Remyga oder Der Versuch ehrlich zu leben - Rimantas Kmita - E-Book

Remyga oder Der Versuch ehrlich zu leben E-Book

Rimantas Kmita

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Beschreibung

Der sowjetische Polizist Remyga kehrt mitten in der Wendezeit aus dem Afghanistankrieg nach Litauen zurück – in ein Land, das sich im Aufbruch befindet und die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit anstrebt. Es ist ein Schock, ein Sprung ins kalte Wasser, denn er wird schlagartig in eine neue Realität hineinversetzt und muss den Weg vom sowjetischen „Milizionär“ zum litauischen Polizisten gehen. Traumatisiert durch den Krieg, kämpft er darum, die Kraft zu finden, in den schwierigen Wendezeiten ein ehrliches Leben zu führen, während die Gesellschaft einen gewaltigen Wandel erlebt. Er versucht, sich selbst zu verstehen, wer er ist und wie er sich verhalten soll, wenn alles, was ihm verständlich und vertraut war, zusammenbricht. Rimantas Kmita ist ein Roman über die litauische Unabhängigkeitsbewegung der Achtzigerjahre gelungen, der ein Bild des Aufruhrs auf dem Land, in der Stadt und in den Köpfen der Menschen zeichnet.

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel „Remyga“ im Verlag Tyto Alba, Vilnius, Litauen.

Copyright © 2020 by Rimantas Kmita

Die Übersetzung dieses Buches wurde vom Litauischen Kulturinstitut und von Pro Helvetia durch einen Beitrag an den Übersetzer gefördert. // The translation of this book was supported by Lithuanian Culture Institute and by Pro Helvetia through a translation grant.

www.lithuanianculture.ltwww.prohelvetia.ch

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage

Copyright © 2024 der deutschen Ausgabe

by mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werks insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen auch für Zwecke des Textund Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen und strafbar.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: © Juozas Bindokas

ISBN 978-3-96311-930-9

DER BERG DER KREUZE ist noch nichts als dichte Finsternis, während der Fluss Nebel atmet, der sich anschickt, den Horizont zu verhüllen. So groß ist der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht. Der von Mensch zu Mensch aber vermutlich noch größer. Die Nebelschwaden schweben wie aufgescheucht von drei unterschiedlich großen Gestalten nach allen Seiten davon. „Mit dem Gesicht zur Vergangenheit, mit dem Gesicht zur Vergangenheit, mit dem Ge-sicht zur Ver-gang-en-heit“, hört man eine kindliche Stimme mit einem vollen, tiefen Klang, als hallte sie aus einem Ziehbrunnen, sagen. Die drei Gestalten kauern im Kreis um eine am Boden liegende Frau und schunkeln.

„Mit dem Gesicht zur Vergangenheit!“, tutet Stier, der riesige Stier, als wäre er eine Wolke, die auf der Erde gelandet ist.

„Mit dem Gesicht zur Vergangenheit!“, spricht Jungchen mit dem gewellten Haar, dessen Alter nur schwer zu bestimmen ist, ihm nach.

Bär weiß als Einziger nicht, was es mit diesem „mit dem Gesicht zur Vergangenheit!“ auf sich hat:

„Wie, wie?“, fragt er in seinem breiten Schemaitisch.

„Mit dem Gesicht zur Vergangenheit.“ Stier erklärte selbst die einfachsten Dinge nie auf Anhieb.

„Aus der Vergangenheit schöpfen wir Kraft, Bär“, erklärt Jungchen, das die Landeshymne auswendig kennt, doch Stier korrigiert es:

„Deine Söhne schöpfen, wenn man es genau nimmt.“

„Wir schöpfen doch auch“, funkelt es in den Augen des Kindes.

Bär schaut bald Jungchen, bald Stier, bald den Fluss an. Er will schon seine Pranke ins Wasser stecken, doch Stier brüllt ihn an:

„Wo gehört die Pranke hin?! Zurück!“

„Das kapieri nid.“ Jetzt gleicht Bär beinahe einem verstörten Kind.

„Stell dir die Vergangenheit als Wellen vor“, tutet Stier wieder ruhig und sanft, wie zu einem Kind, es dampft aus Maul und Nase, und Stier wirkt in der Tat wie eine warmherzige Mutter. „Du schaust diese Wellen an, sie werfen dich herum, du fliegst davon, mit dem Rücken zur Zukunft, und schaust auf die Vergangenheit. Mit dem Gesicht zur Vergangenheit.“

„Das kapieri nid.“

„Stell dir vor, du schwimmst auf dem Rücken.“ Jungchen versucht es zu zeigen, rudert mit den Armen. „Du schwimmst vorwärts, aber du siehst nichts da vorne, du siehst nur, was oben ist oder da, wo du herkommst, deine eigenen Hinterpfoten, klar?“ Da er sieht, dass Bär noch immer rein gar nichts klar ist, gibt ihm Jungchen ein weiteres Beispiel: „Hast du schon mal jemanden in einem Boot auf dem Fluss rudern sehen? Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, ja? Eins, zwei, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.“

Bär steckt seine Pranken in den Fluss.

„Du sollst die Pranken nicht da reinstecken! Schon allein von seinem Geruch könntest du wie eine Fliege tot umfallen.“

„Dir händ mir doch gseit, ich söll ufem Rugge schwümme.“

„Wir haben dir gesagt, du sollst es dir vorstellen.“ Jungchen konnte sich nicht vorstellen, wie jemand sich nichts vorstellen kann, ohne Vorstellungskraft kommt man doch überhaupt zu nichts, löst keine Rätsel und auch sonst nichts.

„Was söll das heisse, sich öppis vorstelle?“

„Ach, lassen wir das, jetzt müssen wir uns um die Ärmste kümmern“, erwidert Stier seufzend, und die drei beugen sich über die Frau. Die Frau beißt die Zähne zusammen und jammert:

„Die Hand.“

„Zeig her.“ Jungchen schaut sich die Hand der Frau an. „Das ist noch gar nichts.“

„Aua“, jammert die Frau.

„Das geht vorüber“, stellt Stier in aller Ruhe fest.

„Guet, simmer rächtzytig do gsi. Du hättisch si doch nume vergwaltigt.“

„Wir hätten diesem Burattino-Pinocchio die Nase brechen sollen!“, schreit Jungchen fast, während es sich vorstellt, wie es Burattino die Nase bricht.

„Dieser Splitter brennt tierisch. Und ich hab rein gar nix gesehn, nur die Nase hab ich in die Finger gekriegt. Er hat mich von hinten gepackt. Wer, sagt ihr, war das, Burattino?“

„Egal, du wirst alles erfahren. Aber jetzt hör zu.“ Nach einer Pause fährt Stier fort: „Du wirst eine von uns sein.“

„Mit uns wirst du sein. Auf unserer Seite“, kommentiert Jungchen und macht keinen Hehl aus seiner guten Laune, obwohl die Frau sich vor Schmerzen windet.

