Saphirherz - Narcia Kensing - E-Book

Saphirherz E-Book

Narcia Kensing

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Beschreibung

In Lillys Leben läuft einiges schief. Sie ist Single, ohne Job, ohne eigene Wohnung und seit dem frühen Tod ihrer Mutter auch noch ohne eine Schulter zum Ausweinen. Als sei das noch nicht schlimm genug, wird sie von verstörenden Visionen heimgesucht. Wer ist die Frau, die in ihrem Kopf herumgeistert? Die Spur führt sie mitten nach New York City, ausgerechnet in die Stadt, in der ihre Mutter starb und um die Lilly seitdem einen großen Bogen macht. Sie entscheidet sich dennoch, in der Metropole noch einmal neu anzufangen, schließlich braucht sie dringend einen Job und Abstand vom Provinzleben. Als Lilly im Big Apple tatsächlich Arbeit findet und den attraktiven Mason kennenlernt, scheint es endlich wieder bergauf zu gehen. Doch der junge Mann wird von Geheimnissen umnebelt, die in Zusammenhang mit Lillys seltsamen Visionen zu stehen scheinen. War es Schicksal, dass sich ihre Wege kreuzten?

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Narcia Kensing

Saphirherz

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Hinweis

Weitere Werke der Autorin:

Impressum neobooks

Kapitel eins

Die Münzen wogen schwer in Lillys Hand. Zehn Quarters, glänzend und kühl. Vermutlich war der alte Kerl froh, sein Kleingeld endlich loszuwerden.

Falls ich je in der Lotterie gewinnen sollte, fahren sie hoffentlich nicht mit einem LKW vor und laden Hartgeld bei mir ab, dachte Lilly und lächelte schief. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Jackpot knackte, lag jedoch ungefähr so hoch wie jene, dass ihre Cousine jemals in eine Size Zero Röhrenjeans passen würde. Was nicht ausschließlich an den lachhaften Gewinnchancen lag, sondern vielmehr an Lillys magerem Budget - und an Alexis' Kleidergröße natürlich. Lilly konnte es sich nicht erlauben, ihr hart verdientes Geld der Lottogesellschaft in den Rachen zu werfen. Aus dem Alter für unrealistische Träume war sie ohnehin längst raus.

Mr. Bennett griff mit seinen dünnen Fingern in die Tasche seiner Bundfaltenhose und förderte drei zerknitterte Eindollarscheine zutage, von denen ihm einer auf den Boden fiel. Mit einem Ächzen bückte er sich danach und reichte Lilly das Geld mit zittriger Hand. Sie nahm es brav lächelnd entgegen und versenkte die Scheine zusammen mit den Münzen im vorderen Fach ihrer Umhängetasche.

»Danke für deine Hilfe, Mädchen. Ich hätte das nicht alleine geschafft.« Mr. Bennett nickte ihr mit einem breiten Lächeln zu, wobei ihr eine Duftwolke seines penetranten Aftershaves entgegenwehte. Weshalb benutzten alte Männer immer so fürchterlich riechende Produkte?

»Kein Problem, Mr. Bennett. Wenn ich Ihnen das nächste Mal helfen kann, sagen Sie einfach Bescheid, meine Handynummer haben Sie ja.« Lilly setzte ihr freundlichstes Gesicht auf und schüttelte seine Hand, ehe sie sich abwandte und die Wohnungstür von außen hinter sich schloss. Sie seufzte, als sie wieder allein war. Den halben Abend hatte sie damit zugebracht, Mr. Bennetts Gardinen zu waschen und die oberen Regalfächer abzustauben. Sie fühlte sich schmutzig und sehnte sich nach einer Dusche. Und wofür die ganze Plackerei? Für wenig mehr als fünf Dollar. Nicht, dass ihr Geld viel bedeutet hätte. Der alte Mann besaß selbst kaum etwas. Aber wer behauptete, Geld mache nicht glücklich, hatte nie in einer echten Notlage gesteckt. Es machte vielleicht nicht glücklich, beruhigte jedoch ungemein.

Lilly mochte Mr. Bennett, er hatte schon in der Nachbarschaft gelebt, als Lillys Leben noch in geordneten Bahnen verlief. Ein Relikt aus den alten Zeiten, das sie auf verquere Weise an die Vergangenheit erinnerte - und damit an ihre Mutter.

Sie verdrängte die nagende Trauer und die düsteren Gedanken, die ihre Kehle aufzusteigen drohten. Wenn sie sich ihnen jetzt hingab, käme sie morgen den ganzen Tag nicht aus dem Bett, was Alexis' Geduld auf eine harte Probe stellen würde. Und das konnte sich Lilly erst recht nicht erlauben. Dann wäre sie nicht nur finanziell knapp bei Kasse, sondern auch noch ohne Dach über dem Kopf.

Lilly schaltete das Licht im Flur ein, stieg die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Inzwischen war es draußen völlig dunkel. Ein kühler Wind pfiff durch die Straße, die wie ausgestorben vor ihr lag. Ein Blick auf ihre Uhr verriet, dass es gerade erst halb neun war. Um diese Zeit wurden im beschaulichen Middletown bereits die Bürgersteige hochgeklappt. Nicht im wörtlichen Sinne natürlich, aber dennoch begegnete man nach Einbruch der Dunkelheit in diesem Kaff kaum noch jemandem. Lilly hätte es nicht gewundert, wenn tatsächlich jemand auf die Idee gekommen wäre, hochklappbare Bürgersteige zu installieren.

Es nieselte leicht, auf dem Asphalt hatten sich bereits Pfützen gebildet, die im Lichtkegel der Straßenlaternen glitzerten. Ein durch und durch grauer und trostloser Tag. Lilly schlug den Kragen ihres Mantels auf und machte sich auf den Weg durch die verlassenen Straßen. Ihr Rücken schmerzte. Sie musste sich dringend einen neuen Job suchen, der ihr mehr als fünf Dollar am Tag einbrachte. Sie würde sich niemals eine eigene Wohnung leisten können, wenn sie sich darauf beschränkte, alten Männern die Gardinen zu waschen. Alexis knallte ihr nun schon seit Wochen diverse Zeitungen vor die Nase, doch die meisten Stellenanzeigen waren unbrauchbar. Entweder richteten sie sich an ausgebildete Fachkräfte oder an Menschen, die gewillt waren, in ein Ballungsgebiet umzuziehen. Lilly hatte nicht einmal einen Collegeabschluss, und wenn sie darüber nachdachte, ihr geliebtes Middletown zu verlassen, bildete sich ein zentnerschwerer Stein in ihrem Magen. Hier waren ihre Wurzeln, hier hatte sie mit ihrer Mutter gelebt. Die Stadt war langweilig und bot jungen Menschen keine Perspektive, und objektiv betrachtet hätte Lilly nichts davon abhalten sollen, ihre Siebensachen zu packen und zu verschwinden, doch sie trauerte um jede Straßenecke, jedes Haus, das sie an ihre Mutter erinnerte. Sie wusste, dass sie sich nur selbst quälte. Sie würde nie über ihre Vergangenheit hinwegkommen, wenn sie hier blieb.

