Schimmernder Dunst über CobyCounty - Leif Randt - E-Book

Schimmernder Dunst über CobyCounty E-Book

Leif Randt

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Beschreibung

»Mit diesem Roman beginnt eine neue Zeitrechung in der deutschen Literatur.« Jana Hensel, Der Freitag. Jedes Jahr im Frühling strömen kreative Menschen aus allen Nationen nach CobyCounty, dem berühmten Ort am Meer, der einst von einem Kosmetikkonzern gegründet wurde und heute ein sonniges und progressives Leben im Wohlstand verspricht. Der 26-jährige Wim Endersson wurde in CobyCounty geboren, ist mit der Pianistin Carla liiert und arbeitet als Literaturagent. Scheinbar zufrieden denkt er an die sinnlichen Knutschszenen, tragischen Trennungen und ausschweifenden Tanzpartys seiner langen Jugend zurück. Doch als sein bester Freund Wesley, dessen Mutter sich dem Neo-Spiritualismus zugewandt hat, die Stadt aufgrund einer Prophezeiung verlässt, droht sich Wims CobyCounty für immer zu verändern. Eine Magnetschwebebahn entgleist, ein Sturm zieht auf, die Zeichen verdichten sich … »Schimmernder Dunst über CobyCounty« ist die erste utopische Parabel des jungen Leif Randt.

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Seitenzahl: 224

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Leif Randt

Schimmernder Dunst über CobyCounty

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Leif Randt

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Motto

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

»Nicht für jeden wäre ein Leben in CobyCounty sinnvoll. Wer wenig Interesse an ausschweifenden Festen und sommerlichen Romanzen hat, dem würde ich davon abraten, in dieser Gegend hier ein Apartment zu mieten.«

* Tom O’Brian, 57, Besitzer eines Hotelturms

»Als wir die Kinder von CobyCounty waren, wussten wir noch nicht, dass wir an einem der besten Orte der Welt lebten. Heute ahnen wir es. Aber das macht es nicht leichter.«

* Wim Endersson, 26, Literaturagent

»Eine Krise der ansässigen Kosmetik- und Kulturindustrie ist jederzeit möglich, manchmal sogar erwünscht.«

