RABBITS. Spiel um dein Leben - Terry Miles - E-Book
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RABBITS. Spiel um dein Leben E-Book

Terry Miles

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Beschreibung

Das gefährlichste Spiel deines Universums – ein Mystery-Thriller, der neue Maßstäbe setzt. Jetzt erstmals als Taschenbuch!

Seit vielen Jahren hat K keine Familie mehr und schlägt sich in Seattle allein durchs Leben. Es gibt nur eine Sache, die für K die Situation erträglicher macht: K ist süchtig nach RABBITS. Niemand weiß genau, seit wann dieses geheime Spiel existiert. Wann endlich die nächste Runde beginnt. Wer mitspielt. Was der Gewinner bekommt. Doch diese eine Regel ist klar: Darüber zu sprechen, kann gefährlich sein. Wer es wagt, ist danach vielleicht nicht mehr derselbe – oder tot. Je tiefer K in die Abgründe und Rätsel des Spiels eintaucht, desto stärker wird das Gefühl, dass ein bedrohlicher Schatten näher rückt, wie aus einer anderen Welt. Und K beginnt zu ahnen, dass Rabbits eine viel größere Dimension hat.

Rabbits ist weit mehr als nur ein Spiel.
Rabbits ist alles.

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MOBI

Seitenzahl: 514

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Zum Autor

Terry Miles ist preisgekrönter Filmemacher, Schöpfer der amerikanischen Public Radio Alliance und Producer der erfolgreichen Podcasts RABBITS, Tanis, The Last Movie und Faerie sowie Co-Produzent von The Black Tapes. Zwischen Ost- und Westküste der USA pendelnd, verbringt er seine Zeit damit, die mysteriösen Rätsel rund um RABBITS zu erforschen.

RABBITS in der Presse:

»Fesselnd und voller unvorhersehbarer Wendungen!« USA Today

»Ein abgefahrenes Lesevergnügen!« The Guardian

»Meisterhaft erweckt Miles ein Spiel zum Leben, bei dem die Leser*innen so fieberhaft nach dem nächsten Hinweis suchen wie die Figuren selbst. Es ist unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen.« Publishers Weekly

»Eine Achterbahnfahrt voller Twists, die sich nahtlos von einer Schatzsuche zu einem Verschwörungsthriller zu einem Escape Room wandelt.« Kirkus Review

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

TERRY MILES

RABBITSSpiel um dein Leben

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kai Andersen

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel RABBITSbei Del Rey, Penguin Random House, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 der Originalausgabe by Terry Miles

All rights reserved

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Gareth A Hopkins, Miloje/Shutterstock.com

Redaktion: Angela Kuepper

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25614-2V004

www.penguin-verlag.de

Für Luna

Du verbringst dein Leben so dicht an der Wahrheit, dass sie zum ständigen Schemen in deinem Augenwinkel gerät, und wenn sie herausgelockt wird und Form annimmt, kommt sie dir wie ein grotesker Überfall vor. Ein Mann, der im Halblicht und Halbschlaf der Morgendämmerung in seinem Sattel stand, schlug an die Fensterläden und rief zwei Namen. Er war nichts als Hut und Umhang, der sich im grauen Dunst seines eigenen Atems bauschte, aber wenn er rief, waren wir zur Stelle. So viel steht fest – wir waren zur Stelle.

Tom Stoppard, Rosenkranz und Güldenstern sind tot

Ich bin 1983 zum ersten Mal auf das Spiel gestoßen. Mein Prof für Spieltheorie hatte mit mir eine Exkursion zu dem ehemaligen Waschsalon in Seattle gemacht. Da ist jetzt ein Restaurant drin, aber wenn man die Besitzerin freundlich bittet, zeigt sie einem mit etwas Glück den Originalraum hinten im Büro. Und wenn man im Lokal ein Menü ordert und dem Personal ein großzügiges Trinkgeld gibt, nimmt die Besitzerin sogar das zeitgenössische Gemälde über dem offenen Kamin ab, sodass man das Bild von dem Kaninchen an der Wand sehen kann.

Einige wahre Geschichten kann man leichter glauben, wenn man sich einredet, sie seien zumindest teilweise erfunden. Das hier ist so eine Geschichte.

Shalini Adams-Prescott, 2021

1 Bloß ein blöder Specht

Falls ihr euch fragen solltet: Ich heiße K. Einfach K. Nur ein Buchstabe.

Ich sage euch jetzt zweierlei. Erstens: K ist eine Abkürzung. Zweitens: Ihr werdet nicht erfahren, wofür. Das müsst ihr wegstecken, auch wenn ihr vielleicht enttäuscht seid.

Aufgewachsen bin ich im Pazifischen Nordwesten der Vereinigten Staaten, dem nassesten und einsamsten Winkel unseres Planeten, wie ich damals fand. Später war die Region in meinen Augen eine düstere grüne Welt voller uralter Rätsel und Geheimnisse. Heutzutage ist sie für mich eine wundersame Mischung aus all diesen Elementen.

Ich bin alt genug, um mich an die Arcade-Automaten mit ihrem typischen Münzeinwurf in Spielhallen zu erinnern, aber jung genug, um mir eine Zeit ohne Internet kaum vorstellen zu können.

Als ich ein Kind war, glaubten meine Eltern, ich hätte ein sogenanntes eidetisches Gedächtnis – die seltene Fähigkeit, Bilder, Schrift und Muster detailgetreu zu memorieren. Früher nannte man das »fotografisches Gedächtnis«, der Ausdruck ist aber nicht korrekt. Ein fotografisches Gedächtnis im Wortsinn gibt es nicht. Und selbst wenn es das gäbe – ich habe es jedenfalls nicht. Ich konnte mir manches besonders gut einprägen und es später problemlos abrufen. Das galt aber nur für bestimmte Dinge, deren Struktur ich interessant fand. Und es war kein Mathetrick oder so. Wenn ich eine Packung Zahnstocher fallen ließ, konnte ich genau sagen, wie viele dalagen. Aber die Quadratwurzel von irgendwas war mir echt zu hoch.

Weil ich in der Schule als das Kid galt, das sich absurdes Zeug merken konnte, gelang es mir manchmal, fiese Schläger aus meiner Klasse so lange abzulenken, bis sie vergaßen, dass sie mich verhauen wollten. Das klappte aber leider nur in fünfzig Prozent aller Fälle und irgendwann gar nicht mehr. In der Highschoolzeit war meine Fähigkeit, mich auf Details zu konzentrieren und komplexe Verbindungen zu erkennen, dann eher eine Obsession als eine Selbstschutz-Maßnahme.

Diese Obsession, wiederkehrende Muster zu entdecken und Codes zu knacken (die vielleicht gar keine waren), führte dazu, dass ich als »neurodivers« diagnostiziert wurde. Als ich vierzehn war, verwarf man diese Diagnose, aber da hatte ich schon etliche Medikamente geschluckt und Bekanntschaft mit so einigen Therapiecouchen gemacht. Und diese spezielle Obsession war es schließlich auch, die mich in die Welt von Rabbits führte.

Fragt man Leute, wann sie zuerst von Rabbits gehört haben, können sie sich oft nicht genau daran erinnern. Sie sind möglicherweise über einen Post in einem obskuren Internetforum gestolpert. Vielleicht redete auch jemand im Freundeskreis über ein Kind, das bei einem längst in Vergessenheit geratenen Atari-2600-Spiel gestorben war, dessen Existenz niemand beweisen konnte – und brachte das mit Rabbits in Verbindung.

Ich allerdings weiß ganz genau, wann und wo ich zum ersten Mal von Rabbits gehört habe.

Es war in einem Garten in Lakewood, bei einem Grillabend.

In Seattle, wo ich aufgewachsen bin, gab es damals Gerüchte, dass im benachbarten Bundesstaat Oregon Jugendliche durch ein Arcade-Spielnamens Polybius ums Leben gekommen seien. Von mysteriösen Männern in grauen Anzügen war die Rede, von gravierenden Folgen fürs Gehirn. Über Polybius wurde geredet, über Rabbits jedoch, das Spiel, das noch viel rätselhafter und gefährlicher war, hörte ich nichts. Jedenfalls bis zu diesem Grillabend am Nationalfeiertag.

Bill und Madeline Connors, enge Freunde meiner Eltern, veranstalteten jedes Jahr am vierten Juli eine Party. Die Connors hatten zwei Töchter. Annie war ein Jahr älter als ich, Emily drei Jahre.

Die beiden Schwestern hatten einen tollen Musikgeschmack und trugen immer die coolsten Klamotten – jede Menge Gürtel und Hüte. Bei dieser Party hatten sie hohe gestreifte Hüte auf, die sie in einem superhippen Laden in der Melrose Avenue in Los Angeles gekauft hatten, erzählten sie. Ich nahm ihnen das ab. Damals war ich noch nicht weiter in den Süden gekommen als bis nach Oakland zu einem Segellager.

Während unsere Eltern im Garten betrunken Rasen-Dart spielten, ging ich ins Haus, um mir eine Cola zu holen (die ich zu Hause nicht trinken durfte), und hörte Annie und Emily reden.

Sie kauerten vor dem Familiencomputer und starrten auf den Bildschirm.

»Hast du rausgekriegt, wie du Everquest zum Starten bringen kannst, oder wie?«, fragte Annie.

»Ich hab was viel Besseres«, antwortete Emily und öffnete ein Programm, das ich kannte. Von meinem Versteck an der Küchentür aus hatte ich einen guten Blick auf den Bildschirm.

Annie beugte sich vor. »Was ist das – alt.binaries.games?«

»Eine Gaming-Gruppe«, sagte Emily und tippte routiniert auf ein paar Tasten.