„Mache mer e nöie Ängel?“, fragt Bär, der schon wieder nicht nachkommt.

„Nein“, erwidert Stier. „Vielleicht eine Laume, so etwas wie eine Fee. Sogar ihr Name passt dazu.“

„Laima, wir haben dich beschützt, jetzt bist du dran mit dem Beschützen“, sprudelt Jungchen wieder voller Freude hervor.

„Wen soll ich beschützen?“

„Den Soldaten, das Waisenkind, du wirst ihn beschützen und heilen. Und seinen Sohn, der kommt bald zur Welt, auch den wirst du beschützen“, erwidert Stier ruhig.

„Und das Licht wird dir zeigen, wovor du sie schützen musst. Das Licht, das durch das Auge deiner Kamera hereinfällt.“

„Und s Liecht und d Wohret sölle öisi Schritt begleite.“

„Wie?“ Jetzt versteht Laima nur Bahnhof.

„Und das Licht und die Wahrheit sollen unsere Schritte begleiten“, übersetzt Stier ruhig für sie, während Jungchen zu summen beginnt, nach Gleichklängen, nach verbindenden Fäden zwischen den Worten sucht: „Das Licht bricht in die Dunkelheit ein, das Licht bricht in die Dunkelheit ein, das falsche Labyrinth der Wahrheit hallt, das Labyrinth – es wird hell, die Dunkelheit – es kläffen, es kläffen die Hunde im Paradies, das Licht bricht in die Dunkelheit, es kläffen die Hunde im Paradies, das Licht bricht in die Dunkelheit ein …“

Summend zieht Jungchen zusammen mit Bär Laima einen goldenen Trainingsanzug an, über ihnen leuchtet ein Regenbogen auf.

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

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14.

15.

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18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Epilog

1.

Um September 1988. Schwiegervaters Bauernhof

Als ich nachm Aufstehn aufn Hof ging, da wusste ich gleich, da stimmt was nicht. So ne Art Anspannung hing in der Luft. Alle stützten ihren Kopf in die Hände, kein Wort. Von Streit wusst ich nix. Nur das Radio hörte man brabbeln. Das Radio, das lief jetzt überall, nonstop, als ich heimkam, da sah ich, keiner schaltete das Radio mehr aus, alle wie festgeklebt – ob aufm Feld, beim Kartoffeljäten oder beim Bierchen vorm Dorfladen, überall war das Radio dabei. Na, und heute Morgen hat sich das Radio wohl aus Gewohnheit selbst eingeschaltet, niemand hörte nämlich dem Geschwafel von irgend so nem Dödel über die Pflanzenwelt, die Tierwelt, Geschichtsträchtigkeit, über die Vergangenheit zu, die für das Heute bestimmend sein soll. „Wen nennen wir einen Menschen?“, fragt der Dödel. Ich verwette meinen Kopf, dass er nicht nur nie in Afghanistan war, sondern nicht mal bei der Armee. Dort vergeht dir das Nachdenken übern Menschen im Nu. Das Radio sendet jetzt endlos Reden, die kein Schwein versteht. Irgendwie seltsam: Alle scheinen gespannt zuzuhören. Ich fühl mich sogar manchmal n bisschen schuldig, weil ich nich weiß, was in Litauen so abgeht, aber ich halt den Mund, sag nix. Und dann hat noch einer ne Videokassette eingelegt, so nen Horrorstreifen – über diesen Krüger, Supertypen sind das. Ich weiß ja, die dürfen jetzt hier nich rumhopsen und Krach machen, is schon der Morgen vom dritten Tag, keine Puste mehr, selbst die mit der größten Ausdauer. Alle hocken rum, wo es kommt, keiner sagt n Wort, das Radio plärrt, die Videokassette dreht sich weiter, die Qual steht allen ins Gesicht geschrieben – und weit weg ragt der Berg der Kreuze empor. Wie so n Gemälde für ne Weile, für ne Sekunde, während ich auf der Treppe sitze. Und es löst sich auf, als Donce zum Klo torkelt, aber auch er ist still, sagt nich mal Hallo.

Der dritte Hochzeitstag, ich gewöhn mich langsam an n Gedanken, dass Sonata meine Frau ist und wir jetzt eine Familie, wie mein Schwiegervater in Dauerschleife wiederholt, und dass jetzt n anderes Leben anfängt, n schönes auf jeden Fall. Als ich aus der Armee heimkam, da konnte ich mir nämlich nich so recht vorstellen, dass es überhaupt anfangen könnte.

Als Donce vom Klo kommt, hat er die Orientierung wiedergefunden, er rafft sich sogar zu nem „Moin, Remyga“ auf, bevor er die Lage am Tisch prüft. Donce weiß eigentlich immer, wo s langgeht und wie man gut durchs Leben kommt. Wir lernten uns kennen, als ich mich Tag für Tag an meinem ersten Arbeitsplatz abplackte – in nem Fleischkombinat. Ich schmuggelte für ihn dies und das raus, und er nahm mich dafür manchmal auf ne Runde in seiner Kutsche mit, wenn er geschäftlich unterwegs war, oder dann gingn wir zusammen zur Bauarbeiter-Disco. Kurz und gut, er schlägt sich ganz ordentlich durchs Leben, hat nen guten Riecher, und auch jetzt schleicht er als Erster um n Tisch. Und wenn einer nen Wank tut, dann tun es sofort auch alle anderen, so sind nun mal die Naturgesetze.

„Donce, was suchste da? Glaubste vielleicht, das Wasser mit den Nelken hat sich über Nacht in Schnaps verwandelt?!“ Das ist Andrius, er versucht für Stimmung zu sorgen. Aber seine Stimme hat er nach der vergangenen Nacht noch nicht wieder.

„Nö, ich schau nur nach, ob da nicht vielleicht was zum Knabbern rumschwimmt.“

Während er das sagt, taucht auch meine Sonata auf, jetzt hab ich schon fast das Gefühl, dass sie mir gehört. „Ach, Sakuska“, sagt Sonata, „aber braucht ihr wirklich was zum Apfelsaft?“

Wir sitzen auf der Treppe, ich seh, da sind fast nur noch Freunde von mir übrig, es sei denn, da kommt noch einer hervorgekrochen. Was für Freunde denn, die hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehn, aber Sonatas Freundinnen sind fast alle weg, vielleicht hat sich ja Donce wie der Hahn im Korb gefühlt und alle verscheucht. „Wer isn hier auf die depperte Idee gekommen, die Flimmerkiste rauszubringen?“, fragt Sonata, aber niemand reagiert, null Interesse, alle warten auf Stoff, das ist Fakt.

