Psychomotorische Praxis bei Kindern mit Autismus - Sihna Lind - E-Book

Psychomotorische Praxis bei Kindern mit Autismus E-Book

Sihna Lind

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Beschreibung

Die wachsende Anzahl von Kindern mit Autismus stellt auch psychomotorische Fachkräfte vor große Herausforderungen: Welchen Beitrag kann die Psychomotorik bei Kindern mit Autismus leisten? Wie können sie von einem psychomotorischen Setting profitieren und welche Rahmenbedingungen müssen dafür geschaffen werden? Im Mittelpunkt steht die Gestaltung der psychomotorischen Praxis mit dem Fokus auf die Besonderheiten bei Kindern mit Autismus. Es werden sowohl bewährte Methoden und Ansätze aus dem aktuellen Fachdiskurs dargestellt und für psychomotorische Spiel- und Bewegungsanlässe adaptiert als auch spezifische psychomotorische Interventionen vorgestellt. Zusätzlich sind zahlreiche Materialien als Download für die praktische Arbeit verfügbar

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Herausgegeben von Prof.in Dr. Astrid Krus und Aida Kopic

Sihna Lind, Heilpädagogin und Motologin, arbeitet an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Zu ihrem Tätigkeitsprofil am Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung gehört die Mitarbeit an Forschungsprojekten, sowie die Lehre im Bachelor- und Masterstudiengang Psychomotoriktherapie.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03209-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61752-4 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61753-1 (EPUB)

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung/Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von © matimix/stock.adobe.com (Agenturfoto. Mit Models gestellt)

METACOM Symbole im Innenteil in den Abbildungen 10, 11, 12, 13, 15, 18, 20, 21, 23, 24, 36, 37, 38, 43 von © Annette Kitzinger, Oeversee

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Illustrationen Kap.4: Juliane Euler

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Einleitung

1 Ein Schaf, kleine Gesten und soziale Mysterien – Kinder mit Autismus in der Psychomotorik

1.1 Muad: Kleine Gesten mit großer Wirkung

1.2 Franko: Auf der Suche nach Kontakt

1.3 Carlo: Spielen will gelernt sein

1.4 Nele: Ich bin doch kein Schaf!

1.5 Stefan: Ein Kopf voller Ideen

2 Autismus

2.1 Begrifflichkeiten und Diagnosekriterien

2.2 Entstehung und Häufigkeit

2.3 Erscheinungsbild

2.4 Erklärungsansätze zu den Besonderheiten bei Autismus

3 Die Rolle der Psychomotorik bei Kindern mit Autismus

4 Eine Psychomotorikstunde autismusfreundlich gestalten

4.1 Autismusfreundliche Rahmenbedingungen

4.2 Spezialinteressen in der Psychomotorik

4.3 Autismusspezifische Stärken in der Psychomotorik

5 Psychomotorische Praxis bei autismusspezifischen Besonderheiten

5.1 Kommunikation

5.2 Emotionale und soziale Entwicklung

5.3 Spielentwicklung

5.4 Sensorik und Motorik

5.5 Exekutive Funktionen

6 Herausforderndes Verhalten

6.1 Funktionen von herausforderndem Verhalten

6.2 Handlungsfelder bei herausforderndem Verhalten

7 Elternarbeit

7.1 Wenn der Verdacht besteht

7.2 Diagnosestellung begleiten

7.3 Eltern stärken

7.4 Eltern in der Psychomotorikstunde

Literatur

Sachregister

Das Onlinezusatzmaterial zu diesem Buch können Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein. Hier finden Sie das Onlinezusatzmaterial unter den Produktanhängen.

Einleitung

In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Kinder mit der Diagnose Autismus stark zugenommen.

Während man viele Jahre davon ausging, dass von 10.000 Menschen etwa 4 – 5 von Autismus betroffen sind, zeigt eine aktuelle Studie von Shenouda et al. (2023) aus New York eine ansteigende Prävalenz von 0,6 auf 2,3 Prozent zwischen den Jahren 2000 und 2016. Auch im psychomotorischen Arbeitsfeld ist diese Zunahme deutlich spürbar. Immer mehr Kinder mit Autismus werden psychomotorisch begleitet und deren Familien auf ihrem Weg unterstützt. Dieses Praxisbuch richtet sich in erster Linie an die psychomotorischen Fachkräfte, die diese Art der Begleitung und Unterstützung für die Familien in ihrer Tätigkeit umsetzen. Neben diesen Fachpersonen können auch andere Berufsgruppen sowie Eltern und Selbstbetroffene von den Praxisimpulsen und Hintergrundinformationen profitieren.

