Run, Rose, Run - Eine Nacht in Nashville - Dolly Parton - E-Book

Run, Rose, Run - Eine Nacht in Nashville E-Book

Dolly Parton

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Doppelt gut: Die Country-Ikone Dolly Parton und der Großmeister der Spannung James Patterson liefern das Highlight des Jahres!

Seitdem sie denken kann, hat AnnieLee den Traum, Countrysängerin zu werden und ganz groß rauszukommen. Mit Mitte zwanzig beschließt sie: Die Zeit ist gekommen, und nichts wird sie aufhalten. Sie trampt nach Nashville, um dort ihr Glück zu versuchen. Und tatsächlich schafft sie es, den Manager einer Bar dazu zu überreden, sie spielen zu lassen. Ihr Auftritt ist ein voller Erfolg! Findet auch Ethan Blake – Countrysänger und Gitarrist für Ruthanna Ryder, der Country-Ikone schlechthin. Ethan ist so angetan von AnnieLee, dass er sie unbedingt Ruthanna vorstellen will. Ihr Traum scheint in greifbare Nähe gerückt zu sein. Doch AnnieLee ist nicht, wer sie vorgibt zu sein. Und die Kraft ihrer herzergreifenden Songs basiert auf einem dunklen Geheimnis – ein Geheimnis, das sie bald einzuholen droht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 530

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Seitdem sie denken kann, hat AnnieLee den Traum, Countrysängerin zu werden und ganz groß rauszukommen. Mit Mitte zwanzig beschließt sie: Die Zeit ist gekommen, und nichts wird sie aufhalten. Sie trampt nach Nashville, um dort ihr Glück zu versuchen. Und tatsächlich schafft sie es, den Manager einer Bar dazu zu überreden, sie spielen zu lassen. Ihr Auftritt ist ein voller Erfolg! Findet auch Ethan Blake – Countrysänger und Gitarrist für Ruthanna Ryder, der Country-Ikone schlechthin. Ethan ist so angetan von AnnieLee, dass er sie unbedingt Ruthanna vorstellen will. Ihr Traum scheint in greifbare Nähe gerückt zu sein. Doch AnnieLee ist nicht, wer sie vorgibt zu sein. Und die Kraft ihrer herzergreifenden Songs basiert auf einem dunklen Geheimnis – ein Geheimnis, das sie bald einzuholen droht …

Die Autor*innen

Dolly Parton ist die Country-Ikone schlechthin. Die Sängerin, Songwriterin, Schauspielerin, Filmproduzentin und Geschäftsfrau ist zudem eine große Wohltäterin und unterstützt zahlreiche gemeinnützige Projekte, zum Beispiel zur Leseförderung mit ihrer Stiftung »Dolly Parton’s Imagination Library«. Sie hat mehr als 3000 Lieder geschrieben und über 100 Millionen Platten weltweit verkauft. Dolly Parton lebt in Nashville, Tennessee.

James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross ebenso wie die um den »Women’s Murder Club« machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Regelmäßig tut er sich für seine Bücher mit anderen namhaften Autoren oder Stars zusammen. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester County, N. Y.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

DOLLY PARTONJAMES PATTERSON

Run, Rose, Run

Eine Nacht in Nashville

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Run, Rose, Run« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by James Patterson and Dolly Parton

All songs copyright © 2021 Song-A-Billy Music

This edition arranged with Kaplan/De Fiore Rights through Paul & Peter Fritz AG

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de inspiriert von der Originalvorlage von Penguin UK und Little Brown US

Umschlagmotiv: © Aaron Foster / The Image Bank / Getty Images; Philip Mckay / Arcangel Images; www.buerosued.de

JA · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-6412-9902-6V001

www.blanvalet.de

PROLOG

Im Louis-seize-Schlafzimmerspiegel der Suite 409 im Hotel Aquitaine huschte für den Bruchteil einer Sekunde mit weit aufgerissenen blauen Augen, geballten Fäusten und wehenden dunklen Haaren eine schlanke, bildhübsche Frau vorbei.

Schon einen Augenblick später war in dem Spiegel von AnnieLee Keyes nichts mehr zu sehen. Barfuß war sie weiter ins Wohnzimmer der Suite gerannt, hatte die gold lackierte Polsterbank umrundet und im Vorbeilaufen ein Kissen nach hinten geschleudert. Krachend fiel die Stehlampe zu Boden. AnnieLee sprang über den Couchtisch, auf dem akkurat gestapelt ein paar Las-Vegas-Ausgaben und die Trüffelpralinen von Debauve & Gallais lagen, AnnieLees Namen auf jeder einzelnen in Schokoganache geschrieben und mit essbarem Blattgold verziert. Sie hatte keine einzige davon gekostet.

Mit dem Bein streifte sie den Strauß Englischer Rosen, die Vase kippte um, und rosa Blüten ergossen sich über den Teppich.

Der Balkon lag jetzt direkt vor ihr. Durch die offenen Türen flutete die Morgensonne. Binnen eines Wimpernschlags hatte sie ihn erreicht, und wie ein Fausthieb ins Gesicht schlug ihr die Hitze entgegen. Sie sprang auf die Chaiselongue, schwang das rechte Bein über das Balkongeländer und kämpfte sich nach oben.

Einen Augenblick lang kauerte sie auf dem dünnen Grat zwischen Hotel und Himmel. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam. Jede Faser ihres Körpers vibrierte vor Adrenalin.

Ich kann das nicht, dachte sie. Ich kann das nicht machen!

Doch sie musste es tun. Ihre Finger krallten sich noch kurz um das Geländer, ehe sie sich nötigte loszulassen. Stumm sprach sie ein verzweifeltes Stoßgebet … und stieß sich ab. Die Sonne flimmerte vor ihren Augen, trotzdem verdunkelte sich ihr Blickfeld und verengte sich zu einem Tunnel. Sie sah nur noch, was unter ihr war: emporgerichtete Gesichter, zu Schreien aufgerissene Münder, auch wenn AnnieLee nur ihren eigenen hörte.

Schlagartig schien sich die Zeit zu verlangsamen. AnnieLee breitete die Arme aus, als würde sie fliegen.

Und waren Fliegen und Abstürzen nicht mehr oder weniger das Gleiche?

Vielleicht, dachte sie noch. Bis auf die Landung …

Jede Millisekunde fühlte sich an, als dauerte sie eine Stunde, und Zeit spielte keine Rolle mehr. Das Leben war so verdammt hart gewesen – und doch hatte sie sich hochgearbeitet, nur um sich jetzt selbst in die Tiefe zu stürzen. Sie wollte nicht sterben. Aber es war unausweichlich.

AnnieLee drehte sich in der Luft, versuchte noch, sich gegen das zu wappnen, was jeden Moment kommen würde, und sich auf die eine Sache zu fokussieren, die sie jetzt noch retten konnte.

Elf Monate zuvor

KAPITEL 1

AnnieLee stand schon seit einer Stunde am Straßenrand und hielt den Daumen raus, als es anfing zu schütten.

War ja klar, dachte sie und zerrte ihren dünnen Regenponcho aus ihrem Rucksack. Musste ja so kommen.

Sie zog sich den Poncho über die Jacke und die Kapuze über ihre nassen Haare. Der Wind frischte auf, und dicke Regentropfen trommelten einen Rhythmus auf dem billigen Plastik. Trotzdem behielt sie das hoffnungsvolle Lächeln bei und tippte mit dem Fuß in den Schotterstreifen, weil ihr soeben der Anfang eines neuen Songs in den Sinn gekommen war.

Is it easy?, trällerte sie vor sich hin.

No it ain’t

Can I fix it?

No I cain’t

Sie schrieb Songs, seit sie sprechen konnte, und Melodien noch viel länger. AnnieLee Keyes musste nur den Ruf einer Walddrossel hören, das Pling-pling-pling eines tropfenden Wasserhahns oder das Rattern eines Güterzugs, und schon wurde daraus eine Melodie.

Verrückte Mädchen hören aus allem Musik heraus, hatte ihre Mutter bis zu jenem Tag gesagt, an dem sie gestorben war. Und der Song, der AnnieLee soeben durch den Kopf geschossen war, bescherte ihr etwas, worüber sie nachdenken konnte. Etwas, das zur Abwechslung keine vorbeirasenden Autos waren, in denen Fahrer saßen, schön trocken und warm, und AnnieLee nicht beachteten, geschweige denn vom Gas gingen.

Nicht dass sie es ihnen krummgenommen hätte. Sie wäre auch nicht stehen geblieben, nicht bei diesem Wetter und nicht beim Anblick einer Person, die mittlerweile wohl kaum besser aussah als eine abgesoffene Beutelratte.

Als sie den weißen Kombi auf sich zufahren sah – mit mindestens zwanzig Meilen unter dem Tempolimit – , hoffte sie inständig, dass darin ein netter alter Opa säße, der anhalten und sie mitnehmen würde. Sie hatte zwei Mitfahrgelegenheiten ausgeschlagen, als sie noch geglaubt hatte, sie könnte es sich aussuchen – erst eine Kettenraucherin mit knurrenden Rottweilern auf der Rückbank, dann einen jungen Kerl, der high gewesen war wie der Mount Everest.

Inzwischen hätte sie sich ohrfeigen können, weil sie so wählerisch gewesen war. Sie wäre zumindest ein paar Meilen weitergekommen, ob nun nach Kippen stinkend oder nach Joints.

