Querbeet ins Glück - Lisa Kirsch - E-Book
SONDERANGEBOT

Querbeet ins Glück E-Book

Lisa Kirsch

0,0
9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe geht durch den Garten. Erfolgsautorin Lisa Kirsch (»Das Glück in vollen Zügen«) schreibt beste deutsche Unterhaltung: lebensnah, romantisch und humorvoll. Maddie hat es fast geschafft: Ihr Traumjob als Musicaldarstellerin ist zum Greifen nah. Um richtig Fuß zu fassen, darf sie sich auf keinen Fall ablenken lassen. Doch dann stolpert Maddie durch Zufall in den Gemeinschaftsgarten "Grüne Freiheit". Auf einmal merkt sie, was ihr gefehlt hat: Sie genießt das Gefühl von frischer Erde zwischen den Fingern, freundet sich mit der wilden Lila an und bekommt Herzklopfen, wenn der unverschämt gutaussehende Mo ihr beim Johannisbeeren-Ernten hilft. Aber Maddie kann sich nicht zweiteilen und ihr wird klar: Früher oder später muss sie sich zwischen ihren Gartengefühlen und ihrem Karrieretraum entscheiden. Dieser gutgelaunte Wohlfühlroman ist pures Gartenglück und perfekte Gesellschaft für Lesesessel und Sommerwiese.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 476

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Kirsch

Querbeet ins Glück

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelLeseprobe zu Das Glück...1. Kapitel2. KapitelLeseprobe zu Bleib doch...1. Kapitel

Für Papa

(und seinen Fässchenkühler)

Einer der schönsten Wege zu uns selbst führt durch einen Garten

1

Gabi fiel nicht einfach die Treppe hinunter. Nein, wie immer verlieh sie dem Ganzen eine Spur Extradramatik. Eine volle Kaffeetasse in der Hand stolperte sie über Opa, ihr Angorakaninchen, und segelte im Steilflug die Stufen hinab. Sie überschlug sich, spritzte mit dem Kaffee ein Picasso-würdiges Muster an die Wand, rammte zwei Stangen aus dem Altbaugeländer und landete mit einem dumpfen Knall im Stockwerk unter uns.

Von dem Ganzen bekam ich aber erst einmal nichts mit. Dafür war ich viel zu deprimiert. Das Kinn in die Hand gestützt saß ich vor meiner Kaffeetasse am Schreibtisch, schob mit der linken Hand Stifte in eine exakt parallele Position und fragte mich, ob ich mich schon einmal in meinem Leben so einsam gefühlt hatte. Mit der rechten Hand swipte ich mich durch Bumble und überlegte, ob ich mit Jochen ausgehen wollte, der Frauen am liebsten mit so wenig Schminke wie möglich mochte, oder mit Andre, der zwei Kinder hatte, in einer festen Partnerschaft war und etwas Unverbindliches suchte.

»Ja super, bekrittelt die Frauen noch vor dem ersten Date. Hundert Punkte für Jochen«, murmelte ich und drückte die App weg. Manchmal fragte ich mich, ob Männer nicht vielleicht wirklich von einem anderen Planeten kamen. Das würde zumindest so einiges erklären.

Als es unter mir rumpelte, nahm ich davon keine Notiz. In Berlin-Neukölln rumpelte es öfter mal seltsam, das hatte ich schon gelernt, obwohl ich erst wenige Wochen hier wohnte. Manchmal knallte es auch, besonders nachts, aber Gabi hatte mir erklärt, dass es fast immer Fehlzündungen oder Mülltonnendeckel waren und nur in einem von zehn Fällen ein Schuss. Das hatte mich zwar doch leicht beunruhigt, aber auf der Sonnenallee war es nachts ohnehin so laut, dass ich inzwischen mit Ohrenstöpseln schlief, um den Verkehr nicht zu hören. Andere Geräusche ließen sich schwerer ausblenden. Zum Beispiel, wenn das Pärchen unter mir sonntagabends seinen unverschämt lauten, perfekt terminierten Sex hatte, der immer auf die Tagesthemen um 22.45 Uhr folgte. Ich wusste das genau, weil ich da meistens bei Gabi auf dem Sofa saß und mich neidisch fragte, was eigentlich aus meinem eigenen Sexleben geworden war.

Als jetzt ein dumpfes Stöhnen ertönte, sah ich auf. Seltsam, dachte ich, drehte mich einmal auf meinem Bürostuhl um mich selbst und trank einen Schluck Kaffee. Es ist doch gar nicht Sonntagabend.

»Maddie. Du musst mir helfen.« Gabis Stimme drang aus dem Flur zu mir in die Wohnung. Sie schien außer Atem, und ich sprang sofort auf, froh über die Unterbrechung, die mich aus meiner Depristimmung holte. »Was ist los?«

Neugierig schlidderte ich auf meinen Wollsocken über die Dielen. Als ich ins Treppenhaus spähte und ans Geländer trat, sah ich sofort die stacheligen roten Haare meiner Nachbarin – und seltsamerweise einen Fuß, der neben ihr an der Wand lehnte.

»O Gott, beweg dich nicht.« Ich eilte die Stufen hinab. Gabi saß in verdrehter Position da und sah benommen zu mir auf. Das Bein, das neben ihr an der Wand lehnte, gehörte aber zum Glück nicht ihr, sondern einer Schaufensterpuppe, die nackt und in ihre Einzelteile zerschmettert um sie herum auf dem Boden lag.

Gabi schnaufte. »Wollte in den Keller. Hab Opa nicht gesehen!«

»Und du hattest dieses riesige Ding plus eine Kaffeetasse in der Hand?«, fragte ich skeptisch und betrachtete den braunen See und die Flecken an der Wand. »Warum wolltest du Heinz überhaupt in den Keller bringen?«

Heinz war besagte Schaufensterpuppe. Bisher hatte er bei Gabi im Wohnzimmer auf der Couch gesessen und Besucher erschreckt. Gabi passte ganz wunderbar zu Berlin, sie war schräg, eigenwillig und man erkannte ihren Charme hinter der rauen Fassade erst nach näherem Hinsehen. Genau wie bei unserem Altbau übrigens.

»Hab auf dem Flohmarkt was anderes fürs Sofa gefunden.« Gabi versuchte, sich aufzusetzen.

Ich konzentrierte mich darauf, mir nicht vorzustellen, welche neue Monstrosität sich hinter dieser vagen Beschreibung verbergen könnte, und packte sie am Oberarm. Aber als sie ihr rechtes Bein bewegte, öffnete Gabis Mund sich zu einem erstaunten O. Sie riss die Augen auf und gab ein Krächzen von sich.

»Tut es weh?«, fragte ich überflüssigerweise, und sie warf mir einen wenig freundlichen Blick zu. »Soll ich den Krankenwagen rufen?«

»Um Himmels willen, jetzt bleiben die Pferde mal aufm Teppich.«

»Lass mal sehen!« Ich ging in die Knie. Mit Fußverletzungen und Prellungen aller Art und Farbe kannte ich mich bestens aus – das war sozusagen Teil meiner Jobbeschreibung.

»Griffel weg, da ist nüscht!« Gabi schlug entschieden meine Hände beiseite und zog sich stattdessen an mir in die Höhe.

Ächzend half ich ihr die Stufen hinauf.

»Räum das eben kurz wech, ja?«, bat sie mich, als wir oben ankamen. »Und sammel Opa für mich ein. Der Arme hat einen ordentlichen Schrecken bekommen.«

Ich entdeckte den Hasen, der in einer dunklen Ecke auf der Türmatte der Sonntags-Sex-Nachbarn kauerte. Als ich ihn auf den Arm nahm, entfuhr mir ein leises Ächzen. Opa war ein Riesen-Angorakaninchen und wog gut neun Kilo. »Na, du Whopper. Jetzt bist du fürs Leben traumatisiert, was?«, flüsterte ich mitleidig in eines seiner Elefantenohren und presste ihn an mich, denn er begann sofort protestierend zu strampeln.

Ich schleppte Opa in Gabis Küche zurück, dann ging ich wieder nach unten und sammelte die Geländerteile und die Gliedmaßen der Puppe ein. Als ich die letzten Reste von Heinz und der kaputten Kaffeetasse zusammenfegte, hörte ich aus zwei der drei umliegenden Wohnungen Geräusche. Es war einfach typisch für diese Stadt: Niemand kam auf den Flur, um zu sehen, was passiert war. Denn dann müsste man ja vielleicht helfen. Hier kümmerte sich jeder nur um seinen eigenen Scheiß. »Als ob ihr den Knall nicht gehört hättet«, murmelte ich in Richtung Kehrblech. Sicher hatten alle kurz durch ihren Türspion geschaut und schon vorher entschieden, dass sie das nichts anging. Das machte Berlin mit einem. Es gab einfach zu viele Leute mit zu vielen Problemen.