Seit einigen Jahren ist die Sichtweise und der Umgang mit der Diagnose Autismus im Wandel. Dieser vollzieht sich immer mehr von einer allgemein gültigen, defizit- und krankheitsorientierten Sicht zu einer stärken- und ressourcenorientierten Betrachtungsweise, welche die Einzigartigkeit und Vielfalt von Autismus in den Fokus stellt. Diesem Wandel soll auch im vorliegenden Buch Rechnung getragen werden. Neben den mit Autismus verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen wird ebenfalls den Stärken, Ressourcen und Interessen von Kindern mit Autismus Raum geschaffen. Die Stärkung von vorhandenen Ressourcen eines Menschen ist eines der grundlegenden Prinzipen der Psychomotorik. Daher stützt die psychomotorische Haltung den Wandel einer stärkenorientierten Perspektive auf Erscheinungsbilder wie Autismus. Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Buches ist der Einbezug von Erfahrungsberichten von Menschen mit Autismus, die einen Einblick in das Leben mit autismusspezifischen Besonderheiten ermöglichen. Wer könnte die Besonderheiten von Autismus besser beschreiben als diejenigen, die täglich mit diesen Besonderheiten leben? Zahlreiche WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Autismus und liefern wesentliche Erkenntnisse und Handlungsansätze für die Begleitung von Menschen mit Autismus. Gleichwohl bietet ausschließlich die Perspektive von Betroffenen Einsichten in das Innenleben und die besondere Art der Wahrnehmung, die uns ansonsten verwehrt bleiben würden. Wichtigste Quelle, um Autismus zu verstehen, sind Menschen mit Autismus. Nur sie können beschreiben, wie sich die andere Art der Informationsverarbeitung anfühlt, was passiert, wenn Reize zu viel werden, und wie undurchschaubar und komplex das soziale Miteinander sein kann. Von ihnen können wir lernen, welche Formen der Begleitung und Unterstützung hilfreich sind. Daher werden in diesem Buch viele Menschen mit Autismus zu Wort kommen. Ihre Betrachtung der Dinge soll helfen, Autismus zu verstehen und das eigene Handeln entsprechend zu gestalten. Des Weiteren eröffnet eine andere Sicht neue Blickwinkel und lädt zum Innehalten, Entdecken und Staunen ein. Kinder mit Autismus zu begleiten kann uns manchmal ins Schwitzen bringen, uns vielleicht auch mal zur Verzweiflung treiben, aber in erster Linie ist der Kontakt mit betroffenen Kindern eine große Bereicherung, da sie uns einladen, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten, ganz im Hier und Jetzt zu sein und sich an kleinen, alltäglichen Dingen zu erfreuen.

1 Ein Schaf, kleine Gesten und soziale Mysterien – Kinder mit Autismus in der Psychomotorik

Autismus bedeutet Vielfalt.

Kinder mit Autismus bringen ein breites Spektrum an Besonderheiten mit sich. Kein Kind gleicht dem anderen. Jedes ist einzigartig. Autismus zeigt sich in ganz unterschiedlichen Facetten, was die Arbeit mit betroffenen Kindern besonders macht. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken und zu verstehen. Die Begleitung von Kindern mit Autismus ist eine Einladung in eine andere Welt. Um diese zu betreten, muss man sich über die eigene subjektive Wahrnehmung klar sein und sich bewusst für eine andere Art der Wahrnehmung öffnen. Es lohnt sich. Denn sich zu öffnen bedeutet, den Blick zu weiten und die Perspektive zu ändern. Das bietet die Chance, kleine Dinge groß werden zu lassen und dankbar für scheinbar Selbstverständliches zu sein. Um einen Einblick in die Vielfalt der Diagnose Autismus zu bekommen und mögliche Besonderheiten von Kindern kennenzulernen, werden in diesem Kapitel fünf Kinder mit Autismus vorgestellt. Die beschriebenen Besonderheiten sowie die psychomotorische Arbeitsweise werden in Kapitel 5 erläutert.

1.1 Muad: Kleine Gesten mit großer Wirkung

Der vierjährige Muad besucht einen heilpädagogischen Kindergarten und erhielt bereits mit zwei Jahren die Diagnose Frühkindlicher Autismus.

Muad zeigt eine starke motorische Unruhe. Er rennt ziellos im Raum umher, läuft immer auf Zehenspitzen mit einer hohen Körperspannung, möchte sich nicht hinsetzen, zeigt impulsive, schnelle Bewegungen und verschafft sich starke sensorische Reize, indem er z. B. die Fersen auf den Boden haut oder sich in die Arme kneift. Muad zeigt einen großen Bewegungsdrang und wirft sich immer wieder auf den Boden. Die Kombination mit aggressiven Verhaltensweisen erfordert eine ständige 1:1-Begleitung. Er zeigt selbstverletzendes

3, er zieht sich selbst an den Haaren oder beißt sich in die Finger. Muad verfügt weder über Lautsprache noch über eine alternative Kommunikationsform, seine Kommunikationsfähigkeit ist insgesamt stark eingeschränkt. Blickkontakt nimmt er nur sehr selten und flüchtig auf. Ist er in Bewegung, gibt er viele Laute von sich. Eine Kontaktaufnahme seinerseits findet nur statt, wenn er etwas haben möchte, was außerhalb seiner Reichweite liegt. Er ergreift dafür die Hand der Fachkraft und führt diese zum entsprechenden Gegenstand. Sobald er sein Zielobjekt in den Händen hält, wird der Kontakt wieder abgebrochen. Muad befindet sich in einer sehr frühen Phase der Kommunikationsentwicklung. Wie und wofür er Kommunikation einsetzen kann, hat er noch nicht erkannt. Sein Interesse an anderen Menschen ist noch sehr gering. In der Psychomotorik wird Muad darin unterstützt, Aufmerksamkeit für andere Menschen herzustellen und sich auf erste kleine Interaktionen einzulassen. Nach und nach hat sich sein Interesse für die psychomotorische Fachkraft gesteigert und er beginnt erste Versuche zur Kontaktaufnahme, indem er gezielt Blickkontakt herstellt und über kleine Berührungen die Aufmerksamkeit der Fachkraft gewinnt. Diese kleinen Gesten, die für andere Kinder so alltäglich sind, bedeuten für Muad den ersten Schritt in die soziale Welt. Wie die psychomotorische Arbeit mit Muad gestaltet werden kann, wird in Kapitel 5.1 zur Kommunikation erläutert.

