Pfadfinderehre - Hanna Nolden - E-Book

Pfadfinderehre E-Book

Hanna Nolden

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Beschreibung

Alina und Hannes sind sehr unterschiedlich: Während er als leidenschaftlicher Zocker den ganzen Tag vor dem Rechner hängt, zieht es Alina raus in die Natur. Sie ist mit Herz und Seele Pfadfinderin und die einzigen technischen Dinge, die sie wirklich schätzt, sind ihre Funkgeräte. Als die Teenager gezwungen werden, ein Wochenende miteinander zu verbringen, kommt es zu einem Unglück. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war: Hannes befindet sich in einem unbekannten, finsteren Wald - Alina ist in der Pixelwelt von Minecraft gelandet. Nur durch Alinas Funkgeräte miteinander verbunden, versuchen sie, gemeinsam den Weg nach Hause zu finden.

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PfadFInderehreHannaNolde

Über die Autorin

Hanna Nolden lebt mit ihrem Mann, ihren Kindern und Kater Ramses in einem kleinen Waldhäuschen in Niedersachsen. Neben Kurzgeschichten schreibt sie überwiegend Kinder- und Jugendromane zu phantastischen und realistischen Themen.

© 2023 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: André PiotrowskiUmschlaggestaltung: Christian Günther

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-506-1 / E-Book 978-3-95869-507-8Print in the EU

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amrun-verlag.de

Dies ist kein offizielles Minecraft-Produkt.Es ist nicht von Mojang genehmigt oder mit Mojang verbunden. "Minecraft" and its graphics are trademark or registered trademark of Mojang SynergiesAB. © 2009-2023 Mojang

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v2/23

Für Birk und Valerie, meine Zockermäuse.

Vorwort

Als meine Tochter vor einigen Jahren zu mir kam und mich bekniete, doch bitte Minecraft auf meinem Rechner zu installieren – das Kind hatte damals noch keinen eigenen–, habe ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Valerie war überzeugt davon, dass es mir gefallen würde, aber ich wollte ihr nicht glauben. Minecraft? Das war doch so ein Modeding! Warum sollte mir das gefallen? Nun kennt mein Kind mich ziemlich gut und sollte recht behalten. Kaum hatte ich das Spiel installiert, war ich ihm auch schon verfallen. Viele Stunden brachte ich damit zu, eine riesige Burg zu bauen, ein Heckenlabyrinth, einen Leuchtturm und vieles weitere mehr. Ich begab mich unter die Erde und suchte nach Schätzen. Ich kämpfte mit Skeletten und Zombies. Und ich schwärmte auf Facebook davon, wie toll das Spiel doch ist. Als dann mein Verleger an mich herantrat und fragte, ob ich ihm ein Buch zum Thema Minecraft schreiben würde, wehrte ich mich nicht mit Händen und Füßen. Ich war sofort Feuer und Flamme. Nun war ich immer ein schneller Schreiber und davon ausgegangen, dass ich das Buch binnen weniger Monate fertigschreiben würde, doch das Leben funkte mir dazwischen und so dauerte es zweieinhalb Jahre bis zur Fertigstellung. Beim Schreiben wurde ich von den Spielentwicklern überholt, die eine verbesserte Version nach der nächsten herausbrachten. Auf einmal konnte man beide Hände benutzen und Schilde tragen. Neue Kreaturen kamen hinzu, andere wurden verändert. Und ich stand vor einem Problem: Von welcher Version handelt denn nun mein Buch? Die Antwort ist dann doch denkbar einfach: Das Buch beschreibt eine Welt, die der Welt von Minecraft ähnlich ist. Sie orientiert sich vorwiegend an der Version 1.8, wird aber nicht in allen Punkten damit übereinstimmen. Und das ist auch nicht notwendig. Ich hoffe sehr, dass euch, meine lieben Leser und Leserinnen, das Buch trotz der Abweichungen gefallen wird, und wünsche viel Spaß beim Lesen.

Inventur

Alinas Mutter telefonierte und Alina wusste auch, mit wem. Mit Linda. Das war die beste Freundin ihrer Mutter. Sie kannten sich seit Alinas Geburt, denn sie hatten sich im Krankenhaus ein Zimmer geteilt. Lindas Sohn Hannes war am gleichen Tag geboren wie Alina. Manchmal glaubte sie, ihre Mütter hätten damals ausgehandelt, dass ihre Kinder einmal heiraten würden, allerdings waren Hannes und sie eher wie Bruder und Schwester. Hm. Nein, nicht ganz so vertraut, dafür sahen sie einander nicht oft genug. Cousin und Cousine kam ungefähr hin.

»Vielleicht sind sie schon ein bisschen zu alt für so etwas«, sagte ihre Mutter gerade. Alina war im Flur stehen geblieben, dort, wo sie nicht gesehen werden konnte. Zu alt dafür? Das war neu. Sonst hieß es immer zu jung. Trotzdem hatte Alina eine ungute Ahnung. Sie wusste, was unmittelbar bevorstand: das Wellnesswochenende. Ihre Eltern wollten mit Hannes’ Eltern ein Wochenende in einem Romantikhotel verbringen. Ursprünglich hatten sie über die Köpfe ihrer Kinder hinweg entschieden, dass diese ebenfalls das Wochenende miteinander verbringen würden, weil das ja so praktisch war und sie sich schon so lange kannten und sich doch so mochten. Alina hätte das Wochenende lieber bei ihrer Freundin Marie verbracht, die ausgerechnet an diesem Wochenende selbst zu einem Verwandtenbesuch musste. Im Grunde hatte sie nichts gegen Hannes, sie hatten sich bloß nicht viel zu erzählen. Um ehrlich zu sein, könnten sie gar nicht verschiedener sein. Alina war das, was ihre Mutter ein wildes Mädchen nannte. Sie war Pfadfinderin, ging gern Wandern und trieb sich überhaupt am liebsten draußen in der Natur herum. Und Hannes… tja, der hatte nur seine Computerspiele im Kopf. Den ganzen Tag lang konnte er im abgedunkelten Zimmer vor seiner Kiste sitzen und irgendwelche Ballerspiele zocken. Ein paarmal hatte Alina versucht, ihm dabei zuzusehen, aber er hatte quasi in einer anderen Sprache gesprochen. Sie hatte keine Ahnung, was diese ganzen Begriffe bedeuteten, und nebenbei hatte sie sich zu Tode gelangweilt.