»Was gibt’s denn da, Bilder?«

»Halt die Klappe.«

»Aus Zelda?«

Ich beugte mich ein kleines Stück vor. Bilder aus The Legends of Zelda waren immer einen Blick wert.

»Wart’s doch einfach ab.« Emily legte ihrer Schwester die Hand auf den Mund und drückte die Leertaste.

Ein Video wurde abgespielt, offenbar ein Ausschnitt aus einem alten Tierfilm, in dem ein Vogel zu sehen war. Der Sprecher erklärte, es handle sich um den Kaiserspecht.

»Na und? Das ist bloß ein blöder Specht«, maulte Annie. »Lass uns wieder rausgehen. Luke Milligan ist auch da.« Sie zog ihre Schwester am Arm.

»Luke Milligan ist ein Widerling. In Chemie hat er Nina die Hand unters T-Shirt gesteckt.«

»Im Ernst?« Annie schien schwer enttäuscht zu sein.

»Außerdem ist das kein gewöhnlicher Specht«, fügte Emily hinzu.

»Was meinst du damit?«

»Guck doch mal. Wir haben gerade bestimmt fünfzig Spechte gesehen.«

»Na und? Die sind groß, ja, aber ansonsten?«

»Darum geht’s nicht. Dieser Dokumentarfilm ist 1989 entstanden, und der Kaiserspecht gilt seit 1956 als ausgestorben.«

»Whoa.« Annie beäugte den Bildschirm. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Das ist Rabbits«, flüsterte Emily und fuhr den Computer herunter.

»Rabbits?« Annie sah ihre Schwester mit großen Augen an.

Ich war genauso fasziniert.

Emily hatte das Wort so ehrfürchtig ausgesprochen, als wäre es ein düsteres Geheimnis, etwas, das sonst nur Erwachsenen zugänglich war.

Jetzt blickte sie sich vorsichtig um, entdeckte mich aber nicht. Dann zischte sie: »Es ist ein geheimes Spiel.«

Annie starrte sie an. »Und was heißt das?«

»Dass ich es spielen werde«, antwortete Emily sachlich.

»Wie denn? Was muss man da machen?«

»Ist ziemlich kompliziert.«

»Wie genau?«

»Man muss Sachen finden.«

»Was für Sachen?«

»Muster oder … Diskrepanzen.«

»Diskrepanzen?«, wiederholte Annie.

»Sachen, die keinen Sinn ergeben. Und zwar im echten Leben. Das ist es, was das Spiel so gefährlich macht.« Annie versuchte, Emily zu folgen, hatte aber eindeutig keinen Schimmer, wovon ihre Schwester redete.

Ich hingegen spitzte die Ohren.

Emily holte tief Luft und überlegte kurz. »Okay. Aber das muss unter uns bleiben.« Annie nickte, und so fuhr Emily mit gedämpfter Stimme fort: »Im Abspann dieses Films ist eine Person ohne Tätigkeit aufgeführt, einfach nur ein Name.«

Emily gab eine ziemlich abgedrehte Idee über den Film von sich. Fakt war: Neben dem Namen im Abspann stand nicht Maske, Ton oder Spezialeffekte, sondern gar nichts.

»Es ist ein Waisenname«, raunte sie. Dann erzählte sie Annie, dass sie ein Gespräch über den Film mitgehört und davon in ihrem Gaming-Forum berichtet habe. Daraufhin hatten die Leute aus dem Forum mit Mathe und Numerologie herumgespielt, den Zahlenwert des Namens errechnet und waren dabei auf etwas gestoßen, das sich »The Night Station« nannte.

»Was ist das? Ein Radiosender?«, fragte Annie.

»Genau das werden wir herausfinden. Komm.«

Ich verdrückte mich gerade noch rechtzeitig in den Garten, bevor die beiden mich entdecken konnten.

Emily sagte ihren Eltern, sie wolle mit Annie zum Laden fahren, und fragte etwas halbherzig: »Möchte noch jemand was?«

Wünsche wurden wild durcheinandergerufen – Zigaretten, Ginger Ale, Chips und Dips. Annie schrieb alles auf, Emily schnappte sich die Schlüssel für den Pick-up ihrer Mutter.

Mrs. Connors verkündete: »Nehmt K mit.«

»Aber wir haben keinen Platz«, beschwerte sich Emily.

»Der Pick-up ist breit, Em. Sei nicht so zickig.«

Emily seufzte genervt und marschierte an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Na, dann komm halt.«

»Und wieso glaubst du, dass ich das will?«

Annie ergriff meine Hand und zog mich mit sich.

Ich wollte tatsächlich unbedingt mitfahren – und zwar nicht nur, weil Annie das erste Mädchen war, das ich jemals geküsst hatte. Sondern auch wegen dieses mysteriösen Spiels.

Etwas an Rabbits fühlte sich so machtvoll und erwachsen an.

Als Annie mich zu dem alten blau-weißen Chevy-Pick-up mit den riesigen Reifen zog, musste ich wieder an den Kuss denken. Annie sah gut aus, aber auf eine eigenwillige Art. Ihre Augen standen ein wenig zu weit auseinander, und sie hatte eine wilde, störrische Mähne. Ich fand Annie wunderschön. Außerdem strahlte sie eine kühne Selbstsicherheit aus, die ich faszinierend und verunsichernd zugleich fand.

Ein paar Wochen nach meinem dreizehnten Geburtstag hatten unsere Familien zusammen Thanksgiving gefeiert. Annie und ich wurden damals losgeschickt, um ein Brettspiel zu holen, Trivial Pursuit. Auf dem Weg zu dem Raum im Keller, wo die Spiele aufbewahrt wurden, zog Annie mich plötzlich an sich und küsste mich.

Sie schmeckte nach Fruchtgummi mit Traubenaroma. Es war unglaublich.

»Und?«, fragte sie nach dem Kuss.

Mir hatte es die Sprache verschlagen. Aber meine Augen antworteten bestimmt: »Wow, krass.«

»Steig ein.« Emily saß schon im Auto und suchte eine Kassette heraus.

Ich kletterte auf die Vorderbank, bemüht, nicht zu dicht bei Emily zu landen. Annie Connors war schon atemberaubend genug, aber Emily war eine Welt für sich.

»Beeil dich, es ist gleich so weit.« Emily fuhr los, bevor Annie die Tür geschlossen hatte.

Ich verstand nicht viel von Autos, aber der Pick-up war mindestens zehn Jahre alt. Der Aschenbecher neben dem Autoradio quoll über vor Kippen mit weißen oder orangefarbenen Filtern. Am Boden lag eine offene Chipstüte neben einer leeren Sprite-Flasche.

»Der Laden hat rund um die Uhr geöffnet«, sagte ich, auch wenn ich mir denken konnte, dass Emily das wusste. Jeder wusste es.

Sie gab keine Antwort und steckte nur wortlos die Kassette in den Rekorder, der sich surrend in Bewegung setzte. Tori Amos begann »Crucify« zu singen, und Emily lenkte den Pick-up die kurvige Auffahrt entlang und auf die Straße hinaus.

Wir hielten nicht am Laden an, Emily fuhr nicht mal langsamer.

Ich blieb stumm. Auf keinen Fall wollte ich stören. Das hier war mein allererstes richtiges Abenteuer, und ich würde den Teufel tun und es gefährden.

Emily zog ein Päckchen Zigaretten hinter der Sonnenblende hervor und ließ das Lenkrad los, um sich eine anzustecken. Wortlos beugte sich Annie über mich und übernahm das Lenken.

Die beiden waren perfekt aufeinander eingespielt.

Annie starrte nach vorne und hielt den Wagen auf Spur, so konzentriert, als müsste sie dafür sorgen, dass die Welt nicht stehen blieb.

Wir fuhren noch etwa sieben Minuten so, dann übernahm Emily wieder das Steuer und bog auf eine schmale Straße ab, die von Holzfällern genutzt wurde. Eine Minute später hielt sie auf dem unbefestigten Randstreifen an.

»Da oben ist nichts außer dem Haus von den Petermans«, sagte ich. »Könnte sein, dass ein paar Kids von meiner Schule in den Kiesgruben rumhängen.«

Wenn ich mit den Connors-Schwestern in den Kiesgruben auftauchte, würde ich morgen in der Schule von allen bewundert werden.

»Schsch«, machte Emily, schaltete die Innenbeleuchtung ein und zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche.

»Bist du sicher, dass es hier ist?«, fragte Annie. »K hat recht, da oben ist nur das Haus der Petermans.«

Emily starrte in ihr Tagebuch.

Die Seiten waren mit Wörtern, Zahlen und Skizzen vollgekritzelt. Es sah aus wie die Notizen, die meine Freunde und ich auf Millimeterpapier machten, wenn wir Dungeons & Dragons spielten.

Emily umkringelte ein paar Zahlen, die sie über einer Liste von Namen und Symbolen vermerkt hatte. Sie überlegte einen Moment, dann addierte sie die Zahlen, lehnte sich zurück und atmete aus.

»Bei hundertsieben Komma drei«, verkündete sie dann.

Ich war mucksmäuschenstill. Emily Connors beim Rechnen war ein hinreißender Anblick.

Sie steckte ihr Notizbuch weg und sah mich mit bohrendem Blick an. »Du darfst niemandem erzählen, was heute Abend hier passiert.«

»Tu ich nicht«, beeilte ich mich zu sagen.

