Ruhe sanft im Fichtelgebirge - Jacqueline Lochmüller - E-Book

Ruhe sanft im Fichtelgebirge E-Book

Jacqueline Lochmüller

0,0

Beschreibung

Packend, erschütternd und düster-atmosphärisch. Auf einer Fahrt Richtung Fichtelgebirge bleibt Kommissar Breuers Wagen bei dichtem Nebel in einem Waldstück liegen. Hinter dem Wald, zwischen angrenzenden Feldern, stößt er auf einen verlassenen Bauernhof, doch statt des erhofften Telefons findet Breuer darin zwei mumifizierte Tote. Kurz zuvor ist aus der Justizvollzugsanstalt Bayreuth ein Häftling entflohen – verurteilt wegen Mordes an zwei Personen, deren Leichen nie gefunden wurden. Ehe Breuer auf die Situation reagieren kann, wird er überwältigt und in einen Keller gesperrt. Ist er auf den Täter von damals gestoßen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 475

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit



Sammlungen



Jacqueline Lochmüller, 1965 in Bayreuth geboren, arbeitet seit 2008 als Autorin. Sie schreibt Krimis, Thriller, erotische Bücher, Kurzgeschichten und Heftromane, teilweise unter Pseudonym. Jacqueline Lochmüller hat zwei erwachsene Töchter.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Hayden Verry/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr.Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-984-6

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

2007

Auf dem blank gescheuerten Holztisch stand mittig die große Steingutschüssel mit der dampfenden Kartoffelsuppe. Almut Weißgerber sah zu ihrem Mann, der seinen unbewegten Blick über die Familie gleiten ließ. Sohn und Tochter hielten die Augen gesenkt.

Das Ticken der Pendeluhr, die rechts neben dem Sprossenfenster hing, durchbrach die Stille. Alle warteten, dass das Familienoberhaupt das Tischgebet sprach, ehe mit dem Essen begonnen wurde.

»Hast du mir was zu sagen, Artur?«, fragte Bernhard Weißgerber, an seinen Sohn gerichtet. Artur schüttelte schnell und nachdrücklich, aber stumm den gesenkten Kopf.

»Sieh mich an, wenn ich mit dir rede«, verlangte Weißgerber. Er klang ruhig. Almut schlug das Herz bis zum Hals. Ihr Blick ging zu dem Kruzifix, das in der Ecke an der Wand hing, nur knapp unter der niedrigen Zimmerdecke.

Herr, steh uns bei, dachte sie. Es schnürte ihr die Kehle zu.

»Sybille?«, hörte sie ihren Mann die Tochter ansprechen. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, Papa.«

Es dauerte ein paar verräterische Sekunden zu lange, bevor Sybille antwortete. Almuts Augen brannten. Sie betrachtete die helle Tapete mit dem feinen blauen Blumenmuster. In ihr saß der Gilb. Aber der schöne gusseiserne Küchenofen, in dem die Holzscheite knackten und knisterten, war frisch geputzt, und auch das schwarze Ofenrohr glänzte. Bernhard hatte ihr schon oft einen Herd kaufen wollen, mit Cerankochfeld und Zeitschaltuhr und sämtlichen Annehmlichkeiten, die die Hersteller bewarben, aber das wollte sie gar nicht. Sie konnte auf dem antiken Ofen, den er mitsamt dem Hof von seinen Eltern geerbt hatte, wunderbar kochen, und auch Backen war kein Problem. Sie wusste, wie es funktionierte, wie viel Holz sie brauchte, bis der jeweilige Kuchen, oder was immer in der Röhre garte, durch war. Mit Buchenholz ging es am besten. Das brannte so schön gleichmäßig und gab lange die erforderliche Hitze ab. Überhaupt, die mollige Wärme, die so ein alter Ofen abstrahlte, war unvergleichlich angenehm. Das konnte ein moderner Elektroherd nicht leisten. Bernhard hatte vorgeschlagen, den Elektroherd neben den Küchenofen zu stellen, im notwendigen Abstand, das war klar. Platz genug gab es in der geräumigen Küche. Früher waren die Häuser noch für Großfamilien gebaut worden.

»Almut? Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fragte Bernhard und riss sie aus ihren stillen Abschweifungen.

»Entschuldige«, sagte sie leise. Bernhard nickte und faltete die Hände.

»Alles kommt aus deinen Händen, alles lebt, weil du es willst. Alle unsre Not muss enden, alles Leid, wenn du es stillst«, sprach Bernhard. Bei dem Wort »Leid« ging sein Blick zu Artur. »Amen.«

»Amen«, murmelte die Familie.

»Guten Appetit«, sagte Bernhard und forderte Almut wortlos auf, die Suppe zu verteilen, indem er zu ihr sah. Sie erhob sich. Im Stehen ging es leichter. Sie brauchte alle Selbstbeherrschung, um das Zittern in ihrem Arm zu kontrollieren.

Zwei Stunden später lagen sie in der Stille ihres Schlafzimmers nebeneinander im Bett. Almut lauschte in die Dunkelheit. Bernhard schlief nicht, das spürte sie, nach fünfundzwanzig Ehejahren.

»Berni?«, flüsterte sie.

»Hm?«, kam es von seiner Bettseite.

»Es war ein Fehler, nicht wahr?« Sie fröstelte, trotz der warmen Bettdecke.

»Das konnten wir nicht wissen«, erwiderte ihr Mann leise und betonte das erste Wort.

»Was sollen wir jetzt machen?« Sie stellte die Frage, obwohl sie wusste, dass er sie nicht beantworten konnte. Und doch … Bernhard wusste doch immer Rat. Sie konnte sich immer auf ihn verlassen. Er war ihr Halt, ihr Anker, ihr Fels in der Brandung des Lebens. Er tastete nach ihrer Hand und drückte sie.

1

Kriminalhauptkommissarin Kristina Herbich saß hinter ihrem Schreibtisch im Polizeipräsidium in der Werner-Siemens-Straße und drehte sich auf dem Bürostuhl im Kreis, wobei sie bedächtig mit einem Fuß immer wieder Schwung gab. Sie hielt ihr Handy am Ohr und lächelte.

»Ich freu mich auf dich«, versicherte sie ihrem Freund Philipp Reuter, mit dem sie telefonierte.

»Ich freu mich auch auf dich«, erwiderte Philipp mit weicher Stimme. »Ich vermisse dich.«

Kristinas Lächeln wurde noch breiter, und ein warmes Gefühl stieg in ihr auf. Sie zählte jetzt schon die Stunden, bis er in Bayreuth war.

»Wann wirst du bei mir sein?«, fragte sie und sah aus dem Fenster. Im Licht der Straßenlaterne, die nahe dem Gehweg auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, sah sie den Regen bindfadenartig vom Himmel rauschen, und unentwegt prasselten die Tropfen gegen die Scheibe. Der Wind, der phasenweise aufkam, hatte ein paar Blätter Herbstlaub hochgewirbelt, das sich am Fenster festgesaugt hatte. Typisches Novemberwetter und durch die Zeitumstellung war es jetzt, kurz vor siebzehn Uhr, auch schon dunkel.

»Lass mich mal gucken«, sagte Philipp. Sie hörte Papier rascheln, vermutlich blätterte er in seinem Kalender. »Morgen Nachmittag ist noch mal Tanztraining bei Margot. Wir fangen diesmal erst um siebzehn Uhr an. Offiziell geht das Training bis neunzehn Uhr, aber wahrscheinlich macht sie wieder länger. Ich denke, um neunzehn Uhr dreißig ist Schluss. Dann komme ich sofort zu dir.«

Ein Hauch Enttäuschung legte sich über ihre Vorfreude. Wenn Philipp von neunzehn Uhr dreißig ausging, wurde es sicher zwanzig Uhr oder später mit der Abfahrt. Für die Fahrtstrecke vom Saarland bis nach Oberfranken brauchte er mindestens vier Stunden, ohne Stau und ohne Pausen. Es würde jedenfalls Mitternacht werden, bis er bei ihr war, oder später.

»Kannst du das Training nicht mal ausfallen lassen?«, bat sie und kannte bereits die Antwort.

»Ich konnte letzte Woche schon nicht gehen, weil Ulla sich den Knöchel verstaucht hatte und ich so rasch keine Ersatzpartnerin gefunden habe«, erinnerte Philipp sie. »Außerdem fahre ich lieber nachts, das weißt du doch.«

Abends und nachts war die Strecke wegen geringeren Verkehrsaufkommens angenehmer zu bewältigen als tagsüber. Auf den Punkt hatte Philipp schon häufig hingewiesen. Seit fünf Monaten führten sie nun eine Fernbeziehung und pendelten wechselweise zwischen dem Saarland und Oberfranken. Philipp kam jedoch öfter zu ihr als sie zu ihm, was vorwiegend berufliche Gründe hatte. Als Journalist für eine Saarbrücker Tageszeitung erledigte er viel von zu Hause aus, wobei »zu Hause« ein flexibler Begriff war. Zumindest einen Teil seiner Artikel konnte er auch von Bayreuth aus schreiben.