Als Lilly die Kreuzung erreichte, an der sie sich hätte nach rechts wenden müssen, um zu Alexis' Apartment zu gelangen, ging sie kurzerhand geradeaus. Sie war jetzt ohnehin schon nass und dreckig, und um diese Uhrzeit war der Friedhof immer herrlich still und verlassen. Zudem hatte sie keine Lust, sich heute Abend noch das Gezeter ihrer Cousine, die darüber klagte, dass sie sich mit Lilly auf fünfundvierzig Quadratmeter zwängen musste, anzuhören. Sie hatte ihr freiwillig angeboten, dass Lilly bei ihr wohnen konnte, bis diese einen neuen Job gefunden hatte. Vermutlich eher aus Pflichtgefühl als aus ehrlichem Interesse. Alexis und deren Mutter Joy waren die einzigen beiden Verwandten, die Lilly noch hatte. Genau genommen wohnte noch eine weitere Tante in New York City, aber die hatte Lilly seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie hasste es, bei Alexis auf der Couch schlafen zu müssen. Seit das kleine Hotel unten an der Straße geschlossen und Lilly somit ihren Job verloren hatte, war alles aus dem Ruder geraten. Sie hätte sich gewiss einen neuen Job in einem anderen Hotel suchen können, doch in der Umgebung gab es keine, die ungelerntes Personal beschäftigten. Und der Gedanke, in eine Großstadt zu ziehen, jagte Lilly einen Schauder nach dem anderen über den Rücken.

Sie erreichte das Haupttor zum Friedhof. Noch eine halbe Stunde, ehe der Wärter es abschließen würde. Die perfekte Zeit, um sich ungestört dem Schmerz hingeben zu können. Fast ein Jahr war es nun her, seit Lillys Mutter für immer von ihr gegangen war, plötzlich und unerwartet. Lilly hatte im Middletown Hotel gearbeitet und war gerade damit beschäftigt gewesen, in der Küche Gläser zu spülen, als sie die Nachricht erreichte. Sie erinnerte sich daran, als sei es erst gestern gewesen. Von diesem Zeitpunkt an war das Leben wie in Zeitlupe an ihr vorüber gezogen. Sie hatte sich wochenlang Vorwürfe gemacht, weshalb sie ihre Mutter nicht nach New York City begleitet hatte, weshalb sie sie ausgerechnet an diesem Tag allein hatte ziehen lassen. Lilly hatte nicht einmal genau gewusst, was ihre Mutter in die Stadt gelockt hatte, aber das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, als sie morgens das Haus verließ, hatte darauf schließen lassen, dass sie sich mit ihrer neuesten Männerbekanntschaft hatte treffen wollen. Lillys Vater hatte die Familie bereits verlassen, als sie noch ein Kleinkind gewesen war, seitdem hatte ihre Mutter nie wieder einen Mann gefunden, der länger als ein paar Monate an ihrer Seite geblieben wäre. Sie hatte sich mit vielen Typen verabredet, aber nie war Mr. Right dabei gewesen. Lilly hatte sich nichts dabei gedacht, als ihre Mom an diesem schicksalhaften Junimorgen in ihrem schönsten Sommerkleid das Haus verließ, um mit dem Zug nach New York City zu fahren. Lilly hatte es ihr von Herzen gegönnt, einen neuen Mann zu finden. Vielleicht wäre es diesmal der richtige gewesen. Doch ihre Mom kehrte nie wieder zurück. Man hatte ihre Leiche wie Müll in einer heruntergekommenen Gegend am Straßenrand gefunden. Von dem Kerl, mit dem sie sich hatte treffen wollen, fehlte jede Spur. Lilly besaß weder eine Adresse noch eine Telefonnummer von ihm. Ihre Mutter hatte zuvor immer von einem Gabriel gesprochen, aber ein Vorname allein ist keine besonders heiße Spur. Lilly hasste sich dafür, so unvorsichtig gewesen zu sein und nie nach seinem Nachnamen oder seiner Adresse gefragt zu haben. Und wer weiß, ob er ihrer Mutter überhaupt seinen richtigen Namen genannt hatte. Man hörte doch immer wieder von verhängnisvollen Internetbekanntschaften, bei denen mit falschen Karten gespielt wird. Bis heute zerfraß Lilly der Hass auf diesen Kerl, obwohl sie nicht einmal wusste, ob er überhaupt etwas mit Rebeccas Tod zu tun hatte. In dieser verdammten Stadt war schließlich alles möglich. Bis auf den Tag, an dem Lilly nach New York City reiste, um die Leiche ihrer Mutter zu identifizieren, hatte sie die Metropole nie wieder betreten.

Lilly ging die verlassenen schmalen Wege zwischen den Gräbern entlang. Sie kannte den Weg in und auswendig, hätte ihn mit verbundenen Augen gehen können. Sie kam oft hierher, obwohl Joy und Alexis ihr geraten hatten, es für eine Weile lang auf sich beruhen zu lassen. Lilly hasste sie für diesen Vorschlag. Sie war noch längst nicht so weit, ihre Mutter und zugleich beste Freundin der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, pah!

Zwischen zwei hochgewachsenen Pappeln, die sich im fahlen Licht einer schwachen Laterne im Wind wiegten, tauchte das gesuchte Grab vor ihr auf. Es war eines der ganz einfachen Gräber, der Stein war grau und schmucklos, es gab keine verzierten Engelsstatuen oder sonstigen Schnickschnack. Lilly hätte ihrer Mutter gerne die schönste Grabstätte der Stadt errichtet, doch als der Bestatter ihr den Preis genannt hatte, war an ein prächtiges Pharaonengrab nicht mehr zu denken. Ohne das Geld, das ihre Tante Joy locker gemacht hatte, hätte die arme Frau nicht einmal einen Stein bekommen, und sei er noch so schmucklos. 'Rebecca Bates, *08.05.1962 † 09.06.2011' war in schnörkellosen Buchstaben in die glatte kleine Platte eingraviert.

Lilly blieb stehen und seufzte. Die frischen Schnittblumen, die sie gestern abgelegt hatte, waren vom Regen bereits aufgeweicht und nicht mehr ansehnlich. Ein trauriger Anblick.

Sie fröstelte. Es war Mitte April, die Temperaturen abends noch empfindlich kühl. Der Regen tat sein Übriges. Lilly strich sich die störrischen rotblonden Strähnen, die ihr am Kopf klebten, aus der Stirn. Allmählich kroch die Nässe unter ihre Kleidung, sie fühlte sich klamm auf der Haut an. Sie freute sich bereits auf eine heiße Dusche, wenn auch nicht auf ihre nervige Cousine.

»Hey, Mom.« Ihre Stimme war leise und klang belegt, sie räusperte sich. Sie sprach nicht jedes Mal zu ihrer Mutter, und erst recht nicht, wenn jemand in der Nähe war. Doch es war spät und das Wetter schlecht, kein normaler Mensch käme unter diesen Umständen auf die Idee, auf den Friedhof zu gehen.