»Ich meine es ernst.« Sie packte mich grob am Handgelenk. »Versprich es.«

»Ich verrate kein Sterbenswörtchen.« Aber ich sah Emily an, dass ihr das nicht genügte. »Versprochen. Ich schwöre.« Ich hielt den kleinen Finger hoch. Emily beachtete ihn nicht, sondern starrte mir eine gefühlte Ewigkeit in die Augen. Mein Mund war plötzlich trocken, ich schluckte. Endlich schien sie zufrieden zu sein, warf einen letzten Blick in ihr Notizbuch und verstaute es wieder.

Annie drückte die Tori-Amos-Kassette aus dem Rekorder. »Wie war die Frequenz?«

»Eins null sieben Komma drei.«

»Okay.« Annie stellte die FM-Frequenz ein, aber es war nur Rauschen zu hören. »Bist du sicher?«

»Ich hoffe es.« Emily drehte lauter, wandte sich uns zu und lächelte.

Was ein wunderschöner und zugleich beunruhigender Anblick war.

Emily lächelte nämlich äußerst selten.

»Zeit?«, fragte sie ihre Schwester knapp.

»Sechs nach zehn.«

Emily berührte meinen Arm und sagte: »Du darfst auf keinen Fall ausrasten, hörst du?«

Ich gab mir Mühe, möglichst lässig zu wirken, während Emily auf der Straße weiterfuhr.

Eine Minute lang hörten wir das Rauschen aus dem Radio, dann nickte Emily ihrer Schwester zu und schaltete die Scheinwerfer aus.

Rabenschwarz.

Wir fuhren so schnell wie vorher.

Blindlings in die Dunkelheit hinein.

Aus dem Radio dröhnte weiter nur Rauschen. Die Straße schien geradeaus zu führen – bis jetzt jedenfalls.

»Also, ich weiß nicht, Emily …«, sagte ich.

»Schsch.« Diesmal packte sie mich so fest am Arm, dass ihre Finger Druckspuren hinterließen. »Hör genau hin.«

Ich verstummte und horchte.

»Habt ihr eine Stimme gehört?«, fragte Emily.

Annie zuckte die Achseln. Ich schüttelte den Kopf.

Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Mit zwei Mädchen in finsterer Nacht ohne Licht eine Holzfällerstraße entlangzubrettern, war schon ziemlich speziell.

»Was war das?« Emily drehte das Radio noch lauter. »Bitte sagt mir, dass ihr das gehört habt.«

»Ich glaub schon«, log ich.

Außer Rauschen hörte ich rein gar nichts, mein Kopf dröhnte und tat weh, und mein Mund fühlte sich noch immer staubtrocken an.

Zuerst dachte ich, der unangenehme Zustand sei darauf zurückzuführen, dass wir hier durch die Dunkelheit rasten. Aber das war nicht alles.

Irgendetwas war … anders. Irgendetwas stimmte nicht.

»Vielleicht sollten wir lieber die Scheinwerfer anmachen?«, fragte Annie ängstlich.

»Alles okay«, erwiderte Emily.

Als sie das Licht ausgeschaltet hatte, war noch zu sehen gewesen, dass die Straße schnurgerade verlief. Aber jetzt fuhren wir schon eine ganze Weile. Ich konnte nur hoffen, dass nirgendwo eine Kurve kam.

»Ähm, vielleicht sollten wir …«, murmelte Annie.

»Schsch«, machte Emily. »Es hieß, wir müssen im Dunkeln fahren.«

Hin und wieder kam für einen kurzen Moment der Mond hinter den Wolken hervor. Das reichte aus, um die Straße zu erkennen, versuchte ich mir einzureden.

»Da.« Emily horchte. »Hört ihr das?«

Zuerst war es nur ein Raunen, dann wurde es deutlicher.

Eine Frauenstimme.

Als ich Emily gerade fragen wollte, ob sie es auch gehört hatte, war der Wagen plötzlich erfüllt von lautem Krachen. Emily riss am Scheinwerferhebel, Licht strahlte auf, und die Welt explodierte in splitterndem Glas und grellen Blitzen.

Das Scheinwerferlicht hatte sich in die Dunkelheit gebohrt wie Raketen. Ein riesiger Elch stand mitten auf der Straße.

Der Unfall war vorbei, bevor mein Gehirn begreifen konnte, was geschehen war.

Emily und ich wurden durch die Windschutzscheibe geschleudert, Annie nicht. Später erfuhren wir, dass sie an einem Genickbruch gestorben und auf der Stelle tot gewesen war.

Ich hatte eine ausgerenkte Schulter, eine massive Gehirnerschütterung und einige Schnitte und Blutergüsse, war aber noch gut davongekommen. Emilys rechtes Bein war schwer verletzt. Sie lag fast ein Jahr im Krankenhaus und musste hinterher noch lange physiotherapeutisch behandelt werden.

Ein paar Jahre nach dem Unfall hatte ich Emily Connors zuletzt gesehen.

Ich fuhr damals mit meinen Eltern nach San Francisco. Die Tochter von anderen Freunden meiner Eltern – Natalie Crawford, die ich flüchtig gekannt hatte – war verschollen, und ihre Mutter hatte sich das Leben genommen. Wir waren unterwegs zur Trauerfeier.

Kurz hinter Seattle hielten meine Eltern an einer Tankstelle, damit ich aufs Klo gehen konnte. Auf dem Rückweg zum Auto sah ich Emily Connors.

Sie saß im Fond des Wagens neben uns. Ich winkte ihr zu, aber sie blickte starr geradeaus, schien mich nicht zu bemerken. Ich war drauf und dran, ans Fenster zu klopfen, aber etwas hielt mich davon ab. Emilys Blick war so starr und merkwürdig, als wäre sie in einer anderen Welt, nicht mehr erreichbar. Im nächsten Moment fuhr der Wagen auch schon los, und sie verschwand aus meinem Blickfeld.

In jener Nacht träumte ich von Emily und Annie Connors.

Wir waren wieder auf der Straße, aber diesmal stand kein Elch dort, sondern eine große, gekrümmte graue Gestalt.

Als wir näher kamen, sah ich, dass sie aus vielen kleinen Teilen bestand, die zappelten und zuckten.

Ich wollte schreien, war aber wie gelähmt.

Dann dröhnte das Rauschen aus dem Radio wieder in meinen Ohren, mein Kopf schmerzte, und mein Mund war wie ausgetrocknet. Das graue Ding auf der Straße drehte sich langsam um.

Ich wollte die Augen zukneifen, aber es ging nicht.

Emily fuhr weiter, als wäre da nichts, und Annie hatte sich vorgebeugt, um sich auf die geheime Nachricht aus dem Radio zu konzentrieren.

Im nächsten Moment lief plötzlich alles wie in Zeitlupe ab.

Das Rauschen wurde dröhnend laut, ein nervenzerrendes Surren erfüllte meinen ganzen Körper. Maßloses Grauen erfasste mich.

Der Pick-up raste weiter geradeaus. Einen Herzschlag lang, bevor wir auf die graue Gestalt prallten, sah ich ihr Gesicht – oder zumindest die Stelle, an der ein Gesicht hätte sein sollen.

Doch da war nur ein dunkles Loch.

Und im selben Augenblick hörte ich, wie damals, diese Frau.

Ihre Stimme klang so trocken wie knackende Äste im Feuer, als sie die Worte sprach, die ich damals, 1999, auf dieser Straße in der Dunkelheit gehört hatte.

»Die Tür ist offen.«

2 In der Spielhalle des Magiers

»Was wisst ihr über das Spiel?«

Das Lächeln auf den Gesichtern erstarb, Gespräche verstummten. Die versammelte Gemeinde der vom Deep Web Besessenen vor mir verstaute hastig die Telefone in Taschen und Rucksäcken und versuchte dabei, ein Pokerface aufzusetzen und möglichst cool zu wirken. Aber alle beugten sich gespannt vor, die Ohren gespitzt, die Augen leuchtend vor Aufregung.

Deshalb waren sie schließlich hier.

Und deshalb kamen sie immer wieder. Sie waren irgendwo darauf gestoßen, vielleicht im Deep-Web-Blog eines Irren, der als Experte für seltene, ausgefallene Verschwörungserzählungen galt. Und sie redeten in unbeholfenem Endlos-Talk darüber, wenn sie sich zum ersten Mal über einen Tor-Browser in ein Forum einloggten, um ihre IP zu verschleiern.

Das Spiel trieb sie um, geisterte in jenem Teil ihres Gehirns umher, das verzweifelt glauben wollte, dass es doch noch mehr geben müsse. Es war der Grund, warum sie mitten in der Nacht im strömenden Regen zu einer Spielhallemarschierten, die man wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten dichtgemacht hätte, wenn irgendjemand sie sich mal genauer angeschaut hätte.

Sie kamen, weil sich das mysteriöse »Etwas« anders anfühlte. Es war wie dieses eine unerklärliche Ereignis in deinem Leben: das UFO, das du damals im Sommer gesichtet hast, als du mit deiner Cousine in einem Kanu auf dem See gepaddelt bist. Die verschwommene Gestalt, die in der Nacht deines achten Geburtstags am Fußende deines Bettes auftauchte. Der kalte Schauder, der dir über den Rücken lief, als du von deinem großen Bruder in den Keller gesperrt wurdest und das Licht ausging. Das Spiel war das Hirngespinst, von dem keiner ablassen konnte. Denn es war faszinierend. Düster. Kryptisch.