Der weiße Kombi war keine fünfzig Meter mehr entfernt, dann fünfundzwanzig, und sie winkte ihm freundlich und graziös entgegen, als wäre sie irgendeine Berühmtheit, die dort auf dem Standstreifen des Crosby Freeway stand, und kein verzweifelter Niemand, dessen Habseligkeiten in einen Rucksack passten.

Der alte Buick kroch auf der langsamen Spur auf sie zu, und AnnieLee winkte frenetisch. Doch sie hätte einen Kopfstand machen und mit den Ohren wackeln können – es hätte nichts genutzt. Der Wagen kroch an ihr vorbei und wurde immer kleiner, je weiter er sich von ihr entfernte. Wie ein Kleinkind stampfte sie mit dem Fuß auf, sodass Matsch in alle Richtungen spritzte.

Is it easy?, hob sie abermals an.

No it ain’t

Can I fix it?

No I cain’t

But I sure ain’t gonna take it lyin’ down

Würde es leicht werden? Nein. Konnte sie es geradebiegen? Wohl kaum. Trotzdem würde sie nicht kampflos aufgeben … Die Zeilen gingen ins Ohr, und AnnieLee wünschte sich zum hundertsten Mal, dass sie ihre geliebte Gitarre dabeihätte. Doch zum einen hätte die nicht ins Gepäck gepasst, zum anderen hing sie ohnehin längst an der Wand bei Jeb’s Pawn, dem Pfandleiher.

Wenn sie nur einen Wunsch frei hätte – mal abgesehen davon, dass sie endlich aus Texas verschwinden wollte – , wäre es ein liebevoller neuer Besitzer für ihre Maybelle.

Vor ihr schienen die fernen Lichter von Downtown Houston zu verschwimmen, als sie sich den Regen aus den Augen blinzelte. Wenn sie jetzt auch nur eine Sekunde länger an ihr dortiges Leben zurückdächte, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach sofort auf die nächste Mitfahrgelegenheit pfeifen und stattdessen die Beine in die Hand nehmen.

Inzwischen regnete es heftiger, als es seit Jahren der Fall gewesen war – als hätte der liebe Gott alles Wasser aus dem Buffalo Bayou umgeleitet, nur um es jetzt über AnnieLee auszukippen.

Sie zitterte, ihr Magen knurrte, und mit einem Mal fühlte sie sich derart wütend und verloren, dass sie hätte heulen können. Sie hatte nichts und niemanden mehr; sie war pleite, einsam, und allmählich wurde es spät.

Doch da war wieder diese Melodie – es war fast, als könnte sie sie aus dem Regen heraushören. Na gut, dachte sie. Ich habe nicht nichts. Ich habe immer noch meine Musik.

Und deshalb heulte sie auch nicht. Stattdessen sang sie vor sich hin.

Will I make it?

Maybe so

Sobald sie die Augen schloss, konnte sie sich sogar vorstellen, wie sie irgendwo auf einer Bühne stand und für ein andächtiges Publikum sang.

Will I give up?

Oh no

Ob sie durchhalten würde? Vielleicht. Aber aufgeben? Niemals. Sie spürte regelrecht, wie die unsichtbare Menschenmenge den Atem anhielt.

I’ll be fightin’ til I’m six feet underground

Sie würde kämpfen, und wenn sie dabei draufginge … AnnieLee kniff die Augen zu und legte den Kopf in den Nacken, als der Song in ihr Gestalt annahm. Dann blökte eine Hupe, und AnnieLee hätte vor Schreck fast einen Luftsprung gemacht.

Sie reckte dem Sattelzug beide Mittelfinger nach, als sie die roten Bremslichter aufleuchten sah.

KAPITEL 2

Gab es auf der ganzen Welt eine schönere Farbe? AnnieLee hätte eine verdammte Hymne auf das grelle Rot dieser Bremsleuchten schreiben können.

Noch während sie auf den LKW zulief, schwang die Beifahrertür auf. Sie wischte sich den Regen aus den Augen und sah hoch zu ihrem Retter, einem grauhaarigen Mann in den Fünfzigern mit Bäuchlein, der von oben auf sie herablächelte. Er tippte sich an seine Baseballkappe – der typische Gentleman aus dem Hinterland.

»Spring rein, bevor du hier absäufst!«

Die nächste Windböe trieb den Regen waagerecht vor sich her, und AnnieLee zögerte keine Sekunde länger, packte den Türgriff und zog sich auf den Beifahrersitz. Wassertropfen spritzten in alle Richtungen.

»Danke«, keuchte sie. »Ich dachte schon, ich müsste die Nacht draußen verbringen.«

»Das wäre unschön geworden«, erwiderte der Fahrer. »Gut, dass ich vorbeigekommen bin. Hier halten nicht viele an. Wo soll’s denn hingehen?«

»In Richtung Osten«, antwortete sie, schlüpfte aus ihrem triefenden Poncho und streifte die Gurte ihres schweren Rucksacks von den Schultern. Ihr Rücken tat höllisch weh. Und jetzt, da sie darüber nachdachte: ihre Füße ebenfalls.

»Ich bin Eddie.« Der Mann streckte die Hand aus.

»Ich bin … Ann«, erwiderte sie und gab ihm die Hand.

Er hielt ihre Finger einen Moment lang umklammert, bevor er wieder losließ. »Schön, dich kennenzulernen, Ann.« Dann legte er den Gang ein, warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und fuhr zurück auf den Highway.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, aber das war AnnieLee nur recht. Dann hörte sie, wie Eddie sich über das Fahrgeräusch hinweg räusperte. »Du tropfst den Sitz voll.«

»Tut mir leid!«

»Hier, damit kannst du dir wenigstens das Gesicht abtrocknen.« Er warf ihr ein rotes Halstuch in den Schoß. »Meine Frau bügelt die immer im Dutzend, bevor ich eine Fuhre habe.«

Dass er eine Ehefrau erwähnte, war schon mal beruhigend. AnnieLee wischte sich mit dem weichen Stoff über die Wangen. Das Tuch roch nach Downy-Waschpulver. Doch als sie sich das Gesicht und den Hals abgetrocknet hatte, wusste sie nicht, ob sie ihm das Tuch zurückgeben sollte, deshalb behielt sie es fürs Erste in der Hand.

»Öfter per Anhalter unterwegs?«, fragte Eddie.

AnnieLee zuckte bloß mit den Schultern. Sie wusste nicht, was ihn das anginge.

»Hör mal, ich bin wahrscheinlich schon länger auf der Straße unterwegs, als du alt bist, und ich hab Dinge erlebt … Schlimme Dinge. Du weißt einfach nicht, wem du vertrauen kannst.«

Als sie sah, wie sich seine große Hand auf sie zubewegte, zuckte sie zurück.

Eddie lachte. »Nur die Ruhe, ich will nur die Heizung hochdrehen.« Er hantierte kurz an einem Knopf herum, und warme Luft blies ihr ins Gesicht. »Ich bin einer von den Guten. Ehemann, Vater – das komplette Kleinstadt-Spießer-Programm. Verdammt, ich hab sogar einen verflixten Pudel. Der war allerdings die Idee meiner Frau. Ich selbst hätte gern einen Hütehund gehabt.«

»Wie alt sind denn deine Kinder?«

»Vierzehn und zwölf«, antwortete er. »Beides Jungs. Einer spielt Football, der andere Schach. Muss man sich mal vorstellen.« Er hielt ihr eine zerbeulte Thermosflasche hin. »Da ist Kaffee drin, wenn du willst. Aber Vorsicht, der ist wahrscheinlich immer noch kochend heiß.«

AnnieLee bedankte sich artig, aber für Kaffee war sie schon zu müde. Und sie war auch zu müde, um sich weiter zu unterhalten. Sie hatte sich nicht einmal erkundigt, wo Eddie überhaupt hinfuhr, aber im Grunde war es ihr auch egal. Sie saß in einem warmen, trockenen Führerhaus und ließ mit siebzig Sachen ihre Vergangenheit hinter sich. Sie knautschte ihren Poncho zu einer Nackenstütze zusammen und lehnte sich gegen das Fenster. Vielleicht würde ja doch alles gut werden.

Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie wieder die Augen aufschlug, tauchte vor ihr ein Schild in Richtung Lafayette, Louisiana, auf. Das Scheinwerferlicht des Lasters schnitt durch strömenden Regen. Im Radio lief ein Kenny-Chesney-Song. Und Eddies Hand lag auf ihrem Oberschenkel.

Während der Nebel in ihrem Kopf sich langsam verzog, starrte sie auf seine dicken Fingerknöchel hinab. Dann sah sie ihn an. »Ich glaube, die Hand nimmst du besser da weg.«

»Ich hab mich schon gefragt, wie lange du noch schlafen willst«, entgegnete Eddie. »Ich hab mich allmählich einsam gefühlt.«

Sie versuchte, seine Hand wegzuschieben, doch er drückte umso fester zu.

»Entspann dich mal«, sagte er, und seine Finger bohrten sich in ihren Schenkel. »Warum rutschst du nicht ein bisschen näher, Ann? Wir könnten etwas Spaß haben.«

AnnieLee biss die Zähne zusammen. »Wenn du nicht sofort deine Hand wegnimmst, wird es dir noch leidtun.«

»Ach, Mädchen, du bist ja putzig«, sagte er. »Entspann dich einfach und lass mir meine Freude.« Seine Hand wanderte ein Stück höher. »Wir sind hier doch unter uns.«

AnnieLees Herz schlug wie wild, trotzdem sagte sie beherrscht: »Das hier willst du nicht.«

»Aber sicher.«

»Ich warne dich.«

Eddie gluckste ihr ins Gesicht. »Was willst du denn machen? Schreien?«

»Nein.« Sie griff in die Innentasche ihrer Jacke und zog die Pistole heraus. Und dann zielte sie auf seine Brust. »Das hier.«

Eddie zog seine Hand so schnell zurück, dass sie hätte lachen müssen, wenn sie nicht derart empört gewesen wäre.

