Reformiert euch! - Ayaan Hirsi Ali - E-Book

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Ayaan Hirsi Ali

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Beschreibung

Das wichtigste Buch zur Islam-Debatte: Ayaan Hirsi Ali und ihr Plädoyer für eine Reformation des Islam

Ihre eigene Biographie und intime Kenntnis der islamischen Gesellschaften und Kultur sowie ihre Forschungen machen Ayaan Hirsi Ali zu einer der wichtigsten Stimmen in der Debatte über den Islam. Ihr neues, von Optimismus getragenes Buch, an dem sie seit Jahren arbeitet, kommt im richtigen Moment: Es nimmt die Terroranschläge in Paris zum Ausgangspunkt, bietet fundierte Einordnung und Hintergründe, vor allem aber bezieht Hirsi Ali klar Stellung: gegen einen erstarrten Islam und dessen Tolerierung durch den Westen. Und für eine Reformation ihrer Religion durch die Muslime, die sie bereits auf dem Weg sieht.

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Ayaan Hirsi Ali

Reformiert euch!

Warum der Islam sich ändern muss

Aus dem Englischen von

Michael Bayer, Enrico Heinemann

und Eva-Maria Schnitzler

Knaus

Das Original erschien 2015 unter dem Titel »Heretic«

bei Harper Collins Publishers, New York.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Die Zitate aus dem Koran entstammen der Übersetzung von Hartmut Bobzin, unter Mitarbeit von Katharina Bobzin (München 2010).

ert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Harper Collins

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Dunja Reulein

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17462-0

www.knaus-verlag.de

Für Niall und Thomas

Inhalt

Einleitung – Ein Islam, drei muslimische Gruppierungen

Kapitel 1 – Die Geschichte einer Häretikerin

Meine allmähliche Abkehr vom Islam

Kapitel 2 – Warum der Islam sich nie reformiert hat

Kapitel 3 – Mohammed und der Koran

Wie die bedingungslose Verehrung des Propheten und seines Buches Reform verhindert

Kapitel 4 – Die den Tod lieben

Die fatale Ausrichtung des Islam auf das Jenseits

Kapitel 5 – In den Fesseln der Scharia

Was die Muslime im 7. Jahrhundert gefangen hält

Kapitel 6 – Soziale Kontrolle beginnt zu Hause

Wie das Gebot, das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu erbieten, die Muslime auf Linie hält

Kapitel 7 – Dschihad

Warum der Aufruf zum »heiligen Krieg« ein Freibrief für Terror ist

Kapitel 8 – Toleranz im Zwielicht

Die muslimische Reformation

Anhang

Muslimische Dissidenten und Reformer

Einleitung – Ein Islam, drei muslimische Gruppierungen

In _________ stürmte eine Gruppe von _________ schwer bewaffneten, schwarz gekleideten Männern in ein _________, eröffnete das Feuer und tötete insgesamt _________ Menschen. Die Angreifer wurden dabei gefilmt, wie sie »Allahu akbar!« brüllten.

Bei einer Pressekonferenz sagte Präsident _________: »Wir verurteilen diesen kriminellen Akt von Extremisten. Ihr Versuch, diese Gewalttaten im Namen einer Religion des Friedens zu rechtfertigen, wird jedoch keinen Erfolg haben. Mit gleicher Härte verurteilen wir diejenigen, die diese Gräueltat als Vorwand für islamophobe Hassverbrechen nehmen.«

Als ich Anfang des Jahres die Einleitung überarbeitete, hätte ich natürlich etwas Konkreteres schreiben können, zum Beispiel:

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei schwer bewaffnete, schwarz gekleidete Männer die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris, eröffneten das Feuer und töteten insgesamt zehn Menschen. Die Angreifer wurden dabei gefilmt, wie sie »Allahu akbar!« brüllten.

Doch bei näherer Überlegung gab es keinen Grund, Paris als Beispiel zu nehmen. Nur wenige Wochen zuvor hätte ich genauso gut schreiben können:

Im Dezember 2014 stürmte eine Gruppe von neun schwer bewaffneten, schwarz gekleideten Männern eine Schule in Peschawar, eröffnete das Feuer und tötete insgesamt 145 Menschen.

Tatsächlich hätte ich einen ähnlichen Satz über alle möglichen Ereignisse schreiben können, ob in Ottawa, Sydney oder in Baga, Nigeria. Deswegen beschloss ich, den Ort wie auch die Anzahl der Täter und Opfer auszusparen. Sie, die Leser, können die Auslassung einfach entsprechend den jüngsten Vorfällen aus den Nachrichten füllen. Sollten Sie ein weiter zurückliegendes Beispiel bevorzugen, wie wäre es damit:

Im September 2001 steuerte eine Gruppe von 19 islamischen Terroristen entführte Flugzeuge in Gebäude in New York und Washington und tötete 2996 Menschen.

Seit über 13 Jahren wiederhole ich als Reaktion auf solche Terrorakte: Es ist schlicht töricht zu behaupten, wie unsere Politiker und Staatschefs es jedes Mal tun, die Gewaltakte radikaler Islamisten ließen sich von den religiösen Idealen trennen, von denen sie inspiriert sind. Wir müssen vielmehr erkennen, dass hinter diesen Gewaltakten eine politische Ideologie steht, eine Ideologie, die im Islam selbst verwurzelt ist, in dessen heiligem Buch, dem Koran, sowie in den »Hadith« genannten Überlieferungen über das Leben und die Lehren des Propheten Mohammed.