„Ohoooo, Sauliens!!!! Noch am Leben?! Wo ist die Medaille?“ – „Was denn für ne Medaille?“ – „Na was für eine wohl? Die fürn besten Tänzer!“ – „Ach, Schwachsinn, gebt mir was für die Kehle, und labert nicht dumm rum.“

Sauliens, wie er leibt und lebt, kaum hat der n Kopf ausm Haus gesteckt, noch bevor er gespürt hat, wie bei allen der Nachtschweiß dampft samt nächtlichen Tänzen, Umarmungen, Trinksprüchen und versteckten Saunawinkeln, wie angespannt alle sind, und dass keiner sich zu fragen traut, ob noch was zu trinken da ist. Na, außer Wasser und Kompott, versteht sich. Jetzt spülen alle die Dreilitergefäße vom Apfelsaft aus und tun so, als hätten sie das Radio ausgeschaltet und würden sich n Video reinziehen. Sonata seufzt, sie weiß jetzt, dass es keinen Grund mehr gibt zu sparen – letzter Tag, es geht dem Ende entgegen.

„Oh, Sonata, du bist n Phänomen! ‚Feuerwasser‘! Ich hab schon lang keine Damenfiguren mehr in die Hand genommen …“ Saulius kommt nun ma nich ohne russische Filmzitate aus.

„Nun, ‚die Tränen der Braut‘ sind versiegt, die Wimpern vertrocknet. Das ist die letzte“, verkündet Sonata mit einer Stimme, dass niemand auch nur n leisesten Zweifel hat und damit Sauliens nicht vor lauter Begeisterung die Flasche kaputtschlägt.

Das Gläschen wandert im Kreis herum, die Welt erstrahlt in neuem Licht, und die Hoffnung, noch weiterzuleben – glimmt auf.

Am meisten Sorgenfalten hat Antanas, unser Heiratsvermittler. Den hab ich hier zum ersten Mal gesehen, ein Onkel von Sonata, um mehrere Ecken, scheints, ach egal, mit einem Wort, hundemüde, mit so Flecken übersät und völlig von der Rolle. Daiva bietet ihm was zu beißen und nen Kaffee an, aber er sagt nur:

„Jesses Maria! Mein Herz bleibt sicher gleich stehen oder springt heraus, wenn ich mir noch einen zur Brust nehme!“

„Nichts steht dir im Weg, alter Mann, du musst nur was dazu essen und ab und zu mit Wasser nachspülen“, wirft Donce mit seiner Weisheit um sich.

„Und ja nie mit den Prozenten runtergehen“, ergänzt Saulius die Liste der guten Ratschläge.

„Nu mach ma halblang, hier geht keiner runter, hier fangen wir gleich von ganz oben an“, meint Donatas und klopft Antanas auf die Schulter, „alles im grünen Bereich, ich fühl mich eigentlich ganz okay, kein Kater und nichts.“

„Ja, ja, das sagt der Richtige, spürt nichts, steht aber als Erster am Tisch.“ Daiva scheint sich ernsthafte Sorgen um den Heiratsvermittler zu machen. „Hat hier vielleicht einer Aktivkohle?!“

Davon hat keiner, dafür könnten sie alle sicher bis zum Abend Trinktipps geben:

„Man sagt noch, man soll helle und dunkle Getränke nicht mischen, helles Bier und Rotwein, Brandy und Schnaps und so was.“ Saulius hat ganz offensichtlich keine Lust, bei diesem Wettbewerb der Saufgelagekenner gegen Donatas nen Rückzieher zu machen, aber als Daiva wie beiläufig erwähnt, sie könnten doch den einen oder anderen Löffel Öl auf den leeren Magen nehmen, da werden beide ganz leise und interessieren sich wieder schrecklich fürn Horrorstreifen.

Wahrscheinlich hat Sauliens den Videorecorder und die Kassetten mitgebracht. Wir haben uns kennengelernt, als Sonata und ich bei ihm Videos ausliehen, am Anfang lebten wir nur von Wein, Sekt, Filmen, dazu ab und an was zu beißen. Später schaute er selbst bei uns vorbei, brachte neue Kassetten und nahm die alten mit. Wir gewöhnten uns an ihn, manchmal blieb er auch für ne Weile, trank einen mit, einer von uns, erzählte Witziges von der Arbeit. Früher, vor n paar Jahren, da kam es vor, dass du jemandem Kassetten und einen Recorder vermietet hast, damals gab es nämlich noch nich mal Verleihstellen, und die Clique schaute die ganze Nacht, und wenn sonst alle schliefen, dann sahen die Bullen, in welchem Haus noch Licht brannte, gingen ins Treppenhaus, öffneten n Sicherungskasten der Wohnung und stellten n Strom ab, das Video blieb stehen, das Band verhedderte sich, und dann beschlagnahmten sie alles, das gab auch ne Geldstrafe, oder dann einigten sie sich irgendwie mit den Leuten. Sauliens hat einfach zu viele Actionstreifen gesehen und würde jetzt gern was mit Karate machen, aber Bulle, nein danke, von der Armee ganz zu schweigen, er hört nich auf, mich zu fragen, wie s dort in Afghanistan war, aber ich erzähle ihm nur Anekdoten, denn wenn ich ihm sagen würde, wie s wirklich war, dann sähen seine Horrorstreifen dagegen aus wie die reinste Komödie.

Daiva läuft emsig am Tisch auf und ab, manchmal wirft sie einen Blick aufs Video. „Schaut ihr einen Bullshit.“ Die Männer fordern sie auf, sich zu setzen und damit aufzuhören, die Gastgeberin zu spielen, doch Daiva sagt nur, dass sie vergangene Nacht schon genug Schauermärchen gehört hat. Was für Horrorgeschichten denn, nimmt sie Donce auf die Schippe, in der Hochzeitsnacht hört man im Heu Klänge aus ganz anderen Filmen. Du vielleicht, entgegnet Daiva, aber hat denn keiner gehört, wie dort am Fluss n paar Betrunkene mit ihren versoffenen Stimmen grölten, was sie da taten, wer weiß das schon, gesungen, gebrüllt, wie die Hühner gegackert, am Anfang leuchtete alles gelb, dann in allen Regenbogenfarben, na, wie so Nordlicht oder wie man dazu sagt. Antanas starrt Daiva nur verdutzt an und sagt kein Wort, während die anderen Typen um die Wette wiehern, jetzt finden sie Daiva viel interessanter als den Horrorstreifen, sie sagen, Daiva, du könntest fantastische Filme drehen, im Ernst, wart ma, du hast doch gesagt, du schauspielerst in so nem Theater, da haben wirs!