»Warte mal, Linda… ich glaube… ich glaube, ich werde beobachtet. Ich ruf dich heute Abend noch einmal an.«

Mist! An ihren Schleichfertigkeiten musste Alina wohl noch arbeiten.

»Hattest du einen schönen Tag, Mäuschen?«, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Alina streifte die Schuhe ab und ging zu ihr.

»Klar. Wie immer. Und ich habe dich nicht beobachtet. Nur belauscht. Wofür sind Hannes und ich zu alt?«

Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war Gold wert. Erwischt!

»Also jaaaa«, druckste sie herum. »Zum einen zu alt für einen Babysitter. Zum anderen vermutlich noch zu jung, um allein zu bleiben. Aber vielleicht auch schon zu alt um…«

»Pffffft!«, unterbrach Alina ihre Mutter abfällig, denn sie wusste genau, worauf die hinauswollte. »Also ehrlich, Mutz. Ich mag mich vielleicht –und wenn ich vielleicht sage, dann meine ich vielleicht!– schon für Jungs interessieren, aber ganz sicher nicht für Hannes!«

Wieder ein Mienenspiel für die Götter. Erleichterung, ein kurzer Schreck, gefolgt von Verwirrung.

»Also wäre es für dich okay, das Wochenende zusammen mit Hannes zu verbringen?«

Alina zuckte die Achseln.

»Okay, trifft es in etwa. Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, umbringen wird es mich nicht.«

Alina trat einen Schritt zurück, als ihre Mutter Anstalten machte, sie zu umarmen. Resigniert ließ Mutz die Arme sinken.

Zu alt für Umarmungen, kommentierte Alina in Gedanken.

»Ich bin dann mal in meinem Zimmer und überlege, wie ich dieses Wochenende überlebe, ohne den Tod der lähmenden Langeweile zu sterben. Und wie ich frische Luft in Dosen abfülle, um sie in Hannes’ Zimmer zu bekommen, ohne ein Fenster zu öffnen.«

Sie huschte aus dem Wohnzimmer, schnappte sich ihren Rucksack aus dem Flur und verschwand in ihrem Zimmer, um sich ihren Waldfundstücken zu widmen. Tannenzapfen, etwas Baumrinde und duftiges Moos. Sie fügte die Fundstücke ihrem Diorama auf der Fensterbank hinzu. Ihr kleines Stück Wald für zu Hause. Sie wohnten am Stadtrand und mit dem Rad brauchte sie ungefähr zehn Minuten, um im Wald zu sein. Hannes wohnte mit seinen Eltern in einem Hochhaus mitten in der Stadt. Alina wäre es lieber gewesen, er wäre für das Wochenende hergekommen. Seine Ausreden kannte sie zur Genüge: kein PC, schlechtes WLAN, Langeweile. Alinas Argumente – kein Wald, viel Verkehr, Lärm und Gedränge– ließ er nicht durchgehen. Allerdings war ein Hannes ohne PC und Internet noch unausstehlicher als ein nerdisch sprechender, zockender Hannes in seinem muffigen Zimmer. Also fügte sich Alina in ihr Schicksal. Sie würde sich auf sein Bett pflanzen und in ein Buch vertiefen. Bücher! Bücher waren eine gute Idee. Sie stellte sich vor ihr Regal, ging die Titel durch und überlegte, welches der Bücher sie noch nicht gelesen hatte oder welches es wert war, ein zweites Mal verschlungen zu werden. Am Ende landeten drei Bücher in ihrer Reisetasche: ein neues, ein angefangenes und ein heiß geliebtes. Sie würde sie nicht alle an einem Wochenende gelesen bekommen, trotzdem war es gut, sie dabeizuhaben. Gleiches traf auf ihre Walkie-Talkies zu. Uralte Handfunkgeräte, die quasi unkaputtbar waren, Unmengen Batterien fraßen, aber für Alina die Welt bedeuteten. Sie wusste, dass Hannes nicht mit ihr funken würde. Sie wusste, dass sie sie vermutlich nicht einmal aus der Tasche nehmen würde, dennoch wollte sie sie dabeihaben. Außerdem nahm sie noch ihr Schweizer Taschenmesser und das silberne Sturmfeuerzeug mit, ohne das sie grundsätzlich nicht aus dem Haus ging und das sie an seinem letzten Weihnachten von ihrem Großvater geschenkt bekommen hatte. Zwei Monate vor seinem Tod. Trotz der Bücher würde es wohl ein sterbenslangweiliges Wochenende werden, nur ohne Sterben. Nein, sie würde es überleben und stärker daraus hervorgehen. Wie nach einer Prüfung. Vielleicht, so dachte sie, sollte sie sich ein Hannes-Abzeichen basteln.

Minecraft

Headshot!« Hannes riss die Arme in die Höhe. Yeah! Er hatte einen richtigen Lauf. Die Übung der letzten Wochen hatte sich gelohnt.

»Hannes!«

»Sekunde«, rief er zurück. Maaaaaannn, musste seine Mutter gerade jetzt stören, wo er die perfekte Stelle für einen Hinterhalt gefunden hatte?

»Jetzt!«, trällerte seine Mutter. »Sonst kommt der Router mit ins Wellnesshotel.«

Oh Shit! »Okay, okay. Ich komme.«

Er setzte das Headset ab und rollte den Schreibtischstuhl zurück. Hannes sah dem Wochenende mit Alina ebenso zwiegespalten entgegen wie sie. Er mochte Alina. Sie war auf ihre Art und Weise irgendwie cool. Er traute ihr Dinge, die er virtuell tat, im wahren Leben zu, schließlich war sie Pfadfinderin, und im Wald ausgesetzt, würde sie vermutlich besser zurechtkommen als er in einem Einkaufszentrum. Aber das war eben nicht seine Welt. Wenn man einen virtuellen Soldaten durch den Wald hetzte, blieb man selbst im Trockenen. Man lief nicht Gefahr, sich zu verletzen. Man fiel nicht der Länge nach in den Matsch und hatte am nächsten Tag auch noch Muskelkater am ganzen Leib. Nein. Seine Welt war das hier: Schreibtischstuhl, Maus und Tastatur.