Doch der erste Schrecken war schnell verflogen, und Eddie sah sie finster an. »Einhundert Dollar, dass du nicht mal den Abzug findest. Pack die Knarre besser wieder weg, bevor du dir wehtust.«

»Ich mir? Die ist nicht auf mich gerichtet, Blödmann. Und jetzt entschuldige dich dafür, dass du mich angegrabscht hast.«

Inzwischen war Eddie wütend. »Du dürre kleine Schlampe – dich würde ich nicht mal mit der Kneifzange anpacken! Wahrscheinlich bist du sowieso bloß eine dieser Rastplatznutt…«

Sie drückte ab, und Lärm brach im Führerstand aus – erst der Mündungsknall, dann das Kreischen dieses Arschlochs von Fahrer.

Der Schlepper geriet ins Schleudern, und hinter ihnen drückte jemand auf seine Hupe.

»Was zur Hölle soll das werden, du durchgeknalltes Miststück?«

»Fahr rechts ran!«

»Ich fahr gar nirgends …«

Sie hob erneut die Waffe. »Fahr rechts ran! Ich meine es ernst.«

Fluchend ging Eddie vom Gas und ließ den Sattelschlepper ausrollen.

Sobald sie angehalten hatten, sagte AnnieLee: »Und jetzt raus! Den Schlüssel lässt du stecken und den Motor laufen.«

Er stammelte vor sich hin, bekniete sie und versuchte jetzt auf einmal, mit ihr zu verhandeln, aber sie wollte kein Wort mehr hören.

»Raus«, sagte sie. »Sofort!«

Sie fuchtelte mit der Pistole in seine Richtung, und er stieß die Fahrertür auf. So, wie es inzwischen schüttete, war er bis auf die Knochen nass, noch bevor er einen Fuß auf den Asphalt gesetzt hatte.

»Du durchgeknallte, bescheuerte Scheiß…«

AnnieLee nahm die Waffe hoch und richtete sie auf seinen Mund – den er sofort zuklappte. »Sieht so aus, als wäre da ein Rastplatz ein paar Meilen geradeaus«, sagte sie. »Da kannst du jetzt hinspazieren und gleichzeitig gibt’s ne kalte Dusche von oben. Scheißperverser!«

Sie zog die Fahrertür zu, konnte ihn jedoch weiter gegen die Karosserie schlagen hören, während sie bereits den Schalthebel musterte. Sie feuerte ein weiteres Mal ab, diesmal durchs Fenster. Und endlich gab er Ruhe, sodass sie sich auf die Suche nach Kupplung und Gaspedal konzentrieren konnte.

AnnieLee griff nach dem Schalthebel. Ihr Stiefvater mochte das weltgrößte Arschloch gewesen sein, aber er hatte ihr beigebracht, wie man einen schaltgetriebenen Wagen fuhr. Sie wusste, wie sie kuppeln musste und was ihr die Drehzahl sagte. Und womöglich waren Songs gar nicht das Einzige, wofür sie eine natürliche Begabung besaß, denn im Handumdrehen hatte sie den riesigen Schlepper vom Standstreifen heruntermanövriert und war auf die Fahrbahn zurückgefahren, während sich Eddie hinter ihr heiser brüllte.

Ich fahre, dachte sie vergnügt. I’m driving …

Sie drückte auf die Hupe und fuhr mitten hinein in die Dunkelheit. Und dann fing sie an zu singen: davon, in den Wahnsinn und an den Abgrund getrieben zu werden, bis an einen Punkt, von dem es kaum ein Zurück mehr gab.

Driven to insanity, driven to the edge

Driven to the point of almost no return

Dazu klopfte sie einen Rhythmus aufs Lenkrad.

Driven, driven to be smarter

Driven to work harder

Driven to be better every day

Angetrieben, immer klüger zu sein, noch härter zu arbeiten, besser zu sein als am Tag zuvor …

Bei der letzten Zeile musste sie laut lachen. Klar würde es morgen besser sein – weil morgen die Sonne wieder aufgehen würde. Und weil sie beileibe nicht vorhatte, morgen den nächsten Sattelschlepper zu entführen.

KAPITEL 3

Ruthanna bekam das verdammte Lick nicht mehr aus dem Kopf – diese abfallende Tonfolge in C-Dur, vibrierend wie ein Gummiband. Es schrie förmlich nach einem Text, nach einem Bass, nach einem Song, der sich daraus entwickelte. Rhythmisch klackerte sie mit den langen Fingernägeln auf ihren Schreibtisch und sah ihre E-Mails durch.

»Später«, murmelte sie – ob nun zu sich selbst oder zu dem Lick, hätte sie nicht sagen können. »Du kommst später dran – sobald die Band da ist.«

Es war gerade erst neun Uhr morgens, und sie hatte bereits sechs Bettelanfragen abgewimmelt: ob Ruthanna Ryder, eine der überragendsten Countrymusik-Größen, irgendein prominentes Firmenevent oder was auch immer mit ihrer majestätischen Anwesenheit beehren könne.

Sie verstand einfach nicht, warum diese Leute es immer noch nicht begriffen hatten. Sie war vom Thron gestiegen und in Rente gegangen. Ruthanna wollte keine High Heels mehr tragen, keine falschen Wimpern und auch kein strahlendes Südstaatenlächeln. Sie wollte keine heiße, gleißend ausgeleuchtete Bühne mehr betreten – in einem Kleid, das so eng war, dass ihr die Rippen wehtaten. Sie hatte keinerlei Bedürfnis mehr, ihr Herzblut in eine Melodie auszugießen, die Tausende zu Tränen rührte – sogar sie selbst. Nein danke. Sie hatte eine gewisse Zeit mit alledem verbracht, aber das war jetzt Geschichte. Sie schrieb immer noch Songs – damit würde sie wohl niemals aufhören können, selbst wenn sie wollte. Aber wenn die Welt dort draußen glaubte, dass sie diese Lieder je zu hören bekäme, dann würde sie sich noch wundern. Ruthannas Musik gehörte nur noch ihr allein.

Sie blickte vom Bildschirm auf, als ihre Assistentin Maya mit einer knittrigen Papiertüte und mehreren Briefen in den Händen eintrat.

»Heute strahlt die Sonne mal wieder richtig schön von den Goldenen Schallplatten wider«, sagte sie.

Ruthanna seufzte. »Komm schon, Maya. Du bist die Einzige, auf die ich zählen können und die mich nicht ständig an meine – in Anführungsstrichen – Karriere erinnern sollte. Aber anscheinend hat Jack sich wieder mit einer ›einmaligen Gelegenheit‹ gemeldet?«

Maya lachte nur, was ihre Version war von: Darauf kannst du deinen weißen Arsch verwetten.

Jack war Ruthannas Manager – oder vielmehr: Ex-Manager.

»Also, was will er schon wieder?«

»Er wollte mir nichts verraten, meinte aber, es ginge um etwas, was nicht er, sondern was du ganz bestimmt wollen würdest.«

Ruthanna schnaubte leise in sich hinein. »Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Es ist mir ein Rätsel, wie er darauf kommt, dass es anders sein könnte.« Ihr Handy klingelte, sie stellte es auf lautlos und warf es quer durchs Zimmer auf die dick gepolsterte Couch.

Gelassen ließ Maya den kleinen Wutanfall an sich vorüberziehen. »Die Welt ist immer noch hungrig nach deiner Stimme, sagt er. Und nach deinen Songs.«

»Tja, ein bisschen Hunger hat noch keinem geschadet.« Sie grinste ihre Assistentin vielsagend an. »Nicht dass du viel Ahnung von Hunger hättest!«

Maya stemmte die Hand in die breite Hüfte. »Das sagt die Richtige!«

Ruthanna lachte. »Touché! Aber wer bitte schön ist schuld daran, dass Louie von diesem Spare-Ribs-Laden mein Privatkoch wurde? Du hättest wirklich jemanden aussuchen können, der sich mit Salaten auskennt!«

»Hätte, könnte, würde«, entgegnete Maya. Dann legte sie den Briefestapel in Ruthannas Korrespondenzkiste und hielt die Papiertüte hoch. »Von Jack.«

»Was soll das sein – Muffins? Ich hab ihm doch gesagt, dass ich derzeit keine Kohlenhydrate esse.«

Nicht dass Jack ihr in letzter Zeit auch nur ein Wort geglaubt hätte. Als sie zuletzt miteinander gesprochen hatten, hatte sie ihm erzählt, dass sie anfangen wolle zu gärtnern, und er hatte einen solchen Lachanfall bekommen, dass ihm das Handy in den Pool gefallen war. Als er sie dann über das Festnetz anrief, war er vor Lachen immer noch ganz außer Atem. »Dass du Rosen zurückschneidest, kann ich mir genauso wenig vorstellen, wie wenn du dir die Kleider vom Leib reißen und auf einem Schimmel den Lower Broadway entlangreiten würdest wie die Lady Godiva von Nashville.«

Nicht einmal ihr Konter – dass es längst zu spät im Jahr für Rosen sei – hatte ihn überzeugt.