»War echt ein mieser Tag heute. Jeder Tag ist mies, seit du weg bist.« Lilly erwartete natürlich keine Erwiderung, dennoch tat es gut, sich seinen Kummer einfach von der Seele zu reden. »Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Kein Geld, kein Job und kaum noch Erspartes. Was soll ich bloß machen?«

Manchmal war ihr, als hörte sie die Antwort ihrer Mutter, was zwangsläufig daher rührte, dass sich die beiden einst sehr nahe gestanden hatten und Lilly ihre Reaktionen sehr gut einschätzen konnte. Rebecca hätte ihr vermutlich geraten, endlich aktiv zu werden, Middletown zu verlassen und zu tun, was nötig war, um sich eine Existenz aufzubauen.

»Ich weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin«, antwortete Lilly auf den imaginären Kommentar. Sie beugte sich hinab und zupfte die durchweichten Blüten vom Strauß, bis nicht mehr viel davon übrig blieb als ein Bündel Grünzeug.

»Morgen bringe ich einen neuen Strauß, wenn das Wetter wieder besser ist.«

Lilly sah auf ihre Uhr. Viertel vor neun. Zeit zu gehen. Sie lächelte noch einmal gequält, ehe sie sich vom Grab abwandte und sich auf den Rückweg zum Tor machte. Es war kein langer Besuch gewesen, hatte ihr aber dennoch gut getan.

Ihre Schritte knirschten auf dem Kies. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, als würde sie jemand beobachten. Es prickelte in ihrem Nacken. Lillys Herz klopfte schneller, sie konnte nichts dagegen tun. Sie fürchtete sich nicht davor, im Dunkeln auf einen Friedhof zu gehen, dennoch sträubten sich die Haare auf ihren Unterarmen. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück. Tatsächlich huschte etwas durch die Schatten. Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder, für den sie sich sogleich tadelte. Sicher nur ein Vogel oder eine Ratte.

Sie beschleunigte ihre Schritte und bog um die letzte Ecke, ehe der Ausgang vor ihr auftauchen würde. Sie zuckte zusammen und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als direkt vor ihr wie aus dem Nichts eine Gestalt auftauchte, die vor einem der Gräber kniete. Die Person machte keine Anstalten, zu ihr aufzublicken. Sie saß ganz ruhig, eine Decke über Kopf und Schultern gezogen und das Gesicht im Schatten verborgen. Anhand ihrer zierlichen Gestalt schlussfolgerte Lilly, dass es eine Frau war. Ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder.

Meine Güte, weshalb bin ich denn so ein Angsthase? Die Dame ist aus demselben Grund hier wie ich.

Lilly wollte gerade kommentarlos an ihr vorüber gehen, als die Frau sich rührte und ihr den Kopf zuwandte. Lilly blieb stehen, als würde eine unbekannte Macht sie davon abhalten, die Füße zu heben und weiter zu gehen. Sie sah auf die am Boden kniende Gestalt hinab, konnte ihr Gesicht jedoch noch immer nicht richtig erkennen. Es war sehr dunkel. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass sie Lilly ansah.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören«, brachte Lilly leise hervor.

»Sie stören mich nicht.« Die Stimme der Frau klang jung und glasklar. »Ich bin es nicht gewohnt, um diese Uhrzeit noch andere Besucher hier zu sehen.«

Lilly trat einen Schritt näher an sie heran, doch außer der vagen Linie ihres Kinns und ihrer Wangenknochen konnte sie nichts erkennen. »Ich habe ebenfalls gedacht, allein zu sein.«

»Ihre Stimme klingt so traurig.«

Lilly stutzte ob ihrer Bemerkung. »Ist doch angemessen auf einem Friedhof, oder?« Sie lächelte gequält, aber im selben Moment erschien es ihr albern. Dies war kein Ort, an dem man Witze machte.

»Ich meine den Unterton in ihrer Stimme, der immer da ist.«

»Mein Leben gibt mir nicht viel Anlass, glücklich zu sein.«

»Es gibt doch immer etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt. Blicken Sie in die Zukunft.«

Lilly wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ratschläge von einer Fremden? Sie fragte sich, ob sie die junge Frau kannte. Middletown zählte gerade einmal dreißigtausend Einwohner und zumindest diejenigen, die regelmäßig auf den Friedhof kamen, glaubte sie zu kennen. Ihr Blick irrte zum Grabstein, vor dem die Frau kniete. Schwach glänzte die Schrift im Licht eines Grablichtes.

In Erinnerung an Laurie Malone, *1970, †1988

Mehr stand dort nicht. Lilly kannte das Grab, hatte ihm aber nie Beachtung geschenkt. Es war ungepflegt und verwildert, nie hatte sie jemanden Blumen ablegen gesehen. Sie bezweifelte zudem, dass die junge Dame alt genug war, um die Verstorbene gekannt zu haben.

Hinter Lilly raschelte es in einem Gebüsch. Sie fuhr herum und sah gerade noch die Silhouette eines Vogels in der Dunkelheit verschwinden. »O Mann, der hat mich erschreckt!«

Sie fasste sich an die Brust und wandte sich wieder nach vorn, doch die Fremde war verschwunden. Sofort durchzuckte sie ein weiterer, noch größerer Schreck als der erste. Hastig warf sie den Kopf von rechts nach links, aber von der jungen Frau fehlte jede Spur. Sie kann sich doch nicht innerhalb einer Sekunde in Luft aufgelöst haben! Lilly spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Das war eindeutig zu viel für ihre Nerven. War sie bereits so übermüdet, dass sie sich Menschen einbildete? Vielleicht hätte sie Joys Rat annehmen und sich psychologische Hilfe suchen sollen. Das war doch nicht normal! Sie musste dringend nach Hause und unter die Dusche.

Lilly seufzte und rieb sich über das regennasse Gesicht. Dann fiel ihr Blick auf eine Blume, die vor dem Grabstein von Laurie Malone ihre kleinen blauen Blüten in die Luft reckte. Eine Blume, die nach Einbruch der Dunkelheit noch blühte? Und woher kam sie so plötzlich, sie wuchs doch gerade eben noch nicht dort, oder doch?!

Ich werde verrückt, ganz eindeutig. Eine andere Erklärung kann es nicht geben. Ich werde wahnsinnig.

Lillys Blut pulste in rasantem Tempo durch ihre Adern. Sie wollte nichts als nach Hause, konnte den Blick jedoch nicht von den Blüten reißen. Ein Vergissmeinnicht. Wie in Trance beugte Lilly sich nach vorne und berührte die Pflanze. Weshalb sie es tat, wusste sie nicht. Vielleicht, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich die Blume nur einbildete.

Kaum streiften ihre Finger ein Blatt, schoss ihr ein heftiger Kopfschmerz in den Schädel. Ihr wurde schwindlig, alles drehte sich. Lilly spürte gerade noch, dass sie nach hinten kippte und mit dem Po auf dem Schotterweg aufschlug, als sich Bilder vor ihr inneres Auge schoben. Die Realität verblasste und wurde ungreifbar, als wäre Lilly nicht in der Lage, aus dem Schlaf zu erwachen, obwohl sie genau wusste, dass sie träumte.