»Außerdem lasse ich schon den Mittwochs-Tanzkurs ausfallen. Ich möchte ja ein paar Tage bei dir bleiben«, fuhr er fort.

Kristina stoppte die Drehbewegungen mit ihrem Stuhl, griff nach einem ihrer Kugelschreiber, die auf der Schreibunterlage lagen, und spielte damit herum. Philipps Hobby war der Tanzsport. Jede freie Minute verschrieb er sich dieser Beschäftigung, bei der sie nicht wirklich mithalten konnte. Sie hatte weder Rhythmus- noch Taktgefühl und ließ sich, seiner Aussage nach, auch nicht führen, wie es für eine gute Tanzpartnerin erforderlich war, sondern machte angeblich immer, was sie wollte. Zumindest Letzteres stimmte ihrer Meinung nach absolut nicht. Sie gab sich stets die größte Mühe, umzusetzen, was er sich dachte. Leider wusste sie meistens überhaupt nicht, was er sich dachte, jedenfalls beim Tanzen.

»Wenn du schon mittags oder nachmittags losfahren würdest, hätten wir mehr Zeit miteinander«, unternahm sie einen letzten Versuch, ihn zu überzeugen, obwohl ihr jetzt schon klar war, dass er sich nicht würde umstimmen lassen.

»Das stimmt. Aber nachts ist weniger los auf der Autobahn«, sprach Philipp erneut den seiner Meinung nach unwiderlegbaren Punkt an. »Allein wenn ich an die Baustelle auf der A3 bei Frankfurt denke … Das ist purer Stress. Ich möchte doch halbwegs fit bei dir ankommen.« Er schickte ein leises bedeutungsvolles Lachen durch die Leitung.

Kristina lächelte.

»Bist du noch im Büro?«, fragte er.

»Ja, aber nicht mehr lange. Es ist ruhig im Moment, und wenn nichts weiter ansteht, kann ich freitags auch eher gehen.«

»Schön«, hörte sie Philipp sagen. »Du fehlst mir«, ließ er sie mit leiser Stimme wissen.

»Du mir auch«, versicherte sie, ebenfalls leise.

»Ich komme, so schnell ich kann«, versprach er.

Ja, nach dem doofen Tanztraining. Die Prioritäten waren klar. Erst das Tanzen, dann sie. Für einen Moment war sie ernüchtert, dann riss sie sich zusammen. Philipp nahm viel Fahrerei auf sich für ihre Beziehung. Wenn er Nachtfahrten als angenehmer empfand, musste sie das akzeptieren.

»Gut. Ich warte auf dich«, sagte sie. Es klopfte an ihrer Zimmertür.

»Diesmal bin ich ganz für dich da. Ich habe nämlich ein paar Tage Urlaub«, ergänzte Philipp.

»Philipp, ich muss Schluss machen. Es …«

Die Tür wurde geöffnet, ehe sie hereingebeten hatte. Torsten Willbrandt, ihr Vorgesetzter, betrat den Raum. In der Hand hielt er eine Akte. Hastig drückte Kristina auf die Aus-Taste und legte ihr Handy vor sich auf den Schreibtisch.

»Hallo, Frau Herbich. Wo ist denn Breuer? Ist der schon gegangen?«, fragte Willbrandt und sah auf den leeren Platz ihres Kollegen, dessen Schreibtisch dem ihren gegenüberstand.

»Hallo, Herr Willbrandt. Ja, vor einer viertel Stunde. Er hat einen Termin beim Zahnarzt.« Sie legte die Fingerspitzen aneinander.

»Tatsächlich?« Willbrandt drückte die Tür hinter sich zu und kam näher. »Hoffentlich nichts Schlimmes?«, erkundigte er sich.

»Ich glaube nicht«, wich Kristina aus.

Breuer hatte ihr erzählt, dass er lediglich zur Kontrolle musste, um dieses Jahr noch seinen Stempel im Bonusheft zu bekommen. Er hatte es vor sich hergeschoben, und nun waren die Termine für den Rest des Jahres dünn gesät. Außerhalb der Arbeitszeit war nichts mehr zu bekommen gewesen. Doch das musste Willbrandt nicht wissen. Abwartend sah sie ihn an. Willbrandt kam nie ohne Grund in die Büros seiner Untergebenen. Er hatte ein Anliegen. Schlimmstenfalls eines, das ihre Wochenendpläne einschränkte. Etwas in ihr bereitete sich auf Gegenargumente vor.

»Weswegen ich hier bin …«, begann er auch wie erwartet.

Das Display ihres Handys leuchtete auf und meldete den Eingang einer Nachricht. Sie war von Philipp. In der Vorschau sah sie, dass er drei Kuss-Smileys geschickt hatte. Willbrandt betrachtete mit undurchdringlicher Miene den verlöschenden Bildschirm. Heiße Verlegenheit durchlief sie, und sie verspürte den Drang, das Mobiltelefon umzudrehen. Am Ende schickte Philipp noch mehr Nachrichten, vielleicht auch welche mit sehr intimem Inhalt – es wäre nicht das erste Mal –, ahnungslos, dass Willbrandt mitlas.

»Es geht um Folgendes.« Er legte seine Akte auf ihren Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf der Seitenkante desselben ab. Aus der Position hatte er einen genauen Blick auf ihr Handy. Sie überlegte, ob sie das Telefon beiläufig in ihre Handtasche stecken sollte, die unter dem Tisch stand.

»Ein Insasse der JVA ist heute Nachmittag von seinem Freigang nicht zurückgekommen. Ihm standen vier Stunden zur Verfügung. Er hätte um sechzehn Uhr zurück sein müssen. Es ist davon auszugehen, dass er geflohen ist«, sagte Willbrandt. Während er sprach, behielt er ihr Telefon im Auge.

»Aber das betrifft Hoffmann. Er ist für die Fahndung zuständig«, unterbrach Kristina ihn, einerseits, um ihn an die Aufgabenbereiche zu erinnern, was ihr nichts nützen würde, wenn er aus irgendeinem Grund die Absicht hatte, sie mit einzubeziehen, andererseits aber auch, damit er endlich von ihrem Handy wegsah.

Willbrandt richtete sich auf und blickte sie an. Immerhin, das war gelungen. Sie sortierte ein paar Papiere, als wollte sie Ordnung schaffen, und legte den dünnen Stapel über ihr Telefon.

»Hoffmann hatte heute Morgen einen Unfall mit dem Rad. Jetzt liegt er im Krankenhaus und muss wahrscheinlich am Knie operiert werden. Frau Gerber, die ihm zugeteilt ist und eigentlich übernehmen sollte, liegt mit einem fiebrigen Infekt im Bett. Wir können ja die Fahndung nicht aussetzen, bis die beiden wieder fit sind. Also veranlassen Sie alles Nötige. Bei Ihnen in der Abteilung ist ja im Moment ohnehin nicht viel los. Glücklicherweise, muss man sagen.«

»Aber es ist Freitag, es ist gleich Wochenende, und ich habe keine Bereitschaft«, protestierte sie.

Willbrandt zog die buschigen Augenbrauen zusammen.

»Ich glaube, Sie verkennen den Ernst der Lage, Frau Herbich. Kurz zu Ihrer Information. Es geht um Herbert Weidenberg. Er wurde vor knapp zwölf Jahren wegen Totschlags an Frau und Tochter inhaftiert. Weidenberg hat die Tat stets bestritten.« Er griff nach der Akte und legte sie vor sie. »Hier, lesen Sie nach, worum es geht. Außerdem habe ich ja nicht verlangt, dass Sie persönlich auf Streife gehen sollen. Sie sollen die Fahndung veranlassen, mit allem, was so üblich ist. Also Foto an die Presse, die Medien informieren, Kontrollen an den Ausfallstraßen anordnen et cetera. Das werden Sie ja wohl heute noch schaffen, es ist ja erst fünf Uhr. Und natürlich ansprechbar sein, wenn uns der Fisch ins Netz geht.«

Kristina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Alles in ihr rebellierte. Sie sah ihr Wochenende gelaufen und die nächsten Tage vielleicht auch, wenn sie Willbrandt nicht überzeugen konnte, die unerwartete Aufgabe jemand anderem zu übertragen.

»Ich bekomme Besuch, Herr Willbrandt«, wandte sie ein, wohl wissend, dass das für ihn keine Rolle spielte.

Willbrandt zeigte mit spitzem Finger zu den Papieren, die sie über ihr Handy gelegt hatte. Bläulich schimmerte das Display durch die Blätter. Die nächste Nachricht ging ein.

»Ich nehme an, von Ihrem ähm … Saarländer?«, fragte er.

»Ja«, gab sie zu.