Ich schmiss die Geländerteile in die Mülltonne und die Puppenteile im Keller auf einen Haufen alter Fahrräder. Als es hinter mir leise quiekte, rannte ich wieder nach oben und warf die Tür hinter mir zu. Wenn ich ehrlich war, ich machte drei Kreuze, dass Heinz endlich auszog. Er hatte mich immer ein bisschen gegruselt.

 

Meine Wohnung lag ganz oben im fünften Stock eines Berliner Altbaus, der vorne auf die Sonnenallee und hinten auf einen grauen, nach Urin stinkenden Hof hinausging. Wenn ich nach Hause kam, wusste ich manchmal nicht, was ich schlimmer fand, die hupende, überfüllte Straße oder den dunklen Hof. Das Haus aber mochte ich. Die ausgetretene Holztreppe ächzte bei jedem Schritt wie ein alter Mann, im Eingang empfingen einen verblasste Buntglasfenster und mitgenommene Fresken. Auf halber Treppe zwischen den Stockwerken befand sich jeweils eine kleine Tür in der Wand, hinter der sich eine uralte, zugemüllte Kloschüssel verbarg. Dieses glorreiche Ambiente aus vergangenen Zeiten setzte sich in den Wohnungen nahtlos fort – meine zwei Zimmer waren, gelinde gesagt, extrem marode. Doch mit den alten Dielen und den hohen Fenstern waren sie auch sehr gemütlich. Man durfte nur nicht zu genau hinsehen. Vor dem Winter hatte ich ein bisschen Angst, aber jetzt war April und die Einmalverglasung der Fenster noch kein Problem.

Eine Flügeltür verband meine Küche mit Gabis Wohnzimmer. Genau wie das Haus war auch Gabi ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, allerdings wusste ich nicht so genau, aus welcher. Wahrscheinlich den Sechzigern, von den Haaren her würde das passen. Sie lebte streng vegan, war seit vierzig Jahren treue Solariumsgängerin und ähnelte in mancher Hinsicht einem chinesischen Faltenhund. Ihr Gemüt war allerdings mehr Chihuahua. Gabis Berliner Kodderschnauze hatte mich anfangs immer wieder zusammenzucken lassen, aber man erkannte schnell, dass sie ein sehr großes, sehr weiches Herz hatte, mit einer rauen, bunten, faltigen Schale drum rum. Sie war seit zwanzig Jahren glücklich geschieden und hatte damals, wie sie mir gerne und oft erklärte, ihren nichtsnutzigen Mann postwendend zu seiner Mutter zurückgeschickt, wo er ihrer Meinung nach hingehörte.

Statt eines Mannes hatte Gabi jetzt Opa.

Über uns war nur noch der Dachboden, und so hatte sie dem Hasen auf dem Flur eine Art Außengehege eingerichtet, das er durch eine überdimensionale Katzenklappe erreichte, wenn es ihm in der Wohnung zu langweilig wurde. Ich vermutete, dass die Klappe eigentlich für Rottweiler oder Hunde ähnlicher Größe geschaffen worden war. Ein Zaun war nicht nötig, denn praktischerweise hatte Opa Angst vor Treppen. Das Gehege hatte den Nachteil, dass das ganze Haus nach Hase roch. Da es aber Gabis Haus war, konnte niemand darüber meckern. Wenn ich meine Wohnung verließ, musste ich aufpassen, dass ich Opa nicht quer durch den Flur schleuderte, falls er gerade in seinem Außengehege saß. Meistens war er aber eh drinnen unterwegs. Er presste sich gerne durch die Flügeltür und kam zu mir rüber. Das machte mir nichts aus, ein stinkender Riesenhase war immer noch besser als gar keine Gesellschaft. Und Opa war sehr umgänglich.

 

»Das wird blau!«, sagte ich fachmännisch, als ich zurück in Gabis Küche war, und drückte mit zwei Fingern vorsichtig gegen das geschwollene Fleisch. Sie zuckte zusammen, winkte aber ab. »Ne Schramme!« Als improvisierte Kühlung hatte sie eine Schokoeispackung in einen Lappen gewickelt, den sie gegen ihren Knöchel presste. In ihrem ersten Leben, vor ihrer Zeit als Hasenmutter, war Gabi im Osten Krankenschwester gewesen. Ich dachte manchmal, dass ich sehr froh darum war, diese Zeit nicht selbst miterlebt zu haben. Natürlich machte sie das zu der größeren Verletzungsspezialistin von uns beiden. In meinem Job waren Verletzungen eher eine Begleiterscheinung.

»Von Knochenbrüchen kann man sterben!«, prognostizierte ich munter und setzte Wasser auf. Ich wusste schon, dass das jetzt eine längere Prozedur werden würde. »Da läuft dann Flüssigkeit aus und gerät in deine Blutbahn und dann kriegst du eine Sepsis.«

»Hier ist nichts gebrochen. Dafür hab ich jetzt überhaupt keine Zeit«, erwiderte sie entschieden, als wäre die Sache damit geklärt.

»Ach so. Ja, na dann.« Ich lächelte wohlwollend und stellte Zucker und Hafermilch auf den Tisch. Gabi und ich hatten in den wenigen Wochen, die wir nun schon nebeneinander wohnten, eine eigenwillige Freundschaft entwickelt. Es bleibt nicht aus, dass man sich näherkommt, wenn die Tür, die eigentlich zwei Wohnungen voneinander trennen sollte, nicht ganz schließt. Wir waren beide froh über die Gesellschaft. Gabi war tagsüber fast immer in ihrem Gemeinschaftsgarten (oder im Solarium), und ich trainierte und hatte Gesangsstunden. Aber abends, wenn die Dunkelheit gegen die Fenster drückte, schob ich meist mit einer Packung Kekse unterm Arm die Flügeltür auf. Dann saß ich zwischen ihr und Heinz auf der Couch, sie löste Sudokus, ich aß Prinzenrolle oder strickte, und wir schauten eine seltsame Talkshow und lästerten über die Frisuren der Gäste. Wenn Gabi irgendwann über ihrem Rätselheft eingenickt war und ich in meine Wohnung zurückschlurfte, fragte ich mich oft, ob ich von nun an für immer meine Abende mit einer Frührentnerin und ihrem Hasen verbringen würde. Gabi war wunderbar, aber es sollte doch in jedem Leben einen Zwischenschritt geben, der Altersheim und Studium voneinander trennte.

Dass ich hier keine Freunde hatte und noch niemanden in Berlin kannte, hatte entscheidend dazu beigetragen, dass ich die baufällige, aber dennoch heißbegehrte Wohnung bekam. »Du erwartest nicht viel Durchgangsverkehr, oder?«, hatte Gabi gesagt und mich mitleidig angeschaut. »Genau das suche ich.«

Überhaupt keinen Verkehr, dachte ich jetzt traurig. In den Wochen, die ich jetzt schon in Berlin war, hatte außer mir, Gabi und dem Techniker, der die Therme in der Küche wartete, niemand einen Fuß in meine Wohnung gesetzt.

 

Wir tranken eine Tasse Krümelkaffee, und ich sah dabei zu, wie Gabi immer blasser wurde. Ich kannte sie noch nicht lange, aber ich wusste, dass sie sich erst mal aus Prinzip gegen alle guten Ratschläge, doch einen Arzt aufzusuchen, sträuben würde.

Also sagte ich nichts.

Wir plauderten vor uns hin, und ich beobachtete über meinen Tassenrand hinweg, wie sich ihr Gesicht von weiß zu grünlich färbte. »Tut’s vielleicht doch weh?«, fragte ich irgendwann vorsichtig.

Aber Gabi war noch nicht so weit.

»Wir müssen den Rhabarber verarbeiten!« Sie zeigte auf eine Kiste neben der Tür, die überquoll mit der Aprilernte aus ihrem Garten.

Ich seufzte leise. Sie wollte also wirklich so tun, als ob nichts wäre. Wie stur konnte man sein?

»Vielleicht ein Kompott.«

»Kompott ist wunderbar.« Genüsslich trank ich einen Schluck Kaffee. Ich konnte warten.

Nach zwei Ibuprofen und einer längeren Diskussion darüber, ob Rhabarberkuchen oder Rhabarbermarmelade sinnvoller wären, gab sie zähneknirschend zu, dass sie sich höchstwahrscheinlich den Daumen gebrochen hatte und es vielleicht doch gar keine so schlechte Idee wäre, den Notarzt zu rufen. Dass einer ihrer Knöchel trotz der Eispackung auf die doppelte Größe angeschwollen war, gestand sie erst ein, als ich sie darauf hinwies, dass er aus ihrem Hausschuh herauszuplatzen drohte.

»Ihre Mutter?«, fragte der junge Sanitäter, der Gabi kurz drauf auf eine Trage verfrachtete.

»Zum Glück nicht.« Ich nahm meine Jacke vom Haken. »Fallen Sie nicht über den Hasen!«, rief ich, als die Männer Gabi aus der Wohnung trugen.