»Also, ich hab gehört, es ist eine Art Rekrutierungstest für die NSA oder die CIA«, meldete sich eine Frau Anfang zwanzig zu Wort. Sie war letzte Woche schon in der Runde dabei gewesen, hatte aber keine Fragen gestellt. Nach dem Treffen aber hatte sie mich auf dem Parkplatz abgepasst und wissen wollen, ob ich der Meinung sei, dass die Ley-Linien mit den Meechum-Radianten zu vergleichen seien. Was ich bejaht hatte, auch wenn ich keinen Schimmer hatte. Über Ley-Linien war ich hin und wieder im Netz gestolpert, diese mysteriösen Linien, die durch die Landschaft verliefen und mit Kultplätzen und alten heiligen Stätten in Verbindung standen. Kellan Meechum war einer von denen, die ihre Existenz beweisen wollten. Er war auf Abweichungen des Magnetismus und der Gravitation gestoßen. Und weitere Phänomene, die er Radianten nannte. Das war auch schon alles, was ich wusste. Was ich Sally ja nicht unter die Nase reiben musste.

Fragen im Zusammenhang mit Rabbits tauchten bestenfalls als Raunen im Netz auf oder inmitten einer Horde gleichgesinnter Spinner an sicheren Orten, wie in Comicläden oder der Spielhalle. Wer in der Außenwelt darüber sprach, fühlte sich so bedroht, als beugte er sich auf dem Bahnsteig zu weit vor, während der Zug nahte.

Das Spiel war der Zug.

»Tausende von Menschen sind beim Spielen zu Tode gekommen«, raunte ein dünner Rothaariger um die dreißig. »Das wird buchstäblich totgeschwiegen.«

Ich spürte Nervosität in mir aufsteigen, doch mir gelang es, sie zu überspielen.

»Dazu gibt es mehrere Theorien«, sagte ich betont gelassen. »Und ja, ein paar Leute glauben, dass es im Zusammenhang mit dem Spiel zu Todesfällen gekommen ist.«

»Warum sprichst du eigentlich den Titel nie aus?« Die Frau, die diese Frage stellte, war schon öfter dabei gewesen. Sie hieß Sally Berkman, war Rollstuhlfahrerin und aufgemacht wie eine Bibliothekarin aus den Fünfzigerjahren, mit Lesebrille an einer Perlenschnur um den Hals. Sally leitete das beliebteste Dungeons-&-Dragons-Spiel der Stadt.

»Jetzt bitte alle elektronischen Geräte in die Truhe«, verkündete ich, ohne auf Sallys Frage einzugehen. Die Truppe liebte es, wenn ich es spannend machte und so tat, als wäre alles extrem gefährlich.

Sie kamen nach vorne und legten ihre Telefone, Laptops und sonstigen Geräte in die große, alte Truhe aus Zedernholz am Boden. Der Magier hatte sie vor ein paar Jahren von einer Europareise mitgebracht. Auf dem Deckel war eine Schnitzarbeit zu sehen, eine Szene von einer Hasenjagd, detailreich und irgendwie unheimlich. Im Hintergrund erkannte man Jäger und Hunde, aber der Blick fiel unwillkürlich auf das Gesicht des Hasen. Düster und Unheil verkündend starrte er zu einem auf, die Augen weit aufgerissen, das Maul halb offen. Aus irgendeinem Grund beschlich mich immer das Gefühl, dass die Jäger bedrohter waren als der Hase. Die Truhe war vermutlich in den Zwanziger- oder Dreißigerjahren entstanden, und ich brachte sie gerne zum Einsatz, weil ihre Patina eine authentische, Unheil verkündende Stimmung erzeugte.

Als das letzte Gerät darin verstaut war, klappte ich die Truhe mit einem theatralischen Knall zu und brachte mein altertümliches Spulentonbandgerät zum Vorschein.

Ich besaß natürlich eine digitale Kopie der Aufnahme. Genauer gesagt, hatte ich die MP3-Datei auf dieses Tonband überspielt. Es diente mir wie die Truhe lediglich als romantisches Requisit, mit dem ich den Leuten, die sich hier in dieser alten Spielhalle im Univiertel von Seattle einfanden, eine fesselnde Show zu bieten versuchte.

Sie kamen aus Kellerzimmern in ihrem Elternhaus, aus verwahrlosten Einzimmerwohnungen, hippen Penthouse-Apartments in Wolkenkratzern, Blockhütten im Wald. Sie alle waren hier, um etwas über das Spiel zu erfahren. Sie kamen her, um das Prescott Competition Manifest, kurz PCM, anzuhören.

Just als ich die Play-Taste drücken wollte, fragte jemand ganz hinten: »Stimmt es, dass du Alan Scarpio kennst?«

»Ja, das stimmt. Ich bin ihm jedenfalls mal begegnet, während der neunten Runde«, antwortete ich und hielt in der Menge Ausschau nach dem Mann, der die Frage gestellt hatte. Es waren etwa vierzig, fünfzig Leute hier, die in Reihen gestaffelt sitzen mussten, weil die Spielhalle nicht sehr geräumig war. »Die meisten Leute glauben, dass Scarpio die sechste Runde gewonnen hat«, fügte ich hinzu.

»Das wissen wir. Erzähl uns was Neues.«

Ich hatte den Mann immer noch nicht entdeckt. Bei dem Radau von Flippern und Automaten war es nicht leicht, die Stimme zu orten.

»Alan Scarpio ist ein Milliardär und Lebemann, der mit Johnny Depp abhängt«, bemerkte ein junger Mann, der an einem alten Donkey-Kong-Jr-Automaten lehnte. »Kaum vorstellbar, dass Scarpio sich am Spiel beteiligt.«

»Vielleicht hat er gespielt, aber es gibt keinen Beweis, dass er gewonnen hat«, sagte eine Frau in einem Titanica-Shirt. »Auf der Liste vom Circle steht Californiac, nicht Alan Scarpio.«

Der Circle. Noch so ein Thema, auf das ich regelmäßig eingehen musste. Aber nicht jetzt.

»Und wie erklärt man sich dann, dass er mit einem Schlag so reich war?«, erwiderte Sally Berkman. Das war ein bekannter Einwand beim Thema Scarpio. »Er muss Californiac sein. Ergibt doch auch Sinn, er stammt aus San Francisco.«

»Deshalb muss er das natürlich sein, klarer Fall«, spottete der Donkey-Kong-Jr-Typ. Er wollte eindeutig stänkern.

»San Francisco liegt in Kalifornien«, versetzte Sally. »Californiac.«

»Nicht dein Ernst, was?« Mr. Donkey Kong schüttelte den Kopf.

»Ich würde sagen, ich spiele euch jetzt mal vor, was ihr alle hören wollt«, sagte ich. Wenn ich sie weiter darüber debattieren ließ, ob Scarpio Californiac war oder nicht, würden wir den Rest der Nacht noch hier sitzen. Mal wieder.

Ich nickte einer jungen Frau zu, die am Eingang stand, und sie schaltete das Licht aus. Die Frau war zweiunddreißig, hatte helle, klare Augen, blondes Kraushaar und hieß Chloe. Sie arbeitete für den Magier und war eine gute Freundin von mir.

Dem Magier gehörte die Spielhalle.

Während der Prohibition war sie mal eine Flüsterkneipe gewesen. In den Achtzigern war daraus eine Spielhalle mit Pizza-Imbiss geworden. Der Pizzaofen war schon seit über zehn Jahren nicht mehr in Betrieb, die Spielhalle war eine Art Überbleibsel. Niemand kapierte, wie es dem Magier gelungen war, sie während des Siegeszugs von Spielkonsolen und Taschencomputern am Laufen zu halten, aber irgendwie hatte er es geschafft.

Sich hier aufzuhalten, war wie eine Zeitreise. Backsteinwände und bloß liegende Rohre an der Decke ergaben zusammen mit den grellbunten Bildschirmen und schneidenden Sounds der Arcade-Automaten einen sonderbaren Mix aus Anachronismen, der sich angenehm behaglich anfühlte.

Chloe nannte ihn »Achtzigerjahre Industrial«.

Der Magier war wegen irgendeiner Recherche verreist, aber er ließ sich bei den Versammlungen ohnehin nie blicken. Während der achten Runde hatte er ein paar von uns erlaubt, hier Treffen abzuhalten.

Runde acht endete 2007 und wurde angeblich von einer Person namens Hazel gewonnen, die das Spiel anschließend unter mysteriösen Umständen abbrach. Seit damals war die Spielhalle eine Art Clubhaus für diejenigen, die dem Spiel noch immer verfallen waren, nachdem alle anderen längst aufgegeben hatten.

Ich startete die Aufnahme, und die Stimme von Dr. Abigail Prescott erfüllte den Raum.

… Das Level an Verschwiegenheit ist besorgniserregend, ebenso wie die Zahl der Mitspieler … RAUSCHEN … Vom Ausgangspunkt bis zum ersten Zielpunkt herrscht Chaos, kein Algorithmus kann hier eine Logik erkennen … KNISTERN … Lange Zeit hatte es geruht, bis 1959 die ersten Hinweise auftauchten … ein Eintrag in der Washington Post, ein Brief an den Herausgeber sowie der Text eines Songs von den Everly Brothers. Zusammengenommen war dies das erste Indiz dafür, dass das Spiel zurückgekehrt war. Eine Studentin in Oxford hat alles entschlüsselt und ihren Professor in Cambridge eingeweiht … KNISTERN … Der Name Rabbits bezieht sich auf ein Bild von einem Kaninchen an der Wand eines Waschsalons in Seattle. Rabbits war nicht der Name dieser spezifischen Spielrunde, ebenso wenig wie es der Name der aktuellen Runde ist … Soweit wir es beurteilen können, haben die Spielrunden, zumindest in der modernen Ausführung, keine Namen. Sie werden von den Spielern durchnummeriert, die Gewinner werden der Reihe nach im sogenannten Circle aufgelistet, das ist … RAUSCHEN.

