto.

Es ist doch besser, nicht mehr als notwendig mit anderen Menschen zu tun zu haben, davon war Paul überzeugt.

Paul stellte den Kragen seiner Jacke hoch. Der Regen hatte sich in einen Nieselregen gewandelt. Nicht mehr richtig da und doch spürbar. Paul hatte es nicht eilig, er kannte der Weg. Er wollte nicht darüber nachdenken, wohin er gehen musste. Das war irgendwie verständlich, es war ja der Weg zum Zahnarzt. Hinunter an der Apotheke vorbei, über die Hauptstraße, weiter Richtung Kulturzentrum zum alten Schloss, dahinter war der große Neubau, in dem sich die Praxisgemeinschaft der Ärzte befand.

Paul kam zur Kreuzung mit der Hauptstraße. Er hatte aufgehört zu denken und war froh darüber. Paul wartete an der roten Ampel. Grün. Paul atmete tief durch. Er ging vorbei an dem kleinen Blumengeschäft, das aussah, als wäre es früher einmal eine Fleischerei gewesen.

„Hier drüben, Paul … “

Paul hörte eine Stimme, konnte jedoch niemanden sehen. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken hinunter. Paul sah sich um. Da! Auf den Stufen vor dem Blumengeschäft zwischen den Kränzen und den Blumen mit den roten sternförmigen Blüten, zwischen den unterschiedlichsten Töpfen, saß ein alter Mann. Er war nur irgendwie … kleiner als normale Menschen. Paul kannte diesen Mann. Er war ihm immer sehr vertraut gewesen, auch wenn sie nie viel gesprochen hatten und die Geschichten, die er Paul erzählt hatte, immer ein Gefühl von Traurigkeit und Melancholie innehatten.

„Großvater?“

Paul wollte es nicht richtig glauben, was er da sah. Da saß sein Großvater in einer Orchideenblüte und sprach zu ihm. Mitten in all den anderen Blumen und Gestecken, da saß der einfach drinnen, sah ihn verschmitzt lächelnd an und rauchte eine Pfeife. Aus Großvaters Sicht musste er sich in einer Art Urwald befinden.

Paul konnte sich noch gut an das Begräbnis erinnern. Er war damals vierzehn Jahre alt gewesen, das war jetzt schon über zwanzig Jahre her. Er erinnerte sich auch daran, dass seine um drei Jahre ältere Schwester beim Begräbnis rückwärts in ein offenes Grab gefallen war. Sie war wohl zu müde gewesen, nach der langen Nacht, in der sie „getrauert“ hatte. Sie hatte sich vor lauter Müdigkeit oder trauerndem Anlehnungs-bedürfnis an den Grabstein eines anderen Grabes gelehnt. Dieser brach daraufhin in der Mitte auseinander und sie purzelte rückwärts in ein offenes Grab. Alle versuchten nicht zu lachen, bis auf seine Schwester, die aus eigener Kraft nicht mehr aus dem Grab steigen konnte.

„Was machst du hier Großvater?“

„Hier geht’s rein“, sagte der Großvater.

„Ich bin auf dem Weg zum Zahnarzt“, antwortete Paul, der sich in der ganzen Situation noch nicht so ganz zurechtfand und nicht wusste, ob er es jetzt komisch finden sollte oder ob er Angst haben sollte. Die Tatsache, dass er sich mit der Miniaturausgabe seines vor zwanzig Jahren verstorbenen Großvaters unterhielt, verunsicherte ihn.

Der Großvater deutete Paul, ihm zu folgen und verschwand durch die Glastür im Inneren des Blumengeschäfts. Paul folgte ihm hypnotisiert und lief prompt in die Glasscheibe der Eingangstüre, denn Paul hatte im Gegensatz zu seinem Großvater einen Körper.

„Wenn Sie die Tür aufmachen, isses leichter“, sagte die Blumenverkäuferin und öffnete die Türe. „Kann ich etwas für Sie tun?“

„Danke“, sagte Paul, „und nein, danke … ich möchte mich nur umsehen.“

„Wir haben gerade ganz frisch und wunderschön ...“

Paul unterbrach sie: „Danke, aber ich will mich wirklich nur umsehen.“

„Ganz, wie Sie wollen“, erwiderte die Blumenverkäuferin und verschwand im hinteren Raum.

„Sieh dir die Orchideen an, Paul, Orchideen sind das reinste Abenteuer“, sagte der Großvater. „Vor dem Krieg hab ich hier gearbeitet, als Hilfskraft, damals war das noch eine Fleischhauerei.“

„Ja, Vater, hat einmal so etwas erzählt“, murmelte Paul und ging zu den Orchideen. „Riech doch daran!“

Paul roch an der Orchidee. Er mochte den Geruch. Trotzdem wuchs seine Unsicherheit.