»Nun, dann geben Sie die Angelegenheit eben Breuer weiter«, entschied Willbrandt. »Trotzdem. Sie leiten die Fahndung in die Wege, und das umgehend. Und Sie lesen sich bitte ein, damit Sie einen Überblick haben, wer dieser Weidenberg ist und was er auf dem Kerbholz hat. Er ist gewalttätig, und es ist zu befürchten, dass der Mann kurzen Prozess macht, sowie sich ihm jemand in den Weg stellt. Sollte diesbezüglich etwas gemeldet werden, erwarte ich Ihre Einsatzbereitschaft. Ansonsten, wenn Sie die Fahndung eingeleitet und Breuer erreicht haben, können Sie ins Wochenende gehen.«

»Danke«, murmelte Kristina. Dass Willbrandt doch ein wenig Verständnis zeigte, hatte sie gar nicht erwartet. Hoffentlich überlegte er es sich nicht wieder anders. Am liebsten hätte sie ihren Kollegen umgehend angerufen, damit er sofort nach seinem Termin zurück ins Büro kam. Die Wahrscheinlichkeit, ihn jetzt zu erreichen, erschien ihr gering. Breuer hatte seinen Termin um siebzehn Uhr gehabt, jetzt war es wenige Minuten nach siebzehn Uhr. Sie musste ihm schon noch ein wenig Zeit geben. Kristina griff zum Telefon, um sich um die Fahndung zu kümmern.

Eine halbe Stunde später nahm sie die Akte und schlug sie auf. Obenauf lag ein Lichtbild von Weidenberg. Der Mann war ein unauffälliger Typ mit kantigem Gesicht, sehr kurzen dunklen Haaren und einer schlichten Brille mit Metallfassung. Neben seinem linken Nasenflügel sah sie einen kleinen Punkt, möglicherweise ein Muttermal. Auf der Aufnahme wirkte er unrasiert, trug jedoch keinen Bart. Kristina legte das Bild beiseite und begann zu lesen, was ihm zur Last gelegt wurde. Ihre Augen flogen über die Zeilen. Zwischendurch stutzte sie und las ungläubig ein zweites Mal, was sie meinte, falsch verstanden zu haben. Ein Frösteln, das nichts mit der Raumtemperatur zu tun hatte, überlief sie, nachdem sie fertig war. Von einem derartig ungewöhnlichen Fall hatte sie noch nie gehört.

2

Als Kommissar Konrad Breuer die Zahnarztpraxis verließ, hatte der Regen nachgelassen, nur vereinzelt fielen noch ein paar Tropfen vom Himmel. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen auf dem Gehweg.

Sein rechter Unterkiefer war taub, die Wange auch. Tatsächlich hatte Dr. Angermaier einem schadhaften Backenzahn eine neue Füllung verpassen müssen. Damit hatte er gar nicht gerechnet. Auf dem Weg zum Auto überprüfte er sein Handy. Der Vibrationsalarm hatte zwei Anrufe gemeldet, während er mit weit geöffnetem Mund auf dem Stuhl gelegen hatte, über sich den Doktor mit sämtlichen zur Folter geeigneten Instrumenten. Die Anrufe waren von seiner Vorgesetzten, KHK Kristina Herbich, gekommen. Um die Uhrzeit am späten Freitagnachmittag bedeutete das, dass etwas passiert war. Breuer zögerte. Er musste sie zurückrufen, so viel war klar. Vermutlich hatte er eine verwaschene Aussprache, mit dem Betäubungsmittel im Kiefer.

Nur wenige Meter von der Arztpraxis entfernt parkte sein Wagen am Rand der Richard-Wagner-Straße, ein schwarzer Audi. Breuer öffnete ihn mit der Fernbedienung des Zündschlüssels, setzte sich hinter das Steuer und rief seine Vorgesetzte an. Sie meldete sich umgehend.

»Herr Breuer, endlich. Alles in Ordnung gewesen beim Zahnarzt?« Sie sprach schnell, und der letzte Zweifel, ihr Anruf könnte doch einen belanglosen Grund haben, schwand. Wobei seine Chefin nie aus belanglosen Gründen anrief.

»Nein. Er hat ein Loch im Backenzahn gefunden. Ich habe eine Füllung bekommen. Das Loch ging tiefer, als ich dachte. Wird möglicherweise ungemütlich, wenn die Spritze nachlässt.« Das Reden ging besser, als er erwartet hatte.

»Das tut mir leid. Herr Breuer. Warum ich anrufe, Willbrandt war bei mir, kaum dass Sie weg waren. Aus der JVA ist ein Straftäter flüchtig. Ein Herbert Weidenberg, sechsundfünfzig Jahre. Er hat sich nach einem Freigang abgesetzt, zumindest wird das vermutet. Ein Unfall ist jedenfalls nicht gemeldet, ich habe mich eben informiert. Hoffmann dagegen, der sich eigentlich um die Sache kümmern müsste, hatte heute Morgen einen Unfall mit dem Rad, und die Gerber ist auch krank. Die beiden fallen also aus, und wir sollen das übernehmen. Die Fahndung habe ich schon veranlasst. Etliche Beamte sind in der Stadt und im näheren Umkreis unterwegs und suchen nach ihm. Außerdem habe ich angewiesen, dass an sämtlichen Straßen, die aus der Stadt rausgehen, Kontrollstellen errichtet werden, auch am Bahnhof und an den Autobahnzufahrten.«

»Das klingt, als hätten Sie das Wichtigste schon erledigt. Was kann ich noch tun?«, fragte Breuer. Mit der Zunge tastete er nach dem Zahn. Fast kam es ihm vor, als setzte bereits ein Prickeln im Kiefer ein, was auf eine nachlassende Wirkung der Betäubung hindeutete.

»In Bereitschaft stehen, für den Fall der Fälle. Willbrandt fürchtet, Weidenberg schreckt vor nichts zurück, wenn sich ihm jemand in den Weg stellt. Wenn die Maßnahmen, die ich jetzt in die Wege geleitet habe, nichts bringen, sollten wir einen Fahndungsring einrichten. Ich denke da an einen Radius von zwanzig Kilometern, für den Moment.«

»Das ist nicht viel. Wenn er ein Auto klaut oder auch nur ein Fahrrad, ist er schnell darüber hinaus«, wandte Breuer ein. »Gibt es Anhaltspunkte, wo er unterkriechen kann? Verwandte, Freunde?«

»Davon habe ich in der Akte nichts gefunden«, gab seine Vorgesetzte zu. »Das muss aber nichts heißen. Vielleicht hat er im Vollzug Kontakte geknüpft, die ihm jetzt weiterhelfen.«

»Sie meinen Mithäftlinge, die inzwischen entlassen sind?«, fragte er.

»Genau. Hier könnten Sie sich gleich mal schlaumachen«, sagte Kristina. »Fahren Sie in die JVA und versuchen Sie was herauszubekommen.«

»Sollten wir nicht erst mal die Ergebnisse der Fahndung abwarten?« Eigentlich hatte er genug für heute. Außerdem hatte sich Dennis schon oft beschwert, dass er häufig spät nach Hause kam. Er hatte gehofft, ihm eine Freude zu machen, wenn er heute beizeiten daheim war.

»Okay, warten wir bis morgen früh. Aber wenn Weidenberg bis dann nicht festgenommen werden konnte, fahren Sie als Erstes in die JVA«, entschied Kristina.

»Und was machen Sie?«, konnte er sich nicht verkneifen zu fragen.

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich bekomme morgen Besuch von Philipp. Also, ich hatte gehofft, dass Sie über das Wochenende für mich einspringen. Montag übernehme ich dann wieder.«

Aha. Der Saarländer war im Anmarsch. Wenn der kam, spielten bei der Herbich stets die Hormone verrückt. Die Spritze ließ wirklich schon nach.

»Herr Breuer?«

»Ja, klar. Mach ich«, antwortete er und verdrängte einen Anflug von Frust. Seine Vorgesetzte plante ein Wochenende mit ihrem Liebhaber und wies ihn an, die Aufgabe zu übernehmen, die Willbrandt ihr angetragen hatte. Als ob er kein Privatleben hätte.

»Super, danke. Ich lege Ihnen die Akte Weidenberg auf den Schreibtisch, dann können Sie sich einlesen.«

»Fassen Sie mal bitte kurz zusammen, worum es geht«, bat Breuer.

»Das ist ein recht spezieller Fall. Weidenberg soll vor zwölf Jahren seine Frau und seine Tochter getötet haben. Vermutlich wurde die Frau erwürgt, bei der Tochter ist die Todesursache unbekannt.«

»Vermutlich und unbekannt? Was heißt das denn?«, unterbrach Breuer seine Vorgesetzte.

»Ja. Tatsache ist, die Leichen wurden nie gefunden. Weidenberg hat die Tat stets bestritten. Seine Frau soll einen Liebhaber gehabt haben, für den sie ihren Mann angeblich verlassen wollte. Die fünfjährige Tochter wollte sie mitnehmen. Weidenberg, der für seinen Hang zur Gewalt bekannt war, soll durchgedreht sein, als sie es ihm gesagt hat«, erläuterte Kristina. »Das Makabre an dem Fall ist, es wäre wohl nie zu einem Verdacht gegen Weidenberg gekommen, wenn der Polizei nicht zwei Fotos der Leichen zugespielt worden wären.«

»Fotos?«, wiederholte Breuer irritiert.

»Ja. Eine Aufnahme, auf der beide tot in Weidenbergs Küche am Boden liegen, und eine weitere, die bei Sophie Weidenberg, das war die Ehefrau, deutlich die Würgemale am Hals zeigt.«

»Puh«, machte Breuer.