»Kommst du jetzt endlich?«, drängelte seine Mutter. »Du hast deinem Vater versprochen, die Koffer ins Auto zu tragen.«

Hatte er, aber doch nicht mitten in einem Match! Er loggte sich aus.

»Ich komm ja schon.«

Es waren tatsächlich zwei große und verdammt schwere Koffer, die er mit seinem Vater zum Auto schleppte. Hannes fragte sich, was seine Eltern da wohl alles eingepackt hatten. Lief man in einem Wellnesshotel nicht eh den ganzen Tag in einem Bademantel herum? Und sie verreisten nur für ein Wochenende! Oder planten sie etwa, sich mit Alinas Eltern abzusetzen und einfach nicht mehr wiederzukommen?

Als er nach getaner Arbeit in sein Zimmer huschen wollte, hielt seine Mutter ihn am Ärmel fest.

»Nichts da. Du bleibst. Die Christiansens werden jeden Augenblick hier sein und ich verlange von dir, dass du vernünftig Hallo und Tschüß sagst. Und du wirst Alina nicht wie eine nervige kleine Schwester behandeln, die eh hier zu Hause ist, sondern der perfekte Gastgeber sein. Haben wir uns verstanden?«

Hannes rollte die Augen. Als ob Alina darauf Wert legte, dass er den perfekten Gastgeber spielte. Dennoch versprach er es seiner Mutter und dann klingelte es zum Glück bereits an der Wohnungstür. Die Christiansens begrüßten seine Eltern laut und stürmisch, wie er es nicht anders gewohnt war. Und Alina verhielt sich genau wie er– schön aus der Schussweite halten und warten, bis die Umarmerei vorüber war. Sie brachte einfach ihre Tasche in sein Zimmer – so viel zum Thema perfekter Gastgeber und Gast–, knuffte ihm gegen die Schulter und grüßte: »Hi, Hannes!«

»Hey!«, erwiderte er. »Alles klar?«

Sie nickte. Jetzt kam der Moment, da sich die Eltern von den Kindern verabschiedeten und dabei ein großes Trara machten. Seid anständig. Esst auch etwas Obst, nicht nur Tiefkühlpizza und Schokolade. Keine Klingelstreiche. WTF? Sie waren vierzehn! Hannes nickte alles ab und ließ es genau wie Alina über sich ergehen. Als die Tür ins Schloss fiel und sich eine herrliche Stille in der Wohnung breitmachte, atmeten sie auf.

»Puh, das wäre geschafft«, kommentierte Alina.

»Hoffentlich kommen die nicht noch mal zurück, weil sie was vergessen haben oder so.«

Alina lachte. »Bei dem, was meine Eltern eingepackt haben, hatte ich das Gefühl, sie hätten das gesamte Haus dabei!«

»Ach, deine Eltern auch?« Er grinste. Irgendwie fühlte es sich toll an, die Eltern aus der Wohnung zu haben. Alina war eine gute Freundin und angenehm unkompliziert, obwohl sie eben nicht so viel gemein hatten. Aber allein hätte Hannes sich doch ein wenig unwohl gefühlt. »Ach, meine Mutter hat übrigens von mir verlangt, dass ich den perfekten Gastgeber spiele. Also, möchtest du was trinken?«

»Jo«, antwortete sie und ließ ihn gar nicht erst dazu kommen, den perfekten Gastgeber zu spielen. Sie ging in die Küche und holte sich ihren Apfelsaft selbst. In seinem Zimmer schmiss sie sich ganz selbstverständlich auf sein Bett, während er wieder auf seinem Schreibtischstuhl Platz nahm.

»Und?«, fragte sie. »Hast du was geplant für das Wochenende?«

»Du meinst außer Tiefkühlpizza, Schokolade und vielleicht etwas Obst?«

»Jupp.«

»Hm.«

Sein Blick ging zum Monitor, wo ihn eine blinkende Anzeige fragte, ob er dem nächsten Match beitreten wollte. Er schloss das Spiel. Nee, bei einem Ballerspiel musste Alina ihm nicht zusehen. Eventuell hatte er ja sogar etwas in seiner Spielebibliothek, das ihr gefiel.

»Ich weiß nicht. Wir könnten was zocken. Kennst du Minecraft?«

Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch, und so wie sein Blick eben zum Monitor gegangen war, ging ihrer jetzt zu der Reisetasche, die sie am Boden abgestellt hatte. Vermutlich hatte sie wieder ein paar Bücher dabei.

»Mine… was?«, fragte sie.

»Minecraft!«

Sie sah nicht begeistert aus, während es für Hannes absolut unvorstellbar war, dass sie noch nicht von dem Spiel gehört hatte. Es gab ja nicht nur das Spiel, auch die Merch-Artikel waren überall. Es gab Minecraft-Plüschtiere, Minecraft-LEGO, Minecraft-Kleidung. Es gab sogar Minecraft-Bücher und Bücher lagen zumindest in Alinas Interessengebiet. Er versuchte, es ihr schmackhaft zu machen: »Eigentlich ist das ein richtiges Pfadfinderspiel. Überleben in der Wildnis und so. Willst du es nicht mal versuchen?«

Er sah in ihrem Blick, dass sie das Angebot ausschlagen wollte und sich dann einen Ruck gab.

»Also gut, zeig es mir. Aber im Gegenzug gehen wir nachher raus und funken.«

Oh Mann, sie hatte ihre Steinzeithandys dabei! Doch noch hatte Hannes Hoffnung, dass ihr das Spiel so gut gefallen würde, dass sie das Rausgehen vergessen würde.

Dreimal auf Holz geklopft

Hannes startete ein neues Spiel. Alina hatte sich einen der Küchenstühle geholt, saß neben ihm und betrachtete mäßig interessiert den Monitor. Die Grafik war pixelig wie bei einem dieser uralten Computerspiele, von denen ihr Vater immer schwärmte. Alina wusste von Hannes, dass es mittlerweile Spiele gab, die ultrarealistisch aussahen, aber hier war das Pixelige wohl gewollt.