… sollten gewarnt werden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Berichte von physischen als auch psychischen Risiken nur lückenhaft dokumentiert sind und … RAUSCHEN.

Über dem Bild des Kaninchens in diesem Waschsalon in Seattle stand 1959 angeblich unter der Überschrift MANIFEST folgender Text:

Wer spielt, der schweigt.

Finde die Tür, die Pforte, die Brunnen und Orte.

Wer spielt, der schweigt.

Tritt durch die Tore von Leben und Hölle.

Wer spielt, der schweigt.

Die Wächter sind wachsam und allzeit zur Stelle.

Wer spielt, der schweigt – für alle Zeit.

Das war es. Rabbits. Der Grund, aus dem alle hierherkamen, begierig auf neue Infos, ein Zeichen oder irgendetwas, das auf die nächste Runde hinwies – elf oder auch: XI.

Hatte sie schon begonnen?

Oder war es bald so weit?

War die zehnte Runde wirklich zu Ende?

Ich ließ Dr. Abigail Prescotts Worte im Raum verklingen und eröffnete dann die Gesprächsrunde.

»Irgendwelche Fragen?«

»Was kannst du uns über Prescott erzählen?«, fragte ein Mann, der einen Canadian Tuxedotrug – dunkles Jeanshemd, hellere Jeans –, mit sonorer Stimme. Nebenbei spielte er Robotron:2084, ein Game, das in den Achtzigerjahren für Williams Entertainment entwickelt worden war. Der Mann war Baron Corduroy, ein guter Freund. Er hatte von mir den Auftrag bekommen, die passenden Stichwörter für die Show zu liefern.

»Also, wir wissen über Dr. Abigail Prescott nur, dass sie angeblich mit Professor Robert Wilson von der Stanford University zusammengearbeitet hat, der auf die Anwendung von Spieltheorie in den Wirtschaftswissenschaften spezialisiert ist. Und wohl auch mit dem Quantenphysiker Ronald E. Meyers. Ansonsten hat bisher niemand irgendetwas Brauchbares über Prescott in Erfahrung bringen können. Manche halten den Namen für ein Pseudonym, aber auch das ist nicht bewiesen.«

»Ein Pseudonym wofür?«, fragte Dungeon Master Sally.

»Keine Ahnung«, antwortete ich, was der Wahrheit entsprach. Der Name war eine Chiffre. Man konnte nichts über Prescott herausfinden, weder online noch sonst wo – und ich habe mich echt angestrengt, das kann ich euch versichern.

»Wie bist du an diese Aufnahme gekommen?« Wieder der Typ von hinten, den ich nicht erkennen konnte.

»Na ja, wie die meisten von euch sicher wissen, ist das Prescott Competition Manifest, kurz PCM, so gut wie nirgends aufzuspüren. Kaum wird es irgendwo auf einer Datensharing-Plattform hochgeladen, ist es schneller wieder verschwunden, als die großen Hollywoodfirmen ihreTrailer-Leaksaus dem Netz nehmen. Diese Aufnahme ist nur ein Fragment, aber zurzeit unsere beste Quelle zum Spiel.« Ich legte eine dramatische Pause ein. »Der Ausschnitt ist mir von jemandem zugespielt worden, der fast die achte Runde gewonnen hätte.« Das war gelogen. Ich hatte die Aufnahme für Bitcoins im Wert von sechsundzwanzig Dollar im Darknet gekauft.

Alle schwiegen beeindruckt.

Sie liebten es, wenn ich die nummerierten Runden des Spiels und auch den Circle erwähnte – die Liste jener Personen, die jeweils eine Runde von Rabbits gewonnen hatten. Und besonders versessen waren alle auf Hazel.

Es gab noch andere legendäre Spielende: zwei Leute aus Kanada, Nightshade und Sade Palomino; ControlG, den Gewinner der zehnten und bislang offenbar letzten Runde des Spiels; den brasilianischen Anarchisten, der sich 6878 nannte; und natürlich Murmur, den skrupellosesten von allen, der angeblich seine Frau geopfert hatte, um bei Runde neun die Nase vornzuhaben. Aber so gut sie auch sein mochten – Hazel stellte sie alle in den Schatten.

Hazel brachte ich immer zum Schluss.

»Komm schon, erzähl uns was, das wir noch nicht wissen.« Wieder mein Freund Baron.

Diesmal drehte er sich nicht mal um, während er spielte. Ich musste ihm unbedingt stecken, dass er sich mehr engagieren sollte, wenn er seinen Anteil an der Kohle einstreichen wollte.

»Also, angeblich soll es eine mysteriöse Macht hinter den Kulissen des Spiels geben«, begann ich. »Irgendeine bedrohliche und manchmal auch tödliche Kraft. Etwas, das im Dunkeln sitzt und nur darauf wartet, dass man beim Spielen einen Fehler macht.« Ich hielt einen Moment inne und senkte die Stimme, als ich weitersprach. »Folgende Warnung ist auf einer Dewey-Dezimalkarte entdeckt worden, die bei einem Trödler in Schottland in einem Bibliothekskasten steckte.«

Ich räusperte mich bedeutungsvoll und zitierte dann:

»Vergiss nicht das Spiel, sonst ist die Welt tot.

Folge Mustern und Zeichen, sonst gerätst du in Not.

Wir lauern im Schatten und greifen ein,

Stolperst du blindlings durchs Tor hinein

In die Welt, in der alles bestimmt ist,

Verlust oder Sieg kein wirkliches Ziel ist.

Also spiel, kleiner Mensch, spiele das Spiel.«

»Wow, hochdramatisch.« Wieder der Unsichtbare.

Ich spähte angestrengt in die Menge und entdeckte ganz hinten eine grüne Armeejacke, die sich bewegte.

Wer war der Typ? Er hatte ja keine Ahnung. Klar zog ich eine Show ab, nährte den Hype um das Spiel. Doch tief im Innern wusste ich, dass ich ein ziemliches Risiko einging. Ja, Rabbits war ein Spiel. Aber die Bedrohung, die von ihm ausging, war echt. Sie hatte auch in mir Spuren hinterlassen. Spuren, die von Verlust und Trauer genährt wurden. Spuren, die Albträume gebaren.

Ich räusperte mich.

»Das also ist Rabbits«, schloss ich. »Existiert dieses Spiel wirklich? Und wenn ja, ist es gefährlich, vielleicht sogar tödlich? Lauern die Wächter in den Schatten auf diejenigen, die trotz aller Warnungen nicht schweigen wollen? Auf uns?« Ich spürte ein unangenehmes Prickeln zwischen den Schulterblättern und unterdrückte das Bedürfnis, mich umzudrehen. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerten die Bilder jener Nacht in meinen Gedanken auf, in der Annie gestorben war. Ich drängte dieses graue Gefühl, das in mir aufstieg, beiseite und ließ den Blick demonstrativ über die Menge schweifen. »Niemand weiß, was man gewinnen kann. Grässliche Strafen drohen, wenn man Geheimnisse verrät – eigentlich kaum vorstellbar, dass jemand das freiwillig spielen will.« Ich holte tief Luft. »Noch Fragen?«

»Meine Freundin sagt, sie hat Beweise, dass die elfte Runde begonnen hat«, meldete sich eine Frau mit rotem Stirnband zu Wort. Sie war eine neue Teilnehmerin und saß am Boden, an einen Dragon’s-Lair-Automaten gelehnt.

»Bei allem Respekt für deine Freundin – die Experten sind sich einig, dass das Spiel seit dem Ende der zehnten Runde ruht. Niemand weiß, ob – oder wann – es fortgesetzt wird.«

»Und was ist mit Hazel?« Diesmal kam Barons Einsatz prompt.

»Ich fürchte, das war’s für heute.«

Enttäuschtes Ächzen und Stöhnen.

»Aber wenn ihr mehr Information wollt – auf meiner Website findet ihr ein nagelneues PDF zum Runterladen.«

Normalerweise drängt gut die Hälfte der Truppe danach noch nach vorn, um mich mit Fragen zu löchern. Ich erzähle dann gern Geschichten über Hazel oder andere Berühmtheiten aus der Spielerrunde. Aber heute gab es in zwanzig Minuten, Punkt Mitternacht, im Grand Illusion Theatre eine Sondervorstellung von DonnieDarko. Und wer sich für Rabbits interessiert, ist immer auch ein Fan von Richard Kellys Science-Fiction-Thriller von 2001.

Ich verabschiedete mich von den Anwesenden, als sie ihre Telefone und Laptops abholten und dann in den Regen hinaushasteten, um den Film nicht zu verpassen.

Nachdem sie verschwunden waren, zählte ich die Spenden. Zweihundertzwei Dollar. Ich packte den Anteil des Magiers in die grüne Schließkassette und verstaute sie unterm Tresen.

»Hier ist gerade viel Mist verzapft worden.« Das war die Stimme von vorher, die zu dem Mann mit der grünen Armeejacke gehörte. Darunter trug er einen dünnen schwarzen Hoodie, der sein Gesicht verbarg. Der Typ spielte Robotron: 2084 an dem Automaten, an dem Baron die ganze Zeit gestanden hatte. Während des allgemeinen Aufbruchs mussten mein Freund und dieser Mann den Platz getauscht haben.

»Wo ist Baron?«, fragte ich misstrauisch.

»Wer?«

»Der Typ, der vorher hier gespielt hat.«

»Ich glaube, der wollte auch Donnie Darko sehen.«

Klar. Baron schaltete auf Durchzug, wenn ich über Rabbits redete, blechte aber bereitwillig sieben Dollar für einen Film, den er bestimmt schon achtzigmal gesehen hatte.

»Nicht übel«, sagte der Mann und wies mit dem Kopf auf den Bildschirm.