Lassen Sie es mich ganz einfach formulieren: Der Islam ist keine Religion des Friedens.

Dafür, dass ich die Ansicht vertrete, die im Namen des Islam verübte Gewalt gründe nicht in sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Gegebenheiten – oder in einem theologischen Irrtum –, sondern in den grundlegenden Texten des Islam, werde ich als »islamophob« verurteilt. Man hat versucht, mich zum Schweigen zu bringen, man hat mich gemieden und bloßgestellt. Und ich werde nicht nur von Muslimen – für die ich eine Apostatin bin – als Häretikerin betrachtet, sondern auch von einigen westlichen Liberalen, die sich durch solch »unsensible« Äußerungen in ihrer multikulturellen Empfindsamkeit angegriffen fühlen.

Wegen meiner kompromisslosen Aussagen zu diesem Thema hat man mich derart vehement angegriffen, dass man meinen könnte, ich selbst hätte eine Gewalttat begangen. Offenbar ist es heutzutage ein Verbrechen, die Wahrheit über den Islam zu sagen. »Hassrede« ist das moderne Wort für Häresie. Und in der derzeitigen Stimmung wird alles, was den Muslimen Unbehagen bereitet, als »Hass« gebrandmarkt.

Mit diesem Buch beabsichtige ich, vielen Menschen – nicht nur Muslimen, sondern auch westlichen Apologeten des Islam – Unbehagen zu bereiten. Ich werde dies nicht durch das Zeichnen von Karikaturen tun. Vielmehr werde ich eine jahrhundertealte Orthodoxie hinterfragen, mit Ideen und Argumenten, die sicherlich als ketzerisch angeprangert werden. Ich plädiere für nichts Geringeres als eine Reformation des Islam. Ohne fundamentale Veränderungen einiger Kernkonzepte des Islam werden wir meiner Meinung nach die brennenden und zunehmend globalen Probleme der im Namen dieser Religion ausgeübten politischen Gewalt nicht lösen. Ich habe die Absicht, offen zu sprechen, in der Hoffnung, dass andere genauso offen mit mir darüber debattieren, welche Änderungen der islamischen Doktrin erforderlich sind, und nicht etwa die Diskussion abwürgen.

Lassen Sie mich durch eine Anekdote veranschaulichen, warum ich dieses Buch für notwendig halte.

Im September 2013 fühlte ich mich geehrt, als der damalige Dekan der Brandeis University, Frederick Lawrence, mich anrief und mir die Ehrendoktorwürde für mein Engagement für soziale Gerechtigkeit anbot, die mir bei der Abschlussfeier der Universität im Mai 2014 verliehen werden sollte. Doch sechs Monate später erhielt ich einen erneuten Anruf von Dekan Lawrence. Dieses Mal informierte er mich, dass die Brandeis University die Einladung zurücknehme. Ich war fassungslos. Schon bald erfuhr ich, dass eine ursprünglich vom Council on American Islamic Relations organisierte und auf der Website change.org platzierte Online-Petition von einigen Studierenden und Dozenten, die sich durch das Vorhaben der Universität verletzt fühlten, verbreitet worden war.

Die change.org-Petition, die mich der »Hassrede« bezichtigte, begann mit den Worten: »Aufgrund ihrer extremen islamophoben Überzeugungen ist es ein Schock für unsere Gemeinschaft, dass Ayaan Hirsi Ali dieses Jahr die Ehrendoktorwürde verliehen werden soll. Hirsi Ali diese Ehre zuteilwerden zu lassen, ist seitens der Verwaltung eine unverhohlene und gefühllose Missachtung nicht nur der muslimischen Studenten, sondern eines jeden Studenten, der schon mit Hassreden konfrontiert worden ist. Es ist eine direkte Verletzung des Moralkodex der Brandeis University und der Rechte ihrer Studenten.«[1] Die Petition schloss mit der Frage: »Wie kann die Verwaltung einer Universität, die sich sozialer Gerechtigkeit rühmt, eine Entscheidung treffen, die ihre eigenen Studenten herabsetzt?« Das Vorhaben, mir die Ehrendoktorwürde zu verleihen, sei »verletzend für die muslimischen Studenten und die Brandeis-Gemeinschaft, die für soziale Gerechtigkeit steht«.[2]

Auch 87 Mitglieder des Lehrkörpers der Brandeis hatten ihren »Schock und ihr Entsetzen« über ein paar meiner öffentlichen Erklärungen zum Ausdruck gebracht, die größtenteils aus Interviews stammten, die ich sieben Jahre zuvor gegeben hatte. Ich sei, so schrieben sie, ein »Mensch, der polarisiere«. Im Besonderen hatte ich mich schuldig gemacht zu behaupten:

… dass Gewalt gegen Mädchen und Frauen spezifisch für den Islam oder die Schwellenländer sei, womit ich Gewalt unter Nicht-Muslimen, einschließlich auf unserem eigenen Campus, verharmlose [sowie auch] … die harte Arbeit von muslimischen Feministinnen und anderen progressiven muslimischen Aktivisten und Gelehrten vor Ort nicht anerkenne, die innerhalb der muslimischen Gemeinschaft Unterstützung für die Gleichstellung der Geschlechter und andere Arten der Gleichberechtigung erfahren und diese effektiv verwirklichen.[3]

Als ich die Liste der Unterzeichner herunterscrollte, war ich sehr erstaunt, welch seltsame Bettgenossen ich ungewollt zusammengebracht hatte. Professoren für »Frauen- und Geschlechterforschung« taten sich mit CAIR zusammen, einer Organisation, die später von den Vereinigten Arabischen Emiraten als terroristische Organisation auf die schwarze Liste gesetzt wurde. Eine Autorität in puncto »Queerfeminismus« schlägt sich auf die Seite von offen homophoben Islamisten?