Sie sah eine Frau, die mit wehendem Sommerkleid einen Kiesweg entlang rannte. Das Kleid war leuchtend gelb, ihre blonden schulterlangen Haare wirbelten ihr offen um den Kopf. Sie lachte. »Fang mich!« Die Worte hallten in Lillys Kopf mehrfach nach wie ein Echo.

Mehr Details der Umgebung traten in den Vordergrund. Ein Park, grüne Wiesen und schwarze Metallbänke, die am Rand der gepflegten Wege standen. Über den grünen Baumwipfeln ragten die Umrisse hoher Häuser empor.

Das Mädchen, das Lilly auf nicht älter als sechzehn schätze, rannte weiter. Sie stolperte, lachte und rappelte sich wieder auf. Sie sprang über ein niedriges gusseisernes Geländer und hechtete einen Felsen empor, der sich in die Parklandschaft schmiegte. Erst jetzt sah Lilly, dass sie nicht allein war. Hinter dem Mädchen rannte ein junger Mann, doch Lilly sah ihn nur von hinten. Er trug sportliche Kleidung, ein Cap, Turnschuhe und ein Sporttrikot, vielleicht von einer Basketballmannschaft. Er eilte der Frau hinterher den Felsen hinauf. »Du kannst nicht weglaufen!« Er holte sie ein, umarmte sie von hinten und wirbelte sie herum.

Dann verblasste das Bild in Lillys Kopf. Es löste sich auf wie Sand, der einem durch die Finger rann. Es war wieder dunkel, nass und kalt. Lilly saß auf ihrem Hinterteil, den Körper mit den Armen nach hinten abgestützt. Sie schüttelte den Kopf, um die verstörenden Bilder aus selbigem zu vertreiben.

»Miss?«

Eine Männerstimme riss sie aus ihrer Paralyse. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah in das Gesicht eines Mannes, der sich auf die Knie gestützt zu ihr hinab beugte.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ich muss das Tor jetzt abschließen und sie bitten, den Friedhof zu verlassen.« Er reichte Lilly seine große raue Hand, nach der sie zögerlich griff und sich auf die Beine ziehen ließ.

»Mir ist plötzlich schwindlig geworden.«

»Sie haben Glück, dass ich noch einmal eine Runde gedreht habe, ehe ich abschließen wollte. Kommen Sie allein nach Hause? Soll ich ein Taxi rufen?«

»Nein, es ist alles okay. Ich muss nur ein paar Minuten zu Fuß gehen.«

Der Friedhofswärter nickte knapp. »Wie Sie wünschen. Wenn Ihnen das öfter passiert, sollten Sie einen Arzt konsultieren.«

Lilly hörte ihm gar nicht mehr zu. Sie ging neben ihm her zum Ausgang, doch ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit um ihr merkwürdiges Erlebnis. Als sich das Tor mit einem metallischen Geräusch hinter ihr schloss und sie allein auf der Straße stand, sehnte sie sich mehr denn je nach ihrer Schlafcouch.

***

Lilly konnte sich an den Weg vom Friedhof zum Wohnhaus ihrer Cousine nicht mehr erinnern. Wie in Trance war sie die verlassenen Straßen der Kleinstadt entlang getorkelt. Die Leute, die sie hinter den Gardinen ihrer spießigen Einfamilienhäuser gesehen hatten, hatten vermutlich angenommen, sie sei betrunken. Lilly konnte sich nur allzu gut ihre reißerischen Kommentare vorstellen. 'Das arme Kind, es ist dem Alkohol verfallen', oder 'Sie verkraftet den Tod ihrer Mutter nicht'. In Middletown zerriss man sich gerne den Mund über derlei Dinge, es passierte ja sonst nichts. Wie hätten sie auch ahnen können, dass Lilly einen Geist gesehen hatte! Oder es sich zumindest einbildete ... Ihr schwirrte der Kopf, als hätte sie tatsächlich zu tief ins Glas gesehen. Was für ein schrecklicher Tag!

Sie nestelte umständlich den Schlüssel aus ihrer Umhängetasche und schloss die Haustür auf, nicht ohne zuvor zig Mal daneben zu stechen. Alexis wohnte in einem vierstöckigen Mietshaus in der obersten Etage. Das Haus war nicht ganz so ansehnlich und gepflegt wie die anderen in der Straße, zumeist große, weiß gestrichene Häuser mit einer Veranda, einem akkurat geschnittenem Rasen im Vorgarten und ebenso akkurat gescheitelten, brav arbeitenden Familienoberhäuptern. Lilly und ihre Mutter hatten einst selbst in einem solchen Häuschen gewohnt, aber nachdem Rebecca gestorben war, hatte Lilly es verkaufen müssen. Sie konnte die Kredite nicht mehr bedienen, und das Haus war noch lange nicht abbezahlt gewesen. Das Wenige, das vom Verkauf an Geld übrig geblieben war, hütete Lilly wie einen Schatz. Nicht viel mehr als ein Notgroschen, aber immerhin. Lilly flanierte oft die Woodlawn Avenue entlang, um nach dem Haus zu sehen, in dem sie aufgewachsen war. Heute lebte dort ein junges Ehepaar. Es schmerzte Lilly, dass sie die Fassade gelb gestrichen und dem Haus ein neues Aussehen gegeben hatten. Es machte ihre Mutter nicht wieder lebendig, aber Lilly glaubte, die Zeit mit aller Kraft anhalten zu müssen, um die Erinnerung an sie zu bewahren. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn nichts blieb jemals unverändert.

Lilly betrat den Hausflur und hörte schon von der Treppe aus das Kichern und Lachen ihrer Cousine hinter der Wohnungstür. Vermutlich hatte sie wieder Besuch, eine von ihren gefühlt dreihundert freakigen Freundinnen. Lilly seufzte. Sie lehnte den Kopf von außen gegen die Tür, den Schlüssel griffbereit in der Hand. Sie musste zunächst Kraft sammeln, um aufzuschließen und dem Irrsinn zu begegnen. Aus dem Inneren der Wohnung drang gedämpft Musik auf den Flur, irgendetwas von Justin Timberlake.

Sie atmete noch einmal tief durch und öffnete dann die Tür. Sofort schlug ihr der Gestank von Räucherstäbchen entgegen, die Luft war verbraucht und stickig. Im Flur war niemand, aber Lilly hörte mindestens zwei Personen im Badezimmer gibbeln.

O nein, ich will duschen. Hoffentlich besetzen sie das Bad nicht.

Lilly hängte ihren nassen Mantel an die Garderobe, ging ins Wohnzimmer, das bei einer Gesamtfläche von fünfundvierzig Quadratmetern nicht gerade üppig ausfiel und sah sich um. Leere Chipstüten lagen auf dem Boden, eine halb volle Flasche Prosecco und eine fremde Handtasche standen neben dem Sofa. Lilly legte ihre eigene Umhängetasche, deren Gewicht ihr in die Schulter schnitt, auf das Sofa.

In der kleinen Kommode im Schlafzimmer, die ihre gesamten Habseligkeiten beinhaltete, suchte sie sich frische Unterwäsche und ein Nachthemd heraus und wagte es, an die Badezimmertür zu klopfen. Sofort verstummte das Gekicher im Inneren. Die Tür wurde geöffnet. Alexis' rundes, von unvorteilhaft kinnlangen Haaren eingerahmtes Gesicht erschien im Türspalt. Sie musterte Lilly von oben bis unten.