»Nein, Ma’am«, antwortete Maya, »das hier sind eindeutig keine Muffins.«

»Hast du da etwa schon reingeguckt?«

»Er hat mich ausdrücklich darum gebeten. Er meinte, wenn ich sie sehen würde, könnte ich dich ebenfalls überzeugen. Er hatte wohl Angst, dass du die Tüte ansonsten in den Müll wirfst, und das wäre … na ja … eine Menge Glitzer für die Tonne.«

»Glitzer, ja?« Ruthannas Interesse war geweckt.

Maya schüttelte den Kopf, wie um ihr zu sagen: Du weißt gar nicht, wie viel Glück du hast. Doch seit die hinreißende Maya einen Ehemann hatte, der ihr jeden Freitag Blumen mitbrachte und den sprichwörtlichen Boden küsste, auf dem sie ging, gehörte auch sie durchaus zu den Glücklichen. Ruthanna, die sich vor sieben Jahren hatte scheiden lassen, bekam nur noch Geschenke von Leuten, die etwas von ihr wollten.

Sie nahm die Tüte entgegen, faltete die obere Kante auf und warf einen Blick hinein. Am Boden der Tüte lag – nicht mal in einer Samtschachtel – ein Paar Chandelier-Diamantohrringe, die so lang waren wie Ruthannas Zeigefinger einschließlich des künstlichen Fingernagels.

»Heiliger Strohsack«, platzte es aus Ruthanna heraus.

»Ich weiß … Ich habe sie sofort gegoogelt«, sagte Maya. »Preis nur auf Nachfrage.«

Ruthanna hielt die Ohrringe in die Höhe, damit sie das Licht einfingen, und regenbogenfarbene Prismen fielen über die Schreibtischplatte. Sie besaß einigen Diamantschmuck, aber dieser hier war wirklich spektakulär. »Die sehen aus wie Ohrringe, die man seinem Vorzeigeweibchen kaufen würde.«

»Einspruch«, sagte Maya. »Die sehen aus wie Ohrringe, die man der Frau schenkt, mit der man Millionen verdient hat, weil sie sich durch den Branchensumpf bis nach ganz oben gewühlt und sich in die Herzen eines Großteils der Weltbevölkerung gesungen hat.«

Das Bürotelefon klingelte, und Ruthanna ließ die Ohrringe zurück in die Tüte fallen, ohne sie auch nur anzuprobieren. Mit einer Geste gab sie Maya zu verstehen, sie solle den Anruf entgegennehmen.

»Büro Ryder?«, meldete sich Maya und hörte dann kurz zu. Nach einer Weile nickte sie. »Natürlich, Jack, ich richte es ihr aus.«

»Er konnte sein kleines Geheimnis am Ende doch nicht für sich behalten, was?«, kommentierte Ruthanna, sobald ihre Assistentin aufgelegt hatte.

»Er meint, die Country Music Awards wollen dir irgendeine gigantische Auszeichnung verleihen. Allerdings müsstest du dafür hingehen. Außerdem will er, dass ich dir ausrichte: So eine perfekte Gelegenheit, deine neuen Ohrringe auszuführen, solltest du dir nicht entgehen lassen.«

Ruthanna lachte. Jack war wirklich eine Nummer für sich. »Dieser Mann kann mir Diamanten schenken, bis die Hölle zur Honky-Tonk-Kneipe wird«, sagte sie. »Ich bin raus aus der Branche.«

KAPITEL 4

Ethan Blakes in die Jahre gekommener Ford F-150 keuchte und röchelte, als er das schmiedeeiserne Tor zu Ruthannas weitläufigem Anwesen in Belle Meade hinter sich ließ. Nur gut, dass die Überwachungskameras keine Geräusche aufzeichneten, weil der Ford einfach nur peinlich klang. Er brauchte dringend einen neuen Auspuff – und ein halbes Dutzend weitere Reparaturen. Doch solange sich auf Ethans Konto nicht mehr als ein paar Zerquetschte befanden, musste der Wagen warten.

Er parkte im Schatten einer riesigen Eiche und sah auf die Uhr. Es war bereits 11:02. Er sprang so schnell aus dem Wagen, dass ihm erst auf halbem Weg zur Tür wieder einfiel, dass er seine Gitarre vergessen hatte. Bis er zu guter Letzt die Stufen hochgerannt war, die zur Wohnküche führten, war es 11:04, und sein weißes T-Shirt war durchgeschwitzt.

Er drehte am Türknauf. Abgeschlossen. Eine Sekunde nach der anderen verstrich, während er an den Glaseinsatz klopfte. Keine Reaktion. Er blaffte den Efeu an, der an dem neogriechischen Gebäude emporrankte – Ruthanna nannte es scherzhaft »das Schloss« – , und rannte zurück zur Vordertür, wo er wie wild auf die Klingel drückte. Ruthanna würde ihn umbringen.

Endlich öffnete Maya die Tür. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte sie und musterte ihn von Kopf bis Fuß, als wäre er irgendein Fremder, der ihr gleich eine mehrbändige Enzyklopädie verkaufen wollte.

»Maya«, sagte Ethan verzweifelt, »ich muss ins Studio.«

»Mhm«, sagte sie, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

»Ich weiß, ich weiß, ich bin spät dran«, sagte er. »Gladys wollte nicht so, wie ich es wollte.«

Maya riss die dunklen Augen weit auf. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das hören will!«

Schlagartig lief Ethan rot an. »Gladys ist mein Pick-up!«

Maya lachte über ihren eigenen Scherz. Dann wurde sie wieder ernst. »Tja, du weißt ja, wo es langgeht, und ich würde sagen, du gibst besser Gas. Du-weißt-schon-wer wartet nämlich schon.«

Dankbar schlug er den Blick nieder, und mit zum Zerreißen angespannten Nerven eilte er durch das marmorgeflieste Foyer und an dem herrschaftlichen Wohnzimmer zu seiner Linken vorbei. Wahrscheinlich nannte Ruthanna es ihr Gesellschaftszimmer oder Salon oder etwas ähnlich Hochtrabendes, weil es tatsächlich aussah wie eins dieser antiken Zimmer in einem Museum, die man nur hinter einer roten Samtkordel bestaunen durfte: Bleiglasfenster, riesige funkelnde Kronleuchter und Wände, die von Künstlerhand mit Englischen Rosen bemalt worden waren. Allein dieser Raum war zehnmal größer als seine ganze Wohnung.

Er hatte nie eine Führung durch das Haus bekommen, weil Ruthanna lediglich Wert darauf legte, dass er wusste, wo das Tonstudio lag, aber es mussten mindestens achthundert Quadratmeter sein. Einmal hatte er sich auf einem der Flure verlaufen. Doch heute atmete er tief durch – er konnte tatsächlich spüren, dass Ruthanna schon auf ihn wartete und vor Ungeduld brodelte – und schlitterte die Treppe hinab ins Untergeschoss.

Auch wenn Musik heutzutage meist nur noch mithilfe eines MacBooks und einiger Pro-Tools aufgenommen und abgemischt zu werden schien, war Ruthanna immer noch vom alten Schlag: Sie besaß ein altes Röhrenmischpult, das sie aus irgendeinem legendenumwobenen Tonstudio in Nashville gerettet hatte, und wollte, dass ihre Musiker zusammen spielten, statt im Anschluss an die Aufnahmen tagelang Tonspuren übereinanderzulegen. Nach eigener Aussage liebte sie das Rohe, Natürliche an einem Song, den Leute gemeinsam eingespielt hatten.

Als er die Tür zum Aufnahmeraum aufschob, waren die meisten Bandmitglieder schon da: Melissa, die sich ihre Geige unter den Arm geklemmt hatte; Elrodd, der bereits am Schlagzeug saß; und Donna, die an ihrem Kontrabass nestelte.

»Hey«, sagte Ethan. Stan schien nicht da zu sein, was nur bedeuten konnte, dass er selbst – dem Himmel sei Dank! – nicht als Letzter eingetroffen war. Ethan setzte gerade sein Instrument ab, als ihr Leadgitarrist mit seiner Stratocaster in der Hand aus der Gesangskabine trat.

Er bedachte Ethan mit einem Blick, der unmissverständlich besagte: Mach dich auf etwas gefasst, Bro …

Dann sprach Ruthanna Ethan über Lautsprecher an. »Ich weiß, dass du hier der Neue bist. Aber ich möchte doch meinen, so neu bist du nicht mehr, als dass du deine Kollegen warten lässt. Haben sie dir bei der Army nicht beigebracht, pünktlich zu sein, Captain Blake?«

Er drehte sich zu ihr um. Sie saß mit dem Tontechniker im Regieraum auf der anderen Seite der blitzblanken Glasscheibe. »Tut mir leid, Ruthanna, ich hab …«

Mit einer knappen Geste brachte sie ihn zum Schweigen. »Ich bin an deinen Ausflüchten kein bisschen interessiert«, sagte sie. »Glaubst du ernsthaft, du bist so besonders, dass du hier eintrudeln kannst, wann immer du willst? Okay, du bist echt niedlich, hast eine nette Stimme, und an einem guten Tag könntest du als blasserer Vince Gill durchgehen. Aber Nashville wimmelt nur so von Gitarristen in engen Jeans und mit Knackarsch, die pünktlich sein können.«

Stan pfiff leise durch die Zähne. Er war unverkennbar froh, dass diesmal nicht er die Leviten gelesen bekam. Und auch wenn Ethans Wangen glühten, hielt er zur Abwechslung den Mund. Er wollte diesen Job nicht verlieren. Er durfte ihn nicht verlieren. Sein Teilzeitvertrag als Barkeeper in einer Karaokebar deckte nicht mal seine Miete, und erst recht brächte er damit Gladys nicht wieder zum Laufen.