Ich trat näher und sah den Punktestand.Er war wirklich nicht übel. Genauer gesagt war er wesentlich höher, als ich Baron zutraute, und der war der beste Robotron-Spieler, den ich kannte.

»Ich hab früher ständig an diesen Automaten gespielt.« Der Mann drehte sich um und nahm die Kapuze ab.

Ich erkannte ihn auf den ersten Blick.

Zweierlei sollte an dieser Stelle erwähnt werden. Erstens: Der Typ, der in der Spielhalle des Magiers Robotron spielte und mich gefragt hatte, ob ich Alan Scarpio kannte, war kein anderer als der berühmte, zurückgezogen lebende Milliardär, Wohltäter und mutmaßliche Gewinner der sechsten Runde von Rabbits: Alan Scarpio höchstpersönlich. Zweitens muss ich gestehen, dass ich zwar behauptet hatte, ihn zu kennen, ihm tatsächlich aber nie zuvor begegnet war.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte er.

»Wobei?«, fragte ich.

»Mit Rabbits stimmt etwas nicht, und du musst mir helfen, es in Ordnung zu bringen.« Mit diesen Worten wandte sich Alan Scarpio wieder seinem Spiel zu.

Ich starrte auf seinen Rücken. Mit Rabbits stimmt etwas nicht, hallte es in meinem Kopf wider.

Hatte je etwas mit Rabbits gestimmt?

NOTIZEN ZUM SPIEL: NACHRICHT VON HAZEL (authentifiziert)

Online-Spielsucht wird von der WHO als ein Spielverhalten charakterisiert, das außer Kontrolle gerät, und zwar so weit, dass Spielen im Internet wichtiger wird als andere Interessen und der Alltag und dass negative Folgen nicht mehr beachtet werden.

Aber die negativen Folgen sind real.

Vergesst also nicht, zu trinken. Und denkt daran, jemandem Bescheid zu sagen, bevor ihr aus dem Haus geht, um einem seltsamen Hinweis zu folgen, den niemand außer euch für einen Hinweis hält.

Seid vorsichtig da draußen.

– Hazel 8

3 Rhabarber wächst so schnell, dass man es hören kann

Der Boden bestand aus dreihundertfünfundneunzig weißen und vierhundert schwarzen Kacheln. Mit einundzwanzig Schritten war ich bei der Nische.

In dem kleinen Fernseher über der Milchshake-Maschine lief ein Dodgeball-Spiel mit Promis. Vor dem Fenster war ein neongrüner Dodge Challenger geparkt. Dodge.

Alan Scarpio lächelte und schwenkte seine Kuchengabel. »Ist dieser Laden nicht fantastisch?«

»Ja, echt stark.«

»Ich hab schon mal Kaffee bestellt«, sagte er und wies mit dem Kopf auf die weiße Tasse vor mir.

»Danke.« Ich ließ mich auf der schäbigen Kunstlederbank nieder.

Es war ein ziemlich abgeranzter Diner aus den Sechzigern, direkt gegenüber von der Spielhalle des Magiers. In jeder Sitznische stand eine kleine Jukebox, einige funktionierten wahrscheinlich sogar noch.

Ich konnte kaum glauben, dass ich hier gerade Alan Scarpio, einem der reichsten Männer der Welt, dabei zuguckte, wie er ein Stück Rhabarberkuchen verputzte.

Dodgeball.

Dodge Challenger.

Trug die Frau ganz hinten nicht eine Basecap von den L.A. Dodgers? Die Kachelmuster an der Wand – vier, fünfzehn, sieben, fünf – entsprachen dem Buchstabenwert von »Dodge«.

Ich war nervös.

Wenn ich früher, als Kind, Angst hatte, versuchte ich zwanghaft irgendwelche Muster zu erkennen. Oft ging das so weit, dass ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. Als die Panikattacken immer häufiger auftraten und heftiger wurden, musste ich eigene Mechanismen entwickeln, um sie durchzustehen. Meist half es, wenn ich mir vertraute Muster und Abläufe ins Gedächtnis rief. Am wirksamsten war Tennis.

Ich liebe Tennis und habe ganze Matches im Gedächtnis abgespeichert. Das gilt zwar auch für Baseballspiele und Dialoge aus Horrorfilmen, aber meine effektivste Selbsthilfe ist seit jeher Tennis.

Eines meiner Lieblingsmatches aller Zeiten war das Viertelfinale bei den US Open 2001, Pete Sampras gegen Andre Agassi. Ich klopfte dann passend zu den Ballwechseln auf meine Oberschenkel – Sampras links, Agassi rechts. Hatte jedes Serve-and-Volley-Spiel vor Augen, jeden Return, und nach einer Weile verlor das, was mir gerade Angst machte, seine Macht, und ich konnte mich entspannen. Diese Technik hatte mir nach dem Autounfall mit den Connors-Schwestern enorm geholfen – und auch drei Jahre später, nachdem meine Eltern bei einem Fährunfall in Griechenland ums Leben gekommen waren.

In den Jahren nach dem Tod meiner Eltern entwickelte ich verschiedene Atem- und Entspannungstechniken, um meine Panikattacken zu bekämpfen. Diese Übungen, zusammen mit neueren Medikamenten gegen Angststörungen, ermöglichten es mir irgendwann, mit dem Tennisspielen auf meinen Beinen aufzuhören.

Jetzt hatte ich schon fast zwei Sätze von dem Match Sampras gegen Agassi durch, als mir auffiel, was ich da tat. Ich riss die Hände von den Knien und trank einen Schluck Kaffee. Diese Tennisnummer hatte ich seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr abgezogen.

Mist, was machte mich so nervös?

Scarpio war angeblich fünfundfünfzig, sah aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Ich schätzte ihn auf knapp eins achtzig. Er war weißhäutig, hatte zerzauste braune Haare und kühle blaue Augen, und auf seinem Gesicht lag ein verschmitztes Grinsen. Zu dem Hoodie trug er dunkelblaue Jeans, abgewetzte braune Desert Boots und ein weißes Oxfordhemd. Wenn er sprach, hörte man einen ganz leichten Akzent, aus England oder Wales vielleicht.

»Rhabarber wächst so schnell, dass man es hören kann, wusstest du das?«, fragte er jetzt.

»Echt?« Das hatte ich noch nie gehört.

»Ja. Ich hab eine Aufnahme auf dem Handy, falls es dich interessiert.«

»Ähm … cool.«

»Ich verarsch dich bloß.« Er verspeiste weiter den Kuchen. »Es stimmt zwar, Rhabarber wächst schnell, und auf meinem Handy kann man sich das anhören. Aber das ist dir doch total egal. Du willst wissen, weshalb ich hier bin, warum ich in der Spielhalle aufgetaucht bin und vor allem … warum ich dich um Hilfe bitte.« Er grinste noch breiter. »Hab ich recht?«

»Ja, schon … Wobei die Sache mit dem Rhabarber echt spannend klingt.«

Scarpio nickte. »Du lügst. Macht aber nichts.« Er spürte jeden einzelnen Kuchenkrümel mit der Gabel auf. »Bist du sicher, dass ich dich nicht zu irgendwas einladen kann? Dieser Kuchen ist verdammt lecker.«

»Danke, alles gut.« Ich trank einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee.

»Puh, satt«, sagte Scarpio, nachdem er den letzten Krümel verspeist hatte, und lehnte sich zurück.

Ich wartete, hielt es dann aber nicht länger aus.

»Also, warum bist du in der Spielhalle aufgetaucht?«, fragte ich.

»Das wundert dich.«

»Sehr.«

»Kann ich verstehen. Mich sieht man ja sonst nur im Fernsehen oder im Internet. Hab neulich selbst mal so was erlebt. Da hab ich den Schauspieler Gary Busey in einer Bar gesehen. Er war mir so vertraut, dass ich ihn angelächelt habe wie einen alten Freund, als ich an ihm vorbeiging.«

»Ist das der mit der irren Verschwörungserzählung?«

»Kann schon sein. Er hat jedenfalls in Gefährliche Brandung mitgespielt. Klassiker. Zwei Frikadellen-Sandwiches.« Scarpio hielt zwei Finger hoch und schrie quer durchs ganze Lokal: »Bring mir zwei, Utah!«

»An die Szene erinnere ich mich nicht«, sagte ich. Jetzt trat die Kellnerin an unseren Tisch und starrte Scarpio so erbost an, als wäre er ein Kind, das gerade seinen Milchshake umgekippt hatte.

»Alles okay hier?« Die Frau sah erschöpft aus. Das Weiße in ihren großen graugrünen Augen war rot geädert, und ihrer heiseren Stimme nach zu schließen, hatte sie heute schon etlichen anstrengenden Idioten die Speisekarte runtergerattert. Wahrscheinlich hatte sie bald Feierabend und wollte auf keinen Fall noch Stress.

»Alles bestens. Ich entschuldige mich für diesen Auftritt. Wir wollen gar keine Frikadellen-Sandwiches. Wird nicht wieder vorkommen.« Scarpio lächelte sie gewinnend an.

»Danke«, sagte sie. »Ich hab nämlich heute echt keine Kraft mehr, um jemanden rauszuschmeißen.« Sie lächelte, zwinkerte ihm müde zu und goss mir Kaffee nach.

»Danke.«

»Gerne.« Sie rang sich ein weiteres Lächeln ab, sichtlich erleichtert, dass wir ihr den Abend nicht versauen würden.

Offenbar hatte sie Alan Scarpio nicht erkannt. Vielleicht würde sie versuchen rauszukriegen, wer er war, wenn sie später merkte, dass er ihr auf eine Rechnung von sieben Dollar dreihundert Dollar Trinkgeld gegeben hatte. Die hatte er nämlich unter den Kuchenteller gesteckt, nachdem sie verschwunden war.