»Das heißt, hätten wir die Fotos nicht bekommen, so wäre nach dem Verschwinden von Sophie und Merle Weidenberg davon auszugehen gewesen, dass die beiden mit Sophies Liebhaber, einem Arne Dennstett, auf und davon sind«, ergänzte Kristina. »Es hat sich nie ermitteln lassen, woher die Fotos gekommen sind. Weidenberg hatte für den mutmaßlichen Tatzeitpunkt kein Alibi, aber Kratzspuren an den Armen. Er hat behauptet, die kämen von den Brombeersträuchern in seinem Garten, die er kürzlich zurückgeschnitten hatte. Noch während er in Untersuchungshaft war, hat sich eine der Verletzungen entzündet, und der Arzt hat darin winzige Nagellackpartikel gefunden, die wiederum zu einem Fläschchen im Bad der Eheleute gepasst haben. Weiterhin gibt es eine Aussage von Spaziergängern, die ebenfalls zum fraglichen Zeitpunkt Streit und Schreie aus dem Anwesen von Weidenberg gehört haben wollen. Da aber bekannt war, dass es in der Familie verbal oft hoch herging, haben sie dem keine außergewöhnliche Bedeutung beigemessen.«

»Und woher wissen wir den vermeintlich genauen Todeszeitpunkt? Ich meine, wegen des Alibis von Weidenberg?«, fragte Breuer. Die Betäubung ließ wirklich rasant nach. Die Zahnarztspritzen waren auch nicht mehr das, was sie mal gewesen waren. Hatte er vor zehn Jahren eine Plombe gebraucht, war ihm der Mund oft stundenlang pelzig gewesen.

»Von Georg Schulz. Das ist, oder besser war, der Vater von Sophie Weidenberg. Nach dem Tod von Tochter und Enkeltochter hat der Mann Suizid begangen.«

Breuer massierte sich den Nacken. Vor seinem inneren Auge spielte sich ein Familiendrama ab. Ein gewalttätiger Ehemann, eine verzweifelte Ehefrau, die fremdging, vielleicht in der Hoffnung, eine neue Beziehung würde ihr die Stärke geben, sich aus der verhängnisvollen Abhängigkeit zu lösen. Ein kleines Mädchen, das hilf- und wehrlos im dramatischen Geschehen steckte, miterleben musste, was die kindliche Psyche für das restliche Dasein schädigte, und das darauf angewiesen war, dass die Mutter für Stabilität und Sicherheit in seinem jungen Leben sorgte. Im Hintergrund der Vater der gepeinigten Ehefrau, der möglicherweise versucht hatte, auf seine Tochter einzuwirken, ihren Mann zu verlassen, und nicht verkraftete, dass die Situation infolgedessen eskaliert war.

»Schulz hat am anzunehmenden Tattag mit seiner Tochter telefonieren wollen. Er hat sie auch erreicht, das war ziemlich genau um fünfzehn Uhr. Sie soll aufgeregt gewesen sein wegen eines Gesprächs mit ihrem Mann, das anstand, und gesagt haben, sie würde ihn am späten Nachmittag zurückrufen. Als der Anruf nicht kam, ist Schulz am frühen Abend zum Haus der Eheleute und hat niemanden angetroffen. Er hat sich größte Sorgen gemacht und ist noch am selben Abend zur Polizei gegangen, eben weil sein Schwiegersohn zur Gewalt neigte. Dort hat man ihn nicht ernst genommen. Am anderen Tag lagen die Fotos der Toten früh in der Post.«

»Von wo wurden sie weggeschickt?«, fragte Breuer.

»Sie wurden direkt eingeworfen. Handelsübliches Kuvert, keine Fingerabdrücke, außer denen unserer Kollegen. Ab dem Moment liefen die Ermittlungen auf Hochtouren. Weidenberg war außer sich. Er wollte zur Tatzeit beim Angeln gewesen sein, was niemand bezeugen konnte. Der Liebhaber von Sophie hat einen Bruder am Starnberger See, Leon Dennstett, und war zur fraglichen Zeit bei ihm, was auch von einem Nachbarn bezeugt wurde.«

»Was sagt die Videoaufzeichnung?« Breuer drehte den Zündschlüssel im Wagen gerade so weit, dass die Beleuchtung im Cockpit anging, um zu sehen, wie spät es war. Gleich achtzehn Uhr dreißig. Dennis war bestimmt schon zu Hause. Er drehte den Schlüssel zurück, und die Lichter verloschen.

»Welche Videoaufzeichnung?«, fragte Kristina.

»Vom Briefkasten. Der liegt doch neben dem Haupteingang. Derjenige, der das Kuvert eingeworfen hat, müsste darauf zu sehen gewesen sein.«

»Ach so, ja. Moment.«

Er wartete.

»Hier, ich hab’s. Damit war nichts anzufangen. Eine verschwommene Gestalt mit einer Kapuzenjacke, das Gesicht durch gesenkte Kopfhaltung verborgen. Vom Bewegungsablauf her wohl ein Mann. Eingeworfen wurde das Kuvert gegen ein Uhr nachts, also morgens. Zudem war er, wenn wir jetzt tatsächlich von einem Mann ausgehen, sehr schnell. Er ist nur wenige Sekunden im Bild gewesen.«

»Hm«, machte Breuer.

»Gut, Herr Breuer, das war es für den Moment. Die Fotos der Toten liegen übrigens auch in der Akte. Ich mache jetzt Feierabend. Ihnen gute Besserung für den Zahn. Wenn sich was Wesentliches ergibt, sagen Sie mir bitte gleich Bescheid.«

»Geht klar, Frau Herbich«, antwortete er.

3

Der Regen war doch wieder stärker geworden. Jetzt war es zwanzig vor sieben. Breuer dachte nach. Er konnte in der L’Osteria anrufen und zwei Nudelgerichte zum Mitnehmen bestellen, vielleicht auch einen Salat dazu. Wirklich gut war der Gedanke nicht. Erstens wusste er gar nicht, ob Dennis zu Hause war, und wenn er zu Hause war, ob er nicht wieder irgendwas vorhatte, was ihn schon lange nicht mehr einbezog. Er hatte ihm das vor einiger Zeit vorgehalten, doch Dennis hatte sich darauf berufen, dass auf seine Arbeitszeiten kein Verlass war. Entweder er müsse gefühlt endlos auf ihn warten, oder er bekomme im Laufe des Abends die Information, dass er noch arbeiten musste. Dennis hatte einfach keine Lust, ständig allein zu Hause herumzusitzen, schon gar nicht am Wochenende. Das Schlimme war, er hatte recht.

Breuer griff nach seinem Handy, das er auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Er konnte ihn anrufen und ihm ein gemeinsames Abendessen vorschlagen. Sein Backenzahn beruhigte sich langsam, wahrscheinlich brauchte er nicht einmal eine Schmerztablette. Sie konnten ein Glas Wein zusammen trinken, vielleicht einen Film ansehen oder reden. Er konnte aber auch das Essen auf gut Glück mitbringen und, falls Dennis noch nicht da war, den Tisch schön decken und ihm eine Nachricht schreiben, dass er auf ihn warte.

Der zweite Gedanke gefiel ihm besser, beinhaltete er doch die Hoffnung auf einen schönen gemeinsamen Abend. Wenn er Dennis erst anrief und ihn nicht erreichte oder gleich eine Absage bekam, weil er seine Zeit schon anderweitig verplant hatte, würde er das Gefühl haben, ins Leere zu fallen.

Richtig doof würde es aber, wenn seine kleine Überraschung gelang und er dann tatsächlich in Sachen Weidenberg aktiv werden musste. Zum Beispiel, weil der sich auf seiner Flucht etwas zuschulden kommen ließ und er zu einem Tatort musste oder ins Präsidium. Ganz entspannt würde es, wenn der Flüchtige geschnappt und zurück in seine Zelle gebracht würde. Leider stand in den Sternen, wie sich der Fall entwickelte.

Breuer googelte die Telefonnummer der L’Osteria, die sich in einem Ausläufer der Fußgängerzone in der Innenstadt befand. Mit dem Auto würde er etwa zehn Minuten bis dorthin brauchen. Im besten Fall waren die Gerichte schon abholbereit, bis er in dem Lokal war. Mehr als schiefgehen konnte sein Vorhaben nicht, und er wollte guten Willen zeigen.

Eine knappe Stunde später verließ er mit dem Abendessen das Restaurant. Die Wartezeit, bis er seine Bestellung mitnehmen konnte, hatte viel länger gedauert als gedacht. Im Lokal war so viel Betrieb gewesen, dass Gäste, die keinen Tisch reserviert hatten, weggeschickt worden waren. Er selbst hatte an der Bar gewartet, bis das Essen fertig war. Der Kellner hatte ihm einen Espresso angeboten, auf Kosten des Hauses, doch er hatte abgelehnt. Koffein um die Uhrzeit brachte ihn seit einigen Jahren um den Schlaf. Inzwischen bereute er es, Dennis nicht vorbereitet zu haben. Je später er nach Hause kam, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht da war oder zumindest schon gegessen hatte. Breuer lief zügig zu seinem Wagen. Der parkte in der Dammallee, im eingeschränkten Halteverbot. An den Wochenenden sah es abends in der Bayreuther Innenstadt schlecht aus mit Parkplätzen. Obwohl, eigentlich sah es immer schlecht aus mit Parkplätzen. Ein Blick zu den Scheibenwischern sagte ihm, dass er um den befürchteten Strafzettel herumgekommen war.