1.2 Franko: Auf der Suche nach Kontakt

Franko ist fünf Jahre alt und besucht integrativ den regulären Kindergarten.

Mit Hilfe von Strukturierungselementen und regelmäßigen Ruhephasen gelingt ihm die Teilhabe an den Aktivitäten im Kindergarten sehr selbstständig. Franko zeigt sich meist fröhlich und ist sehr interessiert an den anderen Kindern. Sein großes Interesse an Fahrzeugen jeglicher Art bietet ihm einen Zugang zu den Kindern. Franko verfügt über gute sprachliche Fähigkeiten und ist in die Gruppe integriert. Während er sich in den angeleiteten Sequenzen am Morgen gut an die sozialen Regeln halten kann, bereiten ihm freie Sequenzen und Übergangssituationen Mühe. Es kommt immer wieder zu Missverständnissen. Grund sind Frankos Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Kindern. Zum Beispiel nimmt er einem Kind Spielzeug aus der Hand, ohne das Kind vorher anzusprechen und danach zu fragen. Er redet sehr viel und gerne. Es kommt vor, dass er sich neben ein Kind stellt und ohne Punkt und Komma spricht. Dabei zeigt er keinerlei Interesse, ob das andere Kind ihm zuhört oder nicht. Franko zeigt sich sehr hilfsbereit. Sobald er sieht, dass ein Kind Schwierigkeiten hat, geht er hin und packt mit an. Allerdings fehlt ihm dabei das Gespür zu erkennen, ob das andere Kind Hilfe möchte. So kommt es vor, dass er Kindern unvermittelt Tätigkeiten abnimmt, diese wütend reagieren, was Franko wiederum nicht nachvollziehen kann – denn er ist der Annahme, er habe ihnen geholfen. In der Psychomotorik kann Franko seine Fähigkeiten zum sozialen Handeln verbessern. Er profitiert von der vermittelnden Rolle der Fachkraft und einer überschaubaren Gruppe. Die psychomotorische Arbeit mit Franko wird in Kapitel 5.2 zum Thema emotionale und soziale Entwicklung vorgestellt.

1.3 Carlo: Spielen will gelernt sein

Carlo besucht die 4. Klasse einer Regelschule.

In der Schule wird Carlo von einer Schulbegleitung unterstützt, die ihm bei der Arbeitsorganisation und der Teilnahme am Unterricht zur Seite steht. Während Carlo mit dieser Unterstützung dem regulären Lehrplan gut folgen kann, bereitet ihm der Kontakt mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern große Schwierigkeiten. Carlo fällt es sehr schwer, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und soziale Botschaften zu erkennen. Aus diesem Grund kann er sein eigenes Verhalten nicht entsprechend anpassen, kommt immer wieder in Konflikte und wird ausgeschlossen. Die sozialen Regeln eines Spiels sind für ihn nicht zu durchschauen. Ein gemeinsames Spiel endet deshalb fast immer mit Missverständnissen und Konflikten. In der Psychomotorik kann Carlo in einem geschützten und geführten Rahmen seine Spielkompetenzen erweitern. Die psychomotorische Praxis wird hierzu in Kapitel 5.3zur Spielentwicklung vorgestellt.

1.4 Nele: Ich bin doch kein Schaf!

Nele wird integrativ in einer 1. Klasse beschult.