Dann holte er sein Handy raus und legte es auf den Tisch. »Was weißt du über Rabbits?«

Ich blickte auf das Handy und versuchte zu begreifen, worauf das hier hinauslaufen sollte. Vielleicht wollte er unser Gespräch aufnehmen, aber ich sah keine Audio-Rekorder-App auf dem Display, nur die Zeit und ein Foto von einem niedlichen Hund – eine Art Spaniel mit einem hellblauen Tuch um den Hals.

»Na ja, ich weiß das, was die meisten Leute wissen, die sich für das Spiel interessieren«, antwortete ich ausweichend.

»Und das wäre?«

Ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf Scarpio hinauswollte. Sollte er tatsächlich Californiac sein, der mutmaßliche Gewinner der sechsten Runde, wusste er tausendmal mehr als ich. Und wenn er nicht Californiac war, na ja, dann war er immer noch Milliardär und konnte locker Experten anheuern. Ich meine, versteht mich nicht falsch, ich weiß eine Menge. In meinem Freundeskreis und unter den Anhängern, die ich kenne, gelte ich als Rabbits-Autorität. Aber Scarpio konnte sich die Besten holen – oder zumindest imposantere Kandidaten als unterbeschäftigte Gamer, die auf ihren Oberschenkeln alte Tennismatches trommelten.

»Bist du besorgt wegen der Warnungen?«, fragte Scarpio und zitierte das Prescott Competition Manifest. »›Wer spielt, der schweigt‹?«

»Natürlich nicht«, antwortete ich und tat cool. Obwohl ich wie alle Interessierten die Gerüchte kannte, die sich um Rabbits rankten. Obwohl von mysteriösen Wächtern die Rede war – gefährlichen Gestalten, die angeblich vor nichts zurückscheuten, um das Spiel unter allen Umständen geheim zu halten. Obwohl ich meine eigenen schemenhaften Erinnerungen hatte, die mich frösteln ließen. Auch jetzt.

»So geht mein Meister auf geheimem Pfade«, sagte Scarpio.

»Wie bitte?«, fragte ich.

»Zitat von Dante, aus dem Teil über die Hölle.«

»Ja, kenne ich. ›So geht mein Meister auf geheimem Pfade, der zwischen Martern sich und Mauer hinzieht. Und wandelnd folg ich seinen Schultern …‹ Oder so ähnlich.«

»Spitze«, sagte Scarpio.

»Danke. Ich hatte das mal im Studium. Was … ich meine, warum …?«

»Entschuldige, ich habe schon den ganzen Tag versucht, mich an diese Stelle zu erinnern.«

»Und wieso hast du sie nicht einfach gegoogelt?«

»Das macht doch keinen Spaß.« Scarpio lächelte und trank einen Schluck Kaffee, und plötzlich hörte ich sonderbare knirschende und knackende Geräusche. Wie krachende Äste im Wald, splitternde Scheiben …

»Was sind das für Geräusche?«, fragte ich alarmiert. Einen Atemzug lang kam es mir vor, als flackerte das Licht im Diner. Ich riss mich zusammen.

»Der Rhabarber«, sagte Scarpio und deutete auf sein Handy. »Der ist so verdammt unheimlich. Leg ein bisschen Hall drauf, und du hast den Soundtrack für einen Horrorstreifen.«

Ich nickte. Es klang wirklich gruselig.

Scarpio starrte mich an, als wartete er auf etwas. Dann lächelte er.

»Mit dem Spiel stimmt etwas nicht«, sagte er.

»Was soll das heißen?«

»Das weiß ich eben nicht genau. Aber wenn wir das vor Beginn der nächsten Runde nicht auf die Reihe kriegen, sind wir alle geliefert.«

In diesem Moment summte Scarpios Handy. Er warf einen Blick aufs Display. »Entschuldige mich einen Moment.«

Er meldete sich. »Was gibt’s?«

Ich sah, wie er bleich wurde.

»Bist du sicher? Okay, ich bin gleich da.« Er beendete das Gespräch und sagte zu mir: »Ich muss leider los. Hab einen Termin. Könntest du mich zum Auto begleiten?«

»Ähm … klar …«

»Dann können wir noch kurz weiterreden.«

Wenn Alan Scarpio mit mir sprechen wollte, würde ich bis ans Ende der Welt neben ihm hertraben.

Draußen schlug ich den Kragen hoch, weil ein leichter Regen fiel. Scarpio schien er nichts auszumachen. Er marschierte zügig los; ich musste mich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.

»Ich werde dir alles erzählen, was ich weiß, versprochen«, sagte er. »Aber vorher muss ich ein paar Dinge klären, wenn das okay für dich ist.«

»Na klar.«

»Super. Also fangen wir noch mal mit meiner ersten Frage an. Was weißt du über Rabbits?«

Auf dem kurzen Weg zu Scarpios Auto, das er ein paar Straßen weiter geparkt hatte, gab ich mein Wissen über das Spiel zum Besten: dass es komplett geheim war, ein Untergrundspiel, das zur Obsession wurde, und dass man nicht darauf aufmerksam wurde, wenn man nicht gezielt danach suchte. Dass es angeblich uralt war, möglicherweise in Zusammenhang stand mit den Tempelrittern, den Illuminati und der Thule-Gesellschaft. Ich berichtete auch, was ich über die Preise für die Sieger gehört hatte: Rekrutierung für CIA oder NSA, Millionen Dollar, Unsterblichkeit. Dass die Liste der Gewinner, genannt der Circle, nach dem Ende jeder Runde überall auf der Welt auftauchte. Dann erzählte ich ihm, was ich über Hazel wusste, die berühmteste Spielerpersönlichkeit, die angeblich ausgestiegen war, nachdem sie die achte Runde gewonnen hatte. Ich endete mit der Information, dass die meisten Rabbits-Fans glaubten, Scarpio sei Californiac, der Runde sechs gewonnen habe und deshalb quasi über Nacht Milliardär geworden sei. Dabei beobachtete ich ihn ganz genau, aber sein Gesicht verriet nicht das Geringste.

Zuletzt sagte ich: »Und alle glauben, dass die zehnte Runde Anfang 2021 zu Ende ging und wir jetzt auf den Anfang der elften Runde warten.«

»Das ist alles?«, fragte Scarpio.

»Mehr fällt mir im Moment nicht ein«, antwortete ich. Wir waren bei Scarpios schwarzer Tesla-Limousine angekommen.

»Können wir uns morgen weiter unterhalten?«, fragte Scarpio. »Bei einem späten Frühstück im selben Diner?«

»Klar, gern.«

»Super.« Scarpio zog ein schwarzes Lederkästchen hervor, nahm eine Visitenkarte heraus und reichte sie mir. Dicker beiger Karton, die Buchstaben intensiv schwarz. Man musste die Karte längs halten, um sie zu lesen. Sie war leer bis auf den Namen am oberen Rand und eine Telefonnummer in der Mitte.

»Morgen um elf im Diner«, sagte Scarpio. »Solltest du verhindert sein, ruf mich an. Aber es ist enorm wichtig. Wäre also gut, wenn es klappt.«

»Auf jeden Fall«, erwiderte ich, bemüht, nicht idiotisch zu grinsen.

»Prima. Bis morgen dann.« Er stieg in die schwarze Limousine und verschwand in der Nacht.

Ich blieb noch eine Weile stehen, sah dem Wagen nach und versuchte zu begreifen, was hier gerade passiert war.

Dass Scarpio von niemandem chauffiert wurde, wunderte mich zwar, passte aber zu ihm. Für einen Milliardär wirkte er erstaunlich schlicht. Wenn man mal davon absah, dass er ein Vermögen verdient hatte mit einem potenziell tödlichen Underground-Game, von dem die meisten Menschen noch nie etwas gehört hatten.

Aus gutem Grund.

NOTIZEN ZUM SPIEL: NACHRICHT VON HAZEL (authentifiziert)

Wenn ihr die Geschichte schon kennt, braucht ihr das Folgende nicht zu lesen: Ein Mann steht am Schalter für unzustellbare Sendungen und bittet einen Angestellten darum, nach einer bestimmten Briefmarke aus dem Jahr 1932 Ausschau zu halten. Ein Polarhase ist darauf abgebildet, die Marke stammt aus Thirland. Nun, wer sich ein bisschen mit Geografie auskennt, weiß, dass dieses Land nicht existiert.

Die Briefmarke ist aber wunderschön, ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.

Irgendetwas an dieser Marke fühlt sich seltsam an – als wäre sie dir schon mal untergekommen, als wüsstest du dein ganzes Leben lang von ihrer Existenz.

Aus dem Rauschen, mit dem sie uns verwirren, das Wichtige herauszuhören – das ist das Spiel des Lebens. Dieses Spiel hier funktioniert ganz ähnlich.

Nur weil du glaubst, dass in einer verborgenen Welt gefährliche geheime Prozesse im Gange sind, heißt das nicht, dass nicht wirklich in einer verborgenen Welt gefährliche geheime Prozesse im Gange sind.

– Hazel 8

4 Die Passagier-Diskrepanz

Meine Eltern kamen ums Leben, als ich gerade siebzehn war. Dass sie eines plötzlichen Todes starben, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, weil ich nicht weiß, wie lange sie im eiskalten Wasser unter der gekenterten Fähre noch lebten.

Meine Mutter war ein Einzelkind, und der Bruder meines Vaters – ein Onkel, den ich nie kennengelernt hatte – lehnte die Vormundschaft für mich ab. Sämtliche Großeltern waren schon tot, sodass ich ohne jede Verwandtschaft dastand.