 

Nachdem ich fünf Stunden in einem eisigen Wartezimmer gesessen hatte, durfte ich zu ihr ans Bett. Sie sah immer noch bleich aus, ihr Bein hing in einer Schlaufe, der rechte Daumen war eingegipst. »Diese elenden Stümper. Ich muss in Reha. Hab mir die Hüfte verdreht. Hat man so was schon gehört?«

Betroffen ließ ich mich auf den Besucherstuhl fallen. Das bedeutete für mich einsame Abende auf meiner Klappcouch und das Ende unserer Krümelkaffeepläuschchen.

»Und danach muss ich zu meiner Schwester. Sie sagen, es wird Monate dauern, bis ich wieder auf dem Dampfer bin. Wie soll ich da in den fünften Stock kommen.« Bekümmert presste sie die Lippen zusammen. »Hermine ist eine grauenvolle Köchin. Kauft ihr Gemüse beim Netto, kannst du dir das vorstellen? Wir werden uns gegenseitig zerfleischen.«

Ein Pfleger kam herein, und Gabi richtete sich zu voller Größe auf. »Verstehen Sie eigentlich, wie ungelegen das alles für mich kommt, junger Mann?«, schnauzte sie.

Er zuckte zusammen, sah erst sie, dann mich mit angstvoll geweiteten Augen an.

Ich hob hilflos die Schultern und er verließ rückwärts das Zimmer. »Äh, ich bringe gleich das Abendessen«, murmelte er und verschwand. Man konnte es ihm nachfühlen, wenn Gabi in schlechter Stimmung war, versteckte sich sogar Opa unterm Bett. Sie warf dann gerne mit saftigen Beschimpfungen um sich, die sich auf alles bezogen, was ihr in diesem Moment zwischen die Finger kam. Wutjekeife nannte man das wohl auf Berlinerisch.

»Unfähig, allesamt unfähig. Was hier rumläuft, kannste direkt in die Tonne kloppen. Wenn ich das mit früher vergleiche …«

»In der DDR war alles besser«, erwiderte ich trocken, und sie gab mir einen spielerischen Klaps auf den Arm. »Na, det nun och nich jerade.« Seufzend ließ sie sich zurück in ihr Kissen fallen, und ich sah in ihrem Blick, wie traurig sie war.

»Ich kann auf Opa aufpassen«, versicherte ich, und sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Opa ist nicht das Problem. Er kommt klar.« Sie nahm meine Hand und sah mich eindringlich an. »Maddie. Du musst den Garten für mich machen!«

»Garten?« Entsetzt wich ich zurück. »Aber Garten kann ich nicht!«

Gabi hörte mir gar nicht zu. »Sie verlassen sich auf mich. Ich kann doch nicht monatelang einfach nicht kommen. Wie denkst du dir das?«

Ich wollte ihr sagen, dass ich mir gar nichts dachte, weil das nicht mein Problem war, aber sie sprudelte schon weiter. »Ich habe dem Ulli versprochen, dass wir zusammen das Immergrün umtopfen.« Bekümmert schüttelte sie den Kopf. »April ist so eine wichtige Zeit für die Bohnen. Wir haben doch so viel vorgezogen.« Plötzlich richtete sie sich wieder auf und hätte mir dabei mit dem Bein in der Schlinge beinahe eine Kopfnuss verpasst. »Pass auf, in drei Wochen müsst ihr umsetzen, vier spätestens. Merkst du dir das?« Eindringlich sah sie mich an. »Du packst einfach das Vlies ins Beet und dann die Ballen drauf. Und dazwischen den Mais, dann habt ihr eine gute Mischkultur.«

Ich blinzelte, zu schockiert, um etwas zu erwidern. Mein Exfreund Lennard hatte immer gesagt, dass ich mich von allen rumschubsen ließ, klarere Grenzen setzen musste. Ich biss mir auf die Lippen bei dem Gedanken, wie er gucken würde, wenn er jetzt hier wäre.

»Die Steckzwiebeln musst du einweichen. Über Nacht, das ist ganz wichtig. Zimmerwarm. Wenn es noch zu kalt ist, machst du das am besten daheim, sonst kannst du alles wegwerfen. Der Ulli zeigt dir das schon.«

Bei dem Gedanken an kübelweise Zwiebeln, die in meiner kleinen Wohnung vor sich hin weichten, regte sich in mir stärkerer Widerstand. »Du weißt doch, dass es bald losgeht am Theater. Ich werde für nichts mehr Zeit haben«, setzte ich zaghaft an. Ich war einfach nicht gut mit Konfrontationen. Besonders nicht bei Menschen wie Gabi. Sie war wie eine rothaarige Dampflok.

Gabi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann nach den Proben. Du hast doch ohnehin nichts vor am Wochenende. Du kennst doch hier niemanden. Und im Sommer sind die Abende lang. Es ist ja nicht oft, zwei- oder dreimal die Woche. Und vielleicht sonntags zum Gemeinschaftsessen. Höchstens.«

Was soll ich sagen. Lennard hatte schon recht gehabt. Ich konnte keine Grenzen setzen. Und es stimmte ja: Ich kannte hier niemanden.

 

Als ich mit der S-Bahn nach Hause fuhr und die Lichter der Stadt durch mein Spiegelbild im Fenster rauschten, zog ich mein Handy aus der Tasche und versuchte, Ella zu erreichen. Stirnrunzelnd betrachtete ich den auf und ab hüpfenden Hörer. Ich hatte sie heute schon zweimal angerufen, und bisher kein Mucks, nicht mal eine Nachricht bei WhatsApp. Klar muss auch eine beste Freundin nicht immer erreichbar sein, aber sie hatte sich in letzter Zeit wirklich nicht zerrissen, um in Kontakt zu bleiben. Genauso wenig wie die anderen. Eine Weile beobachtete ich mein durchsichtiges Ich in der dunklen Scheibe, dann öffnete ich unsere Mädelsgruppe. Leute, haltet euch fest: Ich werde jetzt Kleingärtnerin!

Als niemand reagierte, holte ich die Kopfhörer aus meiner Umhängetasche und machte einen Podcast an.

In meiner Wohnung angekommen zog ich als Erstes die Schiebetür auf, damit Opa rüberkommen konnte. Es war seltsam still ohne Gabi. Einen Moment starrte ich auf den Kaktus auf meinem Schreibtisch, der klägliche Versuch, etwas Farbe in mein Leben zu bringen. »Den kriegt niemand kaputt«, hatte die Verkäuferin im Blumen-Holländer gesagt. Ich trat näher, nahm den Kaktus hoch und beäugte ihn kritisch.

Er hatte braune Stellen.

 

Nachdem ich Opa drei Möhren gewaschen hatte, ging ich joggen, machte ein paar halbherzige Yoga-Verrenkungen und nutzte Gabis Abwesenheit, um unter der Dusche aus vollem Hals meine Stimmübungen herauszuschreien (nehmt das, Sonntags-Sex-Nachbarn!). Während ich Zähne putzte, holte ich den Kaktus und hielt ihn als Letzte-Hilfe-Maßnahme ein bisschen unter den Wasserhahn.

Später ging ich in ein Handtuch gewickelt und mit Creme im Gesicht in meinem Zimmer umher und räumte Sachen an ihren Platz, als mein Handy surrte. Es war Kira: Echt jetzt? Aber alle deine Pflanzen sterben!

Ich warf dem Kaktus einen Blick zu. Nicht ALLE!, schrieb ich zurück.

Noch war er ja nicht tot.

Hoffentlich gibt’s nen heißen Gärtner in deinem Garten.

Ich schätze, der Altersdurchschnitt wird bei fünfundsechzig liegen, habe also große Hoffnungen, erwiderte ich.

Na, du stehst ja auf Oldies.

Die Lieder! Nicht die Männer!

Wir quatschten eine Weile, und an den blauen Pfeilen sah ich, dass auch Ella und Simone die Nachrichten gelesen hatten. Aber keine von ihnen schrieb etwas, und bald erstarb auch meine Unterhaltung mit Kira. Sie lernte nebenher und gab immer einsilbigere Antworten.

Das Alleinsein machte mich unruhig. Opa war herübergekommen und hatte sich neben mir ausgestreckt. Ich war froh, dass er mir Gesellschaft leistete, und streichelte ihm den haarigen Bauch. Alles fühlte sich so seltsam an. Die Stadt pulsierte draußen vor den Fenstern und machte meine Wohnung klein und dunkel. So weit oben schien mir mit einem Mal alles ganz weit weg. Ich ging umher und knipste alle Lampen an, dann kochte ich mir einen Pfefferminztee, setzte mich an meinen Küchentisch und schrieb meine Liste für den kommenden Tag. Sobald ich den Stift ansetzte, merkte ich, wie das Kribbeln in meinem Körper sich langsam beruhigte.