»Passiert mir nie wie…«

»Mit Betonung auf ›nie‹«, unterbrach ihn Ruthanna. »Und jetzt stimm endlich deine Gitarre.«

Er tat wie geheißen, während er verstohlen Donna ansah. »Sind meine Jeans wirklich zu eng?«

Doch sie lachte ihn nur aus.

Nachdem er sein Instrument gestimmt hatte, spielte er sich ein wenig mit dem Song warm, den Ruthanna tags zuvor geschrieben hatte – eine hintersinnige Parodie auf gewisse Branchengrößen, die sie mit »Snakes in the Grass« betitelt hatte – Schlangen im Gras. Er zupfte wie Chet Atkins die Basslinie mit dem Daumen und die Melodie mit den restlichen Fingern, ehe ihm dämmerte, dass Ruthanna den Regieraum verlassen hatte und an ihn herangetreten war.

»Mr. Blake, darf ich dich daran erinnern, dass wir schon eine Bassistin haben?«, fragte sie. »Glaub ja nicht, dass du ihren Job machen musst.«

Er sah ihr in die blitzenden Augen. Ruthanna war doppelt so alt wie er selbst, aber immer noch eine Erscheinung. Mit ihrem Lächeln konnte sie einen ganzen Konzertsaal erstrahlen lassen, und ihre Zunge war spitzer als der Giftzahn einer Schlange. Er betete den Boden an, auf dem sie ging, und konnte noch immer nicht fassen, dass er mit ihr zusammen Musik machen durfte. Doch ebenso wenig verstand er, warum sie keinen ihrer neuen Songs rausbringen wollte.

»Tut mir leid, Ma’am«, sagte er.

Sie tätschelte ihm die Schulter. »Was du eigentlich sagen willst, ist Chefin.«

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und trat ans Mikrofon.

»Also«, sagte sie, »dann legen wir mal los!«

KAPITEL 5

Vor dem sirrenden Leuchtschild mit der Aufschrift Cat’s Paw Saloon strich sich AnnieLee über die Haare und holte tief Luft.

»Du schaffst das«, flüsterte sie. »Nur deswegen bist du hier.«

Eine richtige Motivationsansprache war das zwar nicht, aber sie konnte auch nicht mitten in der Stadt auf dem Gehweg stehen bleiben und vor sich hin brabbeln, ohne dass die Leute dachten, sie wäre verrückt geworden. Kurz und schmerzlos musste also reichen. Sie atmete noch einmal tief durch, zog die Tür auf und marschierte hinein.

Die Bar war nur mäßig geheizt. Bunte Weihnachtslichterketten an Decke und Wänden tauchten sie in Schummerlicht. Auf einer Bühne im rückwärtigen Teil stand ein Mann mit einem großen schwarzen Cowboyhut und einer abgeliebten Gitarre und sang mit tiefer, trauriger Stimme einen Willie-Nelson-Song. Rechter Hand verlief der lange Bartresen, und links drosch eine Frau mit DON’T-MESS-WITH-TEXAS-Shirt auf Billardkugeln ein, die über roten Filz rollten. AnnieLee ließ den Blick schweifen und kam zu dem Schluss, dass alle hier halbwegs freundlich aussahen. Es roch nach Bier und Pommes frites.

Mit anderen Worten: Es war die perfekte Nachbarschaftskneipe und für ihren ersten Bühnenauftritt in Nashville gerade richtig. AnnieLee schlenderte auf den Tresen zu, rutschte auf einen Barhocker und ignorierte die anerkennenden Blicke, die ihr bis dorthin gefolgt waren.

Der Barkeeper, ein Mann mittleren Alters mit Schnauzbart, schob einen Bierdeckel in ihre Richtung. »Was darf’s sein, Miss?«

AnnieLee schluckte ihr Fracksausen hinunter und knipste ihr Halogenstrahler-Lächeln an. »Du darfst mich auf die Liste für die Bühne setzen, sobald dieser Typ fertig ist.«

Schnaubend holte sich der Barkeeper den Bierdeckel wieder zurück. Dann tauchte er hinter dem Tresen ab und mit einem Messer und einer riesigen Zitrone in der Hand wieder auf. AnnieLee sah ihm zu, wie er die Zitrusfrucht zerteilte und die einzelnen Spalten in einen Behälter neben einem Tablett mit blutrot gefärbten Cocktailkirschen warf. Weder sah er sie noch einmal an, noch sagte er etwas.

War’s das?, fragte sie sich. Ignoriert der mich jetzt?

Sie trommelte mit den Fingerkuppen auf den Tresen und sah zurück zu dem Sänger, der gerade die ersten Akkorde eines Songs von Garth Brooks anstimmte. Niemand schien ihm wirklich zuzuhören, und AnnieLee fragte sich, ob er enttäuscht war, weil er hier gerade nur Hintergrundrauschen erzeugte, oder ob es für ihn Lohn genug war, mit seiner Gitarre und seinem Mikrofon auf der Bühne zu stehen. Denn wenn er gerade nicht glücklich war, würde sie mit Handkuss mit ihm tauschen.

AnnieLee strich sich die Haare zurück. Sie wusste genau, dass sie auf der Bühne glänzen konnte. Ihr fehlte nur die Gelegenheit. Und Mr. Schnauzbart hier musste einfach derjenige sein, der ihr diese Möglichkeit eröffnete – weil ihre Füße zu sehr wehtaten, als dass sie heute noch weiterziehen konnte.

Sie drehte sich wieder zu ihm um. Inzwischen schnitt er Limetten klein. Sie räusperte sich, doch auch diesmal blickte er nicht auf.

Allmählich verließ sie der Mut. Sie hatte die richtigen Songs, aber keinen Werbetext für sich selbst vorbereitet.

Jetzt hör mal gut zu, sprach sie sich selbst in Gedanken Mut zu, du hast doch keinen Sattelschlepper nach Nashville gekapert, nur um jetzt jemandem beim Obstsalatschnippeln zuzusehen! Reiß endlich deine große Klappe auf und rede mit ihm!

»Ich nehme an, hier kommen ständig Leute vorbei, die singen wollen«, sagte sie. »Trotzdem glaube ich, ich hätte etwas anzubieten, was echt sehenswert wäre.«

»Deine Titten?« Die liederliche, tiefe Stimme war von hinten gekommen.

Mit hämmerndem Herzen und geballten Fäusten drehte sich AnnieLee um. Ein alter Mann, dem der Gin schon sichtlich in die Wangen gestiegen war, machte einen schlurfenden Schritt zurück, grinste sie aber weiter an.

Als ihr dämmerte, dass es niemand war, den sie kannte, lockerte sie die Fäuste und fauchte bloß: »Ferkel!«

»Nur mal kurz gucken?«, bettelte er.

Der Barkeeper hatte alles mitbekommen. »Oh, verdammt, Ray, gib Ruhe!« Er schnalzte mit seinem Geschirrtuch nach ihm. »Du bist sechsundachtzig. Geh einfach nach Hause.«

Ray kniff betrunken die Augen zusammen. »Aber Billy …«

»Ich will es nicht noch mal sagen müssen, du alter Widerling.«

Verdrossen sah Ray zu AnnieLee. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er, machte einen Diener und schlurfte tatsächlich zur Tür.

»Tut mir leid«, sagte Billy und sah dem alten Mann nach. Dann schenkte er ein Glas Sodawasser ein und stellte es vor AnnieLee.

Sie rang um Fassung, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Verletzlichkeit zeigte man besser nicht. »Ich hätte um ein Haar zugeschlagen …«

»Hab ich mitgekriegt.« Er wischte beiläufig über den Tresen. »Was möchtest du trinken? Ich setze es auf Rays Rechnung. Er schuldet dir etwas.«

»Nichts, danke.« AnnieLee hielt kurz inne, um sich Mut zuzusprechen, und dann sprudelte es nur so aus ihr heraus, dass sie kaum Zeit hatte, Luft zu holen. »Hör mal, ich werde dir jetzt nicht erzählen, wie ich nach Nashville gekommen bin, weil ich mich damit nur selbst belasten würde – was schade ist, weil die Geschichte echt gut war … Aber ich kann dir sagen, warum ich hier bin. Ich will Sängerin werden, und wenn es das Letzte ist, was ich versuche. Ich heiße AnnieLee Keyes, bin letzte Woche fünfundzwanzig geworden, und ich bitte dich, mir eine Chance zu geben und mich auf diese Bühne zu lassen. Vielleicht bist du ja derjenige, der mir zu meinem Durchbruch verhilft? Ich hoffe es sehr! Und wenn ich berühmt bin, erzähle ich allen, dass ich meine Karriere Billy, dem Barkeeper aus dem Cat’s Paw Saloon, zu verdanken habe.«

Er schnaubte erneut, diesmal allerdings freundlicher. »Als bräuchte ich noch mehr verzweifelte Möchtegernkünstler in meiner Bar.« Dann kniff er die Augen zusammen. »Aber wenn ich ehrlich sein soll, siehst du gar nicht so verzweifelt aus.«

»Ich sehe ehrgeizig aus.« Sie beugte sich vor, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten. »Und ich sehe so aus, als hätte ich mich auf der Toilette einer Fast-Food-Kette geschminkt.« Sie reckte den schlanken Unterarm vor. »Ernsthaft, hab ich wirklich. An diesem Handgelenk duftet das reinste Eau de Chicken Nuggets!«

Der Barkeeper starrte sie kurz ausdruckslos an und brach dann in Gelächter aus. »Du hast Humor. Countrymusik ist ein hartes Geschäft. Vielleicht solltest du über eine Comedy-Karriere nachdenken.«

»Ja, steht auf meiner Liste – direkt nach der Besteigung des Kilimandscharos und dem Auftritt als Schlangenmensch beim Cirque du Soleil. Allerdings muss ich mir erst diesen Traum hier erfüllen, weil der nun mal ganz oben auf der Liste steht. Aber willst du jetzt weiter mit mir plaudern oder mal hören, was ich kann?«

»Kannst du denn singen?«, fragte er.