Ich war damals schon mit der Schule fertig und wollte im nächsten Herbst mit dem Studium anfangen. Statt bis zu meiner Volljährigkeit betreut zu werden oder im Waisenhaus zu leben, focht ich vor Gericht um vorzeitige Mündigkeit.

Es war einfach. Ich vertrat mich selbst. Empfohlen wurde das nicht, aber was wussten die schon. Glaubt mir, ihr hättet meinen Antrag auch nicht abgelehnt, wenn ihr mich damals erlebt hättet. Mit siebzehn trat ich mit juristischem Fachchinesisch für meine Rechte ein wie die Hauptfigur aus einer Teenie-Komödie der frühen Neunziger.

Ich erbte eine bescheidene Summe von meinen Eltern, die ich später in Aktien investierte.

Vorher recherchierte ich fleißig und übte ein Jahr lang mit einer Börsensimulation. Weil ich die Fähigkeit besitze, relevante Muster und Schwankungen zu erkennen, konnte ich bei der Simulation aus siebzigtausend Dollar Spielgeld vierhunderttausend machen. Danach investierte ich mein reales Geld in Aktien. Im Jahr darauf verkaufte ich das Haus meiner Eltern und legte mir ein schlichtes Apartment in Capitol Hill zu.

Ich war ein junger Erwachsener, der in einer hippen Ecke von Seattle in einer Wohnung lebte, die er mit seinem eigenen Geld gekauft hatte. An der Uni hatte ich einen erstklassigen Notendurchschnitt erzielt, ohne mich groß dafür anstrengen zu müssen. Ich hatte ein altes Auto, ein cooles Motorrad und ein paar Leute um mich, denen ich mich nah genug fühlte, um sie als Freunde zu bezeichnen. An diesem Punkt im Leben hätte ich alles Mögliche machen können: an exotischen Stränden surfen, mich in einem Yoga-Ashram in Indien verrenken, um die Erleuchtung zu finden, in Prag mit Scharen amerikanischer Touristen bis zum Umfallen billiges Bier saufen oder dergleichen. Was tat ich stattdessen?

Videospiele zocken.

Das hatte ich auch schon gerne gemacht, als meine Eltern noch gelebt hatten. Doch nach ihrem Tod verbrachte ich quasi jede freie Minute damit. Es half mir, nicht darüber nachzudenken, was den beiden zugestoßen war.

Anfangs funktionierte es gut. Ich konnte mit den Spielen nicht nur meine rasenden Gedanken beruhigen, sondern schulte mich auch in der Kommunikation mit anderen Menschen. Die Chats in den Foren machten mich auf eine Weise geselliger, ohne dass ich aus meiner Nische rausmusste. Aber wie bei jemandem, der über einen langen Zeitraum Drogen nimmt, ließ die Wirkung irgendwann nach, und ich brauchte härteren Stoff.

Deshalb spielte ich immer mehr und schlief immer weniger.

Von Rollenspielen zu Ego-Shootern, alleine oder online – ich spielte alles. Ich war so süchtig, dass ich von Glück sagen konnte, wenn ich nachts zwei bis drei Stunden Schlaf bekam.

In dieser Phase wurde ich unter anderem Mitglied einer sehr aktiven Online-Community von Rollenspielern, konsumierte Alkohol in rauen Mengen und entging nur knapp einem längeren Psychiatrieaufenthalt.

Das Gericht entschied auf Hausfriedensbruch, aber eigentlich war es ein handfester Einbruch. Als ich im Keller des Harvard Exit Theatre, einem alten Kino, verhaftet wurde, hatte ich drei Tage lang nichts gegessen und nicht geschlafen.

Der Polizist, der mich festnahm, gab zu Protokoll, ich hätte gesagt, dass ich auf jemanden warten würde. Dass ich wichtigen Zeichen gefolgt sei und um eine bestimmte Uhrzeit in diesem Kino jemanden treffen müsse, den ich als »Der Passagier« bezeichnete.

Um ganz auszupacken: Es gab damals noch einige andere Faktoren, die sicher zu meinem verwirrten Geisteszustand beitrugen. Ein paar Tage vor meiner Verhaftung war mein Lieblingsmusiker Elliott Smith in Los Angeles gestorben, vermutlich durch Suizid. Mein Psychiater hatte vor Kurzem meine Medikation umgestellt, und unsere Familienhündin, ein brauner Chihuahua namens Ruby, war an den Folgen einer an sich ungefährlichen Zahnoperation gestorben. Ruby war alt, aber kerngesund gewesen. Durch ihren Tod verlor ich die letzte lebende Verbindung zu meinen Eltern und war am Boden zerstört.

Ruby war auch für mich da gewesen, als ich von der Pressekonferenz zurückgekehrt war, bei der bekannt gegeben worden war, dass niemand von der Fähre hatte lebend geborgen werden können.

Als meine Eltern offiziell für tot erklärt wurden, hielt ich in der ersten Zeit nur durch, weil Ruby gefüttert und ausgeführt werden musste.

Nachdem auch sie gestorben war, war ich endgültig mutterseelenallein.

Als ich eines Abends, nicht lange nach Rubys Tod, Underlight spielte, fiel mir ein anderes Spiel wieder ein, an das ich jahrelang nicht gedacht hatte. Meine Eltern hatten es in meiner Kindheit mit mir gespielt. Es hieß Connected.

In dem Spiel ging es darum, wiederkehrende Muster und Querverbindungen auf Bildern zu erkennen, die auf den ersten Blick nicht in einem Zusammenhang standen.

Meine Eltern spielten es zum ersten Mal mit mir an einem Wochenende im Spätsommer. Wir hatten eigentlich vor, abends im Autokino einen Film zu schauen, aber kurz bevor wir losfahren wollten, begann es heftig zu regnen. Ich war total wütend, weil ich es nämlich zum ersten Mal geschafft hatte, meinen Eltern die Erlaubnis für einen altersbeschränkten Film abzuschwatzen. Ich hatte mir 12 Monkeys ausgesucht, einen Science-Fiction-Film von Terry Gilliam, und sie hatten widerstrebend eingewilligt.

Ich rief beim Kino an, aber die meinten nur, wegen des Wetters seien alle Vorstellungen abgesagt. Meine Mutter beschloss, das sei kein Unglück, sondern Anlass für einen Spieleabend.

Sie machte Popcorn, und wir spielten zu dritt Monopoly. Das war natürlich kein Ersatz für den Film, aber ich spielte gern mit meinen Eltern und liebte das Popcorn meiner Mutter. Sie nannte es immer »ein Liefersystem für Butter«.

Später, nachdem wir zusammen Banana Split gemacht hatten (ein Liefersystem für Karamellsoße), stellte mein Vater eine abgegriffene schwarze Schachtel auf den Tisch, auf dem in moderner rostroter Schrift das Wort Connected stand. Diese Schachtel sah ich zum ersten Mal, obwohl ich den Inhalt unseres Spieleschranks in- und auswendig kannte.

Ich weiß noch, dass meine Mutter nicht gerade begeistert war, als sie das Spiel sah. Sie flüsterte meinem Vater zu, es könne sich ungünstig auf meinen »Zustand« auswirken. Mein Vater erwiderte, genau wegen meines Zustands sei das Spiel jetzt wichtig.

In der Schachtel befanden sich Karten mit unterschiedlichen Fotos. Auf der Rückseite standen Wörter oder Zahlen. Die Karten steckten in verschiedenfarbigen Umschlägen. Die Rückseiten der Karten durfte ich nicht sehen, nur die Bilder.

Mein Vater sortierte alles, zog dann eine Karte heraus und forderte mich auf, das Bild genau zu betrachten.

Es war ein Tiger in einem leuchtend grünen Dschungel.

Dann legte er die Karte beiseite und griff nach einer anderen. Darauf war eine Frau abgebildet, die an einem Resopaltisch in einer Küche mit Buchhaltung beschäftigt war. Die Möbel sahen nach Fünfzigerjahre aus.

Meine Mutter fragte mich, ob es irgendeine Übereinstimmung zwischen den beiden Bildern gebe. Ich antwortete, die Muster vom Tigerfell kämen auch in der Küchentapete vor.

Mein Vater griff nach einem dritten Kärtchen.

Das Foto war in einer Kneipe aufgenommen worden, im Vordergrund stand eine Bierflasche auf einer alten Wurlitzer-Jukebox.

Mein Vater wollte wissen, ob es eine Übereinstimmung zwischen dem dritten und dem zweiten Bild gebe. Ich antwortete, die Zeit auf der Küchenuhr entspreche der Anzahl der Songs in der Jukebox.

Das ging noch eine Weile so weiter, bis ich nirgendwo mehr Übereinstimmungen finden konnte. Damit war die Spielrunde beendet.

Wir spielten es in den nächsten Monaten immer wieder. Es machte mir zwar Spaß, Zeit mit meinen Eltern zu verbringen, aber ich verstand unter einem Spiel etwas anderes, als auf Karten zu starren und nach Übereinstimmungen zu suchen. Nach einer Weile fand ich es so langweilig, dass mir vor dem Anblick der schwarzen Schachtel mit den rostroten Buchstaben regelrecht graute.

Doch als wir es zum letzten Mal spielten, war etwas anders.

Meine Eltern gingen mit mir zum Pancake-Essen in ein Restaurant. Diesmal gab es keine Karten. Diesmal suchten wir nach Übereinstimmungen in der realen Welt.

Mein Vater forderte mich auf, in dem Lokal nach Dingen Ausschau zu halten, zwischen denen es einen Zusammenhang geben könnte.