»Wo bist du gewesen?«

Lilly versuchte, an Alexis' fülligem Körper vorbei ins Badezimmer zu spähen, doch sie konnte nichts erkennen.

»Ich habe Mr. Benett geholfen.«

»Um diese Uhrzeit?! Du bist sicherlich wieder auf dem Friedhof gewesen, stimmt's? Sieh dich mal an, du bist total dreckig!«

Sie hatte recht. Mit beidem. Lillys Handflächen waren schmutzig, auch ihre Hose. »Es geht dich nichts an, wo ich gewesen bin.«

»Wenn du deine kostbare Zeit darauf verwenden würdest, einer richtigen Arbeit nachzugehen, ginge mich das sehr wohl etwas an.«

Lilly ging nicht auf die Stichelei ein. Alexis hielt ihr jeden Tag vor, dass sie ihr auf der Tasche lag. Herrgott, sie suchte doch einen Job, aber was konnte sie dafür, wenn die alle nicht in der Umgebung waren!

»Lass mich bitte vorbei, ich möchte duschen. Wie du schon bemerkt hast, habe ich es nötig.«

»Geht jetzt nicht. Ich färbe Christine die Haare.«

Lilly entfuhr ein entnervtes Aufstöhnen. »Wie lange dauert das noch?«

»So lange, wie es eben dauert! Ein paar Minuten kannst du jetzt auch noch warten.« Und damit schloss sich die Badezimmertür wieder und das Kichern begann von Neuem.

Lilly legte ihre Wäsche auf die Sofalehne, drehte die Musik leiser und griff nach ihrem Zeichenblock, der in der Ablage unter dem Wohnzimmertisch lag. Sie musste sich jetzt dringend beruhigen und ablenken.

Obwohl sie nass war und fror, konzentrierte sie sich darauf, den Bleistift ruhig über das Papier zu führen. Sie war in Gedanken und zeichnete, ohne darüber nachzudenken. Eine Blüte, noch eine Blüte, ein Blatt. Nach wenigen Minuten hatte sie eine Blume gezeichnet. Es war jene, die sie vor dem Grabstein von Laurie Malone gesehen hatte ... O Mann, dieser Tag würde sie bis ans Ende ihres Lebens verfolgen. Lilly legte den Block auf den Tisch, zwischen eine weitere Proseccoflasche und eine hässliche pinkfarbene Kerze.

Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Sie wollte einfach nur ins Bett, wobei das Wort 'Bett' nicht ganz passend war. Sie musste jeden Abend die Couch im Wohnzimmer ausziehen, wenn sie schlafen wollte. Das gestaltete sich immer dann schwierig, wenn Alexis, so wie heute, Besuch hatte (was an jedem zweiten Tag der Woche vorkam).

Irgendwann öffnete sich die Badezimmertür. Lilly wandte sich um und versuchte, über den kleinen Flur einen Blick auf Alexis' Freundin zu werfen. Lilly hatte sie nie zuvor gesehen. Eine rundliche kleine Frau mit frisch gefärbten knallroten Haaren. Sie kam ins Wohnzimmer, lächelte verhalten und schnappte sich ihre Handtasche, ehe sie zurück in den Flur tippelte. Lilly unterdrückte ein Lachen und wandte sich wieder ab. Sie hörte, wie Alexis und die Fremde sich mit tausend Küsschen und einem 'Mach's gut' sowie einem 'Ich ruf dich an' verabschiedeten und sich die Wohnungstür schloss.

Alexis watschelte zurück ins Wohnzimmer. Ihr Gang erinnerte Lilly immer ein wenig an Donald Duck. Auch der knielange schwarze Rock kaschierte ihren Beinumfang nur unzureichend. Die Bluse spannte über ihrem üppigen Busen. Eigentlich ein schönes Outfit, wenn es eine andere Person getragen hätte. Alexis' Füße steckten in Biolatschen, was den Eindruck einer modisch halbwegs versierten jungen Frau jedoch wieder zunichte machte. Sie nahm Lillys Umhängetasche vom Sofa und setzte sich an deren Stelle neben ihre Cousine.

»Uff, was hast du denn darin? Backsteine?«

»In erster Linie Bücher. Und dann noch eine Menge Geld, ha ha.«

»Goldbarren? Prima, dann kannst du dir ja bald dein eigenes Apartment leisten.«

»Nein, Münzen. Ich habe allmählich genug davon zusammen, um eine Schatztruhe zu füllen. Mr. Bennett leert anscheinend gerade sein Münzglas, welches er seit vierzig Jahren fleißig füttert.« Weil Lilly genau wusste, welche Diskussion jetzt zwangsläufig folgen würde, stand sie auf, nahm hastig ihre Nachtwäsche von der Sofalehne und schwebte Richtung Badezimmer, sodass sie Alexis' Gequäke nur aus dem Hintergrund wahrnahm.

»Such dir endlich einen richtigen Job!«

Ja ja, und du solltest dir endlich einen anständigen Diätratgeber suchen, dachte Lilly trotzig, ehe sie im Bad verschwand und die Tür hinter sich zu zog. Sie hätte vermutlich eine weitaus bessere Meinung über ihre Cousine, wenn diese ein wenig verständnisvoller wäre, bis dahin würde sie eben weiterhin das Ziel ihrer gedanklichen Gemeinheiten sein.

Frisch geduscht und mit nassen Haaren saß Lilly wenig später auf dem Barhocker in der Küche, trank Kräutertee und knabberte an ihrem Erdnussbuttertoast. Sie hörte, wie Alexis im Wohnzimmer die Spuren des Abends beseitigte. Eines musste man ihrer Cousine lassen - sie war sehr ordentlich, wenn es um ihre eigenen vier Wände ging. Lilly hätte die Proseccoflasche und die verstreuten Chips vermutlich bis zum Morgen warten lassen. Immerhin ging es auf halb elf zu.

Lilly gähnte herzhaft. Sie wäre längst im Bett verschwunden, wenn sie nicht auf der Couch hätte schlafen müssen, die sich noch immer Alexis' Säuberungsmaßnahmen unterziehen musste. Sie hörte, wie der Staubsauger angeschmissen wurde. Um diese Uhrzeit?! Lilly legte den Kopf auf den Tresen und seufzte. Dann stand sie auf, beförderte den Rest ihres Toasts in den Müll und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie wie ein nutzloser Dekorationsgegenstand neben der Anrichte stand und Alexis dabei beobachtete, wie diese den Couchtisch abrückte.

»Du könntest mir ruhig mal helfen! Immerhin ist es dein Bett, das ich gerade vorbereite.«

Lilly antwortete nicht, sondern seufzte nur entnervt auf. Sie half Alexis halbherzig dabei, die Couch auszuziehen und ihre Bettwäsche aus dem Bettkasten zu zerren.