„Vielleicht sorgt ja mal einer fürn wenig Mucke, wa?“ Sonata langweilt sich. „Ich hab euren Scheiß langsam satt. Wie Milchbubis, die am Morgen nach der Hundert-Tage-bis-zum-Abitur-Fete aufwachen.“

Und siehe da, jemand wirft n Ghettoblaster an. Und Daiva ruft aus voller Kehle: „He, Donce, komm, was Nichtrussisches, ja?“, aber Donatas ist schon dabei, die Kassetten zu wechseln, spult bis zu den „Zombies“ von Antis vor. Einer probiert zu tanzen, aber Daiva bleibt bei ihrem Wunschkonzert:

„Komm schon, was Schönes. Mein Kopf platzt gleich vor lauter Gekreische.“

Also findet Donce schöne Musik, „Ruf mich“ von der Gruppe Nerija oder „Maria Magdalena“ von Sandra sind doch schöne Musik. Obwohl, was die da über Maria Magdalena singt, davon versteht hier keiner n Wort. Niemand schenkt dem Beachtung, Hauptsache, sie singt nicht auf Russisch und der Kopf platzt nicht. Jetzt ist es ruhiger geworden, der Selbstgebrannte hat die Runde gemacht, der Streifen geht weiter, jemand tanzt, aber nicht alle sind zur Ruhe gekommen:

„Wo sind denn die Mädels verschwunden?“, fragt Sonata. „Ja, echt, wo ist Danguolė?“

„Was denn für ne Danguolė, kein Schimmer, wer von denen Danguolė war, du bist mir Himmel und Erde.“

„Ach, Remyga, erzähl keinen Scheiß, was heißt hier, wer von denen? Die Schönste von allen, du erinnerst dich also nicht mehr an Danguolė?“

Das tu ich nicht, auch die anderen sagen nichts, nur Donce schunkelt zufrieden mit Daiva mitten aufm Hof und sagt: „Komm schon, hier sind alle die Allerschönsten!“ Saulius und Laima gehen auch tanzen, und ich sitze da, den Arm um meine Sonata gelegt, und habe alles, was ich brauche.

„Sonata, sag mir, dass das alles nie zu Ende geht.“

„Die Hochzeit?“

„Komm schon, ich kanns kaum erwarten, dass alle verschwinden, bis wir allein sind, so wie immer.“

„Ich auch.“

Natürlich kann man Sonatas Bauch schon sehen, und von friedlicher Zweisamkeit zu träumen wäre naiv, aber irgendwie bin ich dahingeschmolzen und habe gesagt, was mir auf der Zunge lag. Denn Sonata ist jetzt der nächste Mensch für mich. Ich lege meinen Kopf auf ihre Knie, sie streichelt mir das Haar und verspricht mir sanft: Gleich sind wir allein, gleich entkommen wir von hier, Remyga.

SONATA

Alles gut, dachte ich, während ich seinen Kopf streichelte, wird schon. Während der ganzen dreitägigen Hochzeit hat Remyga wie angeklebt an mir gehangen. Hat sich praktisch so aufgeführt wie in unseren ersten Tagen, als er rundum niemanden und nichts sah, damals hab auch ich sonst nichts gesehen, und nichts hat mich interessiert, aber das is doch ne Hochzeit, und da sind wir nun mal nich allein, da muss man sich doch irgendwie mit den Leuten abgeben, sich in ihrer Nähe n bisschen im Zaum halten. Und dann wischt er mit seinem Schnauzer auch noch die ganze Zeit mein Puder ab. Aber ja, wir werden zu zweit zusammenleben, seis drum, bald is alles vorbei. Noch hat es niemand eilig zu gehen, Daiva sieht jetzt zum Grölen aus, sie tanzt mit Donatas, die beiden passen absolut nich zueinander, aber dafür sind Feten doch da, dass man nach Lust und Laune rumalbern kann. Sie war mal meine Banknachbarin, ließ mich abschreiben, wir waren Freundinnen. Sie wollte nach der Schule auf die Uni, wurde aber schwanger. Kinder hätten das Ende seiner Karriere bedeutet, also bedrängte er Daiva, und jetzt – weder Kinder noch n Mann noch n Uniabschluss. Schauspielert in so nem Theaterstudio, is auf nem Kräutertrip, Wahrsagerei, die versteht man manchmal kaum, wenn sie redet, schade, wir warn doch mal beste Freundinnen, da hab ich mir irgendwie gedacht, du musst sie zur Hochzeit einladen, und sie hat sich so gefreut, dass sie ihre Hilfe anbot, da war alles viel einfacher, ja, sie hat mir mit den Dekorationen geholfen, nen Fotografen gefunden, sie sagte, sie arbeitet bei der Polizei, manchmal schießt sie Fotos von unseren Auftritten, erste Sahne, ganz besondere Fotos. Und überhaupt, denk ich bei mir, es könnte ja sein, dass es sich für sie lohnt, vielleicht angelt sie sich hier ja einen. Natürlich nicht Donce, der hat sich nich geändert, flatterhaft wie immer. Hat sie etwa die Nacht wirklich allein verbracht? Der Blick gesenkt, aber ich sag ja, jetzt sind die Kräuter für sie wichtiger als die Jungs. Zumindest tut sie so als ob. Und diese Fotografin, Laima, bald knipst sie, bald verschwindet sie wer weiß wohin, scheinbar Single, irgendwie leicht zu ärgern, obwohl es am Anfang so aussah, als wäre sie voll okay. Aber wo isn Danguolė verschwunden? Sie ist ohne ihre neue Liebe gekommen, Fridrikas heißt der, wenn ich mich recht erinnere, der sei geschäftlich unterwegs. Während also Fridrikas in der Weltgeschichte rumreist, hat auch Danguolė Lust auf Vergnügen. Und sie vergnügte sich hier von Herzen, ein Pfundsmädel. Schade nur, dass sie so früh verschwunden ist, aber vielleicht hat sich ja auch mit nem Freund von Remyga aus dem Staub gemacht. Oh, da ist auch schon Vater. Nein, ich hab ihm nich gesagt, er soll keine Runde mehr schmeißen, ich kann mir überhaupt nich mehr vorstellen, woher er immer wieder ne neue Flasche hervorzieht. Ich dachte schon, jetzt trinkt er die letzte leer, streckt sich und dampft ab, aber jetzt steigt die Temperatur von Neuem. Vater könnte sich sicher um alle kümmern, um alle, die ihm was bedeuten. Sogar um die Freunde von Remyga, die er zum ersten Mal sieht. Auch Remyga selbst sieht sie wahrscheinlich zum ersten Mal nach der Armee. Na ja, die Hochzeit ist doch die beste Gelegenheit, allen laut zu verkünden, dass du zurück bist. Noch am Leben. Und verliebt wie ein Kater. Heute, am dritten Tag, sieht er wie ein Weichei aus, er hat seinen harten Soldatenblick verloren, schnurrt wie ein Kätzchen auf meinem Schoß – mir fehlt nichts mehr, ich könnte einfach immer weiter so sein. „Ich auch“, antworte ich ihm wie ein Echo, soll er heute plappern, sein Herz ausschütten. Dann beginnt das neue Leben. Mit Remyga. Er murmelt, wir sollten uns wieder wie am Anfang fürn paar Monate einschließen und es werde uns an nichts mangeln. Natürlich, uns fehlt es wirklich an nichts, aber jetzt wäre etwas Neues nicht schlecht. „Was“, was denn fürn „Etwas“? Das Kind wird zur Welt kommen, da haste was Neues, aber ich träum nich wirklich von nem Kind, ich würde auch liebend gern wie Danguolė weit weg abhauen. Aber Remyga brummelt heute, dass er mich nicht gehen lässt, nicht mal ausm Bett, und dass wir dann schwitzen, bis sich n Regenbogen über uns aufspannt. Halb so schlimm, vielleicht wird das Kind nicht besonders stören. Besonders unterm Regenbogen, von dem Remyga hier faselt. „Glaubste das?“, fragt er. Natürlich glaub ichs und ich probier mir vorzustellen, wie sich dieser Regenbogen denn bilden soll. Das wird er, sagt Remyga, weil du meine Königin bist. „Klaro“, antworte ich lächelnd. „Das Leben in Rosa, Rosa, Rosa.“ Remyga schnurrt weiter über die Königin, klaro, sage ich, ich werde unbedingt deine Königin sein, die Königin von deinem Bett.