Es stimmt, dass ich im Februar 2007, als ich noch in Holland lebte, dem Londoner Evening Standard gegenüber geäußert hatte: »Der Islam ist inhärent gewalttätig.« Dies war eins von drei kurzen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, gegen die der Lehrkörper von Brandeis Einwände erhob. Was er in seinem Brief nicht erwähnte, war, dass knapp drei Jahre zuvor mein Freund und Mitarbeiter an einem kurzen Dokumentarfilm, Theo van Gogh, am Morgen des 2. November 2004 auf einer Straße in Amsterdam von einem jungen Mann marokkanischer Herkunft namens Mohammed Bouyeri ermordet worden war. Zuerst schoss Bouyeri achtmal mit einer Pistole auf Theo und ein weiteres Mal, als Theo, der noch um sein Leben kämpfte, um Gnade flehte. Dann schnitt er ihm die Kehle durch und versuchte, ihn mit einem großen Messer zu enthaupten. Schließlich heftete er mit einem kleinen Messer einen Brief an Theos Körper.

Ich frage mich, wie viele meiner Campus-Kritiker diesen Brief gelesen haben, der im Stil einer Fatwa, eines religiösen Urteilsspruchs, verfasst war. Er begann: »Im Namen Allahs – des Segensreichen – des Barmherzigen« und enthielt, neben zahlreichen Zitaten aus dem Koran, eine ausdrückliche Morddrohung gegen mich:

Mein Rabb [Meister], gib uns den Tod, um uns Glückseligkeit durch das Märtyrertum zu geben. Allahumma Amin [Oh, Allah, nimm an]. Mrs. Hirshi [sic] Ali und all die anderen extremistischen Ungläubigen. Der Islam hat im Lauf der Geschichte vielen Feinden und Verfolgungen standgehalten … Ayaan Hirsi Ali, du wirst am Islam zerbrechen![4]

Und in diesem schwülstigen Stil ging es immer weiter. »Der Islam wird siegreich sein durch das Blut der Märtyrer. Sie werden sein Licht in jeden dunklen Winkel dieser Erde bringen und das Böse, wenn nötig mit dem Schwert, in sein dunkles Loch zurücktreiben … Gegenüber denen, die Ungerechtigkeit verüben, wird man keine Gnade walten lassen, sondern nur das Schwert gegen sie erheben. Keine Diskussionen, keine Demonstrationen, keine Petitionen.« Der Brief enthielt auch folgende Passage, die direkt aus dem Koran abgeschrieben war: »Sprich: ›Siehe, der Tod, vor dem ihr flieht, wird euch doch erreichen. Dann werdet ihr zurückgebracht zu dem, der das Geheime und das Offenbare kennt, und er wird euch kundtun, was ihr getan habt.‹« (Sure 62, Vers 8)

Vielleicht gelingt es ja jenen, die es in den erlesenen Lehrkörper der Brandeis University geschafft haben, eine Argumentation zu ersinnen, wie sich eine Beziehung zwischen Bouyeris Aktionen und dem Islam in Abrede stellen lässt. Ich kann mich nur allzu gut an die Behauptungen holländischer Akademiker erinnern, trotz seiner religiösen Sprache sei das wahre Motiv, mich zu töten, Bouyeris sozioökonomische Benachteiligung oder postmoderne Entfremdung. Wenn ein Mörder als Rechtfertigung für sein Verbrechen den Koran zitiert, dann sollten wir, finde ich, zumindest die Möglichkeit diskutieren, dass er meint, was er sagt.

Wenn ich nun erkläre, der Islam sei keine Religion des Friedens, dann meine ich nicht, der islamische Glaube mache die Muslime naturgemäß gewalttätig. Das ist offenkundig nicht der Fall: Es gibt viele Millionen friedliche Muslime auf der Welt. Ich sage vielmehr, dass der Ruf nach Gewalt und deren Rechtfertigung in den heiligen Texten des Islam explizit enthalten sind. Und dass diese theologisch gerechtfertigte Gewalt als Sanktion für alle möglichen Vergehen ausgeübt werden kann, einschließlich, aber nicht nur bei Glaubensabfall, Ehebruch, Gotteslästerung und selbst etwas so Vagem wie der Bedrohung der Familienehre oder der Ehre des Islam selbst.

Von dem Moment an, in dem ich erstmals behauptete, dass es eine zwangsläufige Verbindung zwischen der Religion, in der ich erzogen wurde, und der Gewalt von Organisationen wie al-Qaida und dem selbst ernannten Islamischen Staat (im Folgenden IS, auch wenn andere ISIS oder ISIL vorziehen) gibt, hat man versucht, mich zum Schweigen zu bringen.