Ihre Kommunikation ist sehr zurückhaltend, meist zieht sie sich zurück und beschäftigt sich mit ihrem Lieblingsspielzeug: Schleich Pferden. Dabei wirkt sie sehr zufrieden und ruhig. Aufgrund ihrer auditiven Sensibilität trägt sie den größten Teil des Tages einen Gehörschutz. Neles taktiles System ist ebenfalls von einer Überempfindlichkeit betroffen. Der Hosenbund, ein kratziger Stoff, ein Waschetikett in der Kleidung, zu enge Strümpfe – all das kann für Nele so belastend sein, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf nichts anderes lenken kann. Nele ist daher meist barfuß, mit Leggins und T-Shirt in der Schule unterwegs – egal zu welcher Jahreszeit. Hinsichtlich ihrer taktilen Sensibilität reagiert Nele sehr abwehrend auf Körperkontakt. Eines Morgens sitzt Nele weinend bei ihren Pferden. Die Lehrperson geht auf sie zu und fragt, was los ist. Nele berichtet, dass eines der Pferde verschwunden sei. Daraufhin bewegt die Lehrperson ihre Hand in Richtung Neles Kopf, um sie trösten. Diese schreckt zurück, woraufhin die Lehrperson sagt: „Ich wollte dir doch nur über den Kopf streicheln.“ Nele antwortet: „Ich bin doch kein Schaf!“. Der Umgang mit Berührungen und taktilen Reizen stellt Nele immer wieder vor solche Herausforderungen. In der Psychomotorik sammelt sie wertvolle Erfahrungen in der Regulation von Nähe und Distanz und wird in ihrer Selbstfürsorge für ihren Körper gestärkt. Die taktile Sensibilität schränkt sie im Alltag häufig ein: Bastelarbeiten sind nicht möglich, da der Kleber an den Fingern unerträglich ist; Spiele mit Körperkontakt vermeidet sie und Körperhygiene findet nur unter großem Protest statt. Nele leidet sehr unter diesem Aspekt, da sie kreative Arbeiten eigentlich sehr toll findet und gerne mehr Kontakt mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden hätte. Im psychomotorischen Setting wird Nele Schritt für Schritt an taktile Reize herangeführt. So gelingt es ihr immer mehr, ihre taktile Empfindlichkeit zu regulieren. Der Bezug zur psychomotorischen Arbeit mit Nele wird in Kapitel 5.4 zur Sensorik und Motorik hergestellt.

1.5 Stefan: Ein Kopf voller Ideen

Stefan besucht die 2. Klasse einer heilpädagogischen Schule.

Neben seiner Asperger-Diagnose wurde bei Stefan eine Hochbegabung mit einem IQ von 134 festgestellt. Stefan besucht eine Kleinklasse, da er große Schwierigkeiten im Bereich der exekutiven Funktionen, insbesondere innerhalb der Impulsregulation, zeigt. Es fällt ihm schwer, über einen längeren Zeitraum bei einer Tätigkeit zu bleiben und die eigenen Bedürfnisse aufzuschieben. Durch sein impulsives Handeln gerät er häufig in Konflikte, die er nur schwer allein lösen kann. Stefans große Stärke ist seine Begeisterungsfähigkeit. Wird in der Klasse ein neues Unterrichtsthema eingeführt, möchte Stefan sofort alles darüber wissen und kann sich komplett in das Thema vertiefen. Seine Gedanken, Fragen und Ideen dazu sprudeln dann nur so aus ihm heraus. Aufgrund seiner Beeinträchtigungen in den exekutiven Funktionen ist die Handlungsplanung und damit die Umsetzung seiner Ideen und Gedanken häufig erschwert. Es scheint, als sei sein Kopf schneller als sein Körper. Dies äußert sich derart, dass er seine Handlungsimpulse schwer regulieren kann und Mühe hat, seinen Plan im Kopf Schritt für Schritt mit seinem Körper auszuführen. Diese Themen greift die psychomotorische Fachkraft in der Begleitung von Stefan auf und unterstützt ihn hinsichtlich seiner Selbststeuerung. Die praktische Arbeit zu diesem Bereich wird in Kapitel 5.5 vorgestellt.

2 Autismus

„Autismus ist Segen UND Fluch. Ich bemerke wunderschöne Dinge, wie den Krabbelkäfer im Gras, aber nicht, dass die Wiese, auf der das Gras wächst, ein Fussballfeld ist.“ Andreas, Jugendlicher mit Autismus (Autismus deutsche Schweiz 2022)

In den letzten Jahren hat das Interesse am Thema Autismus extrem zugenommen.

Mit dem erfolgreichen Film Rain Man begeisterte Dustin Hoffman in den 1980er Jahren tausende Zuschauer und sorgte dafür, dass der Begriff Autismus gesellschaftlich bekannt wurde. Mit dem Erscheinen des Films wuchs das Interesse an Autismus stetig und dauert an. Autismus hat sich als bestehender Begriff fest etabliert und ruft bei den allermeisten Menschen Assoziationen hervor. Während im Film Rain Man viele klischeehafte Darstellungen von Autismus präsentiert wurden, weiß man heute, dass die Diagnose Autismus ein hoch komplexes Erscheinungsbild umfasst. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass im Themenfeld Autismus viele Aspekte zu berücksichtigen und längst nicht alle Fragen beantwortet sind. So wie Andreas im obigen Zitat Autismus als Segen und Fluch bezeichnet, werden auch in der heutigen Fachdiskussion sowohl positive als auch negative Aspekte der Diagnose gegenübergestellt. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Sichtweisen und Aussagen von selbstbetroffenen Personen, die über „ihren“ Autismus berichten und uns somit an der Vielfalt des Spektrums teilhaben lassen. Selbstbetroffene waren es auch, die den Begriff neurotypisch für Menschen ohne Autismus prägten. Damit legten sie den Fokus auf den neurologischen Unterschied zwischen Menschen mit und Menschen ohne Autismus. Neurotypisch sagt somit aus, dass ein Mensch über eine typische neurologische Veranlagung verfügt.

2.1 Begrifflichkeiten und Diagnosekriterien

Der Begriff Autismus kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „auf sich selbstbezogen sein“.