„Und die Königin von meinem Leben“, fügt Remyga hinzu.

„Und vom Leben“, widerspreche ich ihm nicht.

Was sollte ich auch an so nem Tag widersprechen? Auch wenn ich mir nicht wirklich vorstellen kann, wie dieses Leben aussehen soll, aber ich denke immer öfter an Dinge, die mir vorher nie in n Sinn gekommen wären. Zum Beispiel diese Geburtskliniken, wie Danguolė voller Panik erzählt, dort sterben Babys, sagt man. Wie kann das denn sein, dass Babys auf der Entbindungsstation sterben? Dort sind doch Ärzte, alles sauber, Medikamente, Pflege und so weiter. Und doch sterben sie, die Leute reden darüber. Ich hab auch was im Radio gehört, über dreißig Babys krank, n paar auf der Intensivstation und vier gestorben. Wie im Mittelalter. Sie sagen, das Wasser sei verschmutzt. Danguolė wohnt selbst im Südviertel, dort schreiben sie Briefe, natürlich hilft alles nichts, die Nachbarn sagen, sie haben schon vor fünfzehn Jahren Briefe geschrieben, dass bei uns trübes und stinkendes Wasser aus dem Wasserhahn kommt, aber die da oben haben kurz und bündig geantwortet: Wir haben es untersucht, Ihr Wasser überschreitet die Normen nicht, nur fast, also ist alles in Ordnung und wir werden keine Anlagen einbauen, die das Eisen herausfiltern. Doch das war vor fünfzehn Jahren, jetzt ist alles nur noch schlimmer. Aber wir ziehen ins Zentrum, mein Vater hat uns ne Wohnung überlassen, er selbst zieht hierher, ins Haus, vielleicht wird ja alles gut und wir haben dann n Leben in Rosa, mit nem bisschen Rost. Obwohl, ich habe davon geträumt, dass ich heirate und irgendwo weit weg vom Vater lebe, aber das Schicksal strapaziert offenbar gern die Nerven, damit es kein Märchen voller Glück gibt.

AFSANA

Das wird keine fröhliche Geschichte. Ich heiße Afsana, niemand hat mich hergebeten, das stimmt, aber auch keiner bemerkt mich. Aber es ist eben eine Geschichte, ein Märchen, sagt Sonata, und ihr hört sowieso nur eine Stimme, also spielt es keine Rolle, dass man mich nicht sehen kann. Ich bin es gewohnt, mich nicht ohne Mann auf der Straße zu zeigen, und jetzt bin ich immer in Remygas Nähe. Ich bleibe hier und schaue zu, sollen die Figuren sich nur nach Lust und Laune küssen, vermehren, trinken und feiern. Ich bin vor Kurzem mit Remyga aus Afghanistan hierhergelangt. Soll doch Remyga den Mund halten und Sonata ihn streicheln. Ich kann sehen, wie schwer es ihm fällt, diese Menschen, diese Spiele, diese Trinksprüche und Reden zu ertragen. Er versucht sich einzureden, dass er Fuß gefasst hat im Leben, dass jetzt alles wie im Märchen sein wird, oder wenigstens wie im Leben von Durchschnittsmenschen. Das will er felsenfest glauben, auch wenn jede Kleinigkeit wie ein Granatsplitter in seiner Erinnerung stecken bleibt. Als die Kinder, wie es die Tradition will, den Neuvermählten vor dem Gehöft den Weg versperrten und sie sich mit Süßigkeiten den Durchgang erkaufen mussten, stand Remyga mit im Voraus gefüllten Taschen wie angewurzelt da und wollte schon vor den Kindern zurückweichen. Remyga, sagte Sonata zu ihm, Remyga, gib den Kindern Bonbons, aber Remyga ging Schritt für Schritt rückwärts, da packte Sonata ihn an der Hand, zog Handvoll um Handvoll Süßigkeiten aus seinen Taschen und warf sie den Kindern zu. Sie warf, die Kinder sammelten sie voller Freude auf, genau wie bei uns in Afghanistan, als russische Soldaten sie unseren Kindern zuwarfen. Und nicht nur Süßigkeiten, noch ganz anderes warfen und schleuderten sie dort durch die Luft. Ich werde hier nichts einwerfen, nur beobachten. Stimmt, ich habe Sonatas Vater ein kleines Geschenk gegeben, soll er es seinem Enkel geben, er wird ja bald zur Welt kommen. Da ist er auch schon, lassen wir ihn sprechen.