»Als wäre mein Name Melody.«

Für einen kurzen Moment sagte Billy nichts mehr. Dann nahm er eine Flasche Whiskey aus dem Regal, füllte ein Shotglas, doch statt es dem nächstbesten Gast hinzustellen, kippte er den Inhalt selbst hinunter.

Mit nervös flatterndem Herzen sah sie ihm dabei zu. Viel länger würde sie die selbstbewusste Fassade nicht aufrechterhalten können, aber sie konnte sich diese Chance auch nicht einfach entgehen lassen.

»Okay, hör zu«, sagte sie eine ganze Spur ernster. »Ich habe bloß Witze gemacht. Gebirge und Zirkusse sind mir egal. Mir geht es nur um das hier.«

Billy ließ das Glas ins Spülbecken fallen. »Hast du eine Ahnung, wie viele Leute mich Woche für Woche ansprechen, so wie du jetzt gerade?«

»Bestimmt eine Million«, gab AnnieLee zurück. »Aber ich bin nicht eine von denen – sondern diejenige, die aus einer Million Leute heraussticht. Das ist ein Unterschied.«

Billy schürzte nachdenklich die Lippen. »In Ordnung«, sagte er. »Ich habe sowieso gerade meinen Pausen-Act vor die Tür gesetzt.«

»Ray?«, keuchte AnnieLee.

»Wenn er nüchtern ist, stellt der Mann Johnny Cash in den Schatten.«

Sie setzte sich gerade auf. »Dann ist heute anscheinend mein Glückstag!«

»Schon möglich«, sagte Billy.

Sie biss sich auf die Lippe. »Eine Sache noch … Kannst du mir eine Gitarre leihen?«

KAPITEL 6

AnnieLee war schon nervös gewesen, als sie um ihren Auftritt gebettelt hatte – doch das war rein gar nichts im Vergleich dazu, wie sie sich fühlte, während sie hinter der Bar auf ihren Einsatz wartete. Ihre Nerven waren so angespannt, dass ihr der ganze Brustkorb wehtat und sie sich fragte, ob sie wohl gerade einen Herzinfarkt bekam.

Tief einatmen, Mädchen, redete sie sich gut zu, hier wartet kein Erschießungskommando.

Sie strich über die Kante eines Fotos von Emmylou Harris, das neben ihr an der Wand hing, und wischte ein wenig Zigarettenasche von Ruthanna Ryders Bild. Sie hoffte inständig, dass ihr die Anwesenheit dieser zwei Countrylegenden Stärke verlieh.

Abermals ließ sie den Blick schweifen und versuchte, dabei ruhig zu atmen. Es waren nur ein paar Dutzend Leute da, und die meisten würden wahrscheinlich nicht einmal von ihrem Bier aufblicken, wenn sie gleich anfing zu spielen. Warum also war sie so verdammt nervös? Ihre Hände waren schweißnass, und ihre Wangen glühten.

Vielleicht war sie nur deshalb so zittrig, weil dies ihre erste und womöglich einzige Chance auf einen Bühnenauftritt sein könnte? Vielleicht war sie aber auch bloß verängstigt, allein und brauchte irgendeinen Beweis dafür, dass all dies kein Riesenfehler war.

Der Sänger mit dem großen Hut und der abgegriffenen Martin verließ, von halbherzigem Applaus begleitet, die Bühne. Auf dem Weg zum Tresen kam er ganz dicht an AnnieLee vorbei.

»Viel Erfolg, Kid«, brummte er. Und dann war sie an der Reihe, die drei schier unüberwindlichen Stufen hinaufzugehen.

Sie schaffte es hoch auf die Bühne, ohne zu stolpern – und ohne sofort wieder Reißaus zu nehmen, was sie für den Bruchteil einer Sekunde durchaus in Erwägung gezogen hatte. Ihre Beine zitterten, und ihr schlug das Herz so hoch oben im Hals, dass sie sich nicht einmal sicher war, ob sie noch würde sprechen können. Dann ließ sie sich auf dem Klappstuhl nieder. Mit gesenktem Blick zog sie das untere Mikrofon näher, sodass es auf das Schallloch der Gitarre gerichtet war, und fixierte das Gesangsmikro vor ihrem Gesicht. Als sie aufblickte, um sich dem Publikum zuzuwenden, stellte sie fest, dass sie kaum jemanden erkennen konnte, weil der Bühnenscheinwerfer ihr direkt ins Gesicht schien.

Tja, dachte sie, alles in allem womöglich besser so …

Sie räusperte sich. »Guten Abend«, stieß sie hervor, und prompt folgte eine Rückkopplung. Erschrocken lehnte sie sich zurück, ehe sie sich wieder im Griff hatte und es noch einmal versuchte. »Tut mir leid – das hier ist neu für mich … Aber ich hoffe mal, dass ich zumindest besser klinge als das gerade!«

Aus der vordersten Reihe hörte sie leises Lachen. Ein wenig zuversichtlicher ließ AnnieLee die Finger leicht über die Saiten gleiten. »Danke, dass ihr heute Abend hier seid«, fuhr sie fort, während sie erneut am Wirbel der hohen E-Saite drehte. »Nachdem ihr ja hier in Nashville lebt, habt ihr wahrscheinlich schon mehr Liveauftritte gesehen als ich warmes Essen.«

Dann spielte sie die ersten Akkorde eines Songs, den ihr Publikum hoffentlich wiedererkannte – »Crazy«. Hinter dem Tresen nickte Billy ihr anerkennend zu.

Mit einem Coversong ging sie auf Nummer sicher, so viel war ihr klar. Irgendwas Altes, Beliebtes – oder ein Lied, das die Kneipenbesucher mittleren Alters schon in der Highschool mitgesungen hatten: »Strawberry Wine« vielleicht oder »Friends in Low Places«.

Doch als sie gerade den Patsy-Cline-Song ansingen wollte, zögerte sie. Dies hier war gerade ihre Bühne – und ihre Chance. Weshalb sollte sie den Song einer anderen singen, wenn sie doch eigene Lieder hatte?

Noch beim C7-Akkord hielt sie inne und ließ ihn verklingen.

»Wisst ihr was? Ich glaube, ich spiele euch etwas, was ihr noch nie gehört habt – einen Song, der so neu ist, dass ich ihn überhaupt noch niemandem vorgespielt habe.« Nacheinander schlug sie ein G, E und D an. »An diesem Instrument hält mich zwar keiner für eine Maybelle Carter, aber ich beherrsche meine Akkorde. Und genau die scheint ihr gerade zu brauchen – einfach nur drei Akkorde und eine Wahrheit.«

Jemand im hinteren Teil johlte, doch ob es an dem lag, was sie gesagt, oder ob er gerade nur eine Billardkugel eingelocht hatte, war schwer zu sagen.

»Also, dann höre ich mal besser auf zu quatschen und fange an zu singen, was?« Sie lächelte nervös und gab dem Gitarrenkorpus einen schwungvollen Klaps. Sie wusste, wie sie es angehen würde – sie war bereit. Jetzt musste sie nur noch die Ruhe bewahren.

Die Finger der linken Hand gingen in Position. Sie tippte ein paarmal mit dem Fuß auf die abgewetzten Bühnenplanken und fing an, das Intro zu zupfen. Einmal verspielte sie sich, unterbrach sich, setzte neu an. Doch dann fühlten sich die Griffe sicher an, und sie begann zu singen.

Is it easy?

No it ain’t

Ihre Stimme zitterte leicht, und sie spürte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte. Herr im Himmel, bitte, ich darf das nicht vermasseln!, schoss ihr durch den Kopf.

Can I fix it?

No I cain’t

Sie hörte selbst, wie angespannt sie klang, und die Nervosität verlieh ihrer Stimme ein dünnes, bebendes Vibrato.

But I sure ain’t gonna take it lyin’ down.

Irgendwo in der Kneipe fiel eine Bierflasche auf den Boden und zerschellte.

Will I make it?

Maybe so

Sie schloss die Augen, um nicht länger in das grelle Licht gucken zu müssen, und stellte sich vor, sie wäre meilenweit weg vom Cat’s Paw Saloon und ebenso weit in der Vergangenheit, in ihrer Kindheit, als sie mit ihrer Haarbürste als Mikrofon ihrem Teddy etwas vorgesungen hatte. Damals hatte sie sich ausgemalt, wie eine nicht enden wollende, ehrfürchtige Menschenmenge ihr bei jedem Ton an den Lippen hing. Jetzt stellte sie sich genau das Gegenteil vor: nur ein einsamer Teddy, nach ein paar Miller Lite leicht angetrunken und nicht im Geringsten daran interessiert, ihr zuzuhören.