»Du bist echt sowas von chaotisch«, setzte Alexis noch einmal nach. »Ich hoffe, dass du mich nie zu dir nach Hause einlädst, wenn du deine eigene Wohnung hast.«

Lilly entging der Vorwurf in ihrer Stimme nicht. »Musst du eigentlich dauernd darauf herumreiten? Glaubst du, mir gefällt es, dass ich das Haus verkaufen musste?«

Alexis baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf, aber Lilly reagierte nicht auf die Provokation. Sie ließ sich auf ihr Nachtlager fallen und gähnte erneut.

»Wovon bist du eigentlich müde? Du tust doch den ganzen Tag nichts!«

Jetzt überschritt Alexis eindeutig eine Grenze. »Ich habe den ganzen Abend für Mr. Bennett geschuftet, ist das nichts? Glaubst du, du hättest einen anstrengenden Job? Du sitzt mit deinem Hintern den ganzen Tag hinter der Kasse! Super, Alexis, da hast du es aber weit gebracht!« Lilly biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr provozieren zu lassen, aber ihre Nerven lagen seit Monaten blank. Sie kämpfte die Tränen der Wut nieder und wandte sich ab, damit Alexis nicht sehen konnte, wie verletzt sie war. In Wahrheit hätte Lilly alles dafür gegeben, den Job ihrer Cousine im Walmart machen zu dürfen. Sie hätte jeden Tag zu Fuß zur Arbeit gehen können, denn das Kaufhaus war nur knapp eine Meile entfernt.

»Du befindest dich nicht in der Position, so mit mir zu reden!« Wenn Alexis' Stimme dunkel uns leise wurde, war Vorsicht geboten. »Immerhin finanziert mein Job unser Leben. Was man von deinem nicht gerade behaupten kann. Setz dich endlich auf den Hosenboden, Lillian Bates! Du vergräbst dich in Selbstmitleid und gibst allem und jedem die Schuld an deiner Situation. Rebecca ist seit fast einem Jahr tot, aber bei dir herrscht noch immer Stillstand. Das Leben geht weiter, und je eher du das kapierst, desto besser für uns beide.«

Lilly vergrub ihr Gesicht in ihre Hände, um Alexis nicht in die Augen sehen zu müssen. Eine heiße Träne quoll zwischen ihren Fingern hervor. Dann hörte sie, wie die Schlafzimmertür donnernd ins Schloss fiel. Wut und Hass kochten in ihr hoch. Ihre Aggressionen richteten sich für den Moment gegen ihre Cousine, aber tief in ihrem Inneren wusste Lilly, dass Alexis recht hatte. Die Erkenntnis schmerzte entsetzlich. Lilly lebte nur von Tag zu Tag, weil sie eine Veränderung nicht ertragen konnte. Sie glaubte, jede Änderung wäre ein Verrat an ihrer Mutter. Das Haus zu verkaufen hatte ihr bereits das Herz gebrochen, wie sollte sie dann je die Stadt verlassen? Hier lag Rebecca begraben, hier waren ihre Wurzeln. Aber hier gab es leider keine Arbeit. Middletown war eine winzige Stadt, ein Symbol ungezügelter Spießigkeit. Es gab einen Walmart, eine Bank, eine Schule und früher einmal ein Hotel, in dem Lilly gejobbt hatte. Die meisten Einwohner arbeiteten außerhalb, aber die besaßen für gewöhnlich auch ein Auto ...

Eine Stimme in ihrem Inneren sagte Lilly, dass sie endlich loslassen musste. Es konnte nicht ewig so weiter gehen. Wollte sie auf Alexis' Couch alt werden? Sicherlich nicht.

Lilly erhob sich schwerfällig, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, löschte das Licht und ließ sich zurück aufs Sofa fallen. Was für ein beschissener Tag!

***

03.05.1987, New York City

Mit einem Gluckern versickerte das Dreckwasser im Ausguss und hinterließ einen schmierigen schwarzen Film auf der weißen Keramik. Erneut verteilte ich Seife auf meinen Handflächen, verrieb sie zu einem cremigen Schaum und schrubbte mir die Fingernägel mit der Nagelbürste, doch das Ergebnis wurde kaum besser. Entnervt trocknete ich mir die Hände an einem Handtuch, das so schmutzig war, dass man sich neuen Dreck auf den Händen verteilte. Ach, was soll's. Man sah zumindest, dass ich mein Geld mit ehrlicher Arbeit verdiente. Ich stopfte die fleckige Arbeitshose in meinen Rucksack und verließ den Waschraum.

»Hast du an den Ölwechsel von dem Porsche gedacht?«, rief Harry quer durch die Werkstatt. Er tippte mit dem Finger auf seine billige Armbanduhr aus Plastik, die nicht einmal von weitem den Anschein erweckte, teuer gewesen zu sein. Lohnte sich auch nicht in unserem Job.

»Ja, ich weiß, ich mache zehn Minuten zu früh Feierabend. Aber der Porsche ist fertig, du kannst Mr. Belani anrufen und es ihm sagen.«

Wie gerne hätte ich mir selbst so eine Karre gegönnt, anstatt mir nur die Hände daran schmutzig zu machen. Stattdessen schlug ich mich mehr schlecht als recht durchs Leben, an ein Auto war nicht einmal zu denken.

Harry nickte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Okay, dann geh. Bis morgen!« Er wendete sich wieder dem 85er Dodge Lancer mit dem gerissenen Keilriemen zu. Harry arbeitete wie ein Tier, manchmal hatte ich das Gefühl, dass er in seiner Werkstatt schlief.

Ich liebte Autos, aber ganz so weit ging meine Begeisterung nicht. Punkt sechzehn Uhr machte ich Feierabend, basta. Ich hatte schließlich noch ein Leben neben der Arbeit. Bisweilen warfen mir meine beiden Kollegen Dan und Kyle einen bösen Blick zu, wenn ich den Schraubenschlüssel fallen ließ und ging, aber das war mir egal. Harry wusste, dass er keinen besseren Mechaniker finden würde als mich, und das nutzte ich gerne aus.

Ich rief noch ein 'Bye' in die Werkstatt, das sich an niemand Bestimmten richtete, und trat hinaus auf den Bürgersteig, ohne eine Antwort abzuwarten.

Zumindest hatte es aufgehört zu regnen, die Straßen und Bürgersteige waren nass und dampften in der Nachmittagssonne, die sich durch die dichten grauen Wolken gekämpft hatte. Seit ich am Morgen mein winziges Einzimmerapartment in der 72. Straße verlassen hatte, hatte es geschüttet wie aus Eimern. Dementsprechend schwül war es jetzt, für einen Tag im Mai eigentlich viel zu warm. Mir klebte mein Shirt unter dem Rucksack am Rücken, eine Schweißperle rann mir an der Schläfe hinab. Ich ahnte bereits, wie warm und stickig es in der Metrostation unterhalb der Straße sein würde, und beschloss deshalb, fünfzehn Blocks zu Fuß zu gehen. Schließlich wartete zuhause niemand auf mich, außer vielleicht der Haushalt. Ich hoffte noch immer, dass er sich irgendwann von allein erledigen würde, wenn ich ihn nur beharrlich genug anstarrte, aber bislang hatte er mir den Gefallen nicht getan.