Todesdrohungen sind offenkundig die beunruhigendste Form der Einschüchterung. Doch man hat auch andere, weniger gewaltsame Methoden angewendet. Muslimische Organisationen wie CAIR versuchten, mich daran zu hindern, öffentlich zu sprechen, vor allem an Universitäten. Einige haben argumentiert, ich sei keine Autorität auf diesem Gebiet, weil ich keine islamische Religionsgelehrte sei, ja nicht einmal eine praktizierende Muslimin. Anderswo haben mich Muslime und westliche Liberale der »Islamophobie« bezichtigt, ein Wort, das gleichgesetzt wird mit Antisemitismus, Homophobie oder anderen Vorurteilen, die die westliche Welt zu verabscheuen und verurteilen gelernt hat.

Warum sehen sich diese Menschen gezwungen, mich zum Schweigen zu bringen, gegen meine öffentlichen Auftritte zu protestieren, meine Ansichten zu brandmarken und mich mit Gewalt- und Todesdrohungen vom Rednerpult zu vertreiben? Es liegt nicht daran, dass ich unwissend oder schlecht informiert bin. Im Gegenteil: Meine Ansichten über den Islam basieren auf meinem Wissen und auf meiner Erfahrung als Muslimin, dem Leben in muslimischen Gesellschaften – einschließlich Mekka, dem Zentrum des islamischen Glaubens – und meinem langjährigen Studium des Islam als praktizierende Muslimin, Studentin und Lehrerin. Die eigentliche Erklärung ist offensichtlich. Es liegt daran, dass sie nicht widerlegen können, was ich sage. Und ich stehe nicht allein da. Kurz nach dem Angriff auf Charlie Hebdo sprach sich Asra Nomani, eine muslimische Reformerin, gegen das aus, was sie die »Brigade zur Verteidigung der Ehre des Islam« nennt – eine organisierte internationale Kampagne mit der Absicht, die Debatte über den Islam zum Verstummen zu bringen.[5]

Das Beschämende ist, dass diese Kampagne gegen kritisches Denken und kritische Debatten im Westen tatsächlich wirkt und sich jetzt offensichtlich westliche Liberale daran beteiligen. Es erstaunt mich immer wieder, wie leicht sich Nicht-Muslime, die sich selbst als liberal betrachten – einschließlich Feministinnen und Schwulenrechtler – durch diese krassen Methoden davon überzeugen lassen, sich mit den Islamisten gegen muslimische und nicht-muslimische Kritiker des Islam zu verbünden.

Unterdessen machte der Islam weiter Schlagzeilen – und zwar nicht als Religion des Friedens. Am 14. April 2014, sechs Tage nachdem die Brandeis University mich wieder ausgeladen hatte, entführte die Terrororganisation Boko Haram in Nigeria 276 Schülerinnen. Am 15. Mai wurde die schwangere Mariam Ibrahim im Sudan wegen des Verbrechens der Apostasie zum Tode verurteilt. Am 29. Juni rief der IS sein neues Kalifat im Irak und in Syrien aus. Am 19. August wurde der amerikanische Journalist James Foley vor laufender Kamera enthauptet. Am 2. September erlitt Steven Sotloff, ein weiterer amerikanischer Journalist, dasselbe Schicksal. Der Mann, der ihre Hinrichtungen vornahm, hatte seine Schulbildung eindeutig in Großbritannien erlangt und war einer von 3000 bis 4500 Bürgern der Europäischen Union, die Dschihadisten im Irak und Syrien geworden sind. Am 26. September enthauptete Alton Nolen, der kurz zuvor zum Islam übergetreten war, seine Kollegin Colleen Hufford in einem lebensmittelverarbeitenden Betrieb in Moore, Oklahoma. Am 22. Oktober lief ein anderer zum Islam übergetretener Krimineller namens Michael Zehaf-Bibeau in der kanadischen Hauptstadt Ottawa Amok und erschoss den Wachsoldaten Nathan Cirillo. Und so geht es seitdem immer weiter. Am 15. Dezember nahm ein Prediger namens Man Haron Monis in einem Café in Sydney 18 Menschen als Geiseln; zwei von ihnen starben bei dem späteren Schusswechsel. Schließlich wurde, gerade als ich die letzten Seiten dieses Buches schrieb, in Paris die Belegschaft der französischen satirischen Wochenzeitung Charlie Hebdo massakriert. Maskiert und mit AK-47 bewaffnet, verschafften sich die Brüder Kouachi gewaltsam Zutritt zu den Büros der Zeitschrift und töteten den Herausgeber, Stéphane Charbonnier, neun andere Mitarbeiter und einen Polizisten. Einen weiteren Polizisten erschossen sie auf der Straße. Kurze Zeit später tötete ihr Komplize Amedy Coulibaly vier Menschen, die alle jüdischen Glaubens waren, nachdem er im Osten von Paris einen Laden für koschere Lebensmittel unter seine Kontrolle gebracht hatte.