»Es gibt unterschiedliche Modusse …«

»Modi«, fiel Alina ihm korrigierend ins Wort.

»Ja, ja. Also, du kannst im Kreativmodus oder im Überlebensmodus spielen. Im Kreativmodus gibt es keine Hungerleiste und man kann nicht sterben. Dafür kann man zum Beispiel fliegen.«

»Ach«, machte Alina gelangweilt. »Ist ja suuuuuperrealistisch. Hast du schon mal einen fliegenden Pfadfinder gesehen?«

Hannes ließ sich nicht beirren. »Im Überlebensmodus musst du regelmäßig essen und auf die Herzanzeige achten. Wenn du aus zu großer Höhe fällst oder von einem Monster angegriffen wirst, verlierst du Herzen.«

»Monster, ja?«, fragte sie ironisch. Hannes ignorierte sie weiter.

»Um dich besser zu schützen, kannst du dir eine Rüstung bauen.«

»Klingt echt total nach Pfadfindern!«

»Eine Rüstung kann aus Leder, Eisen, Gold oder Diamanten bestehen. Außerdem gibt es eine Kettenrüstung, die jedoch nicht gecraftet werden kann. Die kann man nur finden.«

Alina verkniff sich einen Kommentar über eine Rüstung aus Diamanten. Hannes’ Spielfigur stand auf einer grünen Wiese. Über den blauen Himmel zogen kastenförmige Wolken. Überhaupt war alles mit Ausnahme der Schatten eckig. Trotzdem konnte man die Landschaft erkennen und durchaus als schön bezeichnen. Da wuchsen hohe Bäume mit eckigen Stämmen. Bunte Pixelblumen, die an Mohn, Tulpen und Löwenzahn erinnerten, verzierten die Wiese. Rechts von Hannes war ein See, auf dem Seerosenblätter schwammen und in dem Hühner badeten. Links von ihm erhob sich ein Berg, zunächst bewaldet, dann steinern und an der Spitze mit Schnee bedeckt. Am unteren Bildschirmrand waren verschiedene Anzeigen. Alina sah die beschriebenen Herzen und kleine Fleischkeulen, die vermutlich die Hungeranzeige darstellen sollten. Darunter war ein grauer Balken mit neun Feldern.

»Das ist ein Teil meines Inventars«, erläuterte Hannes. »Die sogenannte Schnellzugriffleiste. Noch ist sie leer, weil wir ja gerade erst begonnen haben. Das eigentliche Inventar ist größer und man kann jede Menge Zeug hineintun.«

»Wie in einen Rucksack«, vermutete Alina.

»Richtig. Und der Schnellzugriff ist so etwas wie die Hosentasche oder ein Werkzeuggürtel. So was in der Art. Am wichtigsten ist es zunächst einmal, einen Unterschlupf zu bauen.«

Das leuchtete Alina ein. Schutz vor wilden Tieren, Kälte und Nässe.

»Ein Tag ist dreizehn Minuten lang, gefolgt von einer siebenminütigen Nacht. Und komm mir jetzt nicht mit Realismus. Achtzehn Stunden lang Tageslicht wären bei so einem Spiel echt langweilig.«

Erneut schluckte Alina einen Kommentar herunter. Bisher fand sie das Spiel alles andere als spannend.

»Im Dunkeln spawnen Monster. Zombies, Skelette, Spinnen, Hexen, Creeper und Endermen.«

Sie hätte fragen können, was Creeper und Endermen waren – unter Zombies, Skeletten, Spinnen und Hexen konnte sie sich natürlich etwas vorstellen, auch wenn ihre Vorstellung vielleicht nicht der Minecraft-Version entsprach –, aber sie war sicher, dass Hannes es ihr erzählen würde. Ziemlich sicher, denn er sprach schon weiter: »Daher brauchst du in deinem Unterschlupf eine Lichtquelle. Du kannst im Grunde alles, was du brauchst, selbst herstellen, wenn du die entsprechenden Rohstoffe findest. Wir werden erst mal einen Baum fällen und eine Werkbank bauen.«

Die Spielfigur begann, auf einen Baumstamm einzuschlagen.

»Mit der bloßen Hand?«, rief Alina entsetzt.

»Na ja, eine Axt haben wir noch nicht. Die müssen wir erst bauen.«

Alina schüttelte den Kopf.

»Weißt du was? Ich nehme dich nächstes Wochenende mal mit in den Wald und da zeigst du mir, wie du mit der bloßen Hand einen Baum fällst.«

Hannes lachte. »Ich könnte nicht einmal mit einer Axt oder einer Kettensäge einen Baum fällen. Das weißt du doch, oder?«

»Japp. Ist mir bewusst.«

Sie stimmte in sein Lachen mit ein. Zumindest da war er realistisch. Das erste Segment des Baumstammes zerfiel unter der beständig zuschlagenden Hand von Hannes’ Spielfigur. Ein kleiner Holzwürfel landete mit einem leisen Plopp in der Schnellzugriffleiste. Hannes fuhr damit fort, auf den restlichen Baumstamm einzuschlagen, bis nichts mehr außer dem Laub übrig war und sich vier Holzwürfel in seinem Inventar befanden. Das Laub, ebenfalls würfelförmig, schwebte in der Luft und wurde langsam lichter.

»Wenn der Stamm weg ist, despawnt das Laub und hinterlässt Setzlinge oder manchmal sogar einen Apfel.«

Alina konnte auf dem Monitor lesen, dass es sich um Eichenholz handelte, doch sie behielt den Kommentar, dass Äpfel nicht auf Eichen wuchsen, für sich. Außerdem wusste sie nicht zu 100 Prozent, was Hannes mit »despawnt« meinte, nahm jedoch an, dass das Laub verschwinden würde. Tatsächlich schwebten nun einige Miniaturausgaben des ursprünglichen Baumes über dem Boden – vermutlich die Setzlinge – und Hannes sammelte sie ein.

