Schattennetz - Manfred Bomm - E-Book

Schattennetz E-Book

Manfred Bomm

4,9

Beschreibung

16 Jahre nach der politischen Wende werden in der schwäbischen Kleinstadt Geislingen zwei Männer von ihrer DDR-Vergangenheit eingeholt. Nach langer „Waffenruhe“ scheinen plötzlich alte Rivalitäten wieder auszubrechen. Kurz vor dem jährlichen Stadtfest wird einer der Kontrahenten tot im Turm der Stadtkirche aufgefunden. Kommissar August Häberle erkennt schnell, dass er es mit einem raffiniert eingefädelten Verbrechen zu tun hat. Und der Mörder scheint sein grausiges Werk noch nicht vollendet zu haben, denn weitere Menschen müssen im Kirchturm ihr Leben lassen.

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Manfred Bomm

Schattennetz

Der siebte Fall für August Häberle

Zum Buch

GEFANGEN IM SCHATTENNETZZwei Männer aus Sachsen kommen nach der Wende in die schwäbische Kleinstadt Geislingen. Lange Zeit geht alles gut, beide engagieren sich in der evangelischen Kirche. Doch 16 Jahre später werden sie von ihrer DDR-Vergangenheit eingeholt, nach langer »Waffenruhe« scheinen plötzlich alte Rivalitäten wieder auszubrechen. Kurz vor dem jährlichen Stadtfest wird einer der Kontrahenten tot im Turm der Stadtkirche aufgefunden.

Kommissar August Häberle erkennt schnell, dass er es mit einem raffiniert eingefädelten Verbrechen zu tun hat. Und der Mörder scheint sein grausiges Werk noch nicht vollendet zu haben, denn weitere Menschen müssen im Kirchturm ihr Leben lassen …

 

Manfred Bomm wohnt am Rande der Schwäbischen Alb. Als Lokaljournalist hat er Freud und Leid der Menschen hautnah erlebt und darüber berichtet. Vieles, was er in seinen Romanen verarbeitet, hat sich so oder in ähnlicher Weise zugetragen. 2004 hat der Autor mit dem Krimischreiben begonnen und die Figur des August Häberle nach einem realen Vorbild bei der Kriminalpolizei Göppingen entworfen. Ursprünglich hatte er – einem Jugendtraum folgend – nur einen einzigen Roman schreiben wollen, doch die steigende Zahl der »Häberle«-Fans spornte ihn zu »weiteren Untaten« an. Manfred Bomm fühlt sich eng mit Land und Leuten verbunden, liebt die Natur, das Wandern, Reisen und Radeln. Wichtig ist ihm, so gut wie alle beschriebenen Schauplätze selbst aufgesucht zu haben.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schlusswort (2020)

Blumenrausch (2019)

Nebelbrücke (2018)

Traufgänger (2017)

Todesstollen (2016)

Lauschkommando (2015)

Machtkampf (2014)

Grauzone (2013)

Mundtot (2012)

Blutsauger (2011)

Kurzschluss (2010)

Glasklar (2009)

Notbremse (2008)

Schattennetz (2007)

Beweislast (2007)

Schusslinie (2006)

Mordloch (2005)

Trugschluss (2005)

Irrflug (2004)

Himmelsfelsen (2004)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von pixelio.de

ISBN 978-3-8392-3340-5

Widmung

Gewidmet allen, die unter Ungerechtigkeit und Intoleranz gelitten haben und sich noch immer von den Schatten der Vergangenheit bedroht fühlen.

Seien wir dankbar, dass auch finstre Zeiten ein Ende nehmen, wenn wir nur gemeinsam fest daran glauben.

Und wir sollten stets daran denken, dass es die Freiheit zu verteidigen gilt – ohne dabei Gerechtigkeit und Toleranz aus den Augen zu verlieren.

Dafür sollten wir uns alle engagieren.

Ein jeder an seinem Platz.

1

Die imposante Klangfülle der Kirchenorgel wollte nicht zu diesem heißen Sommernachmittag passen. In dem 400 Jahre alten gotischen Gotteshaus, das als kleines Abbild des Ulmer Münsters galt, schienen Hitze und Hektik der Fußgängerzone weit weg zu sein. Wenn die schwere Holztür ins Schloss fiel, – was einige Male vorkam, weil die Mesnerin ein Dutzend Sträuße weißer Dahlien aus einem Kombi hereinschaffen musste, – wurde das besonders deutlich: einerseits das geschäftige Treiben, das sich draußen, nur ein paar Schritte entfernt, in der heißen Sonne abspielte, und andererseits die andächtige Abgeschiedenheit der Stadtkirche. Hier war es kühl und dunkel, und es roch nach altem Mobiliar und Putzmittel.

Wenn Tilmann Stumper in die Tasten der Orgel griff, den Blick fest auf das spärlich beleuchtete Notenblatt gerichtet, dann waren dies jene Momente, in denen er sich völlig in der Musik verlor. Dann konnte er sein Umfeld vergessen und sich als ein großer Organist fühlen. Stumper, ein in Ehren ergrauter Kirchenmusikdirektor, nahm seine Aufgabe so ernst wie kaum ein anderer. Zumindest war er davon überzeugt. Und er ließ sich auch gerne als begnadeter Organist feiern, insbesondere an den hohen christlichen Feiertagen, denen er mit seiner Musik den würdevollen, manchmal auch respektvollen Rahmen verlieh. Stumper, der sein dünn gewordenes, grau meliertes Haar lang und ungekämmt trug, was er als Zeichen seines künstlerischen Schaffens verstanden wissen wollte, war nicht nur für die Stadtkirche dieser Kleinstadt am Fuße der Schwäbischen Alb zuständig, sondern für weitere Evangelische Gotteshäuser innerhalb der Kommune. Er dirigierte Kirchenchöre und engagierte sich auch für ehrenamtliche Gesangsgruppen, wenn diese zu bestimmten Anlässen Musicals inszenierten.

Jetzt, an diesem sonnigen Julinachmittag, standen ihm trotz der Kühle in der Kirche Schweißperlen auf der faltenreichen Stirn. Seit einer Stunde übte er wie besessen und gönnte sich keine Pause. Nichts konnte ihn von seinem Ziel abbringen.

Er hatte sich Großes vorgenommen: ›Toccata und Fuge in d-Moll‹, Bachwerkeverzeichnis 565. Nur Musikkenner können ermessen, worum es sich dabei handelt. Eines der bekanntesten Orgelwerke überhaupt, hatte Stumper der alten Mesnerin geduldig erklärt, deren Musikverständnis jedoch kaum erwarten ließ, dass sie das nachvollziehen konnte. Dennoch war ihr bereits vor zwei Wochen, als er sich nach langer Zeit wieder einmal an dieses schwere Bachwerk gewagt hatte, die Dramatik dieser Musik aufgefallen.

Er übte nun schon zwei Donnerstage an dem zweiteiligen Stück. Er hatte sich fest vorgenommen, es bis Weihnachten wieder perfekt spielen zu können. Bis dahin war es zwar noch eine Weile hin, doch würde er nur einmal pro Woche üben können. Immer donnerstags, wie heute.

Die mächtigen Orgelpfeifen erfüllten den sakralen Raum, ließen ihn geradezu erbeben, bündelten sich zu einem dramatischen Showdown, als Stumper plötzlich einen Schatten vor sich sah. Abrupt ließ er von den Tasten ab, worauf die letzten Töne mit einem gewaltigen Nachhall wenig virtuos verstummten.

»Du hier?«, war alles, was der Kirchenmusikdirektor in diesem Moment über die Lippen brachte. Es ärgerte ihn, wenn er aus einer Phase kreativen Schaffens gerissen wurde, noch dazu so unerwartet. Deshalb lehnte er sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme. »Ich schätze es nicht sehr, bei meinen Übungsstunden gestört zu werden.« Die Stimme klang vorwurfsvoll und war so leise, wie es sich in einer Kirche geziemte. Drunten fiel die schwere Eingangstür ins Schloss. Stumper blickte zu dem Mann hoch, der neben dem Orgelpodest stand. Das Gesicht war im Zwielicht der Empore nicht zu erkennen. Stumper jedoch wusste, mit wem er es zu tun hatte. »Ich denke, wir treffen uns heut Abend beim Runden Tisch bei der Dekanin«, fuhr er deshalb unwirsch fort. »Selbstverständlich, Tilmann, aber vielleicht sollten wir beide zuvor etwas besprechen. Inoffiziell, wenn du verstehst, was ich meine.«

Tilmann Stumper mochte solche Gespräche nicht. Er wandte den Blick von dem dunklen Gesicht und sah über seine Notenhalterung in das Kirchenschiff und zum Chorraum hinunter. Dort hing ein großes Kreuz mit dem sterbenden Jesus. Durch die hohen Spitzbogenfenster, wie sie für den gotischen Stil der Kirche typisch waren, fiel mattes Sonnenlicht auf das filigran geschnitzte Chorgestühl.

»Ich versteh natürlich, was du meinst«, griff Stumper nun die Bemerkung des Mannes auf. »Um ehrlich zu sein, ich möcht mich nicht einmischen. Im Übrigen bin ich gar nicht stimmberechtigt.«

»Das weiß ich doch«, entgegnete der Mann, der seine Hände tief in den Taschen seiner hellen Hose vergraben hatte. Seine Stimme verriet Nervosität. »Es geht mir auch nur um, ja – um moralischen Beistand, wenn ich das so ausdrücken darf.«

»Mensch, Konrad, es ist im Grunde genommen euer Problem – nicht meines. Ich möchte mich raushalten, verstehst du? Ich mach meine Arbeit so gut ich kann, aber was da so läuft, ist allein eure Angelegenheit.« In solchen Situationen wäre Stumper am liebsten aufgesprungen und hätte laut hinausgebrüllt, dass er keine Lust hatte, seine knapp bemessene Zeit mit provinziellen Problemen zu verplempern. Verdammt noch mal, sollten sie ihn doch in Ruhe lassen. Er spürte, wie er noch mehr schwitzte.