Irgendwann zwischen meinem neunzehnten und meinem zweiunddreißigsten Lebensjahr hatte ich gemerkt, dass ich Erwachsenwerden wahnsinnig überwältigend fand. So sehr, dass ich manchmal das Gefühl hatte, in meinen Ängsten und Sorgen zu ertrinken. Oft überkam mich dieses Gefühl nicht in Situationen, in denen andere sich überwältigt fühlen würden, sondern in Momenten wie diesem, in dem ich mit einem Hasen in meiner Wohnung saß, Tee trank und eigentlich nichts passiert war. Manchmal überforderten mich selbst Kleinigkeiten wie Staubsaugen. Meine Mutter nannte es »den Stress«. »Hast du wieder den Stress?«, fragte sie, wenn sie meinem Gesicht ansah, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte Mitleid mit mir, nahm es aber nicht wirklich ernst. Wie sollte sie verstehen, wie es in diesen Momenten in mir aussah? Ich verstand es ja selber nicht. Es machte auf den ersten Blick keinen Sinn, dass ich Musicaldarstellerin war. Auf der Bühne performten wir vor Hunderten von Zuschauern. Aber auf der Bühne war ich nicht Maddie. Auf der Bühne war ich die Figur, die ich spielte.

Und das machte mich frei.

Im Alltag jedoch war ich eben doch bloß Maddie. Madita Wunderlich, zweiunddreißig Jahre alt, schlecht mit Pflanzen und ab und zu etwas überfordert mit ihrem Leben.

Ich hatte meine Methoden gefunden, um mit diesen Momenten umzugehen. Stricken zum Beispiel. Vor ein paar Jahren hatte ich damit angefangen und mich vollkommen im Flow der Maschen verloren. Eine Leidenschaft, die ich mit Ella teilte. Ich war süchtig. Den Beutel mit meinem aktuellen Projekt hatte ich immer und überall dabei, mein Instagram zeigte beinahe ausschließlich Strickbilder, der Korb neben meinem Bett quoll über von Wollknäueln und halbfertigen Pullovern, und ich hatte schon so manche Haltestelle verpasst, weil ich, einen Podcast auf den Ohren, beim Maschenzählen alles um mich her vergaß.

Die Listen waren ein anderer Weg, um den Stress ein wenig händelbarer zu machen. Wenn ich Dinge aufschrieb, verschwanden sie aus meinem Kopf. Ich hatte dann das Gefühl, die Welt ein bisschen besser im Griff zu haben, ein bisschen mehr Ordnung hineinbringen zu können. Wenn ich die Probleme aufs Papier bannte und in Kategorien aufteilte, konnten sie mich nicht überwältigen.

 

Nachdem ich eine Einkaufsliste gemacht hatte, eine Liste von Dingen, die in der Wohnung noch zu tun waren, und eine Liste von Sachen, die ich für Opa besorgen wollte (vornehmlich Möhren und Knabberstangen), ging es mir schon deutlich besser. Ich zog ein altes T-Shirt von Lennard an, das ich ihm nie zurückgegeben hatte, weil es so gemütlich zum Schlafen war, und öffnete kurz das Fenster, um ein wenig frische Luft ins Zimmer zu lassen. Natürlich war das sehr positiv gedacht. Was hereinkam, waren Hupen und Hundegebell. Aber irgendwie mochte ich es ja auch, dieses Brummen Berlins. Sosehr es eben meine Isolation betont hatte, sosehr gab es mir jetzt das Gefühl, weniger allein zu sein.

Ich kuschelte mich zu Opa, presste meine lackierten Zehennägel in sein warmes Fell und kaute an meinem Bleistift. Jetzt kam die wichtigste Liste. Ich schrieb sie jeden Abend vor dem Einschlafen. Eine Liste mit all den kleinen Dingen, die den Tag schön gemacht hatten. Sie half mir, mich auf das zu besinnen, was wirklich zählte. Manchmal, wenn ich alles in Frage stellte, holte ich mein Glücksheft heraus und blätterte es durch. Das beruhigte mich sogar noch mehr als Stricken. Heute allerdings musste ich ziemlich lange überlegen, bis mir überhaupt etwas einfiel.

Tagesglücke

Papa-Telefonat

Neuer Corall-Nagellack

Heinz ist endlich runter vom Sofa

Auflaufreste von gestern

Opa-Übernachtung

Mandarinenkuchen in der Krankenhaus-Cafeteria

Es war eine etwas klägliche Liste, das musste ich zugeben. Ich schrieb noch: Vollmond dazu, damit die Seite nicht so leer aussah. Dann blickte ich eine Weile zum Mond hinauf, der stumm über den Berliner Dächern stand, und schickte in Gedanken eine kleine Wunschliste zu ihm in den Nachthimmel. Ich bat darum, dass ich hier irgendwann ankommen würde. Dass mit meinem neuen Job alles klappte. Dass ich Freunde fand. Nicht mehr so verdammt alleine war in dieser riesigen Stadt, in der es unmöglich war, Menschen kennenzulernen.

Es war viel verlangt, aber vielleicht konnte der Mond da ja irgendwas drehen. Schließlich war er imstande, das Meer anzuheben, da sollten meine Wünsche doch eigentlich eine Kleinigkeit sein.

Ich seufzte und knipste das Licht aus. Dann knipste ich es wieder an, nahm mein Heft und schrieb: Mein Kaktus lebt noch.

Man muss schließlich positiv denken.

Natürlich gab es auch viele negative Dinge, die ich hätte aufschreiben können. Wie still es in der Wohnung war, zum Beispiel, jetzt wo ich Gabi nicht hinter der Schiebetür herumgehen hörte. Dass der Mond zwar schön war, mich aber auch traurig machte. Weil er da so einsam am dunklen Himmel herumwanderte und mich an mich selbst erinnerte und daran, wie allein ich war. Dass meine Beziehung kaputt war. Dass Ella nicht zurückgerufen hatte. Dass ich mich auf die Zeit am Theater freute, aber auch wahnsinnige Angst davor hatte. Dass mir ein Adoptivhase und ein Gartenjob aufgehalst worden waren und mich alleine der Gedanke an eine Meute von keifenden Berliner Kleingartenrentnern in Schweiß ausbrechen ließ.

Aber ich schrieb die negativen Dinge nie auf.

Wozu ihnen noch mehr Raum geben?

2

Ich mochte die Stadt. Doch wirklich, Berlin war toll. Voller Leben, bunt, laut, anders als alles, was ich kannte. Aber manchmal dachte ich, dass hier ausschließlich Irre wohnten.

Als ich aus dem Bus stieg, wurde ich beinahe von einem Fahrrad umgemäht. »Pass doch auf!«, brüllte der Mann mit den Avocado-Socken und den Dr. Martens, als ich panisch zurückhüpfte und dabei fast in die sich schließende Bustür gesprungen wäre. Das »blöde Schlampe« kam erst zwei Sekunden später hinterher.

Ich würde mich nie dran gewöhnen, wie biestig die Menschen hier waren.

»Pass halt selber auf!«, rief ich, allerdings etwas leiser, so dass die umstehenden Menschen sahen, dass ich mir nichts gefallen ließ, aber auch keine Gefahr bestand, dass er es hörte und vielleicht umdrehte.

In Berlin musste man genau schauen, mit wem man sich anlegte.

Ich hatte eine kleine Palette mit Stiefmütterchen vom Netto auf dem Arm und versuchte, mein Handy so darauf zu balancieren, dass ich die Blüten nicht zerquetschte und gleichzeitig dem kleinen blauen Pfeil von Google Maps folgen konnte. Gabi hatte mir schon gesagt, dass der Ort, zu dem ich hinmusste, nicht eingezeichnet war, da er offiziell nicht existierte. Aber die Gartenanlage nebenan schon. Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Natur war wunderbar, ganz klar. Aber städtische Kleingartenkolonien kannte ich noch von meinen Großeltern, und das strikte Regiment, das dort herrschte, war meiner Meinung nach das bisschen Grünzeug nicht wert. Der Gedanke an meine Großeltern ließ mich lächeln. Es war schon ein schräges Paralleluniversum, in dem sie da gelebt hatten. Das Karomuster der Hollywoodschaukel entsprach dem der Sonnenliegen, und die Mützen der Gartenzwerge wurden jeden Frühling neu lackiert. Aber sie hatten sich eine kleine grüne Ecke in der Welt eingerichtet und es dort geliebt. Die Erinnerungen an sie und ihren Garten gehörten einer längst vergangenen Zeit an, in die ich mich manchmal schmerzhaft zurücksehnte. Besonders jetzt. Echte Natur suchte man hier in Berlin umsonst. Es gab zwar viel Grün und jede Menge Parks, aber die beherbergten Generationen von Rattenfamilien und dienten als Klo für nächtliche Partyheimkehrer.

 

Es war ein lauer Frühlingstag und von den Parzellen drifteten Kinderlachen und Fetzen eines Helene-Fischer-Songs zu mir herüber. Offenbar war die Gartensaison trotz der frischen Brise bereits in voller Fahrt. Als ich die Pforte öffnete, blieb mein Blick an einem verglasten Kasten hängen. Ein Briefaushang des Berliner Kleingarten e.V.s: Achtung: Heckenhöhenrückschnitt! Der Text darunter ermahnte dringendst, sich an die im Pachtvertrag festgelegten Heckenhöhen zu halten. Ein anderer erinnerte daran, die Mülltonnen nicht mehr als einen Tag vor der Entleerung an die Straße zu bringen und sie auch ja zeitnah wieder abzuholen. Ein dritter betonte, dass auch Rentner nicht von der zu verrichtenden Allgemeinarbeit ausgeschlossen waren und die Errichtung überdachter Freisitze nicht den unterschriebenen Pachtbedingungen entsprach.