„Und jetzt?“, fragte Paul seinen Großvater.

Der lächelte nur und wackelte mit seinen etwas zu groß geratenen Ohren, gerade so, wie er es immer getan hatte, um Paul und seine Schwester, als sie noch Kinder waren, zum Lachen zu bringen. Paul versuchte, genauso wie er das als Kind immer versucht hatte, auch mit seinen Ohren zu wackeln.

„Wer anderen eine Blume sät, blüht selber auf“, sagte der Großvater. „Riech nicht mit deiner Nase alleine, riech auch mit deinem Herzen!“ Er verschwand in der Blüte.

„Ist das irgendeine Art von Orchideenvoodoo, das ich kennen sollte? Bei dem man mit den Ohren wackelt?“, fragte die Blumenverkäuferin amüsiert.

„Nein, danke“, sagte Paul, „ich meine, ja bitte, ich möchte bitte diese Orchidee kaufen!“

„Sehr schön … ich soll s`Ihnen doch sicher als Geschenk einpacken?“

„Ja bitte … als Geschenk“, seufzte Paul.

„Für wen soll das denn ein Geschenk werden?“, musste die Verkäuferin wissen.

„Wie bitte?  … ja, als Geschenk!“, versuchte Paul auszuweichen.

„Hat die Auserwählte auch einen Namen? Nur wegen des Kärtchens …“, ließ die Blumenverkäuferin nicht locker. „Für wen?“

Paul resignierte. „Für m.…m.…m.…meine Mutter.“ Etwas Besseres war ihm in der Kürze der Zeit nicht eingefallen.

„Sehr schön! Kinder sollten ihren Müttern öfters Blumen mitbringen, dann schreib ich ‚Für Mama‘ auf die Grußkarte?“

„Ja, bitte“, seufzte Paul wieder. Er bezahlte, nahm seine Orchidee und ging weiter Richtung Ärztezentrum.

Die Verkäuferin schaute Paul durch die Scheibe der geschlossenen Türe des Blumengeschäfts nach und freute sich darüber, dass es auch in diesem Alter noch dankbare Kinder gab, die ihren Müttern Blumen schenkten. Männer sollten Frauen Blumen schenken – basta. Egal in welchem Alter.

Am weiteren Weg zum Zahnarzt war Paul nicht mehr alleine. Er hielt die Orchidee in seinem linken Arm. Teilweise nahm er sie unter seine Jacke. Er fühlte sich verantwortlich für die Orchidee und er wollte sie nicht dem nasskalten Wetter aussetzen. Gut, er hätte auch etwas mehr auf sich selbst schauen können und statt der Turnschuhe besseres Schuhwerk anziehen können, aber soweit war er an diesem Morgen nicht gewesen. War doch am Morgen seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet gewesen, das Haus leise und unbemerkt zu verlassen, um Mutter, die sich zu dieser Zeit ein zweites Mal ins Bett gelegt hatte, nicht zu wecken. Im Moment dachte er nur an die kleine Blume in ihrem Topf und wie diese unbeschadet die Reise zum Zahnarzt und wieder nach Hause überstehen würde. Paul konnte eine Verbindung spüren zu der Orchidee, zur Orchidee selbst, nicht zu seinem Großvater, der darin verschwunden war. Paul spürte die Orchidee. Paul spürte überhaupt zum ersten Mal etwas in seinem Leben.

Er blieb vor dem Bedarfsgeschäft für Gartengeräte stehen, direkt vor der Auslage mit den Motorsägen, und versuchte immer wieder durch einen Spalt im Papier seinen Großvater aus der Blüte zu locken. Der kam aber nicht raus.

„Verzeihung, bitte?“

Vor dem Hintergrund von Sonderpreisaktionen für Kettensägen hatte Paul, der gerade in seine Jacke schaute, den Gehsteig versperrt. Vor ihm stand eine Frau, die ihre Haare zu einem Knoten hochgebunden hatte. Sie war offensichtlich in Eile und zog hinter sich einen Koffer her, der wie eine mutierte Riesengeige aussah. Verwirrt murmelte Paul so etwas Ähnliches wie „Entschuldigung“ und ging einen Schritt zur Seite, damit sie mit dem riesigen Koffer an ihm vorbeigehen konnte.