Die Glocke im Turm über ihnen schlug an. 4-mal den Doppelklang. Die volle Stunde. Danach drei tiefe Schläge.

Schon 3 Uhr, dachte Stumper. Er musste üben. Und er wollte sich die Zeit nicht stehlen lassen. Nicht mit Querelen, für die er nicht das geringste Verständnis hatte. »Pass auf«, holte er deshalb tief Luft, »ich schlag vor, ihr schafft das heut Abend ein für alle Mal aus der Welt. Und ich versprech dir, dass ich dem Herrn Pfarrer nahe lege, euch dabei zu helfen. Okay?« Stumper legte seine Hände auf die Tastatur und seine Augen suchten bereits die entsprechende Stelle auf dem Notenblatt.

»Bitte, Tilmann«, Konrad war einen halben Schritt näher gekommen und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. »Lass mich jetzt nicht im Stich.«

Stumper zögerte. Etwas in Konrads Stimme hatte ihn stutzig gemacht. Es war ihm, als sei es ein verborgener Hilferuf gewesen. »Ihr solltet die Sache aber auch nicht dramatisieren«, sagte er, wie um sich selbst zu beruhigen. Noch bevor Konrad antworten konnte, begannen droben im Turm die Glocken zu läuten. Die beiden Männer lauschten einen Augenblick. Immer wenn die Klöppel gegen die schwingenden Glocken schlugen, erschütterten sie die gesamte Turmkonstruktion, was sich wie ein kurzes, dumpfes Dröhnen im Gebäude fortsetzte.

Seit geraumer Zeit, das war dem Kirchenmusikdirektor während seiner Übungsstunden schmerzlich bewusst geworden, riss ihn das sogenannte Kreuzläuten um 15 Uhr immer aus der meditativen Konzentration. Ein Glockenexperte der Evangelischen Landeskirche hatte den Kirchengemeinderäten vorgeschlagen, das prächtige Geläut alltäglich zur Todesstunde Jesu erklingen zu lassen. Das Gremium war damals von dieser Idee mehrheitlich angetan gewesen. Stumper hatte zwar kein Stimmrecht, doch sahen es Stadtpfarrer und Dekanin gerne, wenn er trotzdem an den Sitzungen teilnahm.

Konrad Faller, Inhaber einer kleinen Metallfabrik, galt als großzügiger Spender, wenn Geld für die Sanierung kirchlicher Einrichtungen gebraucht wurde, denen ansonsten die Schließung gedroht hätte.

»Wir sollten uns allein an der Sache orientieren«, meinte Stumper jetzt eine Spur lauter.

»Ich weiß. ›Liebet eure Nächsten‹, hat Jesus gesagt, oder so ähnlich. Und ausgerechnet wir tun uns damit schwer.«

»Ich nicht«, stellte Stumper selbstbewusst fest.

»Vergiss nicht, dass wir beide das vielleicht gar nicht verstehen können. Das sind Dinge, die entziehen sich unserer Vorstellungskraft.« Das Geläut verstummte.

Der Organist drückte auf eine Taste, was einer Orgelpfeife einen tiefen Ton entlockte. Er wollte nicht mehr länger diskutieren.

»So etwas kann eskalieren«, warf Faller ein und beugte sich – mit den Händen am Orgelpodest abgestützt – zu Stumper herab. Der wehrte ab: »Nun übertreib mal nicht. Wir habens schließlich mit ganz normalen zivilisierten Mitteleuropäern zu tun, wenn ich das richtig sehe.«

Ihre Konversation wurde durch Schritte auf der ächzenden Holztreppe unterbrochen, die aus dem Kirchenraum heraufführte. Die beiden Männer drehten sich um: die Mesnerin. Zwar hob sie sich im matten Gegenlicht eines Fensters nur schemenhaft ab, doch reichten allein die leicht gebückte Haltung und der schlurfende Gang aus, sie zweifelsfrei zu erkennen.

»Entschuldigen Sie«, – ihre Stimme klang schwach und verschüchtert – »aber ich bin jetzt fertig.« Sie blieb nach der obersten Stufe ehrfurchtsvoll stehen. »Würde einer von Ihnen nachher abschließen?«

»Klar doch, Frau Gunzenhauser«, antwortete Faller spontan, »Sie können beruhigt gehen.«

Stumper überlegte für einen kurzen Moment, weshalb die Mesnerin überhaupt heraufgekommen war. Wenn er hier übte, tat sie das nie.

»Ich muss noch kurz auf den Dachboden«, erklärte sie, als habe sie eine entsprechende Frage erwartet, und wandte sich dem dunklen Bereich der Empore zu, wo eine Tür in den engen Aufstieg einer steinernen Wendeltreppe führte – hinauf zum Dachboden des Kirchenschiffs und zum Turm.

Die Männer erwiderten nichts.

Stumper hatte gehofft, dass Faller jetzt gehen würde. Doch bevor sie beide etwas äußern konnten, drang aus dem Zwielicht der Empore die Stimme der Mesnerin zu ihnen herüber: »Wieso ist denn die Tür überhaupt offen?«

»Die Tür?«, echote Faller einigermaßen verunsichert.

Stumper schwieg.

»Ja. Da war doch heut noch keiner oben – oder sollte ich mich täuschen?«

Faller drehte sich zu ihr um, obwohl nur dunkle Umrisse zu erkennen waren. »Hat sicher wieder ein Schlamper offen gelassen. Wir werden das besprechen.«

Die Mesnerin erwiderte nichts. Ihr Schatten verschwand im Dunkel des Treppenaufgangs, wo ihre schlurfenden Schritte noch über einige Stufen hinweg zu hören waren.

»Der entgeht nichts«, meinte Faller, »ist auch gut so.«

»Du entschuldigst jetzt, aber ich hab um vier schon meinen nächsten Termin.«

»Nur eins noch: Es darf kein Aufsehen geben. Unter keinen Umständen.«

»Du wirst doch nicht im Ernst glauben, dass ich rumrenne und jedem erzähle, was hier läuft?«

»Tilmann, ich sag dir, wenn du wüsstest, was da in Berlin gelaufen ist, würdest du auch mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Wie? Du hast dich in Berlin umgehört?«, Stumpers Desinteresse war mit einem Schlag verflogen.

»Ich hab ein bisschen rumtelefoniert, ja. Da gibt es ein paar Leute, die sehr genau Bescheid wissen. Sehr genau, sag ich dir.«

Der Kirchenmusikdirektor holte tief Luft. Zwar hätte er gerne gewusst, welche Details Faller in Erfahrung gebracht hatte, doch jetzt störte dies seine Kreise. Er spürte innere Unruhe, die ihn jedes Mal befiel, wenn er sich fremdbestimmt fühlte, wenn andere seinen Terminplan durchkreuzten.

»Die Frage ist doch nur, was uns das bringt«, wandte er ein, ohne zu ahnen, dass diese Feststellung sein Gegenüber erst recht zu näheren Erläuterungen provozierte.

»Was das bringt? Klarheit bringt es«,nahm Faller die Frage Stumpers auf und gab gleich selbst die Antwort: »Man muss immer beide Seiten hören. Jedenfalls ist mir jetzt klar geworden, was da gelaufen ist. Und ich sag dir …« Er stellte sich vor das Organistenpult. »Ich sag dir, Tilmann, die Sache ist explosiv. Hochexplosiv.«

Der Angesprochene ließ sich von dieser Bemerkung nicht sonderlich beeindrucken, sondern starrte auf sein Notenblatt, worauf Faller noch theatralischer wurde: »Hochexplosiv, mein lieber Tilmann. Und auch du steckst mittendrin. Vergiss das nicht.«

Draußen auf dem Kirchplatz, wo seit über 100 Jahren der in Bronze gegossene Kaiser Wilhelm I. hoch zu Ross auf einem Sockel an vergangene Zeiten erinnerte, knallte die Julisonne gnadenlos von einem wolkenlosen Himmel. An der bewaldeten Hangkante der Schwäbischen Alb erhob sich der mittelalterliche Ödenturm, Wahrzeichen jener Kleinstadt, die sich einst damit rühmen konnte, die erste Gebirgsüberquerung einer Eisenbahn aufzuweisen. Heute war die Geislinger Steige nichts weiter als ein ungeliebtes Hindernis für die ICE-Züge, die diesen Abschnitt der Strecke Stuttgart-Ulm nur mit 70 km/h passieren durften. Und schweren Güterzügen musste zum Erklimmen der Alb eine Schublok angekuppelt werden. Geislingen selbst war in den vergangenen Jahren durch den Niedergang einiger wichtiger Betriebe wirtschaftlich stark gebeutelt worden. Und auch die Entwicklung des größten Arbeitgebers, der weltweit bekannten Württembergischen Metallwarenfabrik (WMF), bereitete immer wieder Sorge, insbesondere jedoch die unklaren Ziele, die ein neuer Schweizer Mehrheitsaktionär mit seinem übergroßen Einstieg in das Unternehmen verfolgte. Meldungen darüber hatten in diesen Julitagen für genügend Gesprächsstoff gesorgt und all jenen, die um ihren Arbeitsplatz bangten, die Stimmung für das bevorstehende Stadtfest vermiest. ›Hock‹ nennen die Einheimischen das zweitägige Straßenfest, das alljährlich eine Woche vor Beginn der großen baden-württembergischen Schulferien gefeiert wird.

Die Vorbereitungen hierfür liefen an diesem Donnerstagnachmittag. Auf dem Kirchplatz, der in die Fußgängerzone integriert war, hatten Mitarbeiter des städtischen Bauhofs Kabelanschlüsse für die Verkaufsstände gelegt. Hier würde morgen Abend der Oberbürgermeister den symbolischen ersten Fassanstich vornehmen. Ein Spektakel, das erfahrungsgemäß mit Böllerschüssen und Fanfarenklängen verbunden war.