Es hatte sich nichts geändert. Auch bei meinen Großeltern hatte es solche Anschläge gegeben. Der Rasen durfte eine Höhe von acht Zentimetern nicht überschreiten, sonst setzte es Bußgelder, und es gab einen Blockwart, der jeden Tag seine Runden zog und nachschaute, ob die Zucchini auch nicht in die falsche Richtung wuchsen.

»Seht ihr, deshalb ist das hier nichts für mich«, flüsterte ich in Richtung meiner Stiefmütterchen. »Ich hab schon genug Regeln in meinem Leben, an die ich mich halten muss.«

Ich mochte Regeln. Ähnlich wie meine Listen hielten sie das Leben in – geregelten – überschaubaren Bahnen. Aber wenn es zu viele wurden, kippte es ins Gegenteil und schnürte mir den Hals zu, dann war ich nur noch mit der Sorge beschäftigt, ob es mir gelang, sie alle einzuhalten. Mein Innenleben war kompliziert, man konnte es nicht anders beschreiben.

Der blaue Pfeil hatte mich bis hierher geführt, konnte mir nun aber nicht mehr weiterhelfen. Ich betrat die Gartenanlage und ging den ordentlich geharkten Weg entlang, der zwischen den Parzellen hindurchführte. Als ich auf einer der Terrassen eine Bewegung sah, winkte ich und rief: »Entschuldigung. Kennen Sie sich hier aus?«

Das war wohl eine etwas dämliche Frage.

Aber dämliche Fragen waren meine Spezialität.

»Tachchen!« Der Mann kam auf mich zu und schob seine Brille nach oben.

»Ich suche den Gemeinschaftsgarten«, erklärte ich. »Bin ich hier richtig?«

»Det Kollektiv?« Der Kleingärtner runzelte die Stirn und begutachtete mich von oben bis unten, als würde er finden, dass mein Äußeres nicht zu meinem Ziel passte. Sein Blick blieb etwas zu lang auf meinen nagelneuen, gelb glänzenden Gummistiefeln hängen, und ich trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Als ich vor zwei Tagen über den Flohmarkt am RAW-Gelände geschlendert war, hatte ich die Stiefel mitgenommen, weil alle meine Schuhe mir für einen Garten unbrauchbar vorkamen. Aber nun fühlte ich mich in diesen steifen Dingern, die noch dazu bei jedem Schritt leise quietschten und irgendwie aussahen, als würde ich mit meiner Kindergartengruppe einen Ausflug machen, auch nicht so richtig wohl. Und seinem Blick nach zu urteilen, war das hier tatsächlich nicht der passende Dresscode.

»Die haben eigentlich ihren eigenen Eingang da hinten. Aber da wird momentan gebaut, jetzt muss man hier durch. Einfach umme Hecke da drum rum, dann läufst du geradeaus drauf zu.«

»Alles klar, vielen Dank.« Ich wollte mich schon umdrehen, aber der Mann öffnete plötzlich die Pforte und trat zu mir auf den kleinen Weg hinaus. Er trug beige Shorts und Adiletten. »Ich bin der Rainer. Dat sind ja prächtige Veilchen. Gibt’s gerade bei Netto im Angebot, stimmt’s? Wollte auch noch rüber und mir welche holen.«

»Veilchen?« Ich blickte auf meine Palette. »Sind das etwa gar keine Stiefmütterchen?«

Rainer hob die Augenbrauen. »Na, ich sach mal so: Stiefmütterchen sind Veilchen. Aber Veilchen keine Stiefmütterchen.« Er lachte schallend und entblößte dabei eine Reihe nicht sehr ansehnlicher Plomben.

Nun war es an mir, die Augenbrauen zu heben. »Aha«, erwiderte ich trocken.

Kleingartenhumor.

Genau mein Ding.

»Komm, ick zeich es dir.« Ehe ich wusste, wie mir geschah, schob er mich in seinen Garten hinein und an dem Gerüst einer Hollywoodschaukel und einer ganzen Batterie an Keramikzwergen in den seltsamsten Posen vorbei auf einen Kübel zu, der die Terrasse von der Wiese abtrennte. Er war zum Platzen gefüllt mit Stiefmütterchen. Rainer blieb davor stehen und man sah den Stolz in seinen Augen. »Sind alles Wittrockianas. Winterhart. Ist ja noch ein bisschen früh im Jahr für anderes, der Bodenfrost kann uns immer noch ein Schnippchen schlagen, aber mich prickelts immer in die Finger. Sobald wir den Weihnachtsschmuck wegräumen, will ich loswerkeln. Na, du kennst dat sicher. Schön, das Lila mit dem Gelb, nich? Meine Frau mag ja Geranien, aber ick sach immer, mit Veilchen kannste nichts falsch machen.«

Es folgte ein mindestens fünfminütiger Monolog über Balkonpflanzen und ihre Eigenarten, von dem ich nur die Worte »vollsonnig« und »Humusboden« im Kopf behielt. Als Rainer irgendwann Luft holte, quiekte ich hastig: »Wie interessant. Was man nicht alles über Balkonpflanzen lernen kann. Ich bin übrigens Maddie. Und muss leider weiter, sie warten drüben auf mich.«

Meine Ohren klingelten.

Rainer nickte ein wenig enttäuscht und brachte mich zur Pforte zurück. »Komm wieder vorbei, wir grillen ab Mai jeden Abend, Cordula und ich.«

»Das klingt toll!«, flötete ich und dachte, dass ich meinen Wunsch nach Freunden vielleicht etwas hätte spezifizieren sollen. Offensichtlich hatte der Mond da was falsch verstanden.

»Ach Moment!« Plötzlich blieb Rainer stehen. »Dann kannst du ja gleich Inge mit rüber nehmen. Sie verliert immer die Orientierung und landet bei uns. Ich habe das Gerenne langsam satt, bin ja kein Postbote.«

Verdattert sah ich zu, wie er hinter dem kleinen Haus verschwand und stellte mir vor, dass er gleich mit einer verwirrten alten Frau am Arm wiederkommen würde.

Aber als er wenig später um die Ecke bog, hielt er ein Huhn in den Händen.

Ich trat zwei Schritte zurück. »Äh, Sie meinen doch nicht etwa, dass ich …«, stotterte ich entsetzt, aber Rainer steuerte direkt auf mich zu. »So! Bitte schön.« Er setzte mir das Huhn mitten auf die Stiefmütterchen, und ich erstarrte vor Panik, als Inges kleine stechende Augen plötzlich nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt waren. »Bestell den Hippies nen Gruß. Das nächste Mal landet sie auf dem Grill.«

Ich starrte ihn wortlos an, und als ich nicht reagierte, wünschte er mir einen schönen Tag, wiederholte seine Einladung und stiefelte davon. »Ich muss unbedingt ’nen Maschendraht vormachen«, hörte ich ihn noch murmeln. »Toleranz jut und schön, aber irgendwann tanzen mir hier die Bettwanzen an der Decke!«

Ich hielt Inge so weit es ging von mir weg und brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, wie ich in dieser seltsamen Situation gelandet war. Mitten in Berlin erwartete man doch wirklich nicht, plötzlich ein Huhn in den Arm gedrückt zu bekommen. »Okay … Bitte hack mir nicht die Augen aus«, flüsterte ich, während ich mit kleinen Schritten langsam rückwärtsging. »Braves Huhn, ganz braves Huhn!«

Eines war klar, ich würde diese Palette in hohem Bogen von mir schleudern, sollte Inge auch nur den kleinsten Mucks von sich geben. Hühner fand ich sehr idyllisch, wenn ich sie irgendwo auf einer Wiese rumpicken sah. In meiner Nähe brauchte ich die scharfen Schnäbel allerdings nicht.

Ich kam etwa drei Meter weit, da flatterte Inge mit den Flügeln, und als ich panisch aufschrie, sprang sie mir von der Palette und rannte mit großen Schritten davon. »Nein, warte!«, rief ich. »Nicht zurück! Rainer macht doch Nuggets aus dir!«

Inge dachte gar nicht daran, auf mich zu hören, sie flitzte geradewegs dahin zurück, wo sie hergekommen war. Ich schnitt ihr den Weg ab und versuchte, sie mit meiner Palette zu scheuchen. Wir führten einen kleinen Stepptanz auf und an dem Kinderlachen aus einem benachbarten Garten konnte ich ablesen, wie bescheuert wir dabei aussehen mussten.

»Ums Eck und dann links rum!«, kam die Stimme von Rainer über die Hecke, der unseren Eiertanz ebenfalls amüsiert beobachtete.