Breuer stellte die beiden weißen Papiertüten mit dem roten Werbeschriftdruck des Lokals in den Fußraum des Beifahrersitzes. Er hatte sich für zweimal gemischten Salat und zweimal Rigatoni in Gorgonzolasoße entschieden. Damit konnte er nichts falsch machen. Dennis mochte sowohl Nudeln als auch Käse in nahezu jeder Form.

Bis in den Ortsteil Saas, der am Rand von Bayreuth nahe dem Studentenwald lag, brauchte er weitere fünfzehn Minuten. Breuer fuhr in den Südlichen Ringweg und fand sofort einen Parkplatz, beinahe unmittelbar vor dem Reihenhaus, in dem er zusammen mit seinem Freund wohnte. Hinter sämtlichen Fenstern war es dunkel. Er versuchte, sich die Ernüchterung fernzuhalten, und stieg aus.

Stille im Haus empfing ihn, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Fast hatte er das Gefühl, allein zu wohnen und sich mit seinem Essen für zwei Personen etwas vorgemacht zu haben.

Breuer streifte die Schuhe ab, hängte die regenfeuchte Jacke an die Garderobe, ging mit seinen Tüten in die Küche und beschloss, Dennis nun doch zu schreiben. Was immer er vorhatte, vielleicht kam er wieder nach Hause, wenn er wusste, dass er auf ihn wartete. Die Hoffnung war gering. Breuer ging in den Wohnraum, an den sich, verbunden mit einem bogenförmigen Durchgang, ein Essbereich anschloss, und knipste die kleinen Lampen an, die er in den Ecken des Zimmers platziert hatte. Er mochte es, wenn die Beleuchtung den Raum in behagliches Licht tauchte. Dennis hatte für diese Feinheiten leider wenig Sinn, er schaltete einfach die Deckenbeleuchtung an, wenn es erforderlich war. Die leuchtete jeden Winkel des Zimmers aus. Das fand Breuer sehr ungemütlich. Aber immerhin kritisierten sie einander nicht wegen dieser unterschiedlichen Handhabung. Er sah auf sein Handy. Dennis hatte seine eben geschickte Nachricht noch nicht gelesen. Er war auch seit über zwei Stunden nicht mehr on gewesen. Er würde jetzt den Tisch decken, dann musste er später nur noch die Nudeln in die Mikrowelle stellen, um sie wieder aufzuwärmen.

Um neun Uhr setzte sich Breuer auf seinen Lieblingssessel im Wohnzimmer. Von hier aus konnte er den gedeckten Tisch sehen. Er hatte Teller bereitgestellt und Besteck auf roten Papierservietten danebengelegt und die Weingläser aus dem Schrank genommen. Eine Kerze, die er noch nicht angezündet hatte, stand mittig, den Salat hatte er aus den Pappbehältnissen in Schalen gefüllt und auch schon den Wein geholt. Es fehlte nur noch Dennis, doch der hatte seine Nachricht noch immer nicht gelesen.

Um halb zehn musste er sich seine Enttäuschung eingestehen. Offenbar kam er im Leben seines Lebensgefährten nicht mehr vor. Auch wenn er viel arbeiten musste, so gab er sich doch stets Mühe, Dennis auf dem Laufenden zu halten, wo er war und was er tat und wann er hoffentlich nach Hause kam. Nicht so Dennis. Er kam und ging, wie er wollte, informierte ihn kaum je, was er vorhatte, und wenn, dann ganz lapidar. Das Einzige, was Breuer relativ sicher sagen konnte, war, wann Dennis, der von Beruf Versicherungskaufmann im Innendienst war, arbeiten musste.

Um viertel elf schenkte sich Breuer ein Glas Wein ein. Der Salat war am Zusammenfallen. Er hatte gewaltig Hunger, jedoch keinen Appetit. Stattdessen drängte es ihn, Dennis eine handfeste Szene zu machen, wenn er denn endlich zu erscheinen gedachte. Eine viertel Stunde später war das Glas leer, und er hätte gerne ein zweites getrunken. Ob der Möglichkeit, dass er dienstlich noch gebraucht werden könnte, war es besser, zu verzichten. Er genehmigte sich einen weiteren kleinen Schluck, nur zwei Fingerbreit eingeschenkt, und verkorkte die Flasche wieder.

Zu seiner Enttäuschung und Empörung gesellte sich Müdigkeit. Wenigstens gab der Zahn Ruhe, nur das Zahnfleisch fühlte sich noch ein wenig wund an, an den Einstichstellen der Betäubungsspritze. Breuer setzte sich zurück in seinen Sessel und legte die Beine auf den Hocker, der davorstand. Sekunden darauf war er eingeschlafen.

Ein Geräusch, das aus dem Flur kam, ließ ihn in die Höhe fahren. Im ersten Moment wusste er weder, wo er war, noch, welche Tageszeit es war und warum er im Wohnzimmer im Sessel saß. Er hörte ein leises Stöhnen aus dem Flur. Blitzartig war die Erinnerung wieder da, und augenblicklich fing sein Herz an zu rasen. Dennis war zurück. Hastig sah er auf die Uhr, die links von ihm auf dem Sideboard stand. Halb zwei Uhr morgens.

Dennis erschien unter der Tür, die Flur und Wohnraum trennte. Seine Haare waren wirr, seine Augen gerötet, und er stützte sich, schwer atmend, am Türrahmen ab. In seiner Miene erkannte Breuer Entsetzen, vielleicht auch Angst, er war nicht sicher und zudem noch ein wenig benommen vom Schlaf. Dennis’ Blick ging zu dem gedeckten Tisch. Ohne Breuers Mühe zu kommentieren, wandte er ihn wieder ab, lehnte sich nun mit dem Rücken an den Türrahmen und ließ sich langsam an diesem heruntergleiten, bis er am Boden saß, die Beine angezogen.

»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Breuer.

Dennis keuchte.

»Dennis!«

Wut, weil er nicht mit ihm sprach, gesellte sich zu der Furcht vor dem, was geschehen sein mochte. Dennis fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht.

»Ich kann jetzt nicht. Wir reden morgen«, würgte er hervor.

»Morgen? Es ist morgen! Ich habe Stunden auf dich gewartet«, regte Breuer sich auf.

»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass du ausnahmsweise an einem Freitagabend zu Hause bist?«, erwiderte Dennis und sah ihn zum ersten Mal, seit er hereingekommen war, direkt an. Sein Gesicht schien unbewegt, doch Breuer wusste jetzt, welches Gefühl in seinem Lebensgefährten dominierte. Erschütterung. Irgendetwas hatte ihn in den Grundfesten erschüttert.

»Ich hab dir geschrieben«, antwortete Breuer.

»Hab ich nicht gelesen.« Dennis streckte die Beine von sich, stieß mit den Füßen an die ihm gegenüberliegende Seite des Türrahmens, zuckte zurück und schob sie seitlich in den Wohnraum.

»Wo warst du? Was ist passiert?« Er musste es wissen, und zwar jetzt.

Dennis rappelte sich auf.

»Ich geh schlafen. Wir reden später.«

Breuers Puls schoss in die Höhe. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um seinen Lebensgefährten an seinem sorgfältig geplätteten schwarzen Hemd zu packen und zu schütteln. Dennis stapfte die Treppe nach oben, die direkt aus dem Wohn-Ess-Zimmer in den ersten Stock führte, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

4

Emily Weiß radelte den schmalen Fußweg entlang, der die Reihe der dicht an dicht gebauten Häuser von der Ölschnitz trennte. Der asphaltierte Streifen wurde zum Bachbett hin von einem hölzernen Zaun aus schmalen Querbalken begrenzt, vermutlich um zu verhindern, dass spielende Kinder oder nächtliche Heimkehrer, von ein paar Bier im Gasthaus angeschickert, in das Gewässer stolperten. Wobei die alten Streben kaum Schutz boten, sie waren mehr eine psychologische Barriere als eine tatsächliche. Der Fluss, der in den Sommermonaten oft nur behäbig vor sich hinplätscherte, rauschte wie ein kleiner aufgeregter Wildbach durch sein Bett, das gut einen Meter tiefer lag als die Ortschaft. Das war nicht verwunderlich, es regnete ja seit Tagen.