Der Schwiegervater mag Ordnung, er mag es, wenn er die Ordnung selbst festlegt, also versucht er auch jetzt, dieses ganze aus den Fugen geratene Hochzeitsfest wieder in den Griff zu bekommen:

„Nun, ihr Turteltauben, euch bleibt noch viel Zeit zum Turteln, das Leben ist lang. Kommt her. Ihr müsst noch einen Toast ausbringen.“

Valdas Velcas hat als Theaterregisseur zwei Tage lang in einem fort vorgegeben, wer was tun, welche Musik gespielt werden, wann getanzt und wann angestoßen werden soll. Und er fand immer jemanden, der ihn unterstützte und ihm zuhörte. Gerade eben sang Daiva als Erste:

„Ja! Zu viele Trinksprüche kann man auf dieses Hochzeitspaar gar nicht ausgeben! Möge das Schicksal sie segnen!“

Und dann wandten sich alle Hochzeitsgäste zum Brautpaar um, und Sonatas Vater hob sein Glas und tat, was er am besten konnte und mochte – Reden halten:

„Nun, die Standhaftesten sind noch übrig! Also lasst uns noch einmal auf unser Brautpaar anstoßen! Seht nur, wie Remigijus das Glück seines Lebens festhält! In diese Hände hat er sein Gewehr genommen, das hat er, um uns alle und unsere Zukunft zu verteidigen. Und er wird wissen, was er mit diesen Händen jetzt tun soll – wie man auf Kinder aufpasst, wie man sein Brot verdient. Und jetzt lasst uns mit diesen Händen anstoßen – auf die Standhaftigkeit, auf eine starke Familie, auf die Treue, auf eine leuchtende und rosige Zukunft. Auf die Wiedergeburt Litauens! Wir sind jetzt eine Familie, Remigijus! Wie man sagt: Hab nicht hundert Rubel, hab hundert Freunde. Nur die Familie ist noch teurer. Rubel kannst du verdienen, die Familie dagegen nicht, die musst du wertschätzen! Darüber freue ich mich ganz besonders. Ich freue mich, dass Amors Pfeil dein Herz durchbohrt hat und nicht die Kugeln in Afghanistan! Auf das Brautpaar! Auf die Familie! Auf Litauen!“

Alle johlen und blöken zustimmend und trinken ihr Gläschen auf ex, sogar Antanas vergisst sein Gejammer für eine Weile, während Daiva der Trinkspruch nicht ausreicht, sie wirkt wie neugeboren, möchte alles besingen und erörtern:

„Unsere Jungvermählten sind füreinander bestimmt! Gott hat sie einander gesandt! Was für Turteltauben!“

„Ein sauberes Paar!“, lässt Donatas sie gar nicht erst in Fahrt kommen.

Der Schwiegervater kommt nicht zur Ruhe, obwohl schon alle möglichen Trinksprüche ausgesprochen, die Geschenke verteilt sind, kann er nicht aufhören:

„Ich möchte euch noch etwas schenken, das war nicht so geplant, ich habe es nicht als Geschenk gekauft, sondern heute aus meiner Wohnwand hier auf dem Bauernhof genommen und mir sofort gedacht: Sollen diese Elefanten in eurem Haus wohnen und euch mit ihren breiten Rücken viel Glück bringen.“ Der Schwiegervater holt eine Schachtel hervor, in der sieben Elefanten der Größe nach angeordnet sind.

„Danke, Papa, nur brauchen wir erst unser eigenes Zuhause.“ Sonata nimmt das Geschenk an sich.

„Lebt ruhig in meiner Wohnung, so lange ihr möchtet, ihr seid meine Kinder, meine Familie!“

„Schießen wir noch ein Erinnerungsfoto und lassen wir die Fotografin gehen …“ Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat, stellt Daiva auch schon die Hochzeitsgäste in Reih und Glied auf, ganz die rechte Hand von Sonatas Vater, obwohl man unterschiedlichere Menschen kaum hätte finden können. „Alle hierher, stellen wir uns alle hier auf.“

Remyga sitzt noch immer auf der Treppe, Saulius packt ihn an der Schulter und schüttelt ihn durch: „Remyga!“ Hörste mich, Remyga! Komm her! Remyga, komm schon, was haste nur?!“ Remyga springt auf, als wäre er aus einer anderen Welt erwacht, in der es weder Freunde noch Sonata noch eine Hochzeit gibt, und stellt sich für ein Gruppenfoto hin. Daiva teilt jedem einen Elefanten aus, es sind gerade noch sieben Hochzeitsgäste übrig. „Die UdSSR ist die Heimat der Elefanten“, kann Saulius die Schulwitze nicht lassen – genau wie die Filmzitate. Remyga wundert sich, dass Laima noch hier ist. Hochzeitsfotografen schießen doch am ersten Tag ihre Fotos und verdrücken sich dann, oder nicht? Leise, fast unsichtbar hat sie den ganzen Morgen hier verbracht. Was hat sie gemacht und wo war sie genau? Sie hat doch nicht fotografiert, was soll man auch am dritten Tag fotografieren, lässt ein Gedanke Remyga nicht los. Sie als Fotografin anzustellen ist Daivas Idee gewesen, niemand hat Remyga gefragt. Alle stehen stramm, der Augenblick, in dem man auf das Klicken der Kamera wartet, steckt voller Anspannung. Um das Bild ja nicht zu verderben. Und dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem die Kamera klickt – es scheint so, als würde er deine Atmung anhalten, in deinem Lebensfilm auf „Pause“ drücken, eine Schicht von dir entfernen und sie auf das Fotopapier auftragen. Sozusagen ein Tod für eine Sekunde, auf den wieder das Leben folgt. Laima schießt ein Foto, dann wieder Musik, wieder Tanz. Daiva geht jetzt nicht mit Donatas tanzen, sie sagt ihm, er soll sich ausruhen, denn sie möchte sich von Laima verabschieden, weiß aber nicht recht, wo sie anfangen soll, sucht nach Worten, aber sie muss etwas sagen, irgendwas. „Laima, danke, dass du gekommen bist, und fürs Fotografieren. Wie sollte man sich später denn ohne Fotos erinnern? Obwohl ich glaubte, du würdest nein sagen.“ Auch Laima fühlt sich irgendwie nicht ganz wohl in ihrer Haut. „Warum denn nein sagen? Ich hatte Zeit, also bin ich gekommen.“ Aber Daiva will etwas anderes sagen, sucht nach Worten, wo sind nur all diese Worte, wo? Dann sieht sie Laimas geschwollenen Arm, fragt, was passiert ist, Laima sagt, nichts, so etwas wie eine Biene habe sie gestochen, aber es hat doch gar keine Bienen mehr, sie sind jetzt ruhig, stechen nicht mehr, ich weiß nicht, vielleicht irgendein Käfer, ich geh jetzt. „Ja, vielen Dank noch mal. Immerhin …“, ringt sich Daiva beinahe flüsternd ab. „Wenn man weiß, dass Remyga für dich …“ Doch Laima lässt sie nicht ausreden „Was ist mit Remyga und mir?“ – „Na, ich weiß nicht“, erwidert Daiva schulterzuckend, „ich dachte, du hast gewartet.“ – „Wenn dus nicht weißt, dann lass das Denken, ja?“ – „Sei mir nicht böse, Laimutė, das wollte ich nicht, ich dachte nur …“ – „Okay, okay, das reicht, basta, tschüss!“ Laima verschwindet vom Hof.