Jedes Mal bedienten sich die Täter der Sprache und Symbole des Islam, als sie ihre Verbrechen begingen. Nur ein Beispiel: Während ihres Angriffs auf Charlie Hebdo brüllten die Kouachis »Allahu akbar!« (»Gott ist groß«) und »der Prophet ist gerächt«. Sie sagten einer weiblichen Mitarbeiterin der Zeitschrift, sie würden sie verschonen, »weil Sie eine Frau sind. Wir töten keine Frauen. Aber denken Sie darüber nach, was Sie tun. Was Sie tun, ist schlecht. Ich verschone Sie, und weil ich Sie verschone, werden Sie den Koran lesen.«[6]

Wenn ich neue Belege dafür gebraucht hätte, dass Gewalt im Namen des Islam sich nicht nur im Nahen Osten und in Nordafrika, sondern auch in Westeuropa und jenseits des Atlantiks ausbreitet, dann gab es sie hier in beklagenswertem Überfluss.

Nach der Enthauptung von Steven Sotloff versprach US-Vizepräsident Joe Biden, die Mörder bis zu den »Toren der Hölle« zu verfolgen. Präsident Barack Obama war so empört, dass er beschloss, seine Politik, Amerikas Intervention im Irak zu beenden, wieder rückgängig zu machen. Er befahl Luftangriffe sowie die Stationierung von Soldaten als Teil des Versuchs, »die als ISIL bekannte Terrororganisation zu schwächen und letztlich zu zerstören«. Doch es lohnt sich, die Aussage des Präsidenten vom 10. September 2014 wegen ihrer Auslassungen und Verzerrungen genauer unter die Lupe zu nehmen:

Lassen Sie uns zwei Dinge klarstellen: Der ISIL ist nicht »islamisch«. Keine Religion billigt die Ermordung Unschuldiger. Und die große Mehrheit der Opfer des ISIL sind Muslime. Und der ISIL ist gewiss kein Staat … der ISIL ist schlicht und einfach eine Terrororganisation. Und sie hat keine andere Vision, als alle niederzumetzeln, die ihr im Weg stehen.

Kurz gesagt, der Islamische Staat sei weder ein Staat noch islamisch. Er sei »böse«. Seine Mitglieder seien »in ihrer Brutalität ohnegleichen«. Die Kampagne gegen den IS glich dem Versuch, »Krebs« auszumerzen.

Nach dem Charlie-Hebdo-Massaker gab sich der Pressesprecher des Weißen Hauses große Mühe, zwischen den »gewaltsamen extremistischen Botschaften, mit denen der ISIL und andere extremistische Organisationen versuchen, Menschen überall auf der Welt zu radikalisieren«, und einer »friedlichen Religion« zu unterscheiden. Die Regierung, so sagte er, habe »bedeutende Erfolge zu verzeichnen, Führer der muslimischen Gemeinschaft dafür zu gewinnen … die tatsächlichen Lehren des Islam deutlich zu machen«. Von einem »radikalen Islam« solle man nicht mehr sprechen.

Was aber, wenn diese Prämisse falsch ist? Denn nicht nur al-Qaida und der IS zeigen das gewaltsame Gesicht des islamischen Glaubens und islamischer Sitten. In Pakistan gilt jede Kritik am Propheten oder am Islam als Blasphemie, die mit dem Tod bestraft werden muss. In Saudi-Arabien sind Kirchen und Synagogen verboten und Enthauptungen eine legitime Form der Strafe, die so oft verhängt wird, dass es im August 2014 fast täglich eine Enthauptung gab. Im Iran ist die Steinigung eine akzeptable Strafe, und Homosexuelle werden für ihr »Verbrechen« gehängt. In Brunei führt der Sultan das islamische Recht, die Scharia, wieder ein, sodass Homosexualität auch dort mit dem Tod bestraft werden kann.

Seit fast eineinhalb Jahrzehnten werden uns mittlerweile Analysen und Strategien vermittelt, die auf der Annahme basieren, Terrorismus und Extremismus könnten und müssten vom Islam unterschieden werden. In der Folge von Terrorangriffen überall auf der Welt haben sich westliche Politiker immer wieder beeilt zu verkünden, das Problem habe nichts mit dem Islam selbst zu tun. Denn der Islam sei eine Religion des Friedens.

Diese Bemühungen sind gut gemeint, doch sie beruhen auf der irrigen Überzeugung vieler westlicher Liberaler, Vergeltungsschläge gegen Muslime seien schlimmer als die islamistische Gewalt selbst. So wurden diejenigen, die für die Angriffe vom 11. September verantwortlich waren, nicht als Muslime, sondern als Terroristen dargestellt; wir haben uns auf ihre Taktiken konzentriert statt auf die Ideologie, mit der sie ihre abscheulichen Taten rechtfertigten. Dabei haben wir uns mit jenen »moderaten« Muslimen verbündet, die uns höflich erklärten, der Islam sei eine Religion des Friedens, und anders denkende Muslime, die versuchten, einen echten Reformkurs einzuschlagen, marginalisiert.

Bis heute versuchen wir zu argumentieren, die Gewalt sei das Werk einer geistesgestörten Randgruppe von Extremisten. Wir verwenden medizinische Metaphern und definieren das Phänomen als eine Art »Fremdkörper«, der nicht in das religiöse Milieu hineinpasst, in dem er gedeiht. Und wir tun so, als gäbe es in unserer Mitte Extremisten, die genauso schlimm seien wie die Dschihadisten. Der Präsident der Vereinigten Staaten ging 2012 in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen sogar so weit, zu verkünden: »Die Zukunft darf nicht jenen gehören, die den Propheten des Islam verleumden« – vermutlich im Gegensatz zu jenen, die sich daranmachen, die Verleumder zu ermorden.