Erst jetzt, in den späten Abendstunden, hatte sich das Wetter beruhigt. Emily trat kräftig in die Pedale, und trotz der kalten Novembernacht kam sie ins Schwitzen. In kleinen Nebelschwaden ballte sich die eigene Atemluft vor ihr. Sie war spät dran, zu spät. Das würde wieder eine Standpauke geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Großvater schon zu Bett gegangen war, ging gen null. Im besten Fall war er vor dem Fernseher eingedöst, und wenn sie viel Glück hatte, konnte sie sich unbemerkt am Wohnzimmer vorbei und nach oben in ihr Zimmer schleichen. Wenn der Großvater später aus seinem Nickerchen hochfuhr, wie lange auch immer es dauerte, würde er im Nachhinein nicht mit Sicherheit sagen können, wann sie nach Hause gekommen war.

Kaltes blaues Mondlicht erhellte ihren Weg, ansonsten gab es seitlich des schmalen Zugangs zu den alten Häusern des Kurortes Bad Berneck keine Straßenbeleuchtung. Nur an der Hauptstraße mitten durch den Ort hatten die Laternen gebrannt, aber die hatte sie schon vor einigen Minuten verlassen. Seit sie an dem Bushäuschen am Ortseingang auf ihr Rad gestiegen war, war ihr keine Menschenseele begegnet. Bad Berneck lag in tiefem Schlaf, und viele Gebäude standen sowieso leer.

Endlich konnte sie das Haus ihres Großvaters sehen. Die schmale Front, von deren Fassade sich stellenweise der Putz löste, die hölzerne Tür, die in den Keller führte, daneben den Blumenkübel, in dem noch die Reste der Geranien ein kümmerliches Dasein fristeten. Einige waren erfroren, es hatte vor Tagen schon den ersten Nachtfrost gegeben. Hinter dem Sprossenfenster, das zum Wohnzimmer gehörte, brannte Licht. Es schimmerte durch den zugezogenen roten Vorhang. Der Großvater wartete immer auf sie, wenn sie unterwegs gewesen war.

Schwer atmend stieg Emily vom Rad und schob es in den Durchgang zwischen den Häusern. Im Mondlicht reckten sich die kahlen Zweige des alten Apfelbaumes gen Himmel, nur hier und da hingen noch ein paar kümmerliche Blätter daran.

Heißer Schrecken fuhr Emily von der Kehle bis in den Magen. Unter dem Apfelbaum stand jemand und sah sie an. Ein Mann, nicht allzu groß, aber von kräftiger Gestalt. Sein Gesicht lag im Schatten, doch sie glaubte zu erkennen, dass er etwas festhielt. Ein Schrei stieg ihr in die Kehle und blieb darin stecken. Eiskalt rann es ihr den Rücken herunter.

Wirkliche Angst hatte sie noch nie gehabt, wenn sie nachts allein die Strecke von der Bushaltestelle nach Hause radelte. Ein bisschen unheimlich war es manchmal schon, durch die stille Ortschaft zu fahren, aber meist war sie noch so erfüllt von den Erlebnissen des Abends in den diversen Lokalen in Bayreuth und mit ihren Freunden, dass sie mögliche Gefahren, von denen der Großvater immer wieder sprach, als übertrieben abtat. Was sollte schon passieren, sie war ja nur etwa anderthalb Kilometer allein unterwegs? Und wenn überhaupt, so hätte sie Gefahren unterwegs für denkbar gehalten, nicht aber wenige Meter vor der Haustür auf Opas Grundstück.

Es schnürte ihr die Kehle zu. Um ins Haus zu kommen, musste sie den Garten betreten und damit auf den Eindringling zugehen. Sie hätte um Hilfe schreien können, aber er war mit Sicherheit schneller als ihr Großvater oder irgendein Nachbar. Was wollte der Kerl hier? Einbrechen? War sie gerade noch rechtzeitig gekommen, um sein Vorhaben zu verhindern, oder war er schon im Haus gewesen und hatte ihren Großvater …?

Emily stieß einen gellenden Schrei aus. Der Mann wandte sich um, sie hörte etwas poltern, nicht laut, mehr ein Ploppen. Er rannte in den hinteren Teil des Gartens und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Die Haustür flog förmlich auf, und ihr Großvater stand im Rahmen. Seine große, hagere Gestalt hob sich dunkel vom Flurlicht dahinter ab.

»Emily! Was ist los?«

»Opa.« Sie fing an zu schluchzen. »Da war jemand. Hier im Garten. Ein Mann. Er stand beim Apfelbaum und hat mich angestarrt.«

Ihr Großvater tastete im Flur neben der Tür nach dem Schalter für die Außenbeleuchtung. Trübes Licht flammte über der Haustür auf.

»Da ist niemand«, sagte er nach einem Blick in den Garten.

»Er ist ja auch weggelaufen.« Sie zeigte in die entsprechende Richtung. »Außerdem kannst du gar nicht genug sehen.« Sie zitterte noch immer, hörte jedoch auf zu weinen.

»Jetzt komm erst mal rein. Es ist gleich Mitternacht. Wir hatten elf Uhr ausgemacht.«

Der Großvater klang vorwurfsvoll, aber nicht so verärgert wie sonst, wenn sie zu spät kam. Sie lehnte ihr Rad an die Hausmauer, legte das Schloss um den Hinterreifen und die Sattelstange und ließ es einrasten.

5

Breuer lag reglos auf dem Sofa im Wohnzimmer, auf dem er die Nacht nahezu schlaflos verbracht hatte. So wütend und enttäuscht, wie er wegen Dennis’ Verhalten gewesen war, hatte sich etwas in ihm dagegen gewehrt, sich zu ihm ins gemeinsame Bett zu legen. Er hatte sich für das Sofa entschieden. Stundenlang hatte er keine Ruhe gefunden. Irgendwann gegen fünf Uhr morgens war er doch noch eingeschlafen. Nun war es kurz nach acht, und durch die Spalten der Jalousien drang trübes Licht. Er richtete sich auf und durchquerte steifbeinig den Wohnraum, um die Rollläden hochzuziehen. Vor den Fenstern hingen graue Nebelschwaden und hüllten den kleinen Garten hinter dem Haus ein. Das Wetter passte zu seiner Stimmung. Er sehnte sich nach einer Dusche und einem Kaffee, er wollte sich die Zähne putzen und endlich raus aus der Kleidung, die er seit gestern trug. Vor allem aber wollte er wissen, weswegen Dennis am Abend so verstört nach Hause gekommen war.

Breuer ging in die Küche, um den Kaffee vorzubereiten. Anschließend stieg er die Treppe hoch in den ersten Stock und ging ins Bad. Dabei bemühte er sich nicht, besonders leise zu sein. Es war ihm nur recht, Dennis zu wecken.

Eine halbe Stunde später fühlte er sich zumindest körperlich erfrischt. Durchs Haus zog der Duft des frisch gebrühten Kaffees. Als er die Küche betrat, stand sein Lebensgefährte an der Arbeitsfläche, barfuß, mit einem zerknitterten T-Shirt und einer Boxershorts bekleidet, und schenkte sich mit fahriger Hand eine Tasse des belebenden Getränks ein. Ein paar Tropfen Kaffee landeten daneben, auf der Arbeitsfläche.

»Morgen«, zwang Breuer sich zu einer Begrüßung.

Dennis wandte sich ihm zu.

»Morgen«, erwiderte er.

Er sah keineswegs besser aus als letzte Nacht, im Gegenteil. Fast kam es Breuer vor, als wäre er gealtert, von gestern auf heute. Dennis schlurfte ins Esszimmer, setzte sich an den Tisch und schob den Teller, das Besteck und den Salat beiseite. Breuer goss sich ebenfalls einen Kaffee ein und folgte ihm. Schweigend setzte er sich ihm gegenüber.

»Also, was war los?«, fragte er erneut.

Dennis schluckte. Sein Adamsapfel zuckte auf und ab, er umklammerte den Griff seiner Tasse und sah an Breuer vorbei.

»Ich war gestern in der Stadt unterwegs«, begann er, für Breuer fast schon unerwartet. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Dennis sich weiter in Ausflüchten erging, weswegen er ein Gespräch verschieben wollte.

»Mit … einem Bekannten.«

In Breuers Magen knotete sich etwas zusammen. Im Grunde brauchte Dennis gar nichts mehr zu sagen. Er wusste Bescheid. Dennis war fremdgegangen. Trotzdem war ihm nicht klar, warum sein Freund so aus der Fassung war.

»Er heißt Tim. Tim Gohlke.«

Breuer schob seinen Kaffee von sich und lehnte sich im Stuhl zurück, so weit nach hinten, wie es ging, um Abstand zwischen sich und Dennis zu bringen.

»Wir waren im Chez Boy verabredet. Es war gut. Es war ein guter Abend.« Er brach ab.

Breuer wartete. Sein Herz schlug hart gegen die Rippen. Das Chez Boy war in der Von-Römer-Straße, gar nicht so weit entfernt von der L’Osteria, wo er das Abendessen geholt hatte. Die Von-Römer-Straße war eine vergleichsweise schmale, kopfsteingepflasterte Gasse in der Innenstadt, die das Flair lang vergangener Zeiten ausstrahlte.