Schließlich erreichte er die Zahnarztpraxis. Noch während die Zahnärztin Paul eine Spritze gab, schloss er die Augen und entspannte sich, so gut es ging.

Als Paul wieder im Zug Richtung Wien saß, nahm er vorsichtig das Papier ab, in dem die Orchidee eingepackt war. Nur ein bisschen, damit das Papier immer noch schützend die Orchidee umgab und trotzdem soweit offen war, dass etwas Licht durch den Spalt fallen konnte. Licht ist gut für Orchideen, dachte sich Paul. Ich bin sicher, Licht ist gut für Orchideen. Paul hatte ja keine Ahnung von Orchideen. Genaugenommen hatte er keine Ahnung von irgendwelchen Pflanzen. Mutter mochte keine Pflanzen. Gar keine, nicht einmal Kakteen. Neugierig betrachtete Paul die Blüte der Orchidee.

„Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen alles fertig in den Geschäften. Auch andere Menschen“, sagte der Großvater. „Wer Bäume setzt, obwohl er weiß, dass er nie in ihrem Schatten sitzen wird, hat zumindest angefangen, den Sinn des Lebens zu begreifen.“

„Soll ich jetzt einen Baum pflanzen, Opa?“

Der Großvater musste lachen: „Man kann nicht in die Zukunft schauen, mein lieber Paul, aber alles, was du tust, legt den Grund für Zukünftiges.“

Paul begann zu verstehen.

„So wie ich die Orchidee gekauft habe? Damit hab ich etwas getan, was ich zuvor noch nie getan habe ...“

„Betrachte die Blüte der Orchidee genau. Sie ist deine Landkarte. Sie zeigt dir den Weg.“

„Was? Die Blüte? Die Blüte ist eine Landkarte? Wohin denn?“ Paul versuchte seinen Großvater zu verstehen. „Wie meinst du das?“ Er konnte die Gedanken seines Großvaters immer noch nicht ganz nachvollziehen.

„Jemand zugestiegen, bitte“, hörte Paul jemanden von weit her sagen.

„Die Fahrscheine, bitte!“, nuschelte ein Schaffner im Tonfall der Eisenbahner. Abwesend zeigte Paul ihm seine Fahrkarte.

„Na, unterwegs zur großen Liebe?“, fragte der Schaffner auf die Blume deutend und zwinkerte Paul zu.

Paul lächelte zurück und versuchte aus Verlegenheit mit den Ohren zu wackeln. Das brachte den Großvater zum Lachen.

„Jemand zugestiegen, bitte“, hörte Paul den Schaffner sich entfernen.

Paul sah sich alle Details der Blüte an und versuchte, eine Landkarte darin festzustellen. Aber er hatte bald keine Zeit mehr, sich dafür blöd vorzukommen, in einer Orchideenblüte eine Landkarte zu suchen. Der Zug fuhr in Wien ein und Paul hatte Eile, die Orchidee wieder einzupacken, um sie vor dem kalten und grauen Wetter zu schützen.

Trotz des schlechten Wetters entschied sich Paul, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er wollte die kostbare Zeit mit seiner Orchidee verbringen und wer weiß, vielleicht würde sich ihm ja die Landkarte eröffnen. Außerdem wollte er nicht zu schnell wieder zu Hause sein. Zu Hause wartete bestimmt schon Mutter auf ihn und wie die auf die Orchidee reagieren würde, war eine eigene, nicht zu kalkulierende Sache. Die Beziehung zwischen seinem Großvater und seiner Mutter, also der Schwiegertochter seines Großvaters, würde Paul mit „nicht existent“ beschreiben. Mutter von seiner Begegnung mit seinem Großvater zu erzählen, kam ebenso nicht in Frage. Sie würde das als Bubenphantastereien abtun, die nur deshalb entstehen, weil Paul noch immer keine Freundin hatte. Mutter hatte sich so bemüht, die Richtige für ihn, ja sogar, die Richtige für sein erstes Mal zu finden. Keine, die sie vorschlug, war Paul recht. Insgeheim war sie darauf stolz, dass es keine andere Frau gab, die für ihren Paul gut genug war. Paul hatte seinerseits irgendwann aufgehört, Mädchen nach Hause einzuladen. Schon am jeweils nächsten Tag, hatte Mutter eine „Polizeiakte“ für das jeweilige Mädchen angelegt. Als sie dann mit Paul ein vernünftiges Gespräch unter Erwachsenen führte, zeichnete sie solange das Bild einer Dämonin von diesem Mädchen, bis Paul aufgab. Irgendwann gab er auch auf, Mädchen anzusprechen. Alleine zu sein, war doch besser und vor allem bekannt und kalkulierbar. Allein mit Mutter zu sein, hatte auch Vorteile. Sie kochte wenigstens und putzte dauernd irgendwas und die Wäsche brauchte er auch nicht zu machen. Das war nicht unangenehm, und wenn es doch zu viel wurde, konnte er sich ja ohnehin in seinem Zimmer einschließen und Computerspiele spielen.