»Die Setzlinge kannst du einpflanzen, aber das ist erst mal nicht so wichtig. Wir öffnen einmal unser Inventar und verwandeln unsere Holzblöcke in Holzbretter.«

Ein Holzblock ergab vier Holzbretter, was Alina angemessen erschien. Allerdings geschah erneut alles ohne Werkzeug und viel zu schnell. Sie hatte einmal mit einer Kreissäge, unter Aufsicht, aus einem Baumstamm Bretter geschnitten. Das war nicht nur verdammt anstrengend, sondern auch staubig und gefährlich. Alina zumindest hatte vor einer Kreissäge gehörigen Respekt. Da war ihr ihre kleine Laubsäge lieber. All diese Gedanken behielt sie für sich und sah schweigend zu, wie Hannes aus vier Holzbrettern eine Werkbank herstellte und auf der Wiese platzierte. Die sogenannte Werkbank war nichts weiter als ein bemalter Holzblock mit Linien darauf und nicht zu vergleichen mit Alinas Werkbank im heimischen Schuppen, wo man Holzteile einklemmen oder mit Schraubzwingen befestigen konnte. Aber nein, sie behielt es für sich. Sie wollte Hannes eine Chance geben, und wenn es nur war, damit er gleich ihren Funkgeräten eine Chance gab.

»Aus einem Teil der Bretter machen wir Stöcke und nun können wir uns eine Axt bauen. Und ein Schwert und eine Spitzhacke.«

»Aus Holz?« Es war eine rhetorische Frage und ihr Tonfall hätte abfälliger nicht sein können. Hannes ignorierte sie erneut.

»Eine Schaufel wäre sinnvoll.«

Und plötzlich vergaß er, dass er ihr das Spiel hatte erklären wollen. Ursprünglich hatte er ja sogar vorgehabt, sie zum Spielen zu bringen. Jetzt spielte er selbst und murmelte nur noch vor sich hin. Alina sah zu, wie er mit seiner Holzspitzhacke auf massiven Stein einschlug, wie er Kohle fand und Fackeln baute. Blitzschnell hatte er einen Unterschlupf gebaut. Mit Tür und Fenstern. Jaaaa, da war er wieder, der Realismus. Alina sah sich nach ihrer Reisetasche um, aber gut, sie würde noch abwarten, wie die Nacht in diesem Spiel aussah. Hannes verbrachte die Nacht nicht damit, im Unterschlupf zu schlafen. Er grub unter der Erde nach Erzen, um sich eine Rüstung zu bauen. Das entnahm Alina seinen wirren Worten. Am nächsten Tag legte er ein Feld an und Alina verließ ihren unbequemen Stuhl, zog eines der Bücher aus ihrer Tasche und machte es sich auf Hannes’ Bett gemütlich. Ab und zu blickte sie noch auf den Monitor, aber spätestens als Hannes aus drei Weizen auf seiner Werkbank ein Brot herstellte, war sie mit ihrer Geduld am Ende. Ein Pfadfinderspiel? Mitnichten!

Heute nicht, danke

Hannes sah von seinem Monitor auf und stellte fest, dass Alina nicht mehr neben ihm saß. Er drehte sich nach ihr um und sah sie in ein Buch vertieft auf seinem Bett liegen.

»Hey!«, rief er. »Du wolltest mir doch zusehen.«

Alina klappte ihr Buch zu. »So habe ich das nicht gesagt. Mir war langweilig und du hast mich ignoriert. Ich habe drei Kapitel gelesen, bevor du gemerkt hast, dass ich nicht mehr neben dir sitze.«

Hannes speicherte und verließ das Spiel. Auf seinem Stuhl drehte er sich zu ihr um. »Hat dich nicht so richtig überzeugt, was?«

»Hm, lass mich überlegen … ähm … nein.«

Er grinste schief. War ja klar, dass es so einfach nicht werden würde. Er verstand nicht, wo ihr Problem lag. Es war so ein geiles Spiel! Und so unrealistisch war es nun auch wieder nicht. Sie setzte sich auf und legte das Buch zur Seite. »Gehen wir jetzt funken?«

Sein Blick ging zum Fenster. »Jetzt? Es ist schon dunkel draußen und ich habe Hunger.«

»Dunkel ist gut. Und außerdem wird es in der Stadt sowieso nie richtig dunkel. Hey, ich habe deinem blöden Spiel eine Chance gegeben. Jetzt bin ich dran.«

»Okay«, gab er nach. »Aber erst Pizza.«

Erst Pizza war eine gute Idee, denn was Hannes nicht wusste, war, dass es für eine lange Zeit die letzte ordentliche Mahlzeit werden sollte. Er freute sich nicht unbedingt darauf, im Dunkeln herumzulaufen und sich am Walkie-Talkie zum Idioten zu machen, aber er hatte es versprochen und für gewöhnlich hielt er seine Versprechen. Trotzdem wurde er nicht müde, Alina von Minecraft zu erzählen. Himmel, irgendwann musste der Funke bei ihr überspringen! Leider passierte das nicht, und als ihre Teller leer und in die Spülmaschine geräumt waren, rannte sie bereits in den Flur und zog ihre Schuhe an. Er schlüpfte ebenfalls in seine, nahm den Schlüssel und öffnete die Wohnungstür.

»Willst du keine Jacke anziehen?«

Alina hörte sich an wie seine Mutter.

»Wir sind ja hoffentlich nicht lange draußen.«

»Wie du meinst.« Sie drückte ihm eines der beiden Funkgeräte in die Hand. »Ich habe den Kanal voreingestellt. Du solltest den Kanal nicht wechseln, sonst können wir einander nicht mehr hören. Wenn du wechseln willst, zum Beispiel, weil jemand anderes auf der gleichen Frequenz funkt, musst du es ankündigen.«

»Okay.« Er bemerkte selbst, dass er genauso gelangweilt klang wie sie zuvor.

»Mit diesem Knopf kannst du mich rufen. Den hier musst du gedrückt halten, während du sprichst, und loslassen, wenn du mich hören willst. Du beendest einen Funkspruch mit over, wenn du Antwort erwartest, und mit out, wenn du die Funkverbindung beenden willst.«

»Out«, echote er und kassierte einen Rippenstoß von Alina.