Das Kreuzläuten war längst verklungen, als Konrad Faller die Kirchentür leise hinter sich ins Schloss zog. Er musste Kabelrollen und Brettern ausweichen, nickte den Bauhofmitarbeitern grüßend zu und strebte dem Altstadtkarree abseits der Fußgängerzone zu, wo er seinen BMW geparkt hatte.Als er hinter dem Chor der Kirche angelangt war, wo die gerade erst sanierte Tuffsteinfassade des historischen Gotteshauses einer städtebaulichen Sünde der 60er-Jahre gegenüberstand, fiel sein Blick auf eine Frau, die ihm entgegenkam. Sein bärtiges Gesicht verzog sich sofort zu einem Lächeln. Die attraktive Frau ließ ihn schlagartig die Probleme vergessen, die seit Wochen seine Gedanken beherrschten. Sabrina lief ihm in letzter Zeit häufig über den Weg, stellte er fest. Doch auch jetzt konnte dies nichts weiter als ein Zufall sein. Die Sonne ließ ihre blonden Haare besonders hell erscheinen und ihr weißes, weit ausgeschnittenes Kleidchen verfehlte seine Wirkung bei den Männern nicht.

»Hallo«, rief ihr Faller freundlich entgegen und beschleunigte seine Schritte, »was führt dich bei dieser Hitze in die Stadt?« Er schüttelte ihr die Hand.

»Was wohl schon?«, meinte sie und suchte im Schatten eines Gebäudes Schutz, »wir haben doch morgen wieder einen Stand.«

Faller nickte und sah ihr tief in die blauen Augen. Sabrina war Ende 30 und damit 15 Jahre jünger als er. Und sie war, das wusste die halbe Stadt, unglücklich verheiratet. Dieser Gedanke schoss Faller jedes Mal durch den Kopf, wenn er sie traf. Ihr Mann, Inhaber der Getränkehandlung Simbach, stammte aus den neuen Bundesländern und hatte Sabrina bei einem Fest in seiner sächsischen Heimatgemeinde Bischofswerda, der Partnerstadt Geislingens, kennengelernt. Damals, gleich nach der politischen Wende, war Sabrina als Mitglied einer Tanzgruppe zu einem Auftritt dorthin gereist und hatte sich Hals über Kopf in Alexander Simbach verliebt, obwohl sie erst 22 und er bereits 32 Jahre alt war. Schon ein halbes Jahr später heirateten sie in Geislingen, wo sich Simbach als Getränkehändler selbstständig machte. Bald wurde eine Tochter geboren, die inzwischen 16 war und das Gymnasium besuchte. Dieses Mädchen war vermutlich der einzige Grund für den Fortbestand der Ehe.

Am liebsten hätte er Sabrina in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, was er ihr schon immer sagen wollte. Doch abgesehen davon, dass dies hier nicht der richtige Ort gewesen wäre, würde er es auch anderswo vermutlich niemals wagen.

»Wenn die Hitze anhält, wird einiges los sein«, beschränkte sich Faller auf den üblichen Small Talk, den er eigentlich hasste. Er war es eher gewohnt, die Dinge klar auszusprechen und zu sagen, was er wollte. Aber eben nur im Geschäftsleben, in seiner Fabrik.

»Ich darf gar nicht dran denken«, erwiderte Sabrina tief einatmend. Es klang wie ein Hilferuf: Hilfe, hol mich raus. Ich bin am Ende.

Er nickte aufmunternd. »Stress«, stellte er fest, »die einen feiern, die anderen haben die Arbeit. Aber sonst …« Er unternahm den zaghaften Versuch, ihr etwas über die privaten Probleme zu entlocken. »Sonst geht es dir gut?«

»Na ja – man soll nicht klagen. Solange das Geschäft läuft.«

Sie mussten einem Auto ausweichen, das zu den privaten Parkplätzen hinter der Kirche fuhr, obwohl dort bereits ein Halteverbot ausgewiesen war, damit der Toilettenwagen fürs morgige Fest abgestellt werden konnte.

»Ja, Sabrina, so gehts uns allen«, seufzte Faller, »solange die Geschäfte laufen. Und dabei vergessen wir, was wirklich wichtig ist auf der Welt.« Wie zur Bekräftigung dessen, was er gesagt hatte, blickte er zur Kirchenfassade hinüber. »Wir alle hetzen nur unserem Geschäft hinterher oder halten uns mit Nebensächlichkeiten auf und verpassen dabei das Wichtigste.«

Ihre Augen glänzten verdächtig. Vielleicht wars aber auch nur ein Sonnenstrahl, dachte Faller.

Sie nickte. »Sag das mal dem Alexander. Wenn der nicht bald kürzer tritt, mach ich mir ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit.«

»Er bürdet sich auch alles auf. Ich hab mich ohnehin gewundert, dass er sich in den ›Arbeitskreis Kirchensanierung‹ gedrängt hat.«

»Weißt du, Konrad …« Sie kämpfte mit sich. »Weißt du, er hat ein unbändiges Geltungsbedürfnis. Vielleicht liegts an seiner Kindheit und Jugend in der DDR, wo ihm alles verwehrt geblieben ist, was er sich beruflich gewünscht hat. Und das mit der Kirche, das tut er wirklich aus Überzeugung. Er war damals an den Montagsgebeten beteiligt. Du entsinnst dich doch an diese Gebete im Jahr 1989 in den Kirchen, was letztlich dazu geführt hat, dass alles ohne Blutvergießen über die Bühne gegangen ist.«

Faller gab sich verständnisvoll. »Dafür können wir wirklich Gott danken.« Weil er dabei den Blick zum Himmel richtete, fielen ihm die dunklen Wolken auf, die sich über das Tal schoben. »Schau dir das an«, meinte er, während es ihm bereits wieder leidtat, in dieser Situation übers Wetter zu reden.

Sabrina drehte ihren Kopf nach oben. »Ich glaub, es braut sich was zusammen.«

Fallers bärtige Gesichtszüge wurden wieder ernster. Er wünschte Sabrina einen stressfreien ›Hock‹, was natürlich nur so dahingesagt war, und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.

Sabrina Simbach war sauer auf ihren Mann. Wieder mal. Sie hatte sich seit Tagen um den Verkaufsstand bemüht, mit den Lieferanten verhandelt, eine Kühlanlage bestellt und bei der Stadtverwaltung den Anschluss an einen Hydranten beantragt. Alexander hingegen fuhr in der Gegend umher, angeblich, um Kunden zu besuchen, blieb nächtelang fort und genoss das gesellschaftliche Leben in vollen Zügen. Auch jetzt, als Gewitterwolken den Rest Himmel zuzogen, den sie zwischen den mittelalterlichen Häusern überblicken konnte, war er nicht da. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern gab den Handwerkern, die den Getränkestand auf der Fußgängerzone zusammenzimmerten, einige Anweisungen. Heute musste alles so weit fertig sein, dass im Laufe des morgigen Freitags nur noch die Getränke herangekarrt zu werden brauchten.

Während sie den Männern zeigte, wo die rückwärtige Plane angebracht werden sollte, nickte sie einigen vorbeieilenden Passanten zu. Drüben im Eiscafé herrschte Hochbetrieb. Noch konnte man im Freien sitzen, doch die Wolkentürme verhießen nichts Gutes. »Hoffentlich hebts noch«, hörte sie unvermittelt eine Männerstimme hinter sich. Sabrina drehte sich um. Es war der Buchhändler, der erst vor wenigen Tagen ein komplett saniertes Altstadthaus bezogen hatte.

»Wenns regnet, können die Leute am Wochenende lesen«, frotzelte Sabrina, obwohl es ihr gar nicht danach war.

»Des einen Freud, des andern Leid«, entgegnete der schlanke und hochgewachsene Buchhändler. »Wo ist denn dein Mann?«

Sabrina zuckte mit den Schultern und ihr Blick wurde ernst. »Frag mich nicht. Du kennst ihn doch. Er hat ein tolles Talent, sich immer dann aus dem Staub zu machen, wenns nach Arbeit riecht.«

»Kann ich dir was helfen?« Der Buchhändler, der sich sein jugendliches Aussehen bewahrt hatte, obwohl er auch schon Mitte 30 war, lächelte.

»Nein, nein, danke.« Sabrina rüttelte prüfend an einer Holzstrebe. »Das ist lieb von dir. Aber ich krieg das schon hin. Die Jungs hier leisten gute Arbeit.«

Der Mann schaute verlegen und strebte seinem Laden zu. Sabrina erklärte den Handwerkern, wo sie die Abstellflächen für die Schmutzgläser und den Standort des großen Kühlschranks haben wollte. Dann verabschiedete sie sich und ging zur nächsten Quergasse, wo sie im Halteverbot ihren Kombi abgestellt hatte. Zum Glück war noch kein Strafzettel hinter die Scheibenwischer geklemmt worden. Das hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt.

Allerlei Dinge gingen ihr durch den Kopf, als sie die kurze Wegstrecke bis zum Geschäft zurücklegte: die B 10 hinunter und dann rechts in ein ehemaliges Industriegebiet hinein, in dem Alexander eine alte Lagerhalle gemietet hatte, die sie seither als Getränkelager nutzten. Die kurzen Begegnungen mit Konrad Faller und dem Buchhändler empfand sie als kleine Lichtblicke, als winzige Zeichen von Anerkennung und Wertschätzung. Beides hatte sie daheim schon lange nicht mehr erfahren. Die Gespräche drehten sich, wenn es überhaupt welche gab, nur ums Geschäft. Ihn interessierte nicht einmal, wie es Silke, ihrer Tochter, in der Schule erging. Alexander war nur auf sich und seine Arbeit fixiert und strebte nach Höherem. Sein Selbstbewusstsein hatte noch mehr Auftrieb erhalten, als er in den Arbeitskreis der Kirche aufgenommen wurde. Ihn interessierten weniger die theologischen Themen als vielmehr alles, was handwerkliches Geschick erforderte. Er kümmerte sich seither geradezu übereifrig um das Kirchengebäude, machte regelmäßig seine Kontrollgänge bis hinauf zur Turmspitze und überprüfte auf dem riesigen Dachboden über dem Kirchenschiff, ob es undichte Stellen gab oder Tauben durch irgendwelche Spalten eingedrungen waren.