Hans Asperger und Leo Kanner verwendeten den Begriff in den 1940er Jahren erstmals in der Beschreibung von Kindern mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Hans Asperger bezeichnete seine kleinen Patienten in Wien als „autistische Psychopathen“ (Asperger 1943, 1) und benannte dabei Charaktereigenschaften wie soziale Unbeholfenheit und eingeschränkte Interessen. Die von Asperger beschriebenen Kinder zeichneten sich aber ebenfalls durch sehr gute sprachliche Fähigkeiten und eine besondere Art zu denken aus. Asperger äußerte sich hierzu: „Die autistischen Kinder haben die Fähigkeit, die Dinge und Vorgänge der Umwelt von neuen Gesichtspunkten aus zu sehen. Diese Gesichtspunkte sind oft von einer ganz erstaunlichen Reife, die Probleme, die sie sich stellen, reichen weit über das hinaus, was anderen Kindern gleichen Alters Inhalt des Denkens ist“ (Asperger 1943, S. 44). Lange Zeit wurden Aspergers Schriften nicht beachtet. Nachdem sie aber ins Englische übersetzt wurden und Lorna Wing (1981) die Arbeiten aufgriff, wurde die Bezeichnung Asperger-Syndrom international bekannt. Beinahe zur gleichen Zeit wie Asperger beschäftigte sich Leo Kanner (1944) in den USA mit Kindern, die zwar auch ein hohes Maß an Selbstbezogenheit zeigten, intellektuell und sprachlich aber starke Beeinträchtigungen aufwiesen. Kanner führte für diese Kinder den Begriff des frühkindlichen Autismus ein, da sich die Symptome, wie stereotype Verhaltensmuster und starke Defizite in der sozialen Interaktion, bereits im frühen Kindesalter manifestierten. Als Synonym für den frühkindlichen Autismus wird häufig der Begriff Kanner-Autismus verwendet. Die von Asperger und Kanner geprägten Begriffe für Formen des Autismus werden in den neu überarbeiteten Diagnosehandbüchern DSM-5 und ICD-11 von einem Sammelbegriff abgelöst: der Autismus-Spektrum-Störung. Bis dahin war es üblich, Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung in verschiedene Subgruppen einzuteilen, wie z. B. Asperger-Syndrom, atypischer Autismus oder frühkindlicher Autismus. Jedoch gab es an diesem Punkt häufig Schwierigkeiten: Während sich die Mediziner zwar in der Diagnose Autismus sicher waren, bestanden oft große Unsicherheiten in der Zuweisung zu einer Subgruppe. Die Ausprägungen der autismusspezifischen Symptomatiken waren so komplex, dass eine klare Trennung innerhalb der Subgruppen nicht möglich war. Dies führte dazu, dass in beiden Klassifikationssystemen die bisherigen Begriffe durch die Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störungersetzt wurden. Zentrale Diagnosekriterien bilden in beiden Systemen die folgenden zwei Aspekte:

1. Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation

2. Repetitive (sich wiederholende) Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen

Im Folgenden werden die jeweiligen Kriterien der beiden Systeme für die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung erläutert.

DSM-5

Das DSM-5 ist das Klassifikationssystem der US-amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie.

Die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ ist hier klassifiziert unter dem Code 299.00. Theunissen (2021, 15 f.) fasst die Diagnosekriterien mit Beispielen wie folgt zusammen:

A. Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg. Erforderlich für eine Diagnose sind hier alle 3 Merkmale:

1. Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit. Diese reichen z. B. von einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitiger Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen oder Affekten bis hin zum Unvermögen, auf soziale Interaktion zu reagieren bzw. diese zu initiieren.

2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird. Diese reichen z. B. von einer schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zu abnormem Blickkontakt und abnormer Körpersprache oder von Defiziten im Verständnis und dem Gebrauch von Gesten bis hin zu einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation.

3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen. Diese reichen z. B. von Schwierigkeiten, das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, über Schwierigkeiten, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen, bis hin zum vollständigen Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen.

B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten. Erforderlich für eine Diagnose sind hier 2 von 4 Merkmalen:

1. Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe, stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder von Sprache (z. B. einfache motorische Stereotypien, Aufreihen von Spielzeug oder das Hin- und Herbewegen von Objekten, Echolalien: Wiederholen von Wörtern, Sätzen oder Geräuschen, idiosynkratischer Sprachgebrauch: eigentümliche Sprache, bei der bestehenden Wörtern neue Bedeutungen zugeordnet werden).

2. Festhalten an gleichbleibenden Abläufen oder an ritualisierten Mustern verbalen oder nonverbalen Verhaltens (z. B. extremes Unbehagen bei kleinen Veränderungen, Schwierigkeiten bei Übergängen, rigide Denkmuster, Begrüßungsrituale oder das Bedürfnis, täglich den gleichen Weg zu gehen oder das gleiche Essen zu sich zu nehmen).

3. Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind (z. B. starke Bindung an ungewöhnliche Objekte, beharrliche Beschäftigung mit Interessen).

4. Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz/Temperatur, ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche, Strukturen oder Oberflächen, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten, visuelle Faszination für Licht oder Bewegungen).