»Ja, du mich auch«, murmelte ich und ignorierte ihn. Irgendwann schaffte ich es tatsächlich, Inge den Rückweg abzuschneiden und sie zwischen Gartentor und Buchsbaum einzukesseln. Sie blieb stehen und legte misstrauisch den Kopf in den Nacken. »Das gefällt mir genauso wenig wie dir«, erklärte ich, als unsere Blicke sich duellierten, und fragte mich, wann dieses Huhn eigentlich mein Problem geworden war.

Plötzlich fiel mir ein, dass ich noch einen Müsliriegel in der Tasche hatte. Schnell holte ich ihn hervor, brach einen kleinen Brocken ab und warf ihn Inge hin. Sie betrachtete ihn genauso misstrauisch wie zuvor mich und verschlang ihn dann mit einer einzigen gezielten Bewegung ihres Schnabels.

»Ok, so kriegen wir das hin.« Erleichtert begann ich, langsam um sie herum zu gehen, wobei ich ihr immer wieder kleine Happen hinwarf. Dabei gackerte ich leise und rief in einem Ton, den ich für hühnerfreundlich hielt: »Na komm, puttputtputt. Beweg deinen kleinen Federhintern. Puttputtputt! Ich hoffe, Datteln sind für Hühner nicht giftig, puttputtputt.«

Und was soll ich sagen, Inge folgte mir wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln. Langsam bog ich rückwärts um die Ecke. Als ich mich umdrehte, standen wir vor einem Brombeergestrüpp. Auf einem Holzschild las ich in schiefen, bunten Pinselstrichen: »Grüne Freiheit«.

Ich atmete auf und öffnete schnell das quietschende Tor. »So, jetzt aber ohne Widerrede! Freiheit heißt nicht, dass du einfach kommen und gehen kannst, wie es dir passt«, befahl ich, und Inge schien an meinem Ton zu hören, dass ich es ernst meinte, denn sie lief vorwurfsvoll gackernd, aber ohne zu protestieren, an mir vorbei.

Als ich eintrat, sah ich sofort, dass meine Stiefmutterveilchen hier wahrscheinlich nicht besonders gut ankommen würden. Erstaunt hielt ich inne. Es war, als hätte jemand die aufgeräumte Kleingartenanlage, durch die ich gekommen war, einmal durch den Mixer gequirlt und ihre Einzelteile dann fröhlich über eine Wiese geschüttet. Eine Reihe bunter Zirkuswagen stand um eine Feuerstelle herum, auf einer Apfelwiese luden regenbogenfarbene Stühle und Tische zum Verweilen ein, und überall wucherte und blühte es. Das Gelände fiel sanft zu einem leise murmelnden Bach hin ab, Dutzende Gemüsebeete verteilten sich in nicht erkennbarer Ordnung ins Panorama. Hühner liefen durchs Bild und pickten auf der Wiese herum. Über allem ragten hinter den Bäumen zwei riesige weiße Hochhäuser aus der Peripherie Neuköllns wie stumme Wächter in den Himmel, und das entfernte Quietschen der S-Bahn erinnerte daran, dass wir noch immer in der Stadt waren.

Fasziniert ging ich über die Wiese auf ein windschiefes Gebäude zu, das offensichtlich einmal eine Gärtnerei gewesen war. »Tofuräucherei« stand auf einem Schild über der Tür. Ich dachte an die Currywurst, die ich eben noch beim Netto an der Eckbude gegessen hatte.

Bevor ich alles in mich aufnehmen konnte, zupfte mich jemand am Ärmel. Überrascht schrie ich auf und ließ schon wieder die Palette fallen.

Ein kleiner blonder Junge blinzelte mich hinter dicken Brillengläsern hervor an. »Ich kenne dich nicht«, stellte er freundlich fest und entblößte eine beachtliche Zahnlücke.

Ich hob meine Blumen auf, die inzwischen ziemlich ramponiert waren, und lächelte ihn an. »Stimmt. Ich dich auch nicht.«

»Bringst du den Pferdemist?«

»Sehe ich so aus, als würde ich Mist bringen?« Ich fand die Frage ein bisschen unverschämt.

Er bemerkte meine Empörung und kicherte. »Ich weiß nicht, wie sieht man denn aus, wenn man Pferdemist bringt?«

»Na, jedenfalls nicht so wie ich«, erklärte ich entschieden und musste grinsen. »Ich bringe die hier.« Mit meinem Kinn zeigte ich auf die Veilchen. »Und das Huhn da habe ich auch mitgebracht. Es war bei den Nachbarn.«

Inge schien zu hören, dass über sie gesprochen wurde, denn sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu mir herüber. Ich zeigte warnend zwischen ihr und dem Tor hin und her. »Denk nicht mal dran. I am watching you!«

»Inge!« Der Junge nahm das Huhn in den Arm und kuschelte sein Gesicht in Inges Federn, als wäre sie sein liebstes Stofftier. Als Antwort schmiegte Inge sich an seinen Hals und schloss genussvoll die Augen. Verdattert sah ich den beiden zu. »Äh … Ist das nicht … ein bisschen gefährlich? So mit dem Schnabel?«, fragte ich. Der Junge blickte verwirrt zu mir auf, ohne dass er sein Gesicht aus ihren Federn nahm. Er schien keine Ahnung zu haben, wovon ich sprach.

Plötzlich ertönte hinter mir eine dunkle Stimme. »Na, da seid ihr zwei ja wieder vereint.«

Ich fuhr herum. Ein Mann kam auf uns zu. Er war etwa in meinem Alter, hatte die gleichen weißblonden Haare wie der Junge, trug eine fleckige Jeans, einen Kapuzenpulli und Arbeiterstiefel. Und er sah so gut aus, dass ich einen erstaunten Laut von mir gab. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, hier irgendwas anderes als verschiedene Ausgaben von Rainer vorzufinden.

»Zerquetsch sie nicht, Elvis!«

»Sie gackert, wenn ich zu fest drücke«, erwiderte der Junge schulterzuckend und küsste das Huhn vorsichtig auf den Hals.

Ich fand die Szene gleichzeitig rührend und ziemlich seltsam.

»Hallo, ich bin Madita. Aber alle nennen mich Maddie.« Unter meiner Palette streckte ich dem Mann eine Hand hin, und er ergriff sie mit einem warmen Lächeln. »Freut mich, ich bin …« Gleichzeitig traten wir einen Schritt aufeinander zu, und mein Fuß landete mit voller Wucht auf seinem Stiefel. »O Gott, Scheiße, Entschuldigung!« Hastig trat ich zurück und hätte um ein Haar erneut die Veilchen fallen gelassen.

Er lachte und hielt mit einer Hand die Palette fest, bis ich mich wieder gefangen hatte. »Kein Ding. Die Schuhe haben eine Stahlkappe. So, jetzt noch mal richtig?« Er hielt mir auffordernd die Hand hin. Seine Finger starrten nur so vor Erde. Der Händedruck war rau und herzlich, aber ich wischte mir danach trotzdem unauffällig die Hand an der Jeans ab. Er sah es, und ich lief rot an. Was für einen wunderbaren ersten Eindruck ich abgeben musste.

»Ich bin Moritz. Aber alle nennen mich Mo. Das ist mein Sohn Elias, aber ihr habt euch ja schon bekannt gemacht, wie ich sehe.«

»Ich heiße Elvis!«, rief der Junge dazwischen.

Mo lächelte erst ihn an und dann mich. Etwas in meinem Magen flatterte. Er sah wirklich verboten gut aus. Da hätte Gabi mich ja mal warnen können, dachte ich und versuchte mich so zu stellen, dass er nicht auf meine badeentengelben Gummistiefel aufmerksam wurde.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Gabi hat schon erzählt, dass du kommst. Willkommen bei uns.«

»Danke«, erwiderte ich und lächelte. »Ich wurde schon für eine Pferdemistlieferantin gehalten. Dabei habe ich leider nur die hier im Angebot.« Ich hielt ihm die Blumen hin. Er nahm sie und schien nicht so genau zu wissen, was er damit sollte. »Ah, schön …«, sagte er gedehnt, und ich fühlte den Zwang, mich zu erklären. »Ich wusste nicht, was man so mitbringt in einen Gemeinschaftsgarten.«

Jetzt lachte er. »Du musst nichts mitbringen. Aber die sind wunderbar, die können wir in die Kübel am Wagen pflanzen, da ist noch Platz!«

Ich wusste, dass er das nur sagte, damit ich mich besser fühlte. Eine Sekunde musterte ich ihn unauffällig, er hatte grüne Augen und einen Bart, der trendig ausgesehen hätte, wenn der Rest an ihm nicht so deutlich gezeigt hätte, dass er es darauf nicht anlegte.

»Papa, kann ich zu Ulli?« Elvis hatte Inge wieder auf den Boden gesetzt und lief im Kreis um uns herum. Er schien ein ziemliches Energiebündel zu sein. Ich schätzte ihn auf etwa sieben Jahre.