Einige Menschen werden sich zweifellos beschweren, dieses Buch beleidige Mohammed. Doch es geht hier nicht um grundlose Beleidigungen, sondern darum zu zeigen, dass diese tolerante Herangehensweise das Problem des Islam im 21. Jahrhundert vollständig – nicht nur teilweise, sondern vollständig – verkennt. Tatsächlich ist sie auch Ausdruck davon, dass die Natur und Bedeutung des Liberalismus missverstanden werden.

Das grundlegende Problem ist, dass die Mehrheit der ansonsten friedlichen und gesetzestreuen Muslime nicht bereit ist einzugestehen, dass die theologische Rechtfertigung für Intoleranz und Gewalt in ihren eigenen religiösen Texten verwurzelt ist, und schon gar nicht, sich von diesen Texten zu distanzieren.

Es wird einfach nicht reichen, wenn die Muslime behaupten, ihre Religion werde von Extremisten für deren Zwecke missbraucht. Die Mörder des IS und von Boko Haram zitieren dieselben religiösen Texte, die jeder andere Muslim auf der Welt als sakrosankt betrachtet. Und statt zuzulassen, dass die Muslime sich mit nichtssagenden Klischees über den Islam als eine »Religion des Friedens« aus der Verantwortung stehlen, müssen wir im Westen den Kern des islamischen Gedankenguts und islamischer Bräuche hinterfragen und diskutieren. Wir müssen den Islam für die Taten seiner gewalttätigsten Anhänger verantwortlich machen und verlangen, dass die Muslime jene Glaubensvorstellungen reformieren, die solche Akte rechtfertigen, oder sich von ihnen distanzieren.

Gleichzeitig müssen wir für unsere eigenen Prinzipien der Freiheit eintreten. Im Besonderen müssen wir gekränkten westlichen Muslimen (und ihren liberalen Unterstützern) sagen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, uns ihren Glaubensvorstellungen anzupassen und Rücksicht auf ihre Empfindlichkeiten zu nehmen, sondern dass sie lernen müssen, mit unserem Bekenntnis zur Redefreiheit zu leben.

Drei muslimische Gruppierungen

Bevor wir über den Islam sprechen, müssen wir verstehen, was er ist, und gewisse Unterschiede innerhalb der muslimischen Welt erkennen. Die Unterschiede, die ich im Sinn habe, sind nicht die konventionellen zwischen Sunniten, Schiiten und anderen Glaubensrichtungen. Vielmehr sind es große soziologische Gruppierungen, definiert durch die Art ihrer Religionsausübung. Ich werde die Muslime in Gruppen unterteilen, nicht den Islam aufgliedern.

Es gibt nur einen Islam, einen zentralen Glauben, der auf dem Koran – das heißt den Worten, die der Engel Gabriel dem Propheten Mohammed offenbarte – basiert sowie auf den Hadithen, den Überlieferungen über Mohammeds Leben und seine Worte. Trotz einiger konfessioneller Unterschiede eint dieser Glaube alle Muslime. Ohne Ausnahme kennen alle die folgenden Worte auswendig: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah, und dass Mohammed sein Prophet ist.« Das ist die Schahāda, das muslimische Glaubensbekenntnis.

Die Schahāda mag uns hier im Westen, wo wir an individuelle Gewissens- und Religionsfreiheit gewöhnt sind, als Glaubensbekenntnis wie jedes andere erscheinen. Doch die Schahāda ist ein religiöses und ein politisches Symbol.

Als Mohammed in den Anfängen des Islam von Tür zu Tür ging und versuchte, die Polytheisten davon zu überzeugen, ihren Götzendienst aufzugeben, lud er sie ein anzuerkennen, dass es keinen Gott außer Allah gab und er Allahs Gesandter war, so, wie Christus die Juden gebeten hatte anzuerkennen, dass er der Sohn Gottes war. Nachdem er dies zehn Jahre lang versucht hatte, gingen Mohammed und seine kleine Schar von Gläubigen jedoch nach Medina. Von diesem Moment an nahm Mohammeds Mission eine politische Dimension an. Die Ungläubigen wurden nach wie vor eingeladen, sich Allah zu unterwerfen, doch fortan angegriffen, wenn sie sich weigerten, dies zu tun. Hatte man sie besiegt, ließ man ihnen die Wahl zu konvertieren oder zu sterben. (Juden und Christen konnten ihren Glauben behalten, wenn sie eine Sondersteuer zahlten.)

Kein Symbol repräsentiert die Seele des Islam mehr als die Schahāda. Doch heutzutage gibt es innerhalb des Islam einen Wettstreit um die Deutungshoheit dieses Symbols. Wem gehört die Schahāda? Jenen Muslimen, für die Mohammeds Jahre in Mekka im Vordergrund stehen, oder jenen, die von der islamischen Expansion nach der Auswanderung nach Medina inspiriert sind? Es gibt Abermillionen Muslime, die sich mit Ersterem identifizieren. Doch ihnen wird zunehmend von Glaubensbrüdern der Kampf angesagt, welche die politische Version des in Medina begründeten Islam wieder aufleben lassen wollen – jene Version, die Mohammed vom Wanderer in der Wüste zu einem Symbol absoluter Moral machte.

Auf dieser Grundlage können wir, wie ich meine, drei verschiedene Gruppen von Muslimen unterscheiden.