C. Die Symptome müssen bereits in der frühen Entwicklungsphase vorliegen.

D. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

E. Diese Störungen können nicht durch eine intellektuelle Beeinträchtigung oder eine allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden.

Um die Heterogenität des Störungsbildes zu berücksichtigen, hat das DSM-5 weiter drei Ausprägungsgrade für die beiden Kernsymptome (A und B) in Bezug auf den individuellen Unterstützungsbedarf beschrieben:

■ Schweregrad 3: sehr umfangreiche Unterstützung erforderlich

■ Schweregrad 2: umfangreiche Unterstützung erforderlich

■ Schweregrad 1: Unterstützung erforderlich (Theunissen 2021, S. 15 f.)

ICD-11

Die ICD-11 bildet das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Die neu überarbeitete 11. Version ist im Januar 2022 in Deutschland in Kraft getreten und benennt die Autismus-Spektrum-Störung mit dem Code 6A02 wie folgt:

DEFINITION

„Die Autismus-Spektrum-Störung ist gekennzeichnet durch anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie durch eine Reihe von eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind. Der Beginn der Störung liegt in der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können sich auch erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen. Die Defizite sind so schwerwiegend, dass sie zu Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen, und sind in der Regel ein durchgängiges Merkmal der Funktionsweise der Person, das in allen Bereichen zu beobachten ist, auch wenn sie je nach sozialem, erzieherischem oder anderem Kontext variieren können. Personen, die dem Spektrum angehören, weisen ein breites Spektrum an intellektuellen Funktionen und Sprachfähigkeiten auf.“ (BfArM 2022)

Für eine Spezifizierung über die Ausprägung der Symptome wurde in der ICD-11 eine Unterteilung bezüglich der Beeinträchtigungen im Bereich der geistigen und sprachlichen Entwicklung vorgenommen:

Tab. 1: Unterteilung der Autismus-Spektrum-Störung nach ICD-11 (BfArM 2022).

6A02

Autismus-Spektrum-Störung

6A02.0

Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der Intelligenzentwicklung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache

6A02.1

Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der Intelligenzentwicklung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache

6A02.2

Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der Intelligenzentwicklung, mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache

6A02.3

Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der Intelligenzentwicklung, mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache

6A02.4

Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der Intelligenzentwicklung, Fehlen der funktionellen Sprache

6A02.5

Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der Intelligenzentwicklung, Fehlen der funktionellen Sprache

6A02.Y

Sonstige näher bezeichnete Autismus-Spektrum-Störung

6A02.Z

Autismus-Spektrum-Störung, nicht näher bezeichnet

Wie die Klassifikationssysteme zeigen, können die Unterschiede innerhalb der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung enorm groß sein.

Innerhalb des Spektrums befinden sich Kinder, die nur wenig Unterstützung im Alltag benötigen, bis hin zu Kindern, die einen umfassenden Unterstützungs- und Pflegebedarf aufweisen. Wird ein Kind mit einer Autismus-Diagnose für die Psychomotorik angemeldet, lohnt es sich daher in jedem Fall, nicht nur nach der Diagnose, sondern auch nach dem Unterstützungsbedarf des Kindes zu fragen. Weitere Informationen erfolgen hierzu in Kapitel 4.

Die Diagnosestellung einer Autismus-Spektrum-Störung ist aufwändig und komplex, sie sollte daher nur durch speziell ausgebildete Fachpersonen durchgeführt werden.

In der Regel finden Abklärungsverfahren an Kliniken, in Kinder- und Jugendpsychiatrien oder Sozialpädiatrischen Zentren statt. Eine Überweisung erfolgt durch den betreuenden Kinderarzt, der eine Verdachtsdiagnose stellt und zur spezifischen Diagnostik weiterverweist. Fallen Kinder bereits sehr früh durch ungewöhnliche Verhaltensweisen auf, kann eine Diagnose bereits im Alter von zwei Jahren gestellt werden. Bei einem Verdacht auf Autismus ist eine Abklärung in jedem Fall anzuraten. Es gibt deutlich Belege, dass Kinder mit Autismus von frühen Interventionen profitieren und große Fortschritte in allen Entwicklungsbereichen möglich sind. Eine frühzeitige Diagnose ist daher enorm wichtig. Weitere Hinweise zum diagnostischen Verfahren finden sich in Kapitel 7 zum Thema Elternarbeit.

2.2 Entstehung und Häufigkeit

Die Ursachen für die Entstehung von Autismus sind bis heute nicht eindeutig geklärt.

„Gut wissenschaftlich belegte Ursachen sind genetische Risikofaktoren sowie früh wirksame Umweltrisikofaktoren, insbesondere im Rahmen der Schwangerschaft.“ (AWMF 2016, 57)

Weiterhin wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen, dass neuronale Veränderungen im Gehirn bestehen und diese „die wahrscheinliche Basis der sprachlichen, kognitiven und perzeptiven Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen [bilden]“ (AWMF 2016, 57).