An Werktagen waren die Straßen von Manhattan zu dieser Uhrzeit unerträglich voll. Zu den Tausenden von Touristen kamen etliche, die - so wie ich - um sechzehn Uhr ihre Arbeit niederlegten und eilig auf dem Weg nach Hause waren. Wohl dem, der sich ein Heim leisten konnte. Viele Pendler reisten jeden Tag von weit her nach NYC, um zu arbeiten. Immerhin konnte ich ein Zimmer innerhalb der Stadt mein Eigen nennen. Wenigstens ein kleiner Vorteil, irgendwie musste man sich das Dreckloch schließlich schönreden.

Nachdem ich mit gefühlt fünfzig Personen zusammengestoßen und mich drei Mal von einem Taxi habe anhupen lassen, bereute ich beinahe, nicht die U-Bahn genommen zu haben. Inzwischen brannte die Sonne unerbittlich. Zwar erreichte sie zwischen den Häuserschluchten selten den Asphalt, dafür gab es auch keinen Wind, der einem die Temperaturen ein wenig angenehmer hätten erscheinen lassen.

Ich wandte mich nach rechts und ging die zehnte Avenue nordwärts. Hier war es ein wenig ruhiger, den größten Trubel gab es Downtown, dort, wo die Touristen sich von zahllosen Theaterticketverkäufern anquatschen ließen.

Neben der Metropolitan Opera gab es einen kleinen Park, den ich jeden Tag auf dem Weg nach Hause passierte. Ich hatte der Ansammlung von alten Eichen nie viel Beachtung geschenkt, aber heute blieb mein Blick auf einem Farbklecks hängen, der zwischen den Sträuchern unter den Bäumen hervor blitzte. Weshalb man in dieser bunten Stadt ausgerechnet auf ein gelbes Shirt starrte, das zwischen all den anderen in allen Farben schimmernden Klamotten der Passanten genau genommen mehr als unscheinbar war, ist mir ein Rätsel. Dennoch glotzte ich auf den Rücken seiner Trägerin, die auf einer kniehohen Mauer im Park saß und sich über etwas auf ihrem Schoß beugte. Ich sah nur ihren Hinterkopf, ein blonder schulterlanger Schopf. Ihre Statur war zierlich und sie schien in dem ganzen Trubel, der um sie herrschte, seltsam abwesend und gelassen zu sein. Vielleicht war es das, was mir an ihr auffiel. Jeder hier war in Eile, mich eingeschlossen, und auf einer Mauer in einem Park zwischen den Gebäuderiesen saß diese Frau und strahlte eine Ruhe aus, die ich an den meisten Einwohnern der Stadt vermisste.

Ich blieb stehen, wurde sogleich wieder von einem schimpfenden Passanten angerempelt und ging auf den Park zu. Ich näherte mich der Dame bis auf wenige Yards, machte einen unauffälligen Bogen um sie herum und tat so, als würde ich mir die umliegenden Gebäude ansehen. Ich kam mir dabei albern vor, als hätte ich etwas zu verbergen. Hoffentlich glaubte sie nicht, ich wolle sie überfallen.

Ich warf ihr einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie beugte sich über einen Zeichenblock, der auf ihren Knien lag. Gedankenverloren strich sie sich eine blonde Strähne hinter das Ohr, die ihr jedoch sogleich wieder ins Gesicht fiel. Sie war noch ziemlich jung, vermutlich ging sie noch zur High School. Ich schätzte sie auf maximal sechzehn oder siebzehn Jahre. Ihr Gesicht war ebenmäßig und hell, die Augen blau und wach. Sie war wirklich schön, auch ganz ohne Make Up. Herrje, jetzt kam ich mir wirklich wie ein Schwerverbrecher vor! Ich sollte so etwas nicht über eine Minderjährige denken.

Sie hob den Blick und für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Obwohl sie keine Miene verzog, stellte ich mir vor, wie sich ihre vollen Lippen zu einem Lächeln kräuselten. Mein Herz wummerte wie eine Kriegstrommel. Rasch wandte ich den Kopf. Ich spürte ihre Blicke noch immer in meinem Nacken prickeln. Oder bildete ich mir das ein?

Jetzt reiß dich zusammen und geh nach Hause. Such dir Frauen in deinem Alter, nicht so unschuldige junge Dinger!

Ich kam mir mit einem Mal schäbig und hässlich vor in meinem dreckigen Shirt und den schmutzigen Fingernägeln, wie ein Schandfleck. Der Drang, sich schnell aus dem Staub zu machen, wurde zwar übermächtig, aber aus irgendeinem Grund glaubten meine Beine, ein Eigenleben führen zu müssen. Ich ging zwei Schritte auf das Mädchen zu, und tatsächlich lächelte sie mich jetzt an. Herrgott, meine Beherrschung!

Weil ich mir dämlich vorkam, wie ein Idiot vor ihr zu stehen und sie anzuglotzen, brachte ich einen unverfänglichen Satz hervor. »Was malst du denn da?«

»Ich male nicht, ich zeichne.« Ihre Stimme war hell und rein, wie Glockenklang.

»Und was zeichnest du?«

»Pflanzen. Heute ein Vergissmeinnicht. Eine meiner Lieblingsblumen.«

Wie sie mich ansah - völlig ohne Vorurteile. Ich kam damit nicht klar. Ich umgab mich für gewöhnlich mit finsteren Typen, mit Aufreißern und Kleinkriminellen. Frauen kannte ich nur aus windigen Bars und zweifelhaften Etablissements.

»Machst du das öfter?« Ich beugte mich interessiert ein wenig über ihren Zeichenblock. Talent hatte sie, das musste man ihr lassen. Aber verglichen mit mir hatte so ziemlich jeder Talent, der einen geraden Strich hinbekam.

»Diese Blume fasziniert mich, sie möchte der Sage nach niemals vergessen werden, ebenso wie ich. Ich möchte der Welt auch etwas hinterlassen, das für immer bleibt.« Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht. »Außerdem ist sie blau, meine Lieblingsfarbe. Saphirblau mag ich am liebsten, aber diese Farbe findet man nicht im Pflanzenreich.«

Ich zog die Augenbrauen hoch, weil ich nicht wusste, was ich darauf hätte erwidern sollen. Wenn ich mich jetzt umdrehte und ging, wäre das äußerst unhöflich gewesen (obwohl mich solche Dinge doch sonst auch nicht interessierten?!).

»Wohnst du in dieser Gegend? Ich habe dich nie zuvor gesehen.« Du Dummkopf! Natürlich hast du sie nie zuvor gesehen! Bei mehreren Millionen Einwohnern wäre dies auch äußerst unwahrscheinlich gewesen.

»Ich wohne ein ganzes Stück weiter uptown, jenseits der 100. Straße.«

Aha. Nicht die teuerste Gegend also. Ich hätte sie glatt für eine Tochter aus reichem Hause gehalten, hatte mich anscheinend jedoch getäuscht.

»Ich wollte noch nicht von der Schule nach Hause. Zeichnen lenkt mich immer so schön ab.« Also ging sie tatsächlich noch zur Schule.

»Wie alt bist du?« Wieder ist die Frage heraus, ehe ich darüber nachdenken kann. Das klingt jetzt wirklich nach dämlicher Anmache! Ich sollte mich schämen.