Die Vorstellung machte es zigmal leichter – und als es an der Zeit war für den Refrain, wurde auch ihre Stimme stabiler. Sie grollte, röhrte und flehte.

Gotta woman up and take it like a man

Sie musste ihre Frau stehen und es wie ein Mann nehmen … Und plötzlich spürte sie, wie das Publikum aufhorchte. Ihre Finger tanzten über die Saiten, und die zweite Strophe schmetterte sie aus vollem Hals. Sie sang mit Freude, und sie sang, als hinge ihr Leben davon ab.

Denn genau so war es ja auch.

KAPITEL 7

»Als du gesagt hast, du könntest singen, hast du nicht gelogen.« Billy schenkte eine Runde Shots für einen Tisch im hinteren Teil der Kneipe ein, wo es hoch herging.

AnnieLee nahm einen Schluck Mineralwasser und presste sich das kühle Glas an die glühenden Wangen. Ihr Herz hörte gar nicht mehr auf zu rasen. Sie hatte noch immer die Beifallsrufe und den Applaus ihres Publikums im Ohr.

»Ich lüge nicht.« Sie schob sich den schweißfeuchten Pony aus der Stirn. Sie mochte gegen ein, zwei Gesetze verstoßen haben und würde gewisse Fragen lieber nicht beantworten müssen, aber sie hatte stets die Wahrheit gesagt, es sei denn, es war nicht mehr anders gegangen. Ihr Stiefvater war ein Lügner und Betrüger gewesen, und so wie er hatte sie nie werden wollen.

»Dann kannst du mich vielleicht bald wieder auf die Bühne lassen?«, fragte sie.

Billy zögerte die Antwort kurz hinaus. Dann nickte er knapp. »Kann ich womöglich.«

»Also, mir wäre es eine Ehre.« Sie hatte bloß vier eigene Songs zum Besten gegeben und sich dann überlegt, dass sie ihr Nashville-Willkommen nicht überstrapazieren wollte. Also hatte sie sich die Gitarre unter den Arm geklemmt und war von der Bühne gegangen. Im selben Moment hatten die Stammgäste des Cat’s Paw Saloon angefangen, auf den Boden aufzustampfen, und Billy hatte an den Zapfhähnen hektisch in ihre Richtung gefuchtelt und gerufen: »Bleib da oben, Mädchen! Mach weiter!«

Kurz war sie im gleißenden Licht wie erstarrt stehen geblieben und hatte ernsthaft daran gezweifelt, dass dieser Moment real war. So einen Abend hatte sie sich so lange herbeigewünscht, dass sie schon befürchtete, sie könnte sich alles nur eingebildet haben – ein Resultat ihrer wilden, größenwahnsinnigen Fantasie. Vielleicht schlief sie auch gerade irgendwo auf einer Parkbank und träumte. Oder vielleicht hatte sie diesen riesigen, plumpen Sattelschlepper in den Graben gesetzt, und der Cat’s Paw Saloon war bloß die Halluzination einer Schwerverletzten und kein bisschen realer als das Geheimnis eines kleinen Mädchens oder ein inniger Wunsch …

»Is it easy?«, rief jemand. »No it ain’t!«

Diese sechs einfachen Wörter hatten dafür gesorgt, dass der Knoten geplatzt war. Dass sie aus der Trance erwacht war. Sie hatte sich wieder auf den wackligen Klappstuhl gesetzt, und mit Schweißperlen auf der Oberlippe und kleinen Rinnsalen, die ihr den Rücken hinabliefen, hatte sie gebeichtet, dass sie keine weiteren eigenen Songs hatte. »Ich war in letzter Zeit viel unterwegs, da ist mein Repertoire ein bisschen eingerostet.« Sie lachte verlegen. »Aber ich könnte noch einen Klassiker spielen – etwas aus der Feder von jemand anderem.«

Sie hatte kaum die ersten Akkorde des legendären »I’ll Fly Away« angestimmt, als jemand von hinten rief: »Spiel deine eigenen Songs doch einfach noch mal!«

Und weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen, spielte sie alles noch mal – einen Song nach dem anderen. Beim zweiten Mal schienen die Songs sogar noch besser anzukommen als zuvor, und einige Gäste stimmten bei den Refrains mit ein.

Jetzt, da sie wieder bequem auf ihrem Barhocker saß, war AnnieLee sich nicht sicher, ob sie erleichtert sein sollte, dass ihr Auftritt vorbei war, oder ob sie nicht vielmehr sofort zurück auf die Bühne rennen und noch mal von vorn anfangen wollte.

Billy hielt ihr die Speisekarte hin, doch sie winkte bloß ab. Sie hätte ihm ja schlecht erzählen können, dass sie nicht genug Geld hatte, um für ihr Abendessen zu bezahlen. Sie wollte als Sängerin in Erinnerung bleiben und nicht als arme Kirchenmaus. Außerdem hatte sie noch Müsliriegel und Studentenfutter in ihrem Rucksack. Sie würde also nicht verhungern.

Zumindest nicht heute.

»Wie du meinst«, sagte Billy freundlich.

»Die machen hier echt gute Burger«, hörte sie eine fremde Stimme. »Natürlich aus Katzenfleisch.«

AnnieLee drehte sich nach der Stimme um. Vor ihr stand ein Mann in Denimhemd, ausgebleichten Jeans und mit einem Lächeln im Gesicht. Er hatte dunkle Haare, noch dunklere Augen und die endlos langen Beine des jungen Johnny Cash. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Er hatte eindeutig das aparteste Gesicht, das sie je gesehen hatte.

»War nur ein Spaß – ich hoffe, das war klar!« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Ethan Blake. Und ich bin ein Riesenfan.«

Sie atmete langsam und bedächtig ein. Lieber würde sie tausend Tode sterben, als ihm zu zeigen, wie sehr sein Anblick sie aus der Fassung gebracht hatte. »Ach, wirklich?«

Sein Lächeln wurde breiter, und auf den leicht stoppligen Wangen zeichneten sich Grübchen ab. »Oh ja. Ich bin wirklich ein Riesenfan. Und ich heiße auch wirklich Ethan.« Er zeigte auf den leeren Barhocker neben ihr. »Darf ich?«

Sie starrte in ihr Wasserglas. Die Eiswürfel lösten sich allmählich in Wohlgefallen auf. »Bitte«, antwortete sie.

»Darf ich dich auf ein Bier einladen? Oder ein Gläschen Wein? Oder einen Liter Milch?«

Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu schmunzeln, und rührte mit dem Strohhalm in ihrem Wasser. »Nein, danke.«

»Ehrlich, das war gerade Weltklasse. Hast du diese Songs echt selbst geschrieben?«

Mit loderndem Blick drehte sie sich zu ihm um. »Natürlich! Glaubst du mir etwa nicht, Ethan Blake? Glaubst wohl, ich sehe zu jung aus, um so was zu schreiben? Zu zaghaft? Zu weiblich?«

Er nahm eine Hand hoch. »Nein, nein, überhaupt nicht! Sorry, ich wollte einfach nur reden …«

AnnieLee rückte mitsamt ihrem Barhocker ein Stück von ihm ab. Irgendein Aufreißertyp war das Letzte, was sie jetzt brauchte – ganz egal, wie attraktiv er war. »Tja, ich rede aber nicht mit Fremden.«

»Okay, verstanden.« Er klang kein bisschen defensiv, sondern einfach nur freundlich. »Das ist okay, ehrlich. Aber Nashville ist eine Kleinstadt. Vielleicht werden wir ja noch Freunde.«

»Das bezweifle ich«, entgegnete sie.

Er legte einen Zwanziger auf den Tresen. »Billy, kannst du mal versuchen, ihr von mir einen Drink zu spendieren? Sie war auf der Bühne echt gut.«

Dann verzog er sich wieder. AnnieLee sah ihm nach – jederzeit darauf gefasst, in die Gegenrichtung zu schauen, sobald er sich umdrehte. Aber das tat er nicht. Er nahm sich einfach die alte Bargitarre und hielt selbst auf die Bühne zu.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Keyes, du Vollidiotin, dachte sie. Du warst gerade so richtig unfreundlich zum nächsten Act!

KAPITEL 8

AnnieLee schnappte sich ihre Jacke und stürmte aus der Bar, noch bevor Ethan Blake angefangen hatte zu spielen. Wenn er schlecht war, wollte sie ihm nicht zuhören. Und wenn er gut war … Tja, dann wollte sie es lieber gar nicht erst wissen. Es hätte ja doch keinen Zweck, sich für den restlichen Abend selbst zu ohrfeigen, nur weil sie zum nächsten Luke Combs schnippisch gewesen war. Geohrfeigt worden war sie außerdem schon oft genug.

Draußen war es kühl geworden, und die Straße lag leer und still vor ihr. Der Lower Broadway, wo das Honky-Tonk-Herz von Nashville schlug, befand sich bloß eine Handvoll Blocks weiter südöstlich. Doch von dort, wo sie derzeit stand, konnte AnnieLee nichts weiter als das Surren einer Straßenlaterne und das entfernte Heulen einer Polizeisirene hören.

Nachdem sie sich umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass sie allein war, setzte sie sich mit hochgezogenen Schultern in Bewegung. Sie fror leicht in der Frühlingsbrise, ihr Shirt war noch immer schweißfeucht. Sie marschierte zügig, aber aufmerksam vorwärts, hielt gelegentlich an und sah sich um – argwöhnisch wie ein Kaninchen auf dem offenen Feld.