»Los, lass uns gehen.« Sie verließen die Wohnung. »Wegen der Hochhäuser werden wir wahrscheinlich keine große Reichweite haben. Schauen wir mal, wie weit wir kommen.«

»Okay. Aber vorher erklärst du mir, warum wir nicht einfach unsere Handys benutzen.«

»Ich habe mein Handy nicht mal mit«, antwortete sie.

Na, zumindest hatte sie eins, dachte er sarkastisch. Draußen war es stockdunkel und wesentlich kälter, als er erwartet hatte. Einen kurzen Moment lang dachte er darüber nach, ob er noch einmal nach oben gehen sollte, um doch eine Jacke überzuziehen, entschied sich dann allerdings dagegen. Er wollte nicht rummemmen.

Alina war nicht mehr zu bremsen. »Ich geh nach links und du nach rechts. Wir treffen uns nach einem weiten Bogen wieder auf dem Spielplatz vor Haus 3e. Einverstanden?«

»Ja, ja.«

Er senkte den Kopf und trottete davon. So was Bescheuertes. Er könnte in seinem Zimmer sitzen und zocken. Stattdessen stapfte er schlotternd durch die Kälte und hielt dieses alberne Ding in der Hand, das plötzlich anfing zu piepsen. Anscheinend versuchte Alina bereits, ihn zu erreichen. Er drückte den Knopf und meldete sich mit: »Ich lebe noch.«

Er ließ den Knopf los und hörte Alinas bissige Antwort: »Ich lebe noch, over!«

»Freut mich, dass du auch noch lebst«, funkte er zurück. »Wir hätten uns so coole Decknamen geben sollen. Wie Funkfuchs 1 an Funkfuchs 2 oder so. Over.«

»Pfadfinderin an Gamerschwachmat, kommen«, konterte Alina.

»Zockergott an Waldnoob: Können wir jetzt wieder reingehen? Over.«

»Was denn? Hast du etwa Angst im Dunkeln? Over.«

So viel Spaß es auch machte, ein bisschen zu frotzeln, wurde Hannes langsam maulig.

»Mir ist arschkalt und da war eben so ein Typ mit Hund, der hat mich angesehen, als wäre ich vollkommen gaga. Das Spiel mag ja im Wald Spaß machen. Zwischen den Hochhäusern ist das verdammt witzlos. Over!«

»Roger. Hab verstanden, Zockerflopp. Treffen uns am Spielplatz. Over.«

Hannes atmete erleichtert auf. Sie hatte ein Einsehen! Beflügelten Schrittes steuerte er den Spielplatz an. Ihm war richtig kalt und er konnte es kaum erwarten, wieder reinzugehen. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Alina ziemlich sauer war. Mit der flachen Hand stieß sie ihn vor die Brust.

»Du bist so ein verdammter Egoist, Hannes!« Er hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. »Zwei Stunden lang habe ich dir bei deinem dämlichen Spiel zugesehen und du hältst nicht mal zehn Minuten durch?«

Hannes war so verblüfft, dass er nichts zu sagen wusste. Ja, da war was Wahres dran an ihren Worten, aber bisher hatte Alina das doch auch mit sich machen lassen. Noch überraschter war er, als sie ihre Jacke auszog und ihm in die Hand drückte.

»Die kannst du überziehen und dann drehen wir noch eine Runde. Verstanden?«

»Was?« Nee, das hatte er ganz sicher nicht verstanden. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Er kam sich wie ein Vollidiot dabei vor, mit dem Walkie-Talkie in der Hand durch die Hochhaussiedlung zu laufen. Das konnte sie unmöglich von ihm verlangen. Verärgert baute er sich vor ihr auf.

»Ich gehe jetzt wieder rein, ob du nun mitkommst oder nicht. Du kannst ja mit dir selber funken. Oder du funkst von draußen nach drinnen. Mir wurscht, aber mein Hintern verschwindet in der Wohnung.«

»Dein Hintern bleibt hier!«, brüllte sie. So wütend hatte er Alina noch nie gesehen. Was war denn bloß in sie gefahren? Auch er kannte kein Halten mehr. Ehe er bis drei zählen konnte, wälzten sie sich über den Boden und zerrten aneinander. Er fasste grob in Alinas Haar und zog daran, während sie ihm ihren Ellbogen in die Rippen stieß. Mit einem matten »Uff« entwich die Luft aus seinen Lungen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Irgendwo in seinem Hinterkopf war eine leise Stimme der Vernunft, die ihn daran erinnerte, dass Alina seine Freundin war und er ihr nicht wehtun sollte, doch die Stimme wurde verschluckt von ihren echten Stimmen, die sich Schimpfwörter zuschrien. Ihre Fingernägel kratzen über seinen Handrücken. Er versuchte, sie von sich runterzubekommen, aber sie war hartnäckig und plötzlich krachten sie mit den Köpfen gegeneinander und dann verschwand die Welt in Finsternis.

Fortgeschrittenes

Handwerk

Uuuh!« Stöhnend kam Alina zu sich. »Hannes? Oh Mann, tut mir leid. Ich bin total ausgerastet.«