»Kurz nach Mitternacht wollte Tim gehen. Wir sind raus. Tims Wagen stand in der Jean-Paul-Straße, also nicht weit weg. Wir waren kaum um die Ecke, da kam eine Gruppe Kerle auf uns zu. Sie haben sich uns in den Weg gestellt, rumgepöbelt, blöde Sprüche gerissen. Schwules Pack und so. Ich glaube, einer von ihnen hat Tim gekannt. Wir wollten an ihnen vorbei, wir wollten uns auf nichts einlassen. Kein Gespräch, keinen Streit. Aber das ging nicht. Einer hat mich gegen die Schulter gestoßen und sich aufgeführt, ob ich mir zu fein wäre, mit ihm zu reden. Ich bin gegen eine Hauswand geprallt, und Tim ist … also, er ist dazwischengegangen. Zwischen den Kerl und mich und … jedenfalls … kam der nächste von den Typen und ist auf Tim los und … ich konnte abhauen.«

»Abhauen?« Für Sekunden trat seine Erschütterung, dass Dennis ihn tatsächlich betrog, in den Hintergrund, und an ihre Stelle trat ungläubige Fassungslosigkeit. »Du willst damit sagen, dieser … Tim … hat zwar versucht, dir zu helfen, als du angegriffen wurdest, aber als er fällig war, bist du … abgehauen?«

»Ja, verdammt! Das hab ich doch schon gesagt. Ich fühl mich ja selbst grottenscheiße deswegen. Mann! Ich hatte einfach ’ne Scheißangst. Die waren so was von gewaltbereit!«

»Dennis!« Breuer sprang auf. »Das ist nicht dein Ernst! Du hast keine Hilfe geholt? Du bist weggelaufen, während der … Dein … Bist du komplett bescheuert?«

»So schlimm war es auch nicht.« Auf seinen bleichen, eingefallenen Wangen erschienen rote Flecken. Dennis fuhr sich mit der rechten Hand durch die zerzausten Haare. »Ich bin um die Ecke in die Sophienstraße gelaufen, und da kam gerade eine Streife. Sie haben angehalten und sind in die Von-Römer-Straße gerannt. Vielleicht hat sie ein Anwohner verständigt.«

Breuer schob seinen Stuhl ein Stück vom Tisch weg und setzte sich wieder.

»Ihr seid also überfallen worden, und du bist getürmt«, fasste er zusammen.

Dennis gab keine Antwort.

»Du betrügst mich«, fuhr Breuer fort, und plötzlich überwog wieder die Erschütterung ob dieser Erkenntnis. »Schon länger?«

»Du bist nie da. Immer dein Scheißberuf, immer an erster Stelle«, wich Dennis aus und sah an ihm vorbei.

»Gestern war ich da«, erwiderte er.

Dennis stieß die Luft durch die Nase.

»Zufall«, konterte er.

»Wie oft und seit wann?«, fuhr Breuer ihn an.

»Keine Ahnung! Hier und da mal. Es war nichts Wichtiges. Erst mit Tim ist es ein bisschen mehr geworden.«

Breuer sprang erneut auf.

»Hier und da mal? Das heißt im Klartext, du hast rumgehurt, eine Affäre nach der anderen gehabt, bis dieser Tim kam, und mit dem war es was Festes? Wann wolltest du mir das sagen?« Das Zimmer schien immer enger zu werden und ihm die Luft immer knapper.

»Ich wollte dir gar nichts sagen. Ich mag Tim wirklich, er ist okay. Ich hätte aber, wahrscheinlich, über kurz oder lang Schluss gemacht«, hielt Dennis dagegen und begann, mit dem Henkel seiner Kaffeetasse zu spielen.

»Ich glaub es nicht. Ich glaub es echt nicht.« In seinen Ohren rauschte es, er glaubte zu ersticken.

»Jetzt beruhig dich. Vielleicht willst du ihn ja mal kennenlernen. Es muss ja nicht sofort sein.«

Die Worte hämmerten in Breuers Ohren.

»Du spinnst wohl«, brüllte er und schlug mit der flachen Hand auf den Esstisch. Beide Kaffeetassen schwappten über. Das Blut pumpte durch seinen Körper, dass es in allen Gliedern schmerzte und brannte.

Breuer eilte mit großen Schritten in den Flur, schlüpfte in seine Schuhe, riss die Jacke vom Haken und griff nach seinem Schlüsselbund. Wie er aus dem Haus kam, nahm er gar nicht wahr, er hörte nur, wie die Haustür hinter ihm zuschlug und ihn die klamme Kälte des Herbstmorgens umfing. Plötzlich saß er in seinem Wagen und fuhr zügig aus dem Ortsteil Saas, vermutlich mit überhöhter Geschwindigkeit, da war er fast sicher. Nur mühsam gelang es ihm, den Fuß vom Gas zu nehmen. Sein Leben war komplett aus den Fugen, um ihn herum wankte die Welt, immer noch eingehüllt in dichten Nebel. Im Grunde war es fahrlässig, dass er hinter dem Steuer saß. Er umklammerte das Lenkrad und versuchte, an gar nichts zu denken.

Wie lange er gefahren war und in welche Richtung, wusste er nicht. Schon eine ganze Weile hatte er die Stadt hinter sich gelassen. Die Landschaft links und rechts der Straße wurde noch immer vom Nebel verschluckt. Auch von der Fahrbahn sah er nicht viel, maximal wenige Meter weit. An ein paar Straßenschildern war er auf seiner fluchtartigen Fahrt zwar vorbeigekommen, doch er hatte ihnen keine Beachtung geschenkt.

Die Straße wurde schmaler, und durch die zähe Nebelmasse schälten sich, hoch und mächtig, düstere Tannen, ab und an ein Laubbaum dazwischen. Unvermittelt mündete die Fahrbahn in ein Waldstück. Der Asphaltbelag der Straße endete, der weitere Streckenverlauf war geschottert. Die Sicht war auch hier miserabel. Er war gezwungen, langsamer zu fahren. Allmählich verrauchte die unkontrollierte wütende Empörung, die ihn vorwärtsgetrieben hatte, und machte kalter Enttäuschung Platz. Es war besser, zurückzufahren.

Breuer bremste und hielt an. Hier umzukehren war schier unmöglich, rückwärts aus dem Wald herauszurangieren auch. Die Sicht nach hinten war noch schlechter als nach vorne, wie ihm ein Blick in den Rückspiegel sagte. Ein Stück weiter geradeaus glaubte er eine Abzweigung in einen weiteren Waldweg zu sehen. Vielleicht konnte er ihn für ein Wendemanöver nutzen. Breuer gab Gas. Der Wagen zog an, ruckelte jedoch plötzlich. Er ignorierte es. Die vermeintliche Abzweigung entpuppte sich als Irrtum. Es handelte sich lediglich um eine Lücke zwischen den Bäumen. Breuer fuhr weiter, das Ruckeln im Motorraum wurde stärker. Verdammt!

Auf einmal brach ihm der Schweiß aus. Wenn jetzt der Wagen versagte, war er völlig aufgeschmissen. Er wusste nicht, wo er war und wie lange er schon unterwegs war, und ein hektischer tastender Griff zu seinen sämtlichen Taschen bestätigte ihm, was eigentlich klar war. Er hatte weder sein Handy noch seinen Geldbeutel mitgenommen bei seinem überstürzten Aufbruch. Rechts des Weges tauchte eine Einbuchtung auf, und Breuer erkannte einen Rastplatz für Wanderer. Hier gab es eine Bank, einen Gedenkstein mit verwitterter Inschrift und einen Holztrogbrunnen, wie man ihn oft im Gebirge sah. Vor allem aber sah er vor der Bank genügend Platz, um mit ein wenig Geschick den Wagen zu wenden. Er lenkte nach rechts und stand schon halb auf dem Rastplatz, als der Wagen vorne links abrutschte.

Breuer gab Gas, die Reifen drehten durch, der Wagen neigte sich mit der linken Seite des Motorraums tiefer und bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Breuer umklammerte das Lenkrad. Es konnte doch nicht sein, dass er nun im Schlamm feststeckte! Er hatte nicht bedacht, in welchem Zustand das Erdreich nach dem tagelangen Regen sein mochte. Erneut gab er Gas, in einem verzweifelten Versuch, sich aus dem Schlamassel zu befreien, in das er sich gebracht hatte. Der Motor stotterte und soff ab. Breuer zitterte von Kopf bis Fuß, sein Puls jagte, und sein Herz pochte gegen die Rippen. Er saß fest. Er saß komplett fest, und der Wagen hatte auch einen Schaden, er musste vermutlich abgeschleppt werden.

Wie in Trance zog er den Zündschlüssel ab. Er hatte nicht einmal eine Uhr dabei, doch es war wahrscheinlich irgendwann am Vormittag. Er öffnete die Fahrertür und stieß gegen einen Wurzelstock. Die Tür ging nur einen Spaltbreit auf. Mühsam quetschte er sich aus dem Wagen. Hätte er ein paar Kilo mehr gehabt, hätte er über die Beifahrerseite aussteigen müssen. Er drückte die Tür wieder zu. Der Wagen stand tiefer im Morast, als er vermutet hatte. Der linke Vorderreifen war bis zur Hälfte eingesunken, Schlammspritzer verteilten sich über den Kotflügel und die Tür.