Verantwortlich für die Entstehung von Autismus scheint demnach ein Zusammenspiel von verschiedenen Komponenten zu sein. Kamp-Becker/Bölte (2021, 31) benennen hierzu folgende Faktoren, welche beteiligt sein können:

■ genetische Faktoren und Umweltfaktoren

■ körperliche Erkrankungen

■ Hirnschädigungen bzw. Hirnfunktionsstörungen

■ biochemische Anomalien

■ neuropsychologische und kognitive Basisdefizite

Obwohl bezüglich der Entstehung von Autismus noch vieles ungeklärt ist, wurde der Einfluss von genetischen Faktoren durch Zwillings- und Familienstudien deutlich belegt.

Neuere Studien gehen davon aus, dass die Vererbbarkeit bei 40 bis 80 Prozent liegt (AWMF 2016, 57). Bei der Identifizierung von einzelnen Genen sind jedoch nur mäßige Fortschritte zu verzeichnen. Für die große Vielfalt des Erscheinungsbildes mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen könnte ein ebenso komplexes Vererbungsmodell verantwortlich sein. Es wird davon ausgegangen, dass dem Störungsbild eine große genetische Heterogenität zugrunde liegt (Kamp-Becker/Bölte 2021).

In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Autismus-Diagnosen weltweit angestiegen. Die Gründe dafür liegen nach Eckert (2021, 25)

„im deutlichen Zuwachs an Fachwissen, dessen öffentlicher Publikation auf internationaler Ebene sowie der vielerorts erweiterte Zugang zu spezifischen Diagnostikangeboten“ (ebd.).

Kamp-Becker und Bölte (2021) sehen die gesellschaftliche Sensibilisierung für Autismus als wesentlichen Faktor, dass Betroffene sowohl von Pädagoginnen und Pädagogen bzw. von Therapeutinnen und Therapeuten als auch innerhalb des familiären Kontextes früher erkannt und diagnostiziert werden. Neben der Ausweitung der diagnostizierenden Stellen wird ebenso die Verbesserung der Diagnostikinstrumente als möglicher Faktor für den Anstieg der Diagnosen benannt. In der deutschsprachigen Fachdiskussion wird aktuell von einer Häufigkeit von 0,9 bis 1,1 Prozent ausgegangen, d. h., etwa 1 von 100 Menschen ist betroffen – deutlich häufiger das männliche Geschlecht, die aktuelle Studienlage geht von einem Verhältnis von 4–5 (männlich) zu 1 (weiblich) aus (Eckert 2021).

2.3 Erscheinungsbild

Das Erscheinungsbild von Autismus ist bunt und vielfältig.

Den Autisten gibt es nicht. Jeder Mensch mit Autismus unterscheidet sich in seiner Persönlichkeit und seinen autismusspezifischen Besonderheiten von anderen Menschen. Jedes individuelle Erscheinungsbild setzt sich immer wieder neu zusammen. In der Neurodiversitätsbewegung setzt man sich dafür ein, Autismus multidimensional zu denken. Das heißt, Autismus in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Facetten zu betrachten, wie es die folgende Abbildung verdeutlicht.

Abb. 1: Autismus multidimensional gedacht (angelehnt an @Autism_sketches, 2021)

Für jeden Menschen mit Autismus setzt sich das Rad neu zusammen.

Keines gleicht dem anderen und ist für sich einzigartig und besonders. Für ein Umdenken treten auch immer mehr Betroffene ein und entwickeln eigene Positionen zum Umgang mit Autismus. Eine der wohl einflussreichsten Gruppen ist das Autistic Self Advocacy Network (ASAN), welches weltweit ein zeitgemäßes Autismusverständnis einfordert. Die Organisation vertritt sieben autismustypische Merkmale, welche von Theunissen (2020 & 2021) ausführlich beschrieben wurden und im Folgenden zusammengefasst dargestellt werden:

1. Unterschiedliche sensorische Erfahrungen

Menschen mit Autismus weisen oftmals Wahrnehmungsbesonderheiten auf.

Diese zeigen sich sowohl in Hypersensibilitäten (Überempfindlichkeiten) als auch in Hyposensibilitäten (Unterempfindlichkeiten). Betroffen können einzelne oder mehrere Sinnessysteme sein. Orte, an denen viele Reize auf einmal auf die Person einwirken, können bei einer Hypersensibilität besonders herausfordernd sein. Dazu zählen z. B. Einkaufszentren, öffentliche Verkehrsmittel oder Restaurants. Ebenso scheinbar normale Orte wie Kindergarten oder Schule können zu einer sensorischen Überforderung führen. Eine Reizüberflutung kann bei Betroffenen dazu führen, dass sie in Panik geraten und die Situation fluchtartig verlassen müssen. Eine Überlastung kann zu Zusammenbrüchen oder selbstverletzendem Verhalten führen. Bei einer Hyposensibiliät besteht die Möglichkeit, dass Betroffene versuchen, diese über eine intensive Reizsuche zu kompensieren. Dies kann z. B. ein intensives Beschnuppern oder Anfassen von Gegenständen sein. Diese Verhaltensweisen stoßen gesellschaftlich meist auf Unverständnis. Ebenso können heftige Reaktionen aufgrund einer Reizüberforderung in für uns scheinbar harmlosen Situationen Ablehnung auslösen.

2. Unübliches Lernverhalten und Problemlöseverhalten

Menschen mit Autismus entwickeln häufig eigene Lernstrategien und finden alternative Lösungswege.