»Na sicher, warum zeigst du Maddie hier nicht ein bisschen den Garten?« Mo wuschelte seinem Sohn über den Kopf. Mir wäre es entschieden lieber gewesen, wenn er die Führung selbst übernommen hätte. Keine Väter, Maddie, ermahnte ich mich selbst. Das bringt nur Unglück. In Gedanken setzte ich Mos Namen ganz oben auf meine Hätte-gerne-aber-geht-nicht-Liste, noch über Schokomüsli und Ryan Gosling. Schokomüsli, weil ich dabei jedes Mal völlig entgleiste und man bei fünfhundert Kalorien pro Portion einfach keine vier Packungen in der Woche essen konnte. Ryan Gosling, weil … nun ja.

Hätte gerne.

Aber geht nun mal nicht.

Ich entschied schnell, dass man mit jungen, gutaussehenden Gärtnervätern so umgehen sollte wie mit Schokomüsli. Am besten gar nicht anfassen, dann geriet man auch nicht in Versuchung. Und sicher wuselte hier irgendwo auch noch die Frau herum, die zu den beiden gehörte und wahrscheinlich genau wusste, dass Stiefmütterchen Veilchen waren und Hühner nicht gefährlich.

»Ich führe dich dann nachher noch ein bisschen rum, wenn du magst, und stelle dir alle vor.« Mo drehte sich zu mir, und ich nickte dankbar. »Jetzt muss ich erst mal den Mist in Empfang nehmen.« Er winkte uns zu und ging mit großen Schritten davon. Ich sah ihm ein bisschen sehnsüchtig nach und war gleichzeitig mehr als erfreut, dass meine ersten Begegnungen hier den Altersdurchschnitt meiner Erwartungen nahezu halbiert hatten.

»Hilfst du uns beim Sandariumbauen?« Elvis nahm meine Hand und zog mich mit sich. Überrascht stolperte ich hinter ihm her.

»Was? Ach, du meinst Sandkasten. Natürlich, wollen wir eine Burg bauen?«, rief ich mit gespielter Begeisterung, obwohl ich fand, dass er dazu eigentlich schon ein bisschen alt war. Elvis blieb stehen und sah mit gerunzelter Stirn zu mir hoch. »San-Da-Rium«, betonte er, als wäre ich schwer von Begriff, und schob mit dem Zeigefinger seine kleine Brille nach oben. »Für die Bienen!«

»Äääh …«, reagierte ich schlagfertig. »Klar, ein Bienensandkasten. Damit die Bienenbabys was zum Buddeln haben. Weiß genau, was du meinst!«

Er schob die Zunge durch seine Zahnlücke. »Weißt du nicht«, entschied er grinsend, und ich hob ertappt die Schultern.

»Komm, ich zeig es dir.« Er nahm mich wieder an der Hand, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und führte mich durch ein kleines Labyrinth aus Beeten, die alle in verschiedenen Formen angelegt waren, ein paar in alten Badewannen oder Regentonnen, ein paar sogar in Autoreifen.

Inge folgte uns in gemächlichem Trippeltempo.

 

»Es ist doch ein Bienensandkasten«, entschied ich wenig später, als Elvis und ich vor einem kleinen, mit Steinen eingegrenzten Becken standen. Er gluckste und sah mich an, als fände er mich ein bisschen schrullig.

»So kann man det ooch nennen!« Plötzlich flog eine Schippe voll Sand an meinem Ohr vorbei. Ein alter Mann mit Hipsterwollmütze auf dem Kopf stand auf einer Rampe neben einer Schubkarre. »Vorsicht ihr zwei, sonst knirscht et heut Abend zwischen die Zähne.«

»Das ist Madita, sie gehört jetzt auch zu uns«, erklärte Elvis, und ich musste unwillkürlich lächeln. Wie gut, dass ich zuerst auf ihn getroffen war. Auf dem Weg hierher war ich ziemlich angespannt gewesen, hatte verschiedene Szenarien in meinem Kopf durchgespielt, in denen ich hier nur dumm rumstand, während die anderen mich aus den Augenwinkeln beobachteten und sich fragten, was ich hier wollte. Und ich hatte nicht mal eine Liste schreiben können, denn ich wusste einfach nicht, was man in einem Gemeinschaftsgarten so tat und was man dazu brauchte – wie ich in der letzten Viertelstunde schon ziemlich deutlich bewiesen hatte.

»Ich bin nur Vertretung. Für Gabi. Sie muss in Reha«, ergänzte ich rasch.

Der alte Mann nahm eine Schippe voll Sand und schleuderte sie in das Becken. »Hab davon gehört. Bin der Ulli, freut mir!« Er packte seine Schubkarre und zog sie von der Rampe. »Hat Elvis dir schon erklärt, wat wir hier machen?« Er kniete sich hin, um mit seinen behandschuhten Händen den Boden zu ebnen. Es wirkte beinahe liebevoll.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig. Irgendwas mit Sand?«

Ich sagte ja – meine Spezialität.

Ulli lachte leise in sich hinein. »Na, ick sehe schon, du wirst Gabi würdig vertreten. Im Sand nisten Bienen und Insekten. Und die toten Äste und Steine da sind für Käfer. Und Spinnen natürlich.«

Ich trat einen Schritt zurück. »Ein Spinnensandkasten?«, flüsterte ich Elvis zu, und er sah an meiner Miene, dass mich das alles andere als begeisterte. Grinsend nickte er.

»Ne Hornisse war auch schon mal da.« Ulli richtete sich auf den Knien auf, stemmte die Arme in die Hüften und lächelte mich an, als wäre das die tollste Neuigkeit der Welt. »Letztes Jahr. Hat sich Zellulose geholt!«

Ich lächelte zurück, als würde ich verstehen, was er sagte. »Das ist ja … richtig toll!«, erwiderte ich, etwas lahm, aber er bemerkte meinen falschen Enthusiasmus nicht, sondern betrachtete sein kleines Sandbecken, als wäre es ein modernes Architekturwunder. Der Stolz in seinen Augen erinnerte stark an Rainer und seine winterharten Veilchen im Humusboden. »War übrigens Elvis’ Idee.« Ulli strubbelte Elvis, der neben ihm kniete, durch die blonden Haare, genau wie sein Vater vorhin, und der Junge lächelte verlegen. »Hat es in einem seiner schlauen Bücher gelesen.«

»Bei YouTube gesehen!«, widersprach Elvis. »Kann ich jetzt auch mal schippen?«

»Tu dir keenen Zwang an, ick streit mir nicht drum!« Ulli hielt mir eine Handschuhhand hin und ich zog ihn aus dem Sand hoch. Als er ächzend wieder stand, ließ er meine Hand nicht los, sondern schüttelte sie. »Madita also? Ungewöhnlicher Name. Gabi hat’s umjehauen, wa? Na, die kommt schon wieder uffe Beene. Is ja robust jebaut, will ich ma sagen.«

»Maddie«, korrigierte ich. »Alle sagen Maddie zu mir. Und ja, Gabi ist zäh wie Dörrfleisch.«

Er lachte dröhnend. »Das will ich meinen. Also, Maddie. Willkommen inne Kirschen!«

Ich fragte mich, wann ich die Fähigkeit verloren hatte, Menschen zu verstehen.

Als Ulli mein Gesicht sah, zeigte er auf eine der Hecken, die das Gelände zur Schrebergartenkolonie hin abgrenzte. »Die Straße da hinten heißt so. Da, wo se gerade baggern. In den Kirschen. Deswegen sagen das alle hier. Inne Kirschen. Wenn du in den Garten kommst, kommste inne Kirschen. Inne jrüne Freiheit.« Er atmete einmal tief ein und aus, strahlte mich an und öffnete den Mund, als könnte er besagte grüne Freiheit in der Luft schmecken.

 

Wenig später schaffte ich es, Elvis zu seinem Vater zurückzulotsen. Wir hatten mit Ulli das Sandarium befüllt und mit vereinten Kräften einen Haufen Totholz umgeschichtet, der, wie die beiden mir voller Enthusiasmus erklärten, ebenfalls für die Insekten gedacht war. Ich schwitzte bereits, trotz der milden Frühlingsluft, und meine Jeans hatte dunkle Flecken an den Knien. Als niemand hinsah, zupfte ich mir unauffällig ein paar kleine Äste aus den Haaren und untersuchte meinen Pulli auf Spinnweben. Für meinen ersten Tag war mir das alles entschieden zu viel Krabbelzeug. Ich hatte mir zwar nichts anmerken lassen, das Totholz aber nur mit spitzen Fingern angefasst und jeden Ast gründlich untersucht, bevor ich ihn hochnahm. Schließlich brauchte ich wirklich keine zahmen Spinnenhorden, die mir den Arm hochflitzten. Bei Insekten war es bei mir wie mit den Hühnern: Sie konnten sehr gerne existieren, solange es nicht in meiner unmittelbaren Nähe war. Und dass Spinnen technisch gesehen keine Insekten waren, war mir vollkommen schnurz.