»Siebzehn. Bin im letzten Jahr auf der High School.« Ihre nette, unbekümmerte Art ließ das Blut in heißen Wellen durch meine Adern pulsen, und das lag nicht nur am Wetter. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen, irgendetwas an ihr zog mich magnetisch an. Aber wie sollte ich das anstellen, ohne mich strafbar zu machen? Sie würde sich doch nie auf ein Date mit mir einlassen. Und das war vielleicht sogar besser so.

»Nun, ich werde dann mal wieder gehen«, sagte ich und hasste mich dafür, dass mir die Röte wie bei einem Teenager ins Gesicht stieg.

»War nett, dich kennengelernt zu haben. Schade, dass du schon gehen musst, Fremder.« Sie grinste und offenbarte eine Reihe makelloser Zähne.

Das hätte sie vielleicht nicht sagen sollen, denn plötzlich keimte die völlig irrsinnige Hoffnung in mir auf, sie könnte tatsächlich Interesse an mir haben.

Während ich mich abwandte, um beschämt den Rückweg anzutreten, rief ich ihr über meine Schulter hinweg zu: »Ich bin Freitagabend ab neunzehn Uhr immer im Sweetwaters in der 46. Straße. Habe da einen Nebenjob. Vielleicht magst du ja mal vorbeikommen.«

Ehe ich vor Scham im Boden versinken konnte, steuerte ich schnellen Schrittes den Bürgersteig an und tauchte wieder in die Menschenmassen ein, ohne mich noch einmal nach dem Mädchen umzudrehen. Ich kannte nicht einmal ihren Namen.

Kapitel zwei

Zuerst ratterte es, dann wurde es gleißend hell. Mit einem gewaltigen Schreck setzte Lilly sich im Bett auf. Ihr Herz wummerte. Die knotigen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, während sie versuchte, sich zu orientieren. Hatte sie schlecht geträumt? Dann fiel ihr Blick auf Alexis, die sich am Zugband der Rollläden zu schaffen machte.

»Es ist nach halb acht, Zeit aufzustehen, du Faulpelz.« Ihr Tonfall war alles andere als liebevoll. »Ich muss jetzt zur Arbeit, und du machst dich hier gefälligst nützlich.«

Lilly gähnte und strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Immer dieses Gezeter, und das am frühen Morgen! Sie hatte wirklich schlecht geschlafen, bizarre Träume von violetten Blumen und geisterhaften Frauen waren um ihr Bett geschwirrt wie geflügelte Dämonen.

Sie schwang die Beine über den Bettrand und sah verschlafen zu ihrer Cousine auf. »Ich kümmere mich nachher um alles«, murmelte sie.

»Deine Art, den Haushalt zu führen, kenne ich, meine Liebe! Aufräumen bedeutet nicht, alles wahllos in die Schränke zu werfen.«

»Du hast doch gestern erst aufgeräumt und gesaugt!«

Alexis reckte den Zeigefinger in die Höhe wie eine tadelnde Mutter. Lilly hasste diesen Zug an ihr. »Es gibt noch genug anderes zu tun. Und wenn du schon einmal dabei bist«, sie deutete auf den Laptop, der auf dem Esstisch stand, »kannst du im Internet mal nach Stellenanzeigen suchen.« Alexis schulterte ihre Jutetasche und griff nach ihrem Schlüsselbund, der ebenfalls auf dem Tisch lag. »Ich muss jetzt los. Bis nachher.«

»Ja, bis nachher«, murmelte Lilly so leise, dass Alexis es nicht gehört haben konnte. Ein paar Sekunden später fiel die Wohnungstür etwas heftiger als nötig ins Schloss. Stille breitete sich im Wohnzimmer aus, einzig durchbrochen von der tickenden Wanduhr über dem Fernseher.

Lilly seufzte und hievte sich auf beide Beine. Sie ging ins Badezimmer, wusch und kämmte sich, zog sich einen bequemen Jogginganzug an, verstaute das Bettzeug wieder im Bettkasten und saß wenig später auf dem Barhocker in der Küche und wartete darauf, dass die Padmaschine den Morgenkaffee ausspuckte, den Lilly bitternötig hatte. Alexis' Küche war so klein, dass es für einen anständigen Tisch nicht gereicht hatte. Stattdessen gab es nur zwei Hocker und einen schmalen, einklappbaren Tresen. Das war sicherlich nicht das, was der Erfinder des Wortes 'gemütlich' vor Augen gehabt hatte, aber Alexis bestand darauf, dass ausschließlich in der Küche gefrühstückt wurde. Ihr wertvoller Wohnzimmerteppich Marke Home Shopping Kanal durfte schließlich nicht durch etwaige herunterfallende Krümel beschmutzt werden. Der Esstisch war eher ein Dekorationsgegenstand und wurde ausschließlich benutzt, wenn Alexis Gäste erwartete. Freunde hatte ihre Cousine genug, aber es waren alles hässliche verklemmte Weiber, die ihre Freizeit mit Esoterik und dem Sammeln von Hello Kitty Zeug widmeten. Achso, ja, und Mangas natürlich. Wie hatte Lilly das vergessen können. Sie verdrehte die Augen. Es wurde wirklich dringend Zeit, dass sie hier auszog. Sie wäre nie bei Alexis eingezogen, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Aber gute Freunde, bei denen Lilly hätte unterschlüpfen können, gab es nicht. Ihr gesamter Freundeskreis war bereits nach der High School auseinandergebrochen. Die meisten waren aufs College gegangen, verteilten sich quer über die USA oder hatten Familien gegründet - oder alles auf einmal. Kein einziger war in Middletown geblieben, wozu auch. Um im Walmart zu arbeiten, wie ihre Cousine?

Das Licht an der Padmaschine leuchtete grün, der Kaffee war fertig. Lilly nahm einen Löffel aus der Schublade und knallte noch drei Portionen Zucker hinterher, ehe sie sich wieder an den beengten Tresen quetschte.

Als sie mit dem Löffel in der Tasse rührte und das Metall gegen das Porzellan schlug, durchfuhr sie mit einem Mal heftiger Schwindel, als hätte das klimpernde Geräusch etwas in ihrem Hirn ausgelöst, das sie nun nicht mehr zurückdrängen konnte. Lilly krallte sich an den Tresen, doch sie konnte sich nicht auf dem Hocker halten. Sie spürte noch, wie ihr Hinterteil hart auf dem Fliesenboden aufschlug, ehe es schwarz um sie herum wurde. Nur langsam lichtete sich der Nebel wieder, doch Lilly saß nicht länger in Alexis' Küche, sondern beobachtete eine junge Frau, die an einem dunklen Holztisch vor einem großen Fenster saß und ebenfalls in einer Tasse rührte. Lilly wusste, dass sie träumte, konnte sich von den Bildern jedoch nicht lösen, als hielte sie eine Macht darin gefangen. Hatte sie das nicht schon einmal erlebt?

Leise Musik drang an ihre Ohren, irgendein Klassiker aus den Achtzigern. Sie nahm den Geruch von Tabak, Bier und Frittierfett wahr.