Ja, wirklich, warum ist Laima überhaupt hergekommen? Wegen Remyga? Was verbindet sie und Remyga? Ich weiß es nicht, ich war damals noch nicht hier. Ich bin erst seit Afghanistan mit Remyga zusammen. Wie es scheint, fühlt sie sich ungerecht behandelt, aber du gehst doch nicht nur wegen einer Kränkung zur Hochzeit deines Liebsten. Ich habe sie auch Sonatas Vater fotografieren gesehen, ich weiß nur noch nicht, ob sie deshalb hier war. Am zweiten Tag der Hochzeit legte er sich hin und schloss sich ein. Aber durch das Fenster sah sie einen schlafenden alten, ermatteten Mann. Das Haar schütter, verklebt, es stand zu Berge, die Gesichtshaut schlaff, als hätte jemand das Fett aus den Wangen gesogen und mit einem Spinnennetz aus tiefen Falten überzogen, während die Nase sich fast bis zum Boden in die Länge zog, wie so ein Elefantenrüssel, nur erschlafft. Es wirkte so, als läge da ein leerer, mit Menschenhaut überzogener Sack. Wie ein wabbeliger Kohlkopf. Laima zuckte zusammen, kauerte sich plötzlich hin, holte an die Hauswand gelehnt Luft, sprang auf und schoss ein paar Bilder, wobei sie den alten Mann kaum ansah. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie fortwährend an die Kamera und den Film gedacht, sie gehütet, so wie Sonata ihren Bauch hütet. Und da dürfte es kaum verwundern, dass Laima heute so ruhig ist. Aber woher nur nimmt der Alte die Kraft, wieder aufzuleben? Woher weiß Laima, dass Valdas Velcas, wenn er zu Kräften kommt, vor Lebhaftigkeit nur so strotzt, seine Nase bisweilen lang und spitz wird, dass er sich mit seiner spitzen Mütze und in kurzen Hosen lautstark freut, und die Kinder sich umgehend um ihn drängen. Auch von ihnen bezieht er Energie. Genau so, in kurzen Hosen, traf ich ihn an, wie er den goldenen Schlüssel der Sphärentür aufhängte. Ich konnte ihn nicht einmal fragen, in welche Sphären er sich da begebe. Seine Lieblingsenergiequelle ist jedoch der Schmerz der Menschen. Der Platz hier in der Nähe des Bergs der Kreuze, wohin die Menschen ihr Leid, ihre Albträume, ihren Schmerz tragen, eignet sich ausgezeichnet. Und nicht nur die Menschen, auch das Flüsschen Kulpė trägt sein stinkendes Wasser hierher. Aber die Kulpė kann nichts dafür, jeden Tag werden Tonnen von Schadstoffen hineingekippt. Die Menschen haben mehr Möglichkeiten, aber es ist viel leichter zu glauben, dass jemand anderes sie retten wird. Es ist einfacher, das Kreuz zu tragen und Gebete zu sprechen, es ist einfacher, zu hoffen und zu warten, als gegen die eigenen Schwächen anzukämpfen. Oder ganz einfach gegen die eigene Weltsicht. Die hohlen Wünsche und Ängste der Menschen sind die Nahrung von Valdas Velcas. Und jetzt weiß er von mir und Remyga in Afghanistan. Doch das von mir geschenkte Spielzeug, das er seinem Enkel schenken wird, hat Laima nicht zu Gesicht bekommen, wahrscheinlich hat er es in seiner Jackentasche versteckt.

Daiva aber macht sich Vorwürfe, dass sie es Laima irgendwie nicht richtig, ja überhaupt nichts von dem gesagt hat, was sie ihr hätte sagen wollen, obwohl sie gar nicht recht weiß, was, sie ist irgendwie zerstreut, aber was will man denn, bei diesem Lärm, diesem Dauerlärm, und warum jetzt schon wieder? Donatas und Saulius ist eingefallen, dass das Hochzeitsszenario plötzlich abgerissen ist, dass sie den Heiratsvermittler noch nicht gehängt haben, wie es sich gehört. Sie machen Jagd auf ihn, schreien rum, hätten ihn beinahe wirklich erwürgt. Daiva kreischt: „Sein Herz!“, und Remyga schimpft verdammte Scheiße, was fürn Kindergarten. Aber die Männer beruhigen sich von selbst, schon halten sie eine Flasche in den Händen, schenken ein, Antanas ziert sich.

„Komm schon, Antanas, du brauchst das!“ – „Was stellst du dich so an, Antanas!“ – „Dann also auf den Heiratsvermittler!“ – „Auf den Unsterblichen!“

Die Männer trinken, im Hintergrund läuft immer noch dieser Streifen, „Nightmare – Mörderische Träume“, einer setzt sich hin und glotzt weiter, ein anderer geht in den Garten, um ein paar Äpfel zu pflücken, vielleicht ist es ja wirklich an der Zeit, den Kopf durchzulüften, bevor wir noch den Geist aufgeben. Da setzt sich Andrius neben Remyga, der das gar nicht zu bemerken scheint. „Remyga, hallo, Remyga! Biste schon hackevoll oder was?“ Remyga blickt Andrius an und sagt mit einem angedeuteten Lächeln: „Ich bin glücklich, siehste das nich?“ Aber Andrius fasst das als Witz auf, ja, ja, der ist glücklich, sieht aus wie n Filmriss, obwohl, vielleicht auch nich, aber egal, denn Andrius wollte eigentlich fragen, ob Remyga in die Poliklinik geht und seine Tabletten nimmt.

In die Poliklinik geht Remyga, aber seine Pillen nimmt er nicht, denn danach fühlt er sich wie ein Kartoffelsack, und außerdem stimmt auch so schon was nicht mit ihm – ihm ist kotzübel, die Knochen tun weh, aber die Doktoren finden nichts. Und Remyga hat das Gefühl, mit Lungen voll Staub aus Afghanistan zurückgekommen zu sein, deshalb begreifen die Ärzte rein gar nichts, doch die Träume begreifen alles, sie verschwinden nicht. Und er hat diesem Arzt nichts zu sagen, denn wenn er fragt, was haben Sie für Beschwerden, weiß Remyga nicht, was er sagen soll, für ihn stinkt alles rundherum, aber ist das denn eine Krankheit? Manchmal wird ihm von allem übel, manchmal hustet er Schleim, auch schwarzen, und seine Haut scheint rau geworden zu sein, seine Zähne tun weh, mit anderen Worten: „Ich könnt wie n Hund verrecken“, sagt Remyga zu Andrius, „niemand würd mich vermissen, aber jetzt ist Sonata schwanger, ich würd das Kind noch gern ne Weile aufziehen, es gibt also was, wofürs sich zu leben lohnt.“

Andrius hat dem nicht viel hinzuzufügen, er kann nur fragen: „Wie willste denn weiterleben?“

„Ich warte ab“, sagt Remyga.