Die erste ist die problematischste. Sie umfasst die Fundamentalisten, die, wenn sie das Glaubensbekenntnis sprechen, meinen: »Wir müssen unseren Glauben wörtlich nehmen und streng danach leben.« Sie stellen sich ein Regime vor, das auf der Scharia, dem religiösen Gesetz des Islam, basiert. Sie plädieren für einen Islam, der sich kaum oder gar nicht von seinen Wurzeln im 7. Jahrhundert unterscheidet. Außerdem betrachten sie es als Erfordernis ihres Glaubens, ihn allen anderen aufzuzwingen.

Ich war versucht, diese Gruppe »millenaristische Muslime« zu nennen, weil ihr Fanatismus an die verschiedenen fundamentalistischen Sekten erinnert, die vor der Reformation im mittelalterlichen Christentum gediehen und von denen die meisten Fanatismus und Gewalt mit der Erwartung des Weltendes verbanden.[7] Doch die Analogie ist fehlerhaft. Denn während die Schiiten auf die Rückkehr des 12. Imams und den weltweiten Triumph des Islam warten, streben die sunnitischen Eiferer eher nach der gewaltsamen Schaffung eines neuen Kalifats hier auf Erden. Von daher werde ich sie Medina-Muslime nennen, da sie die gewaltsame Durchsetzung der Scharia als ihre religiöse Pflicht betrachten. Ihr Ziel ist es nicht nur, der Lehre Mohammeds zu folgen, sondern auch, sich seine kriegerischen Aktivitäten nach seiner Auswanderung nach Medina zum Vorbild zu nehmen. Selbst wenn sie keine Gewalt anwenden, zögern sie nicht, sie zu billigen.

Es sind die Medina-Muslime, die Juden und Christen als »Schweine und Affen« bezeichnen und predigen, dass Judentum wie Christentum »falsche Religionen« sind, um es mit den Worten von Ed Husain, einem Mitglied des Council on Foreign Relations (und ehemaligen Islamisten), zu sagen. Es sind die Medina-Muslime, die für das Verbrechen, nicht an den Islam zu glauben, die Enthauptung vorschreiben, für Ehebruch den Tod durch Steinigen und für Homosexualität das Erhängen. Es sind die Medina-Muslime, die Frauen in Burkas stecken und sie schlagen, wenn sie allein ihre Häuser verlassen oder nicht vollständig verschleiert sind. Es waren Medina-Muslime, die im Juli 2014 in Gujranwala, Pakistan, Amok liefen, acht Häuser in Brand setzten und eine Großmutter und ihre beiden Enkeltöchter töteten, und das, weil auf der Facebook-Seite eines 18-Jährigen angeblich ein gotteslästerliches Foto gepostet worden war.

Medina-Muslime glauben, dass die Ermordung eines Ungläubigen unerlässlich ist, wenn dieser sich weigert, freiwillig zum Islam überzutreten. Sie predigen den Dschihad und glorifizieren den Tod durch Märtyrertum. Die Männer und Frauen, die sich Organisationen wie al-Qaida, IS, Boko Haram und in meinem Heimatland Somalia al-Schabab anschließen – um nur vier von Hunderten von Dschihadisten-Gruppen zu nennen –, sind alle Medina-Muslime.

Bilden sie eine Minderheit? Ed Husain schätzt, dass nur drei Prozent der Muslime weltweit diesem militanten Islamismus anhängen. Doch von weit über 1,6 Milliarden Gläubigen oder 23 Prozent der Weltbevölkerung scheinen 48 Millionen mehr als genug zu sein. Aufgrund von Erhebungsdaten zur Haltung gegenüber der Scharia in muslimischen Ländern würde ich den Anteil signifikant höher einstufen[8]; ich glaube auch, dass er steigt, da sich immer mehr Muslime und zum Islam Konvertierte vom Medina-Islam angezogen fühlen. Wie dem auch sei, Muslime, die dieser Gruppe angehören, sind nicht offen für die Überzeugungsarbeit oder das Engagement westlicher Liberaler und muslimischer Reformer. Sie sind es nicht, die ich mit diesem Buch erreichen will. Sie sind der Grund, weshalb ich es schreibe.

Die zweite Gruppe – und die eindeutige Mehrheit in der muslimischen Welt – besteht aus Muslimen, die glaubenstreu sind und fromm ihren Glauben praktizieren, aber nicht zu Gewalt neigen. Ich nenne sie Mekka-Muslime. Wie fromme Christen oder Juden, die täglich Gottesdienste besuchen und sich in puncto Essen und Kleidung an religiöse Regeln halten, konzentrieren sie sich auf die Ausübung ihres Glaubens. Ich wurde als Mekka-Muslimin erzogen. Das wurde auch die Mehrheit der Muslime von Casablanca bis Jakarta.

Doch die Mekka-Muslime haben ein Problem: Ihre religiösen Überzeugungen stehen in einem unangenehmen Spannungsverhältnis zur Moderne, dem Komplex wirtschaftlicher, kultureller und politischer Neuerungen, die nicht nur die westliche Welt, sondern – da der Westen diese Neuerungen exportiert – auch die Entwicklungsländer auf dramatische Weise umgestalten. Die rationalen, säkularen und individualistischen Werte der Moderne wirken sich stark zersetzend auf traditionelle Gesellschaften aus, vor allem auf Hierarchien, die auf Geschlecht, Alter und ererbtem Status basieren.