So sehr sie ehrenamtliches Engagement begrüßte – aber das, was Alexander praktizierte, war des Guten zu viel. Denn seine Unterstützung galt nicht nur der Evangelischen Kirchengemeinde, sondern auch einer Vielzahl von Vereinen, denen er gerade jetzt in der Zeit der Garten- und Waldfeste manchmal Getränkepreise bot, die kaum die Unkosten deckten.

Erschwerend kam hinzu, dass er sich die Freiheit nahm und mindestens einmal im Monat mit Freunden eine ganze Samstagnacht in Stuttgarter Diskotheken verbrachte. Dann war er nicht einmal per Handy erreichbar. Sabrina musste daran denken, dass er über Ostern zu seinem Bruder nach Bischofswerda gefahren war – allein und kurzfristig. Am Karfreitag hatte er es angekündigt und natürlich keinen Widerspruch geduldet. In jüngster Zeit kamen ihr Zweifel, ob hinter den nächtlichen Diskofahrten nicht etwas anderes steckte. Möglichkeiten gab es viele. Vielleicht eine andere Frau. Doch gerade diesen Gedanken versuchte sie zu verdrängen. Nichts wäre schlimmer für sie gewesen, als betrogen zu werden. Nein, das durfte nicht sein. Vielleicht hing sein Verhalten auch mit den angeblichen Freunden zusammen, die er in jüngster Zeit um sich scharte. Es waren die Nachkommen deutscher Aussiedler aus Russland, von denen viele in Geislingen Fuß zu fassen versuchten, ohne sich wirklich zu integrieren. Ein sozialer Sprengstoff, wie Sabrina einmal in der Zeitung gelesen hatte. Sie war tief in Gedanken versunken zu der schmucklosen Getränkehandlung gefahren – fast wie in Trance, wie sie erschrocken feststellte. Sie parkte den Kastenwagen dicht an der Waschbetonwand, stieg aus und eilte zur Vorderfront des Gebäudes, wo sie vor einigen Jahren ein großes Mauerstück herausgerissen hatten, um ein Schaufenster einbauen zu können. Es vermittelte an der architektonisch wenig anspruchsvollen Industriehalle wenigstens den Eindruck, dass sich im Innern ein Ladengeschäft befand. Sabrina ging durch die offen stehende Tür, sah, dass ein halbes Dutzend Kunden in den Gassen zwischen den gestapelten Getränkekisten unterwegs war, und lächelte kurz den beiden Angestellten zu, ehe sie im rückwärtigen Teil im Büro verschwand, vor dem Paletten und verschiedenfarbige Plastikeimer den Weg versperrten.

Auf den beiden aneinander gerückten Schreibtischen herrschte Chaos. Aktenordner und Schnellhefter bildeten zusammen mit losen Zetteln und Fachzeitschriften ein unübersehbares Durcheinander. Irgendwo waren das Telefon und die Tastatur für den Computer vergraben, dessen Monitor den Papierberg überragte und bunte Ornamente erscheinen ließ. An den Wänden hingen vergilbte Plakate einer Brauerei.

Sabrina ließ sich in einen der beiden Schreibtischsessel fallen, wischte sich mit der Handfläche Schweiß von der Stirn und zog das Telefon zu sich herüber. Sie drückte eine Kurzwahltaste, die mit Alexanders Handynummer belegt war. Während das Freizeichen ertönte, fünf-, sechsmal, begann sie mit der linken Hand Notizzettel zu sortieren, die ihr die Mitarbeiterinnen auf das Papierinferno gelegt hatten, in der Hoffnung, dass sie nicht untergingen. Alexander meldete sich nicht. Sie warf den Hörer verärgert auf den Apparat und sah erst jetzt, was auf einem der Papierfetzen handschriftlich vermerkt war: »Ihr Mann hat angerufen. Er kommt um vier.« Doch jetzt wars bereits kurz vor halb fünf. Sie kannte solche Versprechungen. Alles leeres Geschwätz. Und wenn er nicht ans Handy ging, dann war er wieder untergetaucht oder versackt.

Sabrina war wütend. Das waren die Momente, an denen sie am liebsten den ganzen Krempel hingeschmissen hätte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre – zusammen mit Silke. Sie lehnte sich für ein paar Sekunden zurück, versuchte sich zu entspannen und fasste dann einen Entschluss. Das Stadtfestwochenende würde sie noch durchziehen, mit Anstand und Würde. Am Dienstag aber, nach dem traditionellen Kinderfest, musste etwas geschehen. Hundertprozentig. Und wenn er ihr zuvor noch in die Quere kam, sie erniedrigte oder schikanierte, dann würde es sogar früher geschehen. Ganz bestimmt.

2

Die Dekanin konnte energisch werden. Ihre respektvolle Erscheinung verlieh der rhetorischen Argumentation zudem optisch einen gewissen Nachdruck.

»Ich kann nicht nachvollziehen, dass Herr Simbach heute ferngeblieben ist«, stellte sie mit strengem Unterton fest, nachdem sie die Sitzung des ›Runden Tisches‹ eröffnet hatte. Sie blickte in die Runde der fünf Männer und zwei Frauen, die sich um den großen Besprechungstisch gruppiert hatten. Ihr gegenüber, an der anderen Stirnseite, saß Kirchenmusikdirektor Tilmann Stumper, links von ihr war der Platz von Konrad Faller, daneben der des Stadtpfarrers.

»Damit …« Sie hielt kurz inne und schichtete mehrere Schnellhefter um, die sie vor sich auf der Tischplatte liegen hatte, »damit wird es wohl kaum möglich sein, das Thema mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln.« Sie blickte streng von einer Person zur anderen, ohne in einem der Gesichter eine Regung erkennen zu können. Niemand schien offenbar großes Interesse daran zu haben, das heiße Eisen anzupacken – schon gar nicht vor den Sommerferien. Dabei hatte sie, als die Unruhe größer geworden war, eigens eine Sitzung einberufen, die aus Mitgliedern des Kirchengemeinderats und des ›Arbeitskreises Kirchensanierung‹ bestand. Sie alle sollten ihre Meinung äußern.

Konrad Faller hob andeutungsweise die Hand, wartete aber gar nicht ab, bis ihm das Wort erteilt wurde.

»Ich bedaure sehr, dass wir unter diesen Umständen keine Klärung herbeiführen können. Weiß denn niemand, weshalb Herr Simbach nicht gekommen ist?« Er sah in ausdruckslose Gesichter. Tilmann Stumper wich ihm aus. »Schließlich müsste er doch im Lande sein, jetzt, dadas Stadtfest stattfindet.«

Dekanin Gertrud Grüner blätterte in ihren Akten und schien das Thema bereits abgehakt zu haben.

Eine Dame mittleren Alters wagte einen zaghaften Vorschlag: »Und wenn uns der Herr Korfus die Situation schildert?«

Die Augen waren jetzt auf einen athletischen Mann gerichtet, der zwischen den beiden weiblichen Gremiumsmitgliedern saß und auf einen Kugelschreiber starrte, den er nervös in den Händen drehte. Er tat so, als fühle er sich nicht angesprochen. Dabei war er eine der Hauptpersonen.

»Herr Korfus hat uns seine Sicht der Dinge bereits zu Protokoll gegeben«, stellte die Dekanin knapp fest, ohne von ihren Akten aufzublicken. »Seinetwegen hätten wir uns nicht die Mühe machen müssen, uns heute zu treffen.« Allein schon der spitze Tonfall ließ erkennen, wie unangenehm ihr dies alles war. »Ich hätt jetzt gerne die Gegenseite gehört und dann die Konsequenzen gezogen«, dozierte sie. Korfus blickte nicht auf.

Konsequenzen, hatte sie gesagt. Darum würden sie alle nicht herumkommen. Die Frage war nur, wie diese aussahen und wie sie in der Öffentlichkeit aufgenommen wurden. Seit Tagen schon blätterte die Dekanin allmorgendlich die örtliche Tageszeitung mit gemischten Gefühlen durch. Irgendwann, das stand zu befürchten, würde die Bombe platzen. Inständig hatte sie gehofft, dass dies nicht noch vor den Ferien geschehen würde. Am liebsten hätte sie die Angelegenheit hier und heute geregelt, um dann am Dienstag, nach dem Stadtfest, eine Pressemitteilung herauszugeben und damit klare Verhältnisse zu schaffen. Doch jetzt hatte dieser Simbach gekniffen.

Sie kochte innerlich. Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst. Irgendetwas in ihrem Kopf erinnerte sie an dieses Gebot. Sie war schließlich Theologin. Aber andererseits oblag es ihr, die Probleme innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs zu beseitigen. Und hier schwelte etwas, das keinen langen Aufschub mehr duldete.

»Wir werden das Thema vertagen«, entschied sie und machte damit deutlich, dass sie keine weitere Diskussion mehr wünschte. »Dann wird entschieden – und zwar mit oder ohne Herrn Simbach.« Ihr Blick wanderte zu Torsten Korfus, der wie immer einen Dreitagebart trug und seinen durchtrainierten Oberkörper in einem viel zu weiten dunkelblauen Sweatshirt versteckt hatte. »Dann werden wir selbstverständlich auch Herrn Korfus Gelegenheit zu einer persönlichen Stellungnahme geben.« Er sah auf und nickte zustimmend. Der junge Stadtpfarrer warf ihm einen verständnisvollen Blick zu.

Faller suchte erneut den Blickkontakt mit Stumper. Doch auch der wagte keinen Einwand. Es war für alle Beteiligten das Beste, vorläufig zu schweigen.