Paul war sich nicht einmal sicher, ob Mutter es ihm überhaupt gestatten würde, seine Orchidee zu behalten. Aber er hatte einen Entschluss gefasst. Paul würde die Orchidee mit nach Hause nehmen, auch wenn er den Großvater nicht erwähnen konnte. Die Eisenbahn hatte sich auch aus eigener Kraft bewegt. Auch Paul würde sich nun aus eigener Kraft bewegen. Diesmal würde er es drauf ankommen lassen. Diesmal würde Paul nicht im vorauseilenden Gehorsam einen möglichen Konflikt mit Mutter vermeiden und die Orchidee sofort entsorgen. So hatte Paul trotz des nasskalten Wetters keine Eile, nach Hause zu kommen.

Der kleine Großvater lächelte verschmitzt und rauchte seine Pfeife, während er das Schaukeln der Orchideenblätter durch Pauls Schritte genoss.

Guten Appetit

Je mehr Paul sich auf die Orchidee unter seiner Jacke konzentrierte, umso weniger nahm er von dem wahr, was rund um ihn passierte. Nicht die Straßenbahn oder die Autos, schon gar nicht die anderen Menschen, die seinen Weg kreuzten oder gar das Plakat der Privatuniversität für Musik und Kunst, das ein modernes Cellokonzert des „Petrasilienquartetts“ bewarb. So merkte Paul auch nicht, wie er zu Hause angekommen war. Erst als er den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstüre stecken wollte, realisierte er, wo er war. Er kam aber nicht rein. Es schien so, als würde eine unsichtbare Macht ihn zurückhalten, die Türe aufzuschließen.

„Paul, du wirst dieses Jahr vierunddreißig Jahre alt! Im Mittelalter wärst du schon Großvater und du hast Schwierigkeiten eine Wohnungstüre aufzusperren? Weswegen? Wegen einer Orchidee?"

Paul war kein Feind von Selbstgesprächen, schließlich braucht jeder ab und zu den Rat eines Experten. Paul spielte mit dem Schlüssel in seiner Hand und ließ ihn immer wieder um seinen Finger kreisen. Er horchte auf. Paul konnte von drinnen deutliche Geräusche wahrnehmen. Er ordnete diese Geräusche seiner Mutter und einigen anderen – vermutlich weiblichen Personen –  zu. Der Großvater in der Orchidee blieb unerreichbar. Das Gefühl, das Paul hatte – das Gefühl für die Orchidee, die Sorge, die er fühlte für etwas oder jemanden, den man zu lieben begann – dieses Gefühl spürte Paul sehr deutlich. Er konnte sich nicht dazu durchringen aufzusperren. Draußen stehenbleiben konnte er allerdings auch nicht. So stand er da, vor einer dieser klugen Neubauwohnungen im dritten Bezirk. Es war eine zweigeschossige Wohnung. Oben lagen die Schlafräume und das Bad, unten das Wohnzimmer und die Küche. Früher, als Pauls ältere Schwester noch hier gewohnt hatte, bewohnte sie eines der unteren Zimmer. Paul und seine Schwester hatten Mutter folgen müssen, als sie nach der Scheidung von Niederösterreich wieder nach Wien gezogen war. Mutter verwendete dieses Zimmer nun als Büro. Paul wusste nicht, was Mutter in diesem Zimmer tat oder nicht tat, er hatte auch keine Ahnung, welche Art Arbeit Mutter nachgehen würde, außer dauernd irgendjemanden zu verklagen. Leider hatte die Wohnung nur einen Eingang, im unteren Bereich.

Paul wäre am liebsten unbemerkt in den oberen Bereich der Wohnung, in der sein Zimmer lag, gelangt.

„Reiß dich endlich zusammen Paul! In der Bibliothek kannst du dir das auch nicht erlauben! Ist das eigentlich bei allen Söhnen so, die ohne ihren Vater aufwachsen müssen? Können die sich alle nicht entscheiden und müssen die alle noch bei ihrer Mutter leben?", redete er mit sich selbst.

"Nein, müssen sie nicht!", tönte es aus der Orchidee.