Sie konnte nicht richtig sehen. Glänzende Lichtflecken tanzten vor ihren Augen. Unter ihren Handflächen spürte sie Gras. Warum war es so verdammt hell? Sie waren doch auf dem Spielplatz. Es war Abend und unter ihren Handflächen sollte eigentlich Kies sein. Als sie sich aufsetzen wollte, explodierte der Schmerz in ihrem Kopf und sie ließ sich zurück ins Gras sinken. Okay. Erst mal an die Helligkeit gewöhnen. Eins nach dem anderen. Sie stellte fest, dass sie unter einem Baum lag. Das Laub, das entfernt an Birkenlaub erinnerte, bildete ein grünes Dach, durch das gelbes Sonnenlicht fiel. Etwas war jedoch seltsam an diesem Laub. Es war nicht echt. Es wirkte … pixelig? Mit einem Ruck kam Alina in die Höhe, ignorierte ihren protestierenden Schädel, das Schwindelgefühl und die schwarzen Punkte vor ihren Augen. Mit eiserner Willenskraft zwang sie sich auf die Beine und hielt sich wankend an einem Baumstamm fest. Einem Birkenstamm. Einem eckigen Birkenstamm! Scheiße, was war hier los? Eine Welle von Panik schlug über ihr zusammen. Sie merkte, dass sie hyperventilierte, was ihrem ohnehin schon angeschlagenen Kreislauf überhaupt nicht gefiel. Vorsichtig ging sie rückwärts, bis ihr Rücken eng an dem Baum anlag. Sie streckte die Arme nach hinten und legte sie um den Stamm. Die Rinde war rau und fühlte sich tatsächlich nach Birke an. Alina schloss die Augen und zwang sich, ruhiger zu atmen. Die logischste Erklärung war, dass das hier ein Traum war. Sie hatte sich den Kopf angeschlagen, lag ohnmächtig auf dem Spielplatz und träumte. Das war ein beruhigender Gedanke, aber Alina wäre nicht Alina, wenn sie nicht weiterdenken würde. Nur mal angenommen, dass das hier kein Traum war, dann sollte sie das Ganze ernst nehmen. Und dazu gehörte, sich zunächst einmal ganz genau umzusehen. Sie atmete noch einmal tief durch und schlug die Augen auf. Da war sie, die Minecraft-Welt, die sie auf Hannes’ Bildschirm gesehen hatte. Es war nicht bloß ein einzelner Baum, den jemand nachgebaut und neben ihr aufgestellt hatte, um sie zu ärgern. Nein. Das Pixelige betraf alles. Sie stand auf einem seichten Hügel. Links von ihr wuchsen Pfingstrosen, vor ihr war die Wiese gesprenkelt mit gelbem Löwenzahn. Neben den Birken wuchsen ein paar Eichen. In etwas weiterer Entfernung konnte sie Wasser sehen, ein paar sehr befremdliche Kaninchen und drei größere Tiere, vielleicht Esel, deren Anwesenheit Alina fast um den Verstand brachte. Sie war in dieser Welt nicht allein. Diese Welt war bevölkert von Tieren, und wenn sie Hannes’ Minecraft-Welt in dieser Hinsicht so ähnlich war, würde es auch die anderen Wesen geben, von denen er gesprochen hatte: die Monster. Sie hatte sich von diesem Schrecken noch nicht erholt, als ein Geräusch sie zusammenzucken ließ. Es war ein Piepsen. Ein Piepsen, das ihr nur zu vertraut war. Ihr Walkie-Talkie! Hektisch sah sie sich um und entdeckte ihr Funkgerät einige Schritte entfernt. Mit einem Satz war sie da, riss es hoch und drückte auf den Knopf.

»Hannes?«

Aus dem Lautsprecher knisterte und knarzte es. Dann konnte sie Hannes hören. Sie erkannte ihn auf Anhieb, obwohl er nichts sagte. Er weinte. Heftige Schluchzer tönten aus dem Walkie-Talkie.

»Hannes, rede mit mir. Wo bist du? Bist du verletzt? Geht es dir gut?« Und nach einer kurzen Pause: »Over.«

»Du warst das!«, hörte sie seine vorwurfsvolle Stimme. »Du hast mich bewusstlos geschlagen, deine Pfadfinderfreunde angerufen und mich in den Wald gebracht. Wo bist du, Alina?«

Pfadfinderfreunde? Wald? Wovon zum Teufel sprach er da?

»Nichts von alldem habe ich getan. Ehrlich, ich schwör’s dir. Aber … du bist in einem Wald? In einem Pixelwald?«

Oh Gott, bitte, lass Hannes hier bei mir sein, flehte sie.

»Pixel? Bist du irre? Nein. Ein echter Wald. Ein verdammter, dunkler, scheißunheimlicher Wald. Mit Tannennadeln und Erde und Gestrüpp. Und überall Käfer und Ameisen und Spinnen. Das ist nicht lustig, Alina! Ich will sofort nach Hause!«

Oh nein! Hannes war nicht bei ihr, doch anscheinend war er ebenso wenig wie sie in der Realität. Überleben im Wald. Und sie: Überleben in einem Computerspiel. Irgendetwas hatte sie die Rollen tauschen lassen. Das war irgendeine schräge Form von Prüfung. Ob nun real oder nicht, ob mit Magie oder Special Effects, sie waren hier und mussten irgendwie nach Hause finden.

»Hannes«, sagte sie ernst. »Ich weiß, du wirst mir das nicht glauben, aber ich stecke genauso fest wie du. Ich bin wie du bewusstlos gewesen und aufgewacht bin ich in dieser völlig verrückten, völlig unmöglichen Welt, die aussieht wie in deinem Computerspiel. Bitte, Hannes. Du hast erzählt, der Tag hier hat nur dreizehn Minuten und in der Nacht kommen die Monster. Wenn ich das richtig überblicke, wird es bei dir zumindest länger hell sein als bei mir. Du musst mir jetzt einfach glauben und mir helfen, und anschließend werde ich dir helfen. Ich verspreche dir, ich hole dich da raus. Ich bringe uns beide nach Hause. Du musst mir glauben!«

Stille. Unerträgliche Stille. Würde sie umgekehrt ihm eine solche Geschichte glauben? Vermutlich nicht. Nervös leckte sie sich über die Lippen. War der Funkkontakt etwa abgebrochen?

»Hannes?«

»Ja«, hörte sie und es klang jetzt etwas gefasster. »Ja, ich bin da. Und ja, hier ist es hell und dem Gesang der Vögel nach zu urteilen ziemlich früh. Also werde ich dir helfen.«

»Dann glaubst du mir?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Das spielt fürs Erste keine Rolle. Ich brauche deine Hilfe. Du behauptest, du brauchst meine. Also helfe ich dir. Over.«

Sie schluckte. Sie hatte sich schon häufiger mit Hannes gestritten, aber noch nie so heftig wie zuvor auf dem Spielplatz. Dass er ihr nach diesem Streit zutraute, ihn im Wald ausgesetzt zu haben, war vielleicht verständlich, dennoch verletzte es sie. Nach einem kurzen Zögern funkte sie zurück: »Habe verstanden. Womit fange ich an? Over.«

Hannes antwortete nicht gleich. Womöglich musste er selbst erst mal überlegen oder war sich nicht sicher, ob sie ihm nicht doch einen Streich spielte. Endlich hörte sie seine Stimme: »Einen Baum fällen. Du solltest einen Baum fällen.«

Alina schaute sich um. Bäume hatte sie genug zur Auswahl, allerdings war ihr schleierhaft, wie sie einen davon fällen sollte. Schließlich hatte sie keine Axt oder Säge zufällig dabei. In seinem Spiel hatte Hannes den Baum mit der flachen Hand zerlegt. Würde das auch hier funktionieren? Zur Sicherheit fragte sie nach: »Wie soll ich denn einen Baum fällen?«

»Linke Maustaste«, gab er zurück. Alina spürte Verzweiflung in sich aufbranden. Offenbar hatte Hannes den Ernst der Lage nicht erfasst.