Alexander Simbach war nicht heimgekommen. Sabrina und ihre Tochter hatten dies auch nicht erwartet. Beide waren inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es am besten wäre, sich von ihm zu trennen. Sabrina fühlte sich an diesem Freitagmorgen, nachdem Silke in die Schule gegangen war, schon wesentlich besser. Immerhin waren sie sich einig. So konnte es auf gar keinen Fall weitergehen. Wenn Alexander glaubte, er müsse alles ausleben, was ihm in seiner Jugendzeit unter dem DDR-Regime versagt geblieben war, dann durfte er das – aber eben ohne sie. Eigentlich war er mit der neu gewonnenen Freiheit nie zurechtgekommen, hatte sie mit Abenteuer und Egoismus verwechselt und geglaubt, sich keinerlei Grenzen auferlegen zu müssen. Ihm war zwar ziemlich schnell das Prinzip von Kapitalismus und freier Marktwirtschaft klar geworden, doch hatte er sehr bald jegliches Augenmaß dafür verloren. Es war eine sinnvolle Entscheidung gewesen, bei der Eheschließung Gütertrennung zu vereinbaren. So konnte sie jetzt mit ihrem Ersparten ein neues Leben beginnen – auch wenn es schwierig werden würde. Doch sie war im Grund ihres Herzens lebenslustig, ehrgeizig und intelligent, dazu überaus hübsch, sodass sie selbstbewusst in die Zukunft blicken konnte. Sie musste nur wollen. Allein schon der Anblick der beiden Schreibtische bestätigte sie in ihrem Entschluss. Alexander konnte keine Ordnung halten. Wäre sie nicht gewesen, hätte er längst den Überblick verloren.

Sabrina war froh, dass sie vor einem Vierteljahr den arbeitslosen Sergije eingestellt hatten, einen jungen deutschstämmigen Russen, der in den neuen Bundesländern keine Arbeit gefunden hatte. Alexanders Bruder Anton, der in Sachsen lebte, hatte den 24-Jährigen vermittelt. Der junge Mann erwies sich als Glücksfall. Er sprang in die Bresche, wenn Alexander ausfiel, und organisierte jetzt auch den Getränkestand fürs Stadtfest. Nachdem Sabrina ihm 50 Euro versprochen hatte, war er nicht mehr zu bremsen.

»Es kann nichts mehr schief gehen«, erklärte der schlanke, groß gewachsene Mann, als er durch die offene Bürotür kam und vor den Schreibtischen stehen blieb.

»Danke«, lächelte Sabrina, »du bist mir eine große Hilfe.« Sie überlegte, ob sie es sagen sollte. »Mein Mann lässt uns wieder mal im Stich.«

»Er kommt nicht?«

Sabrina schichtete Papiere um und seufzte. »Er meint wohl, es reicht aus, den Chef zu spielen und das schöne Leben zu genießen.«

Sergije hatte zwar längst mitbekommen, dass es um die Beziehung der beiden nicht zum Besten stand. Trotzdem fühlte er sich jetzt einigermaßen unsicher. »Wir …« Er suchte nach einer passenden Formulierung. »Wir müssens also allein machen – heut Abend?«

»Sieht so aus«, stellte Sabrina fest, während sie in den Papierbergen nach etwas suchte und der Saum ihres Kleidchens weit über die Knie rutschte. Sergije nahm es zur Kenntnis.

»Soll ich noch ein paar Leute …?«

»Nein, lass nur. Wir werden das schon hinkriegen.« Sie sah in sein erstauntes Gesicht. »Ist doch nicht das erste Mal, oder?«

»Okay«, erwiderte er, »dann sorg ich dafür, dass heut Nachmittag alles klargeht.«

»Ich verlass mich auf dich«, zeigte sich Sabrina erleichtert und wandte sich wieder ihren Unterlagen zu.

Sergije verließ wortlos den Raum und lehnte die Tür an, während Sabrina einige Tasten drückte und auf die Verbindung wartete. »Ja, ich bins, die Sabrina«, meldete sie sich. »Kannst du gerade reden oder ist es ungeschickt?«

Sie verzog das Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln und lehnte sich zurück. Der Saum des Kleides rutschte noch weiter nach oben, aber niemand außer ihr konnte es sehen. »Er ist weg«, sagte sie leise und behielt die angelehnte Tür im Auge. »Ja, immer noch nicht heimgekommen.« Während sie lauschte, drehte sie mit den Fingern der linken Hand am Kabel. »Ich hab keine Ahnung«, erklärte sie dann. »Aber ich möchte dich um eines bitten.« Sie zögerte. »Meinst du, wir könnten uns am Dienstagabend sehen?« Er schien spontan dazu bereit zu sein. »Okay, danke. Das ist lieb von dir. Ich meld mich wieder.« Sie legte zufrieden auf. Jetzt waren alle Weichen in die richtige Richtung gestellt.

3

Der dumpfe Knall von Böllern hallte schaurig an den Hängen wider. Gleichzeitig schlug die Uhr der Stadtkirche 6-mal und zeigte damit die 18. Stunde des Tages an. Noch immer brannte die Sonne gnadenlos heiß vom Himmel. Die gestrigen Gewitter hatten sich nur örtlich entladen und die Luft noch schwüler gemacht, worauf die monströsen Wolkengebilde hindeuteten, die sich schon wieder über dem Mittelgebirge auftürmten. Davon unbeirrt waren die Ehrengäste und auch schon einige andere Besucher zum Vorplatz der Stadtkirche gekommen, wo in diesem Jahr der offizielle Fassanstich für den ›Hock‹ stattfand. Die Biertischgarnituren waren gut besetzt, als neben dem Standbild Kaiser Wilhelms I. der Fanfarenzug der Freiwilligen Feuerwehr das musikalische Signal für den Beginn des Stadtfestes setzte. Auf einer hölzernen Showbühne, die direkt vor dem südlichen Portal der Stadtkirche stand, bereiteten sich unterdessen drei Männer auf die Eröffnung vor: Oberbürgermeister Hartmut Schönmann, Bierbrauer Friedrich Kaiser und Festorganisator Detlef Stenzli, der in seiner weißen Kochkleidung erschienen war. Von der Fußgängerzone, die in einen riesigen Biergarten verwandelt war, strömten immer mehr Menschen zur Showbühne bei der Kirche. Als die Fanfarenklänge verhallt waren, schaltete Stenzli das Mikrofon ein und hieß die Gäste willkommen. Er zeigte sich erfreut darüber, dass die Planungsphase diesmal ohne interne Reibereien erfolgt sei und wertete dies als gutes Omen für das bevorstehende Festwochenende.

»Hoffentlich täuscht er sich da nicht«, flüsterte an einem der Prominententische ein älterer Herr seiner Tischnachbarin zu. Die verstand offenbar nicht so recht, was damit gemeint war. Erst als der Mann zum Himmel deutete, war ihr klar, dass sich die Bemerkung auf das aufziehende Gewitter bezog.

Oberbürgermeister Schönmann trat ans Mikrofon. Frisch frisiert, den dünnen Backenbart exakt geschnitten, also wie aus dem Ei gepellt, präsentierte sich der sportlich schlanke Rathauschef dem Publikum, lächelte freundlich, wie er dies bei solchen Anlässen immer tat, und gab sich so selbstbewusst wie nie. Nicht einmal die Anwesenheit seines Amtsvorgängers Michael Schlauch, der sich wieder unter die Prominenten gemischt hatte, konnte ihn heute aus dem Konzept bringen. Lange Zeit war er in solchen Situationen irritiert und sogar verunsichert gewesen. Zwar hatte er vor acht Jahren den Verwaltungsfachmann Schlauch, der als übermächtig galt, mit großer Stimmenmehrheit aus dem Amt katapultiert, doch war Schönmann unterschwellig vorgeworfen worden, die Wahl nur gewonnen zu haben, weil viele Bürger dem anderen für dessen selbstherrliches Auftreten einen Denkzettel verpassen wollten. Hartnäckig hielt sich deshalb die Behauptung, Schönmann sei selbst von seinem damaligen Wahlerfolg überrascht gewesen, zumal er als Diplomingenieur weder die Führungsqualitäten noch die Fachkenntnisse der öffentlichen Verwaltung besaß. Sogar die Dekanin hatte ihm damals geraten, die Wahl nicht anzunehmen. Ihr wäre der andere Kandidat schon wegen seines Engagements innerhalb der Evangelischen Kirche lieber gewesen.

Doch jetzt, nach der jüngst erfolgten Wiederwahl, war alles anders. Jetzt bestand kein Zweifel mehr, dass Schönmann bewusst gewählt worden war – und dies sogar trotz zweier ernstzunehmender Gegenkandidaten. Daran musste auch Konrad Faller denken, der mit seiner Ehefrau am Tisch der Kirchengemeinderäte saß. Zwei Bänke weiter hatte er die Dekanin, den Stadtpfarrer und den ehemaligen Oberbürgermeister Schlauch entdeckt. Fallers Gedanken schweiften ab. Während Schönmann zum hölzernen Schlegel griff, um mit dem Fassanstich eine der wichtigsten Amtshandlungen im Jahresverlauf vorzunehmen, dachte er an jene ›Hock‹-Eröffnung, als Schlauch den Zapfhahn besonders kräftig hineindonnern wollte. Den hatte damals allerdings der Bierbrauer gehalten – mit fatalen Folgen: Schlauchs kräftiger Schlegelhieb verfehlte die Spitze des Zapfhahns und traf stattdessen den Daumen des Brauers. Faller musste in sich hineingrinsen und plötzlich feststellen, dass er den aktuellen Fassanstich überhaupt nicht mitbekommen hatte. Abgesehen von einigen Spritzern Bier, die nach allen Seiten herausgezischt waren, schien alles nach Plan abgelaufen zu sein. Beifall. Fanfarenklänge.