In Ländern mit einer muslimischen Mehrheit kann die Kraft der Moderne, wirtschaftliche und soziale Beziehungen sowie (letztlich) Machtbeziehungen zu verändern, begrenzt sein. Muslime können in diesen Gesellschaften Handys und Computer benutzen, ohne notwendigerweise einen Konflikt zwischen ihrem religiösen Glauben und dem rationalistischen, säkularen Gedankengut zu sehen, der die moderne Technologie möglich machte. Doch im Westen, wo der Islam eine Minderheitsreligion ist, leben Muslime in einem Zustand, der sich am besten mit kognitiver Dissonanz beschreiben lässt. Gefangen zwischen zwei Welten – des Glaubens und der Erfahrung –, kämpfen diese Muslime täglich damit, im Kontext einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft, die ihre Werte und Überzeugungen auf Schritt und Tritt infrage stellt, am Islam festzuhalten. Viele vermögen diese Spannung nur aufzulösen, indem sie sich in selbst geschaffene (und zunehmend autonome) Enklaven zurückziehen. Dies wird als »Cocooning« (vollständiger Rückzug in die Privatsphäre) bezeichnet, eine Praktik, mittels derer muslimische Immigranten versuchen, sich vor äußeren Einflüssen abzuschirmen, ihre Kinder rein islamisch zu erziehen und sich von der größeren nicht-muslimischen Gemeinschaft zu lösen.[9]

Für viele von ihnen scheint es nach Jahren der Dissonanz nur zwei Möglichkeiten zu geben: sich vom Islam abzuwenden, wie ich es tat, oder die stumpfsinnige Routine der täglichen Religionsausübung zugunsten des kompromisslosen islamistischen Glaubens jener Medina-Muslime aufzugeben, die explizit die Modernität des Westens ablehnen.

Ich habe die Hoffnung, diese zweite Gruppe von Muslimen, die Mekka näherstehen als Medina, in einen Dialog über die Bedeutung und Ausübung ihres Glaubens verwickeln zu können. Ich hoffe, dass vor allem sie zu den Lesern dieses Buches gehören werden.

Ich weiß natürlich, dass diese Muslime den Ruf nach Reformation ihres Glaubens, wenn er von einer Frau stammt, die sie als Apostatin und Ungläubige betrachten, höchstwahrscheinlich ignorieren werden. Doch vielleicht überlegen sie es sich noch einmal, wenn ich sie davon überzeugen kann, mich nicht als Apostatin zu sehen, sondern als Häretikerin: eine von einer wachsenden Anzahl von Menschen, die als Muslime geboren wurden und sich kritisch mit dem Glauben, in dem sie aufgewachsen sind, auseinandersetzen. Mit dieser dritten Gruppe – von deren Mitgliedern sich nur wenige ganz vom Islam abgewandt haben – identifiziere ich mich.

Dies sind die muslimischen Dissidenten, die Reform-Muslime. Einige von uns konnten aufgrund ihrer Erfahrungen nicht länger Gläubige sein; doch wir bleiben stark involviert in die Debatte über die Zukunft des Islam. Die Mehrheit der Dissidenten sind Gläubige, die für eine Reform eintreten – unter ihnen Geistliche, die erkannt haben, dass ihre Religion sich ändern muss, wenn deren Anhänger nicht zu einem endlosen Kreislauf politischer Gewalt verdammt sein sollen.

Ich werde später noch näher auf diese vernachlässigte, ja, weitgehend unbekannte Gruppe eingehen. Für den Moment reicht es zu sagen, dass ich mich mit den Dissidenten identifiziere. In den Augen der Medina-Muslime sind wir alle Häretiker, weil wir es wagen, die Anwendbarkeit von Lehren aus dem 7. Jahrhundert auf die Welt des 21. Jahrhunderts anzuzweifeln.

Zu den Dissidenten gehören Menschen wie Abd al-Hamid al-Ansari, der frühere Dekan der Fakultät für Islamisches Recht an der Universität von Katar, der sich vom Hass gegenüber anderen Religionen distanziert. Er hat ausführlich eine saudische Frau zitiert, die fragte, warum ihre Tochter lernen solle, Nicht-Muslime zu hassen: »Erwarten Sie von mir, den jüdischen Wissenschaftler zu hassen, der das Insulin entdeckte, mit dem ich meine Mutter behandle? Soll ich meine Tochter lehren, dass sie Edison hassen sollte, der die Glühbirne erfand, die die islamische Welt erhellt? Sollte ich den Wissenschaftler hassen, der das Heilmittel für Malaria erfand? Sollte ich meine Tochter lehren, Menschen allein deswegen zu hassen, weil sie eine andere Religion haben? Warum verwandeln wir unsere Religion in eine Religion des Hasses gegenüber denjenigen, die sich von uns unterscheiden?« Ansari zitiert dann die Reaktion eines führenden saudischen Geistlichen, der erwiderte: »Das geht Sie nichts an« und »Kooperation mit den Ungläubigen ist erlaubt, jedoch nur als Gegenleistung für Dienste und nicht aus Liebe.« Ansari ruft dann dazu auf, »den religiösen Diskurs menschlicher zu machen«.

ENDE DER LESEPROBE