„Du wartest ab? Auf was willste denn warten?“

„Auf die Hochzeitsfotos, was n sonst?“

„Blödmann. Ich frag ganz im Ernst.“

„Na ja, ich geh auch zur Polente.“

„Scherzkeks.“

„Ach komm schon, erzähl ich nen Witz, glaubste mir nich, sag ich die Wahrheit, passt das auch nich.“ Remyga ist müde, hat keine Lust mehr zu erklären, natürlich zur Polente, was sonst könnte er denn tun, wer wartet denn hier mit offenen Armen auf die Afganzen, und dann hat Sonatas Vater gesagt: „Ich kenne da ein Plätzchen, du kannst mit einer Waffe umgehen, für den Anfang geht das sicher in Ordnung.“ Remyga spricht nur ungern über diese Arbeit, aber jetzt wird er halt warten, einfach warten, auf sein Kind warten, aber darüber mag er ganz sicher nicht reden, danach fragt ihn auch keiner, nur ab und zu fällt ein Kommentar. Saulius hat das Wort „Polente“ mitbekommen und muss jetzt wie ein Hahn auf dem Zaun sofort eine Ansprache zum Besten geben: „Ja, ja, unser Remyga war schon immer ne Art Sherlock Holmes, n bisschen Onkel Stjopa, n bisschen Tadas Blinda!“ Aber Donce lehrt erneut mit geschwellter Brust, alle zu leben:

„Remyga, willste wirklich zu den Bullen? Eine elende Sabaka, n Hund sein? Und mit dem Gummiknüppel auf all diese Demonstranten und Protestler einprügeln? Wie letzthin in Vilnius, war das ne Gummiknüppelparty, vielleicht haste ja davon gehört.“

„Keiner vermöbelt die“, sagt Andrius, der muss es ja wissen, er arbeitet schon bei der Polizei.

„Das ist Vilnius, da sind die Russen, die ham Scheiße gebaut und wissen jetzt nich, was sie tun sollen“, fährt Saulius fort.

Andrius wirft einen Pflaumenstein nach Donce:

„Donce, du hast wohl schon n paar über den Durst getrunken, wa. Beruhig dich.“

„Ich bin ruhig. Papa hat sicher nichts gegen noch einen von uns bei der Polente. Stimmt doch?“

Die Männer packen einander am Kragen, ein Gerempel, Versuche, sie zu trennen. Remyga fasst sich an den Kopf, schließt die Augen, vielleicht ist ihm übel, doch dann geht er von einem zum anderen, packt sie am Arm, an den Schultern, umarmt sie, lässt sie wieder los, schaut ihnen in die Augen und wendet sich mit einem fremden Namen an jeden von ihnen:

„Dima, Dima.“

„Remyga, ich bin nicht Dima, ich bin Saulius.“

Aber Remyga fragt nicht, Remyga weiß:

„Dima. Dima lag mit abgehackten Fingern da, ohne Ohren und Nase. Der Rücken ohne Haut. Der Rücken gehäutet. Er wollte selbst hierher, wollte zum Mann werden, dem Brudervolk helfen. Lebendiges Fleisch. Brudervolk. ‚Allahu Akbar!‘ Hörst du, Dima, wie du dich häutest und wie das Brudervolk ‚Allahu Akbar!‘ ruft? Aivaras mit abgeschnittenen Eiern, die man ihm in den Mund gesteckt hatte. Er redete und redete nur von seiner Freundin, ging uns aufn Keks, wir konnten uns schon vorstellen, wie sie nackt aussah, aber er laberte immer weiter, wie sie heiraten, irgend so ne Bude einrichten würden. Und jetzt, solln wir das Höschen, das er für sie gekauft hat, in seinen Sarg legen, wa? N gutes, aus Seide, aber das kannste doch jetzt nich in den Sarg legen, den wird doch niemand mehr aufmachn. Die schütten jetzt Sand in n Sarg, damit er schwer genug ist. Sand statt Beine. Mischa, den hatten die Duschmanen lange als Geisel gehalten und gezwungen, andere Geiseln umzubringen, welche von uns, bevor sie ihn wie durch ein Wunder gegen mehrere Mudschaheddin eintauschten. Sie schossen den Hubschrauber ab, mit dem Mischa nach Hause flog. Ali, erst als wir seinen Sarg wegtrugen, sah ich, dass sein richtiger Name Alichan ist. Ali Chan. Da habt ihr euren Chan. Er wusch das Schuhwerk von allen, putzte die Uniformen, witterte, wenn jemand die Luft verpestet hatte, und sang, wann immer einer darauf Lust hatte. Schade um ihn, aber was kannste schon mit deinem Mitleid erreichen? Rein gar nix, Ali!“ Remyga umarmt Andrius. „Darius, Dariuk. Er sagte, wenn er heimkommt, dann kümmert er sich um seine Mutter, er ist ja nur vor ihrer Verfolgung, ihren Sorgen und Krankheiten davongelaufen. Er hat begriffen, was fürn Stück Scheiße er ist, sagte, wenn ich wieder zu Hause bin, schau ich zu meiner Mutter, dann kümmer ich mich, verdammt nochmal, um sie, trag sie auf meinen Armen in den vierten Stock. Womit willst du sie denn tragen, deine Arme und Beine sind abgehackt, wie willst du sie also in diesen vierten Stock tragen, Dariuk, wie?“

Die Hochzeitsgäste tuscheln, jemand telefoniert im Flur, ein anderer sammelt seine Sachen zusammen und schickt sich an, nach Hause zu fahren. Jetzt ist die Hochzeit wirklich zu Ende. Nur weiß keiner, was für Remyga geendet oder angefangen hat.

„Dariuk, wie willst du dich ohne Hände um deine Mutter kümmern? Wie soll ich mich ohne Mutter um meine Mutter kümmern? Wie soll ich mich um meine Mutter kümmern, wenn ich sie noch nie gesehn hab, wa?“

„Beruhig dich, Remyga, komm zur Ruhe“, sagt Sonata zu ihm, die ihn umarmt. „Wir werden deine Mama schon finden, psst, ruhig, ganz ruhig, wir finden sie schon.“

„Wie soll ich mich nur ohne Mutter um meine Mutter kümmern?“

„Wir finden sie, wir werden deine Mama finden, wir werden deine Mama finden“, murmelt Sonata, während sie Remygas Kopf wiegt.