»Er hat was gelernt«, kommentierte Schlauch nun den Fassanstich so laut, dass es alle an seinem Tisch verstehen konnten. Ein Tischnachbar aus den eigenen politischen Reihen wagte die spitze Bemerkung: »Sie habens ihm ja vorgemacht, wie mans nicht machen soll.« Schlauch ignorierte das.

Der Oberbürgermeister hatte inzwischen wieder am Prominententisch Platz genommen, wo ihm ein braun gebrannter Mann mit markantem Schnauzbart gegenübersaß. Es war Andy Ebner, der Bürgermeister der sächsischen Partnerstadt Bischofswerda. Der ›Hock‹ bot alljährlich eine willkommene Gelegenheit, die Kontakte auf kommunalpolitischer Ebene aufzufrischen. Deshalb war auch eine Delegation der französischen Partnerstadt Montceau-les-Mines angereist, allen voran Madame Valabreque, die sich seit Jahr und Tag um kulturelle Zusammenarbeit bemühte.

Schon bildete sich vor der Showbühne, wo das angezapfte Fässchen für Freibier sorgte, die übliche Schlange derer, die alljährlich bereits auf diesen Augenblick lauerten. Die Ehrengäste hingegen holten sich ihre Halbe Bier am Stand der Brauerei. Vor dem drohenden Gewitter, das einen tropischen Regenguss befürchten ließ, schienen alle Besucher so schnell wie möglich ein Getränk ergattern zu wollen. Es war schließlich nicht abzuschätzen, wie lange man noch trockenen Hauptes im Freien sitzen konnte.

Auch Konrad Faller hatte geduldig gewartet und Ursula Schanzel getroffen, eine der beiden Kirchengemeinderätinnen, die gestern ebenfalls zum ›Runden Tisch‹ gebeten worden waren. »Dann hoffen wir, dass wir heute nicht so frustriert heimgehen müssen«, begann er ein Gespräch und war jedes Mal aufs Neue vom jugendlichen Aussehen dieser Frau überrascht, von der er wusste, dass sie ihren 40. Geburtstag bereits gefeiert hatte.

»Heute gibts höchstens eine Überraschung von oben«, meinte sie und deutete zum Himmel.

»Man kann nie wissen, was uns der Himmel beschert«, meinte Faller, während er zwei Männern zuwinkte.

»Und trotzdem würd mich interessieren, warum der Alexander plötzlich kneift. Wenn es tatsächlich so ist wie behauptet wird, hat er doch am allerwenigsten zu befürchten.« Ursula Schanzel musste lauter sprechen, weil auf der Showbühne eine italienische Gruppe zu spielen begann.

»Ich hoff nur nicht, dass die Sache eskaliert, schon gar nicht jetzt beim Stadtfest.«

Sie hielt im zunehmenden Gedränge ihre Handtasche fester. »Was mich ein bisschen stutzig macht, ist Torstens Verhalten. Er tut so, als ob ihn dies alles nichts anginge.«

Die Schlange bewegte sich einen Schritt nach vorne. Faller rechnete sich in Gedanken aus, dass sie bei diesem Tempo erst in 20 Minuten ein Bier kriegen würden.

»So gehts mir auch«, stellte er fest. »Manchmal hab ich den Eindruck, als ob eine Zeitbombe ticken würde.«

Als die Dunkelheit hereinbrach, was gegen 21.30 Uhr der Fall war, zuckten Blitze. Wer jetzt noch kein trockenes Plätzchen unter einem Vordach oder einer im Winde flatternden Plane gefunden hatte, musste sich sputen. Dicke Regentropfen wurden durch die Fußgängerzone getrieben und verscheuchten auch die hartnäckigsten Gäste. Innerhalb weniger Minuten waren Tische und Bänke triefend nass. Die Musiker auf den verschiedenen Showbühnen, die gleichmäßig im Altstadtbereich verteilt waren, spielten unterdessen vor den leeren Plätzen weiter. Menschen drängten in die wenigen Kneipen oder suchten Schutz unter den Verkaufsständen. Dort, wo Organisator Detlef Stenzli als Koch fungierte und zusammen mit seinem Team diverse Köstlichkeiten vorbereitet hatte, war die schützende Plane weit genug auf den Gehweg hinausgezogen worden, um einem halben Dutzend Personen Platz zu bieten. Hier, wo auch die Freunde aus der französischen Partnerstadt Montceau-les-Mines Spezialitäten aus Burgund anboten, traf sich erfahrungsgemäß im Laufe des Abends alles, was Rang und Namen hatte. Kirchenmusikdirektor Tilmann Stumper, der nach zwei Vierteln französischen Weißweins, einem Bourgogne Chardonnay, seine gewohnt vornehme Zurückhaltung abgelegt hatte und sogar über einen deftigen Witz des wohlbeleibten Stadtrats und Leichenbestatters Peter Leichtle lachen konnte, spürte schon gar nicht mehr, dass ihm das Regenwasser von der Plane direkt in den Hemdkragen tropfte. Konrad Faller, der sich auch durch den Gewitterschauer noch bis zu diesem Stand vorgekämpft hatte, ließ sich von der netten französischen Dame, dank derer die Städtepartnerschaft seit Jahren am Leben erhalten wurde, einen Teller köstlichen Käses reichen. Aus den Töpfen von Koch Stenzli quoll weißer Wasserdampf, vermischt mit feinsten Gerüchen, die seine Gourmetkünste erahnen ließen. Und von schräg gegenüber beschallte eine Band dieses Altstadtquartier.

Faller hatte sich gerade mit zwei alten Bekannten unterhalten, was angesichts des Geräuschpegels nur durch gegenseitiges Zurufen möglich war, als er bemerkte, dass sich die Mesnerin ganz dicht an den Kirchenmusikdirektor herandrängte. Das musste die ältere Dame einige Überwindung gekostet haben, zumal sie sich ihm normalerweise nur ehrfurchtsvoll näherte. Aber so eine lockere Festatmosphäre ließ Etikette vergessen, schon gar, wenn der Alkohol die Zungen flinker machte. Faller hätte aber jetzt zu gerne gewusst, was die Dame dazu bewogen haben mochte, Tilmann Stumper inmitten des Sturzbaches anzusprechen, der sich von der Plane auf sie ergoss. Ihre Haare waren bereits klatschnass. »Mir ist da was durch den Kopf gegangen«, flüsterte sie dem überraschten Kirchenmusikdirektor zu. Der musste sich vorbeugen, um sie verstehen zu können. Ein Blitz zuckte und schon den Bruchteil einer Sekunde später folgte ein gewaltiger Donnerschlag, der die Musik übertönte und den Boden erzittern ließ.

»Wegen dem Simbach«, erklärte die Mesnerin, ohne gefragt worden zu sein. »Kein Mensch weiß doch, wo der ist.«

Stumper drehte sein Weinglas in der regennassen Hand und ging einen Schritt weiter zurück in den Verkaufsstand hinein, um der Frau einen trockenen Unterstand zu bieten. Wieder zuckte ein Blitz, krachte ein Donnerschlag.

»Alle rätseln, ja«, knüpfte der Organist an die Feststellung der Mesnerin an und sah, wie ihn Faller musterte, der knapp zwei Meter entfernt in einer dicht gedrängten Personengruppe stand.

»Ich glaub, ich hab ihn gestern Nachmittag in der Kirche gesehen.« Die Mesnerin achtete darauf, dass keiner der Umstehenden sie hören konnte. »Als Sie gespielt haben«, fügte sie hinzu.

Stumpers Gesicht verriet Überraschung. »Und dann? Ich meine, was ist geschehen?«

»Nichts. Was soll schon geschehen sein? Ich hab ihn halt nicht mehr rauskommen sehen, wenn ich mir das so überlege.«

Es schüttete nun. Trotzdem schoben sich noch immer Festbesucher an der Rückseite des Verkaufsstandes vorbei. Manche versuchten hier ein trockenes Plätzchen zu finden, mussten aber einsehen, dass sie in diesem Gedränge keine Chance hatten. Koch Stenzli legte neues Fleisch in seine fettheiße Pfanne, was sich durch kräftiges Zischen bemerkbar machte.

Stumper ließ sich nicht ablenken. »Was heißt das: Er ist nicht mehr rausgekommen? Ich mein«, er überlegte, »der Letzte, der gegangen ist, war ich.«

»Das mein ich, ja«, sagte sie zögernd. »Sie müssten ihn noch gesehen haben. Wenn«, der Frau war es bei dieser Feststellung nicht ganz wohl. »Wenn, ja, wenn er rausgegangen wäre.«

»Na ja«, überlegte er, »ich sitz oben an der Orgel – und was in der Kirche geschieht, entzieht sich natürlich meinem Blickwinkel.«

Die Mesnerin holte tief Luft. Die Angelegenheit musste sie in den letzten Stunden sehr beschäftigt haben, denn sonst hätte sie es nie gewagt, den Kirchenmusikdirektor zu belästigen, schon gar nicht in dessen Freizeit. »Er ist aber raufgegangen«, sagte sie bestimmt. So hatte er sie noch nie erlebt. »Die Treppe rauf.«

Stumper kniff jetzt die Augen zusammen und sah sich um. Immer noch diese Blicke von Faller.