Bereits in meiner ersten Stunde hatte ich verstanden, dass hier alles anders lief, als ich es mir vorgestellt hatte. Eigentlich hatte ich mich inmitten von ordentlichen Gemüsebeetreihen beim Unkrautzupfen gesehen. Bei der Gartenpflege, wie mein Opa sie damals betrieben hatte: Er hatte einen kleinen, elektrischen Handschneider, mit dem er regelmäßig die Beetbegrenzungen stutzte und außen an den Blumenkübeln entlangfräste, damit es auch ja keinen Graswildwuchs gab. Mich beschlich so langsam der Verdacht, dass man hier von solchen Maschinen noch nie gehört hatte – und Graswildwuchs wahrscheinlich begeistert begrüßte.

Am besten mit möglichst vielen Spinnweben drin.

 

Während wir mit Inge im Gefolge über die Wiese liefen, stellte Elvis mir weitere Hobbygärtner vor. Ein junges Pärchen topfte in einem Gewächshaus Setzlinge um. »Das sind Prija und Bert.« Elvis winkte, und die beiden winkten mit erdigen Händen zurück und kamen kurz heraus, um hallo zu sagen. Ich war erstaunt, wie viele Leute in meinem Alter und aus unterschiedlichen Kulturen es hier gab. Genau wie der Garten selber schien es ein buntes Durcheinander an verschiedensten Pflanzenfreunden. Mein anfänglicher Verdacht jedoch erhärtete sich: Ich war weit und breit die einzige Person in Gummistiefeln. Und es gab weit und breit kein einziges Veilchen.

Mo arbeitete ebenfalls an Setzlingen. Er stand über einen alten Holztisch gebeugt und drückte Samen in kleine Erdschalen. Als er uns bemerkte, zog er seine Handschuhe aus und kam auf uns zu. Irgendwie sah er ernst aus, als hätte er über etwas nachgedacht, das ihm Sorgen machte, lächelte aber, als er sich uns näherte. Ich spürte den starken Drang, ihm entgegenzulaufen, und wunderte mich über mich selbst. Schließlich hatte ich kaum zwei Worte mit ihm gewechselt. Irgendetwas in seiner ruhigen dunklen Stimme oder seinen grünen Augen schien mich ein bisschen durcheinanderzubringen. Oje, dachte ich und zwang mich, langsamer zu gehen. Das musste ganz schnell unterbunden werden!

»Keine Männer mehr!«, hatte ich Ella erst vor wenigen Wochen geschworen. »Männer bringen Unglück.« Sie hatte mir voller Inbrunst zugestimmt, obwohl sie seit fünf Jahren in festen Händen war. Oder vielleicht gerade deswegen. Aber ich hatte es ernst gemeint. Und an meinem Vorsatz hatte sich absolut nichts geändert. Ich war fest entschlossen, mich mindestens ein Jahr lang ausschließlich auf meine Karriere zu konzentrieren und mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen, die außer Singen, Tanzen und – Gabi zuliebe – vielleicht ein paar Blumen und etwas Gemüse nichts durchließen.

Für all das gab es einen guten Grund.

Als Lennard und ich uns trennten, war es ein bisschen wie das Ende der Welt. Alles war plötzlich anders.

Besonders, weil ich schuld war.

Ich hatte nie Zeit, ich war zu verbissen, ich war nie da, ichhatte immer was Besseres zu tun. Er hatte mir vorgeworfen, dass mir die Bühne wichtiger war als er. Und das Schlimmste war: Ganz tief drinnen wusste ich, dass es stimmte. Die Bühne war mir wichtiger. Natürlich bedeutete das nicht, dass er mir egal war, ganz im Gegenteil. Es bedeutete aber, dass ich nicht bereit war, für ihn kürzerzutreten. Denn Kürzertreten war in meinem Business extrem gefährlich. Irgendwann musste man das sowieso, die Zeit, die man für die Karriere hatte, war sehr begrenzt. Deswegen galt es, gerade am Anfang keine Minute zu verlieren.

Lennard hatte das nie verstanden.

Und er hatte meine Ziele nie unterstützt, sondern mir immer nur weiter ein schlechtes Gewissen gemacht. Wie dem auch sei, ich hatte meine Beziehung für meine Karriere geopfert, es gab keinen Weg, es zu beschönigen. Und deswegen durfte ich mich jetzt, da dieses Opfer sich endlich auszuzahlen begann, auf keinen Fall von moosgrünen Augen, großen erdigen Händen und einem nachdenklichen Lächeln ablenken lassen. Nicht jetzt, da alles gerade anfing, richtig ernst zu werden. Egal, wie sehr mein Magen auch flatterte.

Und er flatterte ganz gehörig.

Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass ich schon lange niemanden mehr auf Anhieb so sympathisch gefunden hatte. Vielleicht hatte der Mond ja gedacht, dass er mir zusätzlich zu meinem neuen Freund Rainer auch noch eine kleine Schwärmerei schenken konnte. »Brauch ich nicht«, flüsterte ich zum Himmel hinauf, wo er als fast durchsichtige Scheibe in der Nähe des Alexanderplatzes rumhing und wohlwollend auf mich hinunterlächelte. »Netter Versuch, aber keine Zeit und kein Bedarf.«

Jaja, schien er zu antworten. Laber nicht rum, Maddie. Zeit hast du vielleicht wirklich nicht viel, aber Bedarf allemal.

Das entscheidest nicht du!, erwiderte ich in Gedanken und sah genau, wie der Mond spöttisch zwinkerte.

Irgendwie traute ich ihm nicht.

 

»Papa. Wir haben das Sandarium fertig.« Elvis sprang an seinem Vater hoch, und Mo nahm ihn auf den Arm und drehte ihn einmal im Kreis.

»Dann hast du jetzt sicher Hunger.« Er ließ Elvis nach hinten überkippen, so dass seine weißblonden Haare gen Boden hingen. Der Kleine gluckste und streckte die Hände aus, um die Grasspitzen zu berühren. »Jaaaaa. Ich will Pommes.«

»Na, schaun wir mal.« Mo sah mich an. »Hast du auch Hunger?«

Ich hatte vor einer Stunde erst meine Currywurst runtergeschlungen, zuckte aber mit den Schultern. »Ich kann eigentlich immer essen«, erklärte ich wahrheitsgemäß. Außerdem war mir jede Ausrede recht, um keine weitere Insektenpflege mehr betreiben zu müssen. Und noch ein wenig Zeit mit den beiden zu verbringen.

Meine Antwort schien sie zu freuen. »Genau wie wir.« Mo nickte zufrieden und zeigte auf den größten der Zirkuswagen. »Dann schaun wir doch mal, ob schon jemand kocht.«

Verdattert folgte ich mit den Augen seinem ausgestreckten Zeigefinger. Ich hatte angenommen, wir würden irgendwo hingehen zum Essen. »Man kann hier kochen?«, fragte ich erstaunt und erntete dafür Seitenblicke aus zwei Paar grüner Augen. Sie wussten ja noch nichts von meiner Spezialität. Vater und Sohn sahen sich an und prusteten dann gleichzeitig los. »Jaaa, man kann hier kochen!«, erklärte Mo, als offenbarte er ein gutgehütetes Geheimnis. »Komm, wir zeigen dir, wie wir dieses Wunder vollbringen.«

Zusammen liefen wir über die Wiese, und die beiden lachten immer noch über mich. »Freut mich, dass meine Unwissenheit euch so amüsiert«, bemerkte ich trocken, musste aber selber grinsen. »Ich war eben noch nie in einem Gemeinschaftsgarten. Ich dachte, man zupft hier den ganzen Tag Unkraut.«

»Oh, das machen wir immer nach dem Essen«, erklärte Mo. »Übrigens kann ich dir andere Schuhe geben, diese Stiefel sehen ziemlich unbequem aus.«

 

Als wir die Tür zum Wagen öffneten, entfuhr mir ein erstaunter Laut. Es war, als würden wir eine sonnige Wohnung betreten. Und eine sehr schöne noch dazu. Der hintere Teil des Wagens war verglast, vor den Fenstern stand ein Holztisch, um den gut und gerne zwanzig Leute passen würden, im vorderen war eine Küche eingerichtet. Dazwischen bollerte ein kleiner Ofen vor sich hin. Es roch nach Holz und … ich schnupperte, irgendwie nach Biosupermarkt. »Wow!«, sagte ich und trat ein. »Also, das habe ich nicht erwartet.«

Mo verschränkte die Arme, lehnte sich an die Küchenzeile und beobachtete meine Reaktion. Er lächelte ein halbes Lächeln, das ich nicht so richtig deuten konnte. Ich trat an den großen Tisch und fuhr mit den Fingern über das Holz. »Und hier esst ihr immer zusammen?«

Er nickte. »Zumindest im Winter. Im Sommer findet eigentlich alles draußen statt. Wir haben auch eine Außenküche hinten am Wagen, aber die Saison ist noch nicht