Es war nicht zu fassen. Gestern Vormittag um die gleiche Zeit war sein größtes Problem der anstehende Zahnarzttermin gewesen. Er ging nicht gerne zum Arzt und zum Zahnarzt schon gar nicht.

Für einen Moment konzentrierte er sich auf seinen Backenzahn, doch der gab Ruhe, nur die Einstichstellen für das Betäubungsmittel am Zahnfleisch waren noch immer wund. Breuer trat vom Rastplatz auf den geschotterten Waldweg. Die Stille um ihn herum war unheimlich, nur hin und wieder knackte ein Zweig oder raschelte etwas im Laub. Das mochten kleinere Tiere sein, beruhigte er sich. Es war kalt. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.

Aus einem ersten Impuls heraus wollte er sich nach links wenden, um zu Fuß die Strecke zurückzugehen, die er gekommen war. Doch er war, soweit er sich erinnern konnte, ziemlich lange durch die Einsamkeit gefahren, ehe er das Waldstück erreicht hatte. Vielleicht sollte er in die andere Richtung laufen. Bestenfalls kam er auf dem Weg schneller aus dem Wald wieder heraus, und vielleicht stieß er sogar auf ein paar Häuser und konnte von dort aus telefonieren.

Unvermittelt durchzuckte ihn ein neuer Schreck. Er hatte der Herbich versprochen, an ihrer Stelle in Bereitschaft zu stehen, für die Fahndungssache Weidenberg. Nun war er nicht erreichbar. Er verdrängte die neue Missliebigkeit. Daran ändern konnte er im Augenblick ohnehin nichts. Im besten Fall ging der Flüchtige den Kollegen ins Netz und wurde in die JVA überstellt, und von der Kripo wurde gar niemand gebraucht. Breuer schob die Hände in die Jackentaschen und machte sich auf den Weg.

6

Kristina schaltete den Staubsauger aus, zog den Stecker aus der Dose und trat auf den Schalter für die Einroll-Automatik des Kabels. Wie eine sich windende Schlange schlug das Kabel hin und her und verschwand in hohem Tempo und mit einem surrenden Geräusch im Inneren des Staubsaugers. Sie schob das Gerät in die Abstellkammer und schloss die Tür. Nun wollte sie noch rauswischen, das Bett frisch beziehen, die Wäsche waschen und einkaufen. So gründlich hatte sie sich schon lange nicht mehr durch ihre Wohnung gearbeitet.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass das Display ihres Handys, das auf dem Schuhschrank im Flur lag, verlosch. Sie hatte wohl einen Anruf oder eine Nachricht verpasst. Vielleicht war es Philipp, der ihr einen Gruß schickte. Sie ging nachsehen. Statt einer Nachricht von Philipp meldete das Mobiltelefon drei verpasste Anrufe von Willbrandt. Ihr Magen zog sich zusammen. Das hieß, es war etwas passiert, und ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als ihn zurückzurufen. Alles in ihr rebellierte dagegen.

»Frau Herbich! Endlich! Wo stecken Sie denn? Ich habe schon mehrfach versucht, Sie zu erreichen«, empörte sich ihr Vorgesetzter.

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich war beim Staubsaugen.«

»Ihr Putzeifer in allen Ehren. Aber wir hatten ausgemacht, dass Sie erreichbar sind, falls Breuer nicht verfügbar ist«, regte sich Willbrandt auf.

Kristina lag augenblicklich Protest auf der Zunge. Das hatte sie anders in Erinnerung. Willbrandt hatte ihr zugestanden, die Bereitschaft an Breuer zu übergeben, was sie getan hatte. Danach durfte sie in ihr Wochenende gehen. Doch das war jetzt nicht der Punkt. Offenbar war etwas vorgefallen, und Breuer war nicht erreichbar. Das war sehr ungewöhnlich. Sie kannte ihn als derart zuverlässig, dass es schon an Perfektionismus grenzte und sie so manches Mal während ihrer bisherigen Zusammenarbeit verstimmt hatte, zeigte es ihr doch ihre eigenen Schwächen auf.

»Ich habe gestern noch länger mit Herrn Breuer telefoniert und ihn informiert. Er hat zugesagt, über das Wochenende einsatzbereit zu sein«, verteidigte sie sich.

»Er hört aber nicht. Im Park der Eremitage ist eine alte Dame überfallen worden, heute in den frühen Morgenstunden. Etwa um fünf Uhr. Ihrer Beschreibung nach ist zumindest nicht auszuschließen, dass es Weidenberg war.«

Kristina ging, mit dem Handy am Ohr, in ihr Wohnzimmer und setzte sich auf den Rand des Sofas.

»Um fünf Uhr? Warum geht sie zu der nachtschlafenden Zeit durch einen kaum beleuchteten Park?«, fragte sie und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, um nebenher die Sofakissen aufzuschütteln. Mit dem schmalen, glatten Gerät war das schwierig. Fast wäre ihr das Telefon dabei entglitten. Sie gab den Versuch auf, nebenbei noch etwas anderes zu tun, und hielt das Handy wieder mit der Hand.

»Sie hat einen betagten Dackel mit Darmverstimmungen. Ihrer Aussage nach war es eben nötig«, erläuterte Willbrandt.

»Wurde sie verletzt?«

Kristina sah geringstenfalls ein paar Stunden ihres Wochenendes schwinden. Entweder sie machte sich auf die Suche nach Breuer, oder sie übernahm die Ermittlungen hinsichtlich des Überfalls, was zumindest eine Befragung der alten Dame bedeutete.

»Sie hat ein paar Prellungen, und ihr Knie ist verstaucht und ein Handgelenk wohl auch, und den Nacken hat sie sich gezerrt. Er muss recht rabiat vorgegangen sein, das passt ja zu Weidenberg. Er hat sich von hinten angeschlichen und wollte ihr die Tasche entreißen. Die trug sie aber mit einem Riemen quer über den Oberkörper. Das machen ja eigentlich mehr die jungen Frauen. Ältere Damen tragen ihre Taschen eher über dem Arm. Wobei ich sowieso nicht verstehe, warum sie das Ding zum Gassigehen mitgenommen hat. Die reinste Einkaufstasche, ihrer Beschreibung nach. Also, von der Größe her, meine ich. Jedenfalls hat sie einen Heidenschreck gekriegt, und der Dackel hat erfolglos versucht, den Angreifer ins Bein zu beißen. Der hat sich förmlich an der Tasche festgekrallt und Frau Hubschmied, so heißt sie, das Teil brutal entrissen und sie zu Boden gestoßen. Dann ist er im Dunkeln verschwunden.«

»Wie konnte sie den Täter insoweit beschreiben, dass wir annehmen können, es war Weidenberg?«

»Ein Jogger mit einer Stirnlampe hat den Dackel und die Schreie von Frau Hubschmied gehört und sich in die entsprechende Richtung gewandt. Der Lichtkegel hat den Täter erfasst, ehe er zwischen den Bäumen verschwunden ist. Frau Hubschmied und der Jogger, er heißt Paul Vogl, sind sich in ihrer Beschreibung recht einig. Leider hatten weder die Hubschmied noch der Jogger ein Handy dabei. Die Hubschmied besitzt gar keines, ihrer Aussage nach. Jedenfalls ist wertvolle Zeit vergangen, bis sie Meldung bei uns gemacht haben. Es sind sofort Beamte losgeschickt worden, um den Bereich weitläufig zu durchkämmen, aber bisher ohne Ergebnis. Was ist denn nun mit Breuer?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich kümmere mich darum.« Der letzte Satz kostete sie größte Überwindung. Im besten Fall hatte ihr Mitarbeiter lediglich sein Handy verschusselt, was allerdings überhaupt nicht zu ihm passte.

»Machen Sie das und informieren mich wieder«, wies Willbrandt sie an. »Zeitnah!«, ergänzte er und beendete das Gespräch.

Aufgebracht warf Kristina ihr Telefon auf das Sofa. Auch wenn Philipp erst mitten in der Nacht zu erscheinen gedachte, so wollte sie sich doch in Ruhe auf seinen Besuch vorbereiten und nicht jetzt, von einem Moment auf den anderen, ihre privaten Belange fallen lassen, um Willbrandts Anweisungen nachzukommen.

Erneut läutete ihr Handy, und wieder war es Willbrandt. Was wollte er jetzt noch?

»Ja?«, fauchte sie in das Telefon und schluckte erschrocken. Immerhin war er ihr Vorgesetzter.

»Mir fällt gerade noch was zu Weidenberg ein. Haben Sie daran gedacht zu überprüfen, ob er in der JVA Kontakte geknüpft hat? Ich meine, freundschaftlicher Art. Vielleicht zu jemandem, der zwischenzeitlich entlassen wurde. Dann könnte er dort untergekrochen sein.«

Ihr barscher Ton war ihm anscheinend nicht aufgefallen.

»Ja. Ich hatte Breuer darum gebeten«, sagte sie.

»Nun gut. Aber er ist ja scheinbar nicht verfügbar. Vergessen Sie den Punkt nicht.« Willbrandt verabschiedete sich.