Paul lächelte. Je mehr er die Orchidee zu spüren begann, um so entspannter nahm er die Situation wahr. Da hörte er Schritte auf die Türe zukommen, das Quietschen der Türspionklappe, einen Schlüssel, der energisch zweimal umgedreht wurde, und das Drücken der Türklinke.

"Pauli!

Paul, mein Liebeling!

Hab ich mich also doch nicht verhört.

Nein, was ist er doch für ein guter Junge!

Bringt seinem lieben, alten Mütterlein einfach so etwas mit.

Was ist denn das?

Blumen?

Ach Junge, ich bin ganz gerührt.

Das wäre doch nicht notwendig gewesen.“

Mutter nahm Paul die Orchideen voll falscher Freude ab.

„Und was du für einen schönen Blumentopf ausgesucht hast … So einen Sohn kann sich jede Mutter nur wünschen … komm her, gib deiner alten Mutter einen dicken Schmatzer!“

Paul wusste in diesem Moment, er hatte die Schlacht um die Orchideen schon längst verloren, bevor diese überhaupt begonnen hatte. Das Einzige, was ihm jetzt noch einfiel, war, den Blumenstock schützend vor sich zu halten und so ein Bollwerk zu schaffen gegen die eingeforderten Körperlichkeiten von Mutter.

„Ach, ich versteh schon“, zwinkerte Mutter ihm zu. „Du bist schon ein großer Junge.“ Sie nahm den Blumenstock entgegen, um ihn triumphierend ihren Freundinnen, die zum Kaffeetrinken gekommen waren, zu zeigen. Die saßen am Wohnzimmersofa aufgereiht wie Papageien des kaukasischen Secret Service zum Sprechtraining. Sie plapperten wild gestikulierend durcheinander. Mutter stellte den Blumentopf neben den Kuchen und zwischen das Kaffeeservice. Dann quetschte sie sich zwischen die Freundinnen und versuchte, sich selbst, die Freundinnen und die Blumen mit ihrem Mobiltelefon zu fotografieren. Dieser Versuch scheiterte kläglich.

Paul stand indes im Türrahmen und grüßte die Damen aus der Ferne mit einem Lächeln. Zu präsent waren immer noch die Erinnerungen an seine Kindheit, in der er die jeweils gerade „Beste-Freundin-für-immer“ seiner Mutter drücken und küssen musste, weil diese ja auch gerade ein Mitglied der Familie geworden war. Die eine kannte er, das war Ingeborg, die andere war Heidi, aber die dritte, die war neu.

„Pauli, Liebeling, Dearest“, riss ihn Mutter aus den unangenehmen Kindheitserinnerungen, „mach doch ein Foto von Mami und ihren ‚Für immer besten Freundinnen‘, sei lieb Paul, ja?“

Paul nahm das Mobiltelefon seiner Mutter und fotografierte die Papageien, die nicht stillhalten wollten, mit Mutter als Ausbilderin des Secret Service, die zusätzlich noch den Blumenstock auf den Knien balancierte. Paul wählte den Bildausschnitt so, dass keine Köpfe auf dem Bild zu sehen waren, und hoffte, dass der Secret Service Kaukasiens zu sehr mit sich selbst beschäftigt sein würde, um das zu überprüfen. „Die Blumen packen wir dann später aus, später wenn Paul und ich wieder alleine sind, ihr versteht das doch", verkündete Mutter wie bei einem Ereignis, bei dem alle dabei sein wollten und es doch nicht durften.

Der kaukasische Secret Service nickte verständnisvoll. Natürlich dauerte es nicht lange, bis die Papageien merkten, dass ihre Köpfe nicht auf dem „Beste-Freundinnen-für-immer-Bild“ drauf waren.

Mutter erinnerte Paul mit scharfer Stimme an den Ofen, der in der hinteren Ecke des Raumes stand: „Weißt du, wozu dieser Ofen hier steht, Paul Thomas?"

„Ja, Mutter, das ist der Ofen der Ungezogenheiten ...", sagte Paul resignierend.

„Und warum darf er nicht angezündet werden?"

„Weil ‚Sich-blöd-Stellen‘ so ist wie Feuer …", fuhr Paul kleinlaut fort.

„Und?"

„Und dann explodiert das beim Verbrennen ... irgendwie so ...?", war Paul sich nicht ganz sicher.

„Genial!", rief Ingeborg. „Nur ein Ofen, in dem man nichts anzündet, kann das Feuer kontrolliert werden

„Das ist die einzige Möglichkeit, denn Feuer ist böse, sehr böse! Niemals darf man Kindern erlauben, mit Feuer zu spielen", ergänzte Mutter.