»Die Treppe rauf – zu mir?«

»Ja. Er hat wohl nicht bemerkt, dass ich ihn sehe. Er ist rauf und hat sich immer wieder umgeschaut. Als sei ihm das alles irgendwie peinlich.« Sie überlegte wieder. »Und Sie haben ihn nicht gesehen? Er müsste doch an Ihnen vorbeigekommen sein.«

Ein Blitz erhellte Stumpers blasses Gesicht. »Wie sollte ich ihn sehen?« Seine Antwort klang leicht missmutig und ging im Donner unter. »Wenn ich mich auf meine Noten konzentriere, sehe ich nicht, wer von der Treppe her kommt. Außerdem blendet mich das Licht am Pult.«

Die Mesnerin wischte sich die Nässe von den Schultern. »Aber«, sie sah ihn fest an, auch wenn sie im Dämmerlicht keine Details in seinem Gesicht erkennen konnte. »Aber später war die Tür zum Turm offen.«

Stumper schluckte. Tatsächlich. Das hatte die Mesnerin doch sogar noch bemängelt. »Sie sind dann aber doch auch hochgegangen, wenn ich mich recht entsinne …?«

»Um ehrlich zu sein, ich hab in diesem Moment nicht dran gedacht, dass Simbach dort oben sein könnte. Ich hab gedacht, er sei nur kurz zu Ihnen gegangen. Erst heut Mittag, als ich gehört hab, dass er verschwunden ist und gestern Abend nicht mal bei dieser Sitzung war, ist mir das wieder eingefallen.«

»Aber Sie waren doch oben. Da war er nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Außerdem war ich nur auf dem Dachboden der Kirche – nicht oben im Turm.«

Stumper stellte sein leeres Glas auf eine Ablage und verschränkte die Arme. »Okay, Frau Gunzenhauser, selbst wenn er da hochgegangen ist. Ungewöhnlich wär das nicht. Er wird einen seiner Kontrollgänge gemacht haben. Dafür ist er doch Mitglied in diesem Arbeitskreis, der sich um die Kirche kümmern soll.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ungewöhnlich ist nicht, dass er da raufgegangen ist. Mich hat nur gewundert, wie er das getan hat und dass ich ihn nicht mehr runterkommen gesehen habe.«

Wieder ein Blitz. Diesmal krachte der Donner fünf, sechs Sekunden später. Das Gewitter zog ab, doch der tropische Regenguss prasselte weiter.

Stumpers Augen trafen sich erneut mit Fallers Blick. »Und was wollen Sie damit sagen?«

»Entschuldigen Sie. Es war nur so ein Hinweis. Es könnte doch sein, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

»Zugestoßen? Was soll ihm denn zugestoßen sein – droben im Turm?«

»Keine Ahnung. Aber wenn er nicht mehr runtergekommen ist, müsste er ja noch oben sein.«

»Gute Frau«, versuchte es Stumper jetzt auf die einfühlsame Art. »Seit gestern Nachmittag ist die Kirche immer wieder unverschlossen gewesen. Er hätte genügend Zeit gehabt, wieder rauszugehen, ohne gesehen zu werden.«

»Und wenn er nicht konnte? Wenn ihm wirklich etwas zugestoßen ist?« Stumper kniff die Lippen zusammen und überlegte. »Sie«, er suchte nach einer Formulierung. »Sie wollen jetzt aber damit nicht sagen, dass wir nachsehen sollten? Jetzt, bei diesem Wetter?«

Wieder zuckte die alte Dame mit den Schultern. »Ich hab es Ihnen gesagt und damit meine Pflicht getan.«

Beide schwiegen nun. Um sie herum waren die Gespräche trotz des heftigen Regens weitergegangen. Auch die Kapelle beschallte unvermindert die Fußgängerzone, auf der sich inzwischen großflächige Pfützen gebildet hatten.

Die Mesnerin wagte einen neuen Vorstoß, den sie ohne das Viertel Rotwein, das sie vorhin getrunken hatte, sicher niemals riskiert hätte. »Na ja – ich dachte nur. Ich wollte nicht gleich zur Polizei gehen.«

»Polizei?«, entfuhr es Stumper schlagartig, und er erschrak darüber, dass er viel zu laut geworden war. Offenbar hatte es sogar Faller gehört.

Sie hatten sich kurz verständigt und dann von den anderen Personen verabschiedet, mit denen sie unter der Plane gestanden hatten. Tilmann Stumper, Konrad Faller und Mesnerin Maria Gunzenhauser verließen den Verkaufsstand und gingen, dicht an die Hauswände gedrängt, um nicht dem vollen Regen ausgesetzt zu sein, die Fußgängerzone hinauf. Die Reihen der Biertische waren verwaist, unter den Verkaufsständen überlegte das Personal, ob sich eine weitere Anwesenheit noch lohnen würde. Zwar hielten sich die Temperaturen im angenehm lauen Bereich, doch wollte das Gewitter einfach nicht abziehen. Vom Turm der Stadtkirche schlug es 23 Uhr. Hätte das Wetter gehalten, wäre jetzt noch einiges los. So aber waren nur die hartnäckigsten Besucher geblieben und hatten die wenigen trockenen Sitzmöglichkeiten in Beschlag genommen, wie etwa unter der Passage des Verlagshauses der ›Geislinger Zeitung‹. Von gegenüber dröhnte Musik aus einem voll besetzten Lokal. Hier bogen die drei Personen in eine Seitengasse ein, um nach wenigen Schritten die Rückseite der Stadtkirche zu erreichen. Faller deutete an, dass sie nicht links zum Hauptportal, sondern rechts zum Nordeingang gehen sollten. Dort, abseits des ›Hock‹-Geschehens, wo die Lichtverhältnisse schlecht waren, hatten sie eine gute Chance, nicht gesehen zu werden. Vorbei am Toilettenwagen, in den gerade eine schwankende Gestalt stieg, folgten sie der Rundung des Chors und tauchten in die regennasse Dunkelheit ein. Das große Kirchengebäude schirmte diesen Bereich der Altstadt von der wattstarken Musik jener Showbühne ab, die auf dem jenseits gelegenen Kirchplatz aufgebaut war.

Wortlos erreichten die drei nächtlichen Passanten die Tür, wo sie unter einem kleinen Mauervorsprung Schutz vor dem Regen suchten. Während wieder ein Blitz zuckte und ein gewaltiger Donner die Luft erfüllte, sahen sie sich um. Mesnerin Gunzenhauser kramte aus ihrer Umhängetasche einen Schlüsselbund und reichte ihn Faller, als sei es ihr in dessen Gegenwart nicht erlaubt, die Kirchentür aufzuschließen. Er steckte den Schlüssel in das Schloss und ließ es zweimal aufschnappen. Noch einmal blickten sie sich prüfend um, ehe sie eintraten und die Tür hinter sich wieder verriegelten. Die Musik von draußen hallte. Durch die Fenster auf der anderen Seite drang diffus Scheinwerferlicht herein, sodass schemenhaft die Umrisse von Gegenständen und Bildern zu erkennen waren. Die Musik hörte sich seltsam verzerrt an. »Wir machen kein Licht«, entschied Faller leise, als habe er Angst, ein Fremder könnte mithören. Er ging an den Bänken vorbei nach hinten, wo es einen kleinen Veranstaltungsraum gab. Unterdessen holte die Mesnerin aus ihrer Tasche eine Taschenlampe hervor und leuchtete damit den Boden vor ihnen ab. Somit konnten sie wesentlich schneller zur Treppe gehen. Faller stieg als Erster hinauf, gefolgt von der Mesnerin, die ihm die Stufen ausleuchtete. Stumper folgte mit gemischten Gefühlen. Sie hatten gerade das Orgelpodest erreicht, als ein Blitz das Kircheninnere für den Bruchteil einer Sekunde taghell erleuchtete und ein Donner das gesamte Gebäude erbeben ließ.

»Das Gewitter ist dicht über uns«, stellte Stumper fest.

Niemand antwortete. Faller war jetzt an der Tür zum Dachboden angelangt. »Verschlossen«, meinte er knapp und griff wieder zum Schlüsselbund.

Maria Gunzenhauser leuchtete ihm. »Natürlich verschlossen. Ich hab doch gestern verriegelt.«

»Dann hätten Sie ihn ja eingesperrt«, kommentierte Stumper. »Wenn er droben gewesen wäre, mein ich.«

Die Tür schwenkte auf und Faller umgab ein Schwall warmer Luft. Der Geruch nach Holz und Sägespänen machte sich breit. »Also, rauf«, entschied er. Die drei Personen blieben eng beieinander, um den Lichtkegel der kleinen Taschenlampe nutzen zu können.

Faller spürte Spinnweben im Gesicht und schloss daraus, dass hier in den letzten Stunden niemand gegangen war. Schwer atmend erreichten sie den ersten Absatz, an den sich rechts der geräumige Dachboden des Kirchenschiffs anschloss. Vor ihnen standen die Metallkästen mehrerer Mobilfunkbetreiber, die hier, wie in vielen Kirchen landauf, landab, Sendeanlagen installiert hatten und dafür fürstliche Nutzungsgebühren bezahlten – soviel, dass zumindest ein Teil der Instandhaltung der Gebäude finanziert werden konnte. Die Kühlgebläse rauschten und übertönten den prasselnden Regen auf dem Ziegeldach. Dazwischen mischte sich die Musik, die vom Kirchplatz heraufdrang.

Stumper blieb stehen und atmete schwer. »Hier waren Sie?«, wandte er sich an die Mesnerin, die vor ihm stand.

»Dort, ja«, erwiderte Maria Gunzenhauser und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe im Dunkel des Dachbodens gleiten. Sie schwitzte.

Faller war bereits ein paar Schritte weitergegangen und tastete sich zu einer alten Holztür vor, hinter der sich eine steil nach oben führende Treppe verbarg. Er kannte hier jeden Winkel, schließlich war er lange genug Mitglied des Kirchengemeinderats und hatte sich anfangs sogar um die Glocken gekümmert. Erst seit es den Arbeitskreis zur Erhaltung der Kirche gab, war diese Aufgabe an Torsten Korfus delegiert worden.

Faller war bereits fünf Stufen vorausgeeilt, als durch die schmalen Luken im Turmgemäuer ein aufzuckender Blitz ihm Orientierungshilfe bot. Wieder folgte ein Donnerschlag.

»Bei so einem Gewitter ist es nicht gerade gemütlich hier oben«, hörte er hinter sich Stumpers Stimme. Er schien außer Atem zu sein.

Inzwischen leuchtete die Taschenlampe wieder durch Fallers Beine.