Doch hinter ihr war niemand. Sie huschte durch die Straßen und unter Holzapfelbäumen hindurch, deren Blüten in der Nacht zu leuchten schienen. Sie umrundete diese und jene Straßenecke und hielt auf den Fluss zu.

Am Ufer des Cumberland Rivers, der sich um Nashville herum und durch die Stadt schlängelte, lag ein Parkstreifen, den AnnieLee zwei Tage zuvor zu ihrem vorübergehenden Zuhause erkoren hatte. Sie hatte schon an besseren Orten geschlafen, so viel war sicher – aber auch an schlimmeren.

Sie überquerte die Gay Street, kletterte über ein Mäuerchen, und ein paar Schritte weiter stand sie unter einem Baum, der gerade frisches Laub austrieb. Als sie Houston verlassen hatte, war es dort sechsundzwanzig Grad warm gewesen, doch in Tennessee war der Frühling spät dran. Sie hörte den Fluss ans Ufer schwappen und die Fahrzeuge auf der Brücke.

Sie duckte sich zwischen zwei gewaltige Hortensien und zog ihren Rucksack aus dem Versteck. Dann zerrte sie die Plane heraus und strich sie leise, fast tonlos vor sich hin summend, neben einer Ulme glatt. Anschließend rollte sie den leichten Schlafsack aus. Sie hatte ihn im Austausch für ihre Maybelle zusammen mit einem billigen Taschenmesser, vierzig Dollar in bar und einem anzüglichen Angebot in Jeb’s Pawn bekommen.

Ein gefalteter Pullover diente ihr als Kissen. Von einem Coca-Cola-Reklameschild auf der gegenüberliegenden Seite der Gay Street flackerte Neonlicht durchs Geäst.

Draußen zu schlafen erinnerte AnnieLee an die Sommernächte ihrer Kindheit, als sie auf der Ladefläche des Pick-ups ihrer Mom in ihrer Einfahrt übernachtet hatte. Damals hatte Mary Grace noch gelebt und war glücklich gewesen, und manchmal hatte sie sich unter dem Sternenhimmel zu ihrer Tochter gesellt und ihr alte Folksongs wie »500 Miles« oder »Star of the County Down« vorgesungen, bis AnnieLee eingeschlafen war.

Es hatte sich immer wie ein herrliches Abenteuer angefühlt, wenn sie sich ins Traumland hatte gleiten lassen – mit ihrer Mutter neben sich und dem Sternenhimmel hoch oben über ihnen beiden. Doch hier und heute war unter freiem Himmel zu schlafen bloß kalte, einsame Notwendigkeit.

Eine Böe trieb ihr totes Laub aus dem Vorjahr und die ausgerissene Seite eines Notizbuchs ins Gesicht. Noch während sie alles beiseitewischte, blieb ihr Blick an ein paar mit schwarzer Tinte geschriebenen Wörtern auf dem Papier hängen: …atte nie zuvor derartige Gefühle, und es … Der Rest war abgerissen worden.

Sie fragte sich, ob diese Zeile je die Person erreicht hatte, an die jemand sie gerichtet hatte, oder ob sie einfach zusammengeknüllt und im Gebüsch entsorgt worden war.

Lines written but never read

Like a song only played inside your head, sang sie leise vor sich hin.

Sie verstummte und knautschte ihr improvisiertes Kissen zurecht. Wenn sie einen Nickel für jeden Songfetzen bekommen hätte, den sie je geschrieben hatte, würde sie jetzt in Seidenlaken in einem schicken Hotel schlafen statt in einem Polyesterschlafsack aus dem Pfandhaus unter einer verdammten Ulme.

Sie schloss die Augen und dachte an den zur Neige gehenden Abend zurück, an dem sie erstmals im Leben eine Bühne betreten und sich panisch die Seele aus dem Leib gesungen hatte. Vielleicht steckte auch in dieser Erfahrung irgendein Song? Ganz sicher aber war der Weg, den sie bis hierher gegangen war – ihre Flucht – , ein paar Zeilen wert. Und noch während sie in den Schlaf sank, dachte sie an Ethan Blake und die Freundlichkeit in seinen dunklen Augen.

Irgendwann fing AnnieLee an, zu träumen und im Traum zu sprechen. Erst ergaben die Wörter keinen Sinn, doch dann fiel ein Name. »Rose«, murmelte sie und kuschelte sich tiefer in ihren Schlafsack. »Rose!« Ihre Arme schnellten nach oben, als müsste sie einen Schlag abwehren. »Rose, Vorsicht!«

KAPITEL 9

Ethan Blake war am Dienstag so früh bei Ruthanna, dass er geschlagene zwanzig Minuten in seinem Wagen warten musste, bevor es an der Zeit war, die Küche zu betreten. »Morgen«, sagte er zu Ruthannas Katze, Biscuit, die um seine Beine strich. Er beugte sich hinab, um ihren seidigen grauen Kopf zu streicheln.

»Stimmt«, sagte Ruthanna. Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz im ganzen Schloss: inmitten von großen Kissen im Erkerfenster. Von draußen fiel das Sonnenlicht auf ihr goldblondes Haar. »Willst du einen Kaffee?«

»Danke, alles gut.« Er hatte unterwegs bei Bongo Java haltgemacht. Außerdem machte Maya, die an der Küchenanrichte stand, so starken Kaffee, dass man förmlich spürte, wie sich der Zahnschmelz löste. Er stellte den Gitarrenkoffer auf den Florentiner Mosaikboden und nahm sich einen Apfel aus der riesigen Obstschale auf der Kücheninsel. »Ich hab gestern Abend eine großartige neue Sängerin gehört.«

Ruthanna warf Maya einen vielsagenden Blick zu. Die kicherte hinter vorgehaltener Hand in sich hinein, und sofort machte sich Ethan auf einen spöttischen Kommentar gefasst.

»Erzähl doch mal, Blake«, sagte Ruthanna, »was war denn an ihr so großartig – das Gesicht oder die Titten?«

»Hör schon auf«, sagte Ethan. »Natürlich die Stimme.«

»Aha«, sagte Maya und goss sich einen Becher von ihrem Killergebräu ein.

»Oh, sie hat gesungen wie ein Engel, nicht wahr?«, bohrte Ruthanna nach.

»Wenn man es klischeehaft ausdrücken will«, erwiderte Ethan, »dann ja.« Die schiere Kraft in AnnieLees Texten und die Verletzlichkeit in ihrer Stimme hatten ihn noch immer nicht losgelassen. »Sie hat gesungen wie ein Engel, der aus dem Himmel verstoßen wurde und sich dorthin zurücksehnt, wo er hingehört.«

Ruthanna starrte ihn an. »Für neun Uhr morgens ist das aber ganz schön hochtönend. Und um ganz ehrlich zu sein: Es klingt auch ziemlich deprimierend.«

Ethan verdrehte die Augen, und Ruthanna musste lachen.

»Aber scharf war sie auch, oder?«

»Darum geht es doch gar nicht …«

»Natürlich geht es darum«, entgegnete sie. »Oder wie hat es der gute alte Tennyson ausgedrückt? ›Frühling lenkt des Jünglings Seele leicht auf Liebesfantasie’n.‹«

»Wer bitte schön ist jetzt hochtönend?«, kommentierte Maya. »Außerdem meine ich mich daran zu erinnern, dass das Gedicht ein irgendwie tragisches Ende hatte …«

»Mal ernsthaft, Ruthanna: Ich glaube wirklich, du wärst an ihr interessiert«, sagte Ethan. »Sie war gut – und sie ist im Cat’s Paw aufgetreten. Wenn ich mich recht erinnere, ist das deine Kneipe, und wenn ich nicht völlig danebenliege, hast du dort gewisse Vorrechte.«

Ruthanna stand von ihrem Fensterplatz auf und schwebte in goldfarbenen Samtpuschen durch die Küche. »Ich weiß wirklich nicht, was du mit Vorrechten meinst. Sie gehört mir doch nicht, nur weil sie in meiner Bar aufgetreten ist, Dummerchen. Und an Möchtegern-Countrysängerinnen bin ich nun wirklich nicht interessiert«, führte sie aus. »Ist mir auch egal, ob sie wie Engel singen oder ihre Gitarren wie die von Doc Watson klingen. Und mir ist auch egal, ob dieses Mädchen mit einer Dobro in der Hand die Welt erblickte oder ihr Publikum mit einer Mundharmonika entzückte.« Ruthanna hatte sich warmgeredet, und jeder neuerliche Satz wurde zu einer Liedzeile, die sie sich spontan im Kopf zurechtlegte. »Idon’t care if she’s pretty as a daisy or if she can belt out the high notes in ›Crazy‹«, trällerte sie weiter.

Und Maya stimmte mit ihrer tiefen, volltönenden Altstimme mit ein: »Ruthanna’s retired and she deserves to be lazy …«

Ethan konnte nicht länger an sich halten und musste lauthals lachen. »Seid ihr zwei endlich fertig?«

Grinsend drehten sie sich zu ihm um. »Womöglich«, sagte Ruthanna. »Mir fällt nun wirklich nichts mehr ein, was sich auf lazy reimen würde.«

»Jay-Z?«, schlug Maya vor.

»Hör mal«, sagte Ethan, »ich hab das gerade nicht erzählt, weil ich irgendwie daraus Kapital schlagen will. Ich sage nur, dass ich glaube, du würdest die Frau wirklich mögen.« Er tätschelte Ruthannas Schulter. »Sie ist bildschön, sie ist talentiert – und giftig wie Tabaksaft.«