»Hier gibt es keine Maustasten, Hannes. Es gibt nur mich und diese blöde Pixelwelt!«

Sie wartete keine Antwort ab. Sie hatte eine ungefähre Ahnung, was Hannes antworten würde, und sie wollte nicht erneut streiten. Außerdem lief ihr die Zeit davon. Also stellte sie sich vor einem Baum auf und begann, auf den Stamm einzuschlagen. Es ging verblüffend schnell. Pixel wirbelten auf wie Holzspäne und plötzlich war das unterste Segment des Baumes verschwunden. Ein perfekter kleiner Birkenholzwürfel landete in Alinas Hand. Sogar Jahresringe konnte sie erkennen, obwohl es hier eher Jahresquadrate waren. Erstaunt stellte Alina fest, dass der Rest des Baumes in der Luft schwebte, doch sie gönnte sich keine Zeit, darüber zu staunen, und arbeitete weiter, bis sie einen Stapel von fünf Holzwürfeln hatte.

»Baum gefällt«, vermeldete sie. »Was nun?«

»Und du verarschst mich auch wirklich nicht?«

Alina bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Nein. Tue ich nicht. Ich muss die Holzwürfel in Bretter verwandeln, richtig? Wie mach ich das?«

»Mit E öffnest du dein Inventar.«

Alina ballte die freie Hand zur Faust. Am liebsten hätte sie Hannes geschüttelt. Sie zwang sich zur Ruhe, merkte aber, dass sie so langsam sprach, als hätte sie einen Idioten am anderen Walkie-Talkie: »Hannes, hier gibt es keine Tastatur! Was soll ich tun?«

Schweigen. Dann: »Keine Ahnung.«

Alina kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren. Pixel. Bilder. Comic. Zeichentrick! Ja, das könnte klappen. Wenn sie das Inventar aufmalte, so wie eine Comicfigur ein Loch an die Wand malte und hindurchging, konnte sie vielleicht damit arbeiten.

»Beschreib mir das Inventar!«, rief sie in ihr Funkgerät. Zum Glück protestierte Hannes dieses Mal nicht: »Es ist ein graues Fenster. Oben links sind vier Felder für die Rüstung. Helm, Brustpanzer, Hose und Stiefel. Untereinander. Daneben ist ein Bild deiner Spielfigur und daneben ein Fenster, ein Quadrat mit vier einzelnen Quadraten. Darüber steht Handwerk. Ein Pfeil nach rechts und dann wieder ein kleines Quadrat. Du musst das Holz in einen der vier Handwerkslots legen.«

»Okay.« Alina legte das Funkgerät weg. Sie ging auf die Knie und begann, am Gras zu rupfen. Zu ihrer Überraschung landete ein brauner Erdwürfel neben ihr, aber sie schenkte ihm nur kurz Beachtung. Die freigelegte Erde interessierte sie viel mehr. Sie legte noch etwas mehr frei, dann zeichnete sie mit ihrem Zeigefinger das von Hannes beschriebene Quadrat in die Erde. Daneben den Pfeil und ein weiteres Quadrat. Alina atmete tief durch und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, während sie die Holzwürfel in eines der vier Quadrate legte. Vor Schreck hätte sie beinahe aufgeschrien. Die Holzwürfel verschwanden aus dem Quadrat und neben dem Pfeil erschien ein Stapel aus zwanzig Holzbrettern.

»Jaaa!«, stieß sie triumphierend aus. Sofort hatte sie das Funkgerät wieder in der Hand. »Habe Bretter. Was nun?«

»Vier Bretter ergeben eine Werkbank. In jedem Feld ein Brett.«

»Verstanden.«

Alina nahm die Bretter aus dem Quadrat und legte vier davon in ihren Handwerksbereich. Sofort erschien die Werkbank, ein hölzerner Kasten, auf dem ein Quadrat mit neun Feldern aufgezeichnet war. Fasziniert strich Alina mit den Fingern darüber. Das Holz wirkte bearbeitet. Geschliffen, geölt und poliert. Die Felder waren so groß, dass sie problemlos ihre Würfel darin ablegen konnte, und sie war zuversichtlich, dass es genauso funktionieren würde wie ihre Zeichnung am Boden.

»Okay. Werkbank steht. Was brauche ich als Nächstes?«

»Stöcke. Zwei Holzbretter ergeben vier Stöcke.«

Alina stellte sie her. Die Werkbank funktionierte ganz wunderbar. Vor ihren Augen verwandelten sich die Bretter in Stöcke. Als Nächstes erklärte Hannes ihr, wie sie eine Spitzhacke und eine Schaufel baute, und dann schickte er sie auf die Suche nach Steinen und Kohle, und Alina begann zu graben.

Fang an zu ackern!

Auch Hannes fing an zu graben. Eine flache Grube für ein Feuer, hatte Alina gesagt. Es war sein Glück, dass sie ihm kurz vor ihrem Streit ihre Jacke in die Hand gedrückt hatte, denn darin befand sich neben ihrem Schweizer Taschenmesser ein zuverlässig funktionierendes Sturmfeuerzeug. Hannes wusste nicht, was er von Alinas Geschichte halten sollte. Einerseits wirkte sie genauso verängstigt und verzweifelt wie er. Andererseits war die Vorstellung, dass sie tatsächlich in einer Minecraft