»Hier drin passiert uns nichts«, versicherte die Mesnerin, die offenbar Mühe hatte, bei Fallers Tempo mitzuhalten. »Wir haben doch überall Blitzableiter. Außerdem …« Sie senkte die Stimme. »Außerdem wird uns Gott, der Herr, beschützen. Wir glauben doch alle an ihn, oder?«

Die beiden Männer erwiderten nichts. Faller hatte bereits den nächsten Zwischenboden erreicht. Dort befand sich der Schaltkasten für die elektrische Uhr, die von hier aus Zeiger, Stundenschlag und das Geläut droben im Glockenstuhl steuerte. Die Mesnerin leuchtete den kleinen Raum aus und wies mit dem Lichtkegel den Weg zur rechten Seite, wo eine Holztreppe weiter nach oben führte. »Ich glaub ja kaum, dass Simbach bis zu den Glocken hochgestiegen ist, warum auch?«, meinte Faller, während er bereits wieder deutlichen Vorsprung hatte. Er spürte, wie sich unter seinem regennassen Hemd Schweiß bildete. Seine beiden Begleiter hechelten jetzt schnell atmend hinter ihm her. »Wir habens gleich geschafft«, meinte die Mesnerin, als wolle sie sich damit selbst Mut zusprechen.

Faller näherte sich der Glockenstube. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er beim Hochsteigen bereits jene Metallkonstruktion erkennen konnte, zwischen der die Glocken wie schwarze Kolosse hingen. Bei der letzten Sanierung, vor rund 30 Jahren, hatte man das morsch gewordene Holz gegen ein Stahlgerippe ausgetauscht.

Die heiße Luft nahm plötzlich einen seltsamen Geruch an. Faller verlangsamte instinktiv seinen Schritt. Es roch nicht mehr nach warmem Holz und altem Gemäuer. Ein seltsam beißender Gestank schlug ihm entgegen. Er blieb auf der zweitletzten Stufe stehen.

»Ist was?«, fragte die Mesnerin jetzt völlig außer Atem. Stumper hinter ihr schwieg und war froh, sich für einen Moment von den Strapazen des Aufstiegs in dieser schwülheißen Nacht erholen zu können.

Faller tastete hinter sich nach der Hand der Mesnerin, um die Taschenlampe greifen zu können. Er spürte das handwarme Metall und richtete die Lampe nach vorne.

»Warum geht ihr nicht weiter?«, meldete sich jetzt Stumper, der im Dunkeln stand.

Maria Gunzenhauser schien den Grund von Fallers plötzlichem Zögern erkannt zu haben. »Es riecht so komisch«, flüsterte sie.

Faller ließ den Strahl über die Metallkonstruktion gleiten und traf damit die vordere Glocke, deren dunkles Metall sämtliches Licht verschluckte. Gerade als er die paar Schritte vollends nach oben stieg, übertönte ein metallisches Klicken das unvermindert starke Rauschen des Regens. Die drei Personen blieben für einen Augenblick regungslos stehen. Niemand von ihnen konnte das Geräusch zuordnen. Zeit zum Nachdenken blieb nicht, denn eine halbe Sekunde später erfüllte ein gewaltiger Glockenschlag den Raum. Und dann, als sei es erst der Anfang eines Horrorszenarios, zuckte wieder ein Blitz, dem sofort der Donner folgte und den ganzen Turm erzittern ließ.

Faller war der Erste, der sich wieder fing. »Viertel nach 11«, stellte er sachlich fest, spürte dabei aber einen Kloß im Hals. Ob dieser von dem gerade überstandenen Schock herrührte oder von dem penetranten Gestank, hätte er nicht sagen können. Stumper, der jetzt auch die Glockenstube betreten hatte, war entsetzt: »Hier stinkts ja bestialisch.«

Faller sagte kein Wort. Er hatte den Lichtkegel der Taschenlampe nach rechts gerichtet – in den schmalen Freiraum zwischen der Glockenaufhängung und der Wand. Was er dort sah, ließ ihn schaudern. Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Nur langsam zog das Gewitter ab und der Regen ließ nach. Weil es nicht allzu sehr abgekühlt hatte, blieb die Nacht ungewöhnlich mild. Die Festbesucher, die unter Planen und Vordächern Schutz gesucht hatten, gruppierten sich jetzt wieder um die Verkaufsstände. Obwohl es inzwischen auf Mitternacht zuging, hatten die Bands und Showgruppen dem tropischen Regen getrotzt und weitergespielt.

Sabrina Simbach wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Füße waren nass, denn das Wasser hatte sich unter ihrem Stand hindurch einen Weg zum nächsten Gully gesucht. Sergije war den ganzen Abend über eine große Hilfe gewesen. Er hatte bedient, während sie kassierte und eine andere Angestellte für Nachschub sorgte und die Spülmaschine mit schmutzigen Gläsern belud und wieder entleerte.

Sabrina atmete ein paar Mal tief durch, als sie im Licht der Kandelaber einen Mann näher kommen sah. Es war Bierbrauer Friedrich Kaiser, dessen blaues Hemd am Oberkörper klebte. Sein ernstes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Den Regenguss gut überstanden?«

Sabrina kam auf ihn zu und stand ihm am Verkaufstisch gegenüber. »Es ist ja wenigstens nicht kalt geworden«, erwiderte sie, während sie sich die Hände schüttelten.

»Ich glaub auch, dass wir noch mit einem blauen Auge davongekommen sind.«

»Aber morgen soll das Wetter wieder besser werden«, erwiderte Sabrina. »Wenn wir Glück haben, holen wir alles wieder rein.«

»Wo ist eigentlich Ihr Mann?«

Sie zuckte mit den Schultern. Was sollte sie jetzt auch sagen? Die ganze Stadt munkelte schließlich über Alexanders seltsames Verhalten. Und spätestens jetzt, nachdem er weder zu der gestrigen Sitzung mit der Dekanin erschienen war noch sich am Verkaufsstand hatte blicken lassen, würden neue Gerüchte die Runde machen. »Er hat sich der Verantwortung entzogen«, erklärte Sabrina. Sie war nicht mehr bereit, ihre Situation zu beschönigen oder ihn in Schutz zu nehmen. Das hatte sie viel zu lange getan und sich einengen lassen. Nein, wenn die ganze Stadt wusste, was los war, dann ging sie jetzt in die Offensive.

»Aber geschäftlich läuft es?«, hakte der Bierbrauer nach. »Oder hängt das alles jetzt an Ihnen?«

Klar, auch Kaiser hatte längst mitbekommen, dass Alexander kaum noch Interesse am Geschäft zeigte.

»Es hängt an mir. Und ich befürchte, daran wird sich auch kaum noch was ändern.«

Kaiser wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, sagte er schließlich, »dann lassen Sie es mich wissen.« Er versuchte ein Lächeln, das sie erwiderte.

»Danke, Herr Kaiser. Es kann durchaus sein, dass ich auf Sie zukomme.«

Er zögerte einen Moment. Der Tonfall hatte ungewöhnlich bestimmt geklungen. »Sie befürchten … , dass es … Schwierigkeiten geben könnte?«

»Geben?«, wiederholte sie erschöpft. »Um ehrlich zu sein – ich glaub, ich bin schon mitten drin.«

»Wie gesagt – Sie können mich jederzeit anrufen.«

Eine hübsche Frau, dachte er und ging weiter. Oder wäre es besser gewesen, sich ihrer anzunehmen? Aber was würde das wieder für ein Geschwätz geben, wenn er jetzt den Seelentröster spielte?

Sie hatten sich über die Rot-Kreuz-Leitstelle per Handy die Telefonnummer des diensthabenden Arztes geben lassen. Noch spielte vor dem Hauptportal der Kirche eine Kapelle, weshalb sie ihn gebeten hatten, zum Hintereingang zu kommen. Sie wollten jetzt, kurz vor Mitternacht, kein Aufsehen erregen oder gar gegen betrunkene Schaulustige ankämpfen. Maria Gunzenhauser schluchzte, Stumper zitterte. Seine regennasse Kleidung ließ ihn frösteln. Nur Faller bewahrte Haltung. Sie lehnten in einer Kirchenbank und warteten auf Dr. Lutz. »So wie das hier stinkt, muss er seit gestern da oben liegen«, durchbrach Faller die Stille. Sie hatten dies bereits droben im Turm beim Anblick des Toten gemutmaßt.

»Die Hitze hat ihm zugesetzt«, meinte Stumper und holte tief Luft. Er sprach so leise, dass ihn die anderen wegen der lauten Musik vor dem Hauptportal kaum verstehen konnten.

Die Mesnerin schnäuzte sich. »Der ist doch aber …« Sie unterdrückte einen neuerlichen Weinkrampf. »Der ist doch nicht gestorben, weil ich ihn eingeschlossen hab?«

»Nein, Frau Gunzenhauser, ganz gewiss nicht«, beruhigte Faller die Frau. Seine Stimme hallte durch den sakralen Raum, über dem sich vorne das abgehängte Kreuz vom helleren Hintergrund des Chors abzeichnete. »Ein Mann wie Herr Simbach hätte die Tür locker eingetreten. Außerdem hatte er bestimmt auch ein Handy dabei. Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich geh davon aus, dass er einen Herzinfarkt erlitten hat.«

Es klopfte an der Tür. Faller drehte den Schlüssel und öffnete. Vor ihm stand ein großer Mann, dessen Silhouette auf einen schlanken, durchtrainierten Körperbau schließen ließ.

»Dr. Lutz«, stellte er sich vor.

»Mein Name ist Faller, ich hab Sie angerufen«, erklärte der Kirchengemeinderat, ließ die Tür sanft ins Schloss fallen, ohne sie abzuschließen, und stellte die beiden anderen Personen vor. Er erklärte, worum es ging und dass man zunächst Aufsehen vermeiden wolle.

»Es riecht bereits ziemlich streng«, fügte er noch hinzu und forderte den Mediziner auf, ihnen nach oben zu folgen.