Dabei nehmen Visualisierungen und logisches Denken einen wichtigen Stellenwert ein. Häufig eignen sie sich selbstständig neue Kompetenzen durch eigene Interessen an und nicht weil andere dies erwarten. Theunissen (2021) spricht hierbei von „Selbstlernern [welche] in ihrem Inneren kaum Impulse [spüren], das zu tun, was ihnen gesagt oder beigebracht wird“ (Theunissen 2021, 24).

Daher sollten selbstständiges Lernen und das Erarbeiten von individuellen Lern- und Lösungswegen vor allem im pädagogischen Kontext anerkannt werden. Die Akzeptanz und der Respekt von unüblichen Vorgehensweisen bildet dabei eine wichtige Basis. Ohne Vertrauen in die persönlichen Fähigkeiten laufen wir Gefahr, Menschen zu unterschätzen und ihnen im schlimmsten Fall Kompetenzen abzusprechen. Der Einbezug von Stärken und Interessen der Person kann zum selbstständigen Lernen anregen und die Person in ihrem Selbstwertgefühl stärken.

3. Fokussiertes Denken und Spezialinteressen

Über Spezialinteressen oder spezifische Stärken bei ihren kleinen Patienten berichteten bereits Kanner und Asperger.

Auch heute weiß man, dass der größte Teil der Menschen mit Autismus spezielle Interessen und Stärken entwickelt. Sie ermöglichen ein Eintauchen in ein bestimmtes Thema oder in eine Sache und somit eine selbstbestimmte Wissensbereicherung. Betroffene berichten, dass sie in der Beschäftigung mit ihrem Interesse eine große Befriedigung erfahren und somit stresshafte Situationen kompensieren können. Damit trägt die Beschäftigung mit einem Spezialinteresse zur Steigerung der Lebensqualität bei. Spezialinteressen sollten daher nicht unterbunden, sondern wertgeschätzt werden.

4. Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster

Hierzu gehören alle motorischen Verhaltensweisen, die als auffällig gelten, da sie von der Norm abweichen.

Dies können repetitive Bewegungsmuster sein, wie z. B. Hände flattern oder Oberkörper schaukeln. Ebenso kann hierzu ein auffälliges Bewegungsverhalten subsummiert werden, das sich z. B. durch eine diffuse Körperwahrnehmung, Koordinationsschwierigkeiten oder Schwierigkeiten in der Ausführung von Bewegungsabläufen zeigt. Vom Umfeld werden diese Verhaltensweisen oft als befremdlich und häufig auch als störend empfunden. Betroffene berichten, dass repetitive Bewegungsmuster als eine Art Selbststimulation der Beruhigung dienen und darüber Stress abgebaut werden kann. Daher ist es von besonderer Wichtigkeit, das Verhalten zu verstehen und richtig einordnen zu können.

5. Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung

In einer von Betroffenen als chaotisch wahrgenommenen Welt bildet das Bedürfnis nach Struktur einen zentralen Aspekt.

Routinen, Ordnung und Beständigkeit schaffen Orientierung und vermitteln Menschen mit Autismus ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit. Hingegen werden Veränderungen und unvorhergesehene Ereignisse oftmals als großer Stressfaktor erlebt. Um dem zu begegnen, wenden Betroffene unterschiedliche Strategien an. Manchmal hilft es, möglichen Szenarien gedanklich durchzuspielen, um sich auf mögliche Abweichungen vorzubereiten. Auch der Einsatz von Strukturierungs- oder Ablaufplänen wird von vielen Menschen mit Autismus als hilfreich empfunden. Alternative Optionen innerhalb der Pläne können die Flexibilität positiv unterstützen.

6. Schwierigkeiten in der Kommunikation

Dieses Merkmal bezieht sich auf die verbale und nonverbale Kommunikation sowie auf das Sprachverständnis und den Sprachgebrauch.

Zu den Schwierigkeiten gehören z. B. das Ausbleiben der Lautsprache, Verzögerungen in der Sprachentwicklung oder Besonderheiten in der Sprache, wie Echolalien, Neologismen (Wortneubildungen) oder eine auffällige Intonation (Sprechmelodie). Ebenso ist ein fehlender oder eingeschränkter Blickkontakt während eines Gesprächs häufig zu beobachten. Vermutlich dient die Vermeidung des Blickkontakts dazu, sich ganz auf die gesprochenen Worte zu konzentrieren und die komplexen, nonverbalen Informationen aus Mimik und Gestik auszublenden. Schwierigkeiten in der Kommunikation können ebenfalls entstehen, wenn der Kommunikationspartner unklare Botschaften sendet. Menschen mit Autismus verfügen häufig über ein wörtliches Verstehen und können nicht gut zwischen den Zeilen lesen. Wenn das Gegenüber nicht klar benennt, was gemeint bzw. die Botschaft ist, können Missverständnisse entstehen.

7. Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren

Die Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion stellen ein wesentliches Merkmal bei der Autismus-Diagnose dar.

Schwierigkeiten zeigen sich darin,

„… soziale Interaktionen zu erfassen, aufrechtzuerhalten oder aufzubauen“ (Theunissen 2021, 28).