* Jerome Colemen †, Kaufmann und Visionär

»Ich liebe diese Stadt!«

* Wesley Alec Prince, 26, Kunsthistoriker

Inhaltsverzeichnis

1

Weil es der fünfundsechzigste Geburtstag meiner Mutter ist, stehen Senioren in beigefarbenen Regenmänteln auf der Dachterrasse. Am Himmel haben sich Wolken aufgetürmt, es nieselt ganz leicht. Meine Mutter spricht zur Begrüßung ein paar Worte und verweist auf die Bar. Dort stehe ich und winke. Für mich ist nicht auszumachen, welche der anwesenden Gäste Freunde meiner Mutter und welche normale Kururlauber sind. Die meisten wirken sympathisch auf mich, weil ihnen die schnell ausgetrunkenen Aperitifs fürsorglich glänzende Augen gemacht haben. Für diese Leute scheine ich noch ein Junge zu sein. Dabei bin ich schon seit sieben Monaten mit dem Studieren fertig, dabei verdiene ich schon Geld, dabei trage ich ein qualitativ hochwertiges Hemd. Das Hotel gehört dem Lebensgefährten meiner Mutter, er heißt Tom O’Brian und geht gelassen auf seinem eigenen Dach spazieren. Tom ist erst siebenundfünfzig. Manchmal kommt er an der Bar vorbei und macht Sprüche: »Na, Wim, trinken wir einen Wodka-Apfelsaft zusammen?« Wodka-Apfelsaft: das ist so ein Running Gag zwischen uns, seitdem ich mich vor sieben Jahren einmal in der Lobby übergeben musste. Es war nicht als Kritik an Tom O’Brian gemeint, es war schlicht ein Versehen, mir war im doppelstöckigen Linienbus schwindlig geworden und dann hatte ich die Strecke zum Bad unterschätzt. Ich greife unter die Theke und reiche Tom ein Bier aus der Kühlbox. Er hat schmale Schultern und trägt ein Feinkordjackett, dazu helle Jeans und Wildlederboots. Bevor er weitergeht, klatschen wir uns ab, so wie ich früher in der Highschool meine engen Freunde abgeklatscht habe, demonstrativ und leicht verspannt. Den Hotelturm hat Tom vor elf Jahren erbaut, mit meiner Mutter ist er seit sieben Jahren zusammen, sie erarbeitet Marketingkonzepte, die den Nerv diverser Altersgruppen treffen. Selbst manche meiner Freunde checken im Frühling gelegentlich hier ein. Ich habe damit kein Problem, denn ich liebe ja Tom O’Brian und den Hotelturm und meine Mutter. In ihrem engen Hosenanzug und mit der klassischen Kurzhaarfrisur sieht sie leicht unterkühlt und sehr elegant aus. Im Laufe des frühen Abends frage ich sie, wie viele der Leute auf dem Dach sie schon einmal persönlich kennengelernt habe. Sie schaut sich um und sagt: »Gefühlte achtunddreißig Prozent.« Meine Mutter lebt seit über vierzig Jahren in CobyCounty, ich glaube, dass sie dabei immer ehrlich zu sich selbst war. Ich gieße ihr ein Glas mit Pepsicola voll. Die meisten ihrer Gäste bestellen leichte Mischgetränke und es kommt mir so vor, als würden die älteren Leute in CobyCounty wieder so trinken wie die Alkoholanfänger in CobyCounty. Als schließe sich da ein Kreis und als seien die verschiedenen Altersgruppen in unserer Stadt freundschaftlich miteinander verwoben. Andererseits kann ich die Anwesenden gar nicht mit gutem Gewissen als ›ältere Leute‹ beschreiben, vielmehr sind es ›vitale Frauen und Männer in ihren späten sechziger Jahren‹. Viele von ihnen müssen wie meine Eltern als Zwanzigjährige nach CobyCounty gekommen sein, um zuerst Filmfirmen oder Verlage zu gründen und später Konzeptgastronomien zu eröffnen. Plötzlich denke ich, dass diese adretten Erwachsenen, die nun mit ihren glasigen Augen vor mir auf dem Dach herumstehen, wahrscheinlich einmal junge Avantgardisten gewesen sind. Als sich der Nieselregen zu einem Sturzschauer verdichtet, strecken viele von ihnen sofort ihre Arme zum Himmel und beginnen zu tanzen. Sie bewegen sich so, als würden sie sich alle zeitgleich an alte Camcorderaufnahmen von ihren früheren Tänzen im Regen erinnern. Meiner Mutter läuft Wasser aus den kurzen Haaren über das Gesicht, sie lacht und ruft die Leute ins Innere des Hotels. Die Bar, hinter der ich stehe, ist mit einer Plane überspannt, ich höre den Regen darauf eintrommeln und räume Weißweinflaschen in die Kühlbox. Bald klingt der Regen wie Hagel und die Plane flattert im Sturm. Wenig später trage ich die Box vor mir her ins Gebäude, noch fünf Senioren tanzen durchnässt übers Dach. Ich nicke ihnen zu. Aggressive Unwetter wie dieses sind Anfang Februar völlig normal, meine Mutter ist gut darauf vorbereitet.

 

In den Suiten im neunten Stock werden die nassen Kleider abgestreift und heiße Bäder genommen. Einige der Gäste machen sich nun sicher einen Partyspaß daraus, den Schaum durch die Badezimmer zu wirbeln. Ich stehe mit blanken Fußsohlen auf den beheizten Fliesen von Suite 914. Alles ist vorbereitet, die Wanne wurde mit dampfendem Wasser gefüllt, auf ihrem Rand glänzt ein Sektkühler. Mein Hemd hängt zum Trocknen über einer Stange. Plötzlich öffnet jemand die Tür. Die ehemalige VWL-Professorin Joline Caulfield und der betrunkene Cousin meiner Mutter treten ein, sie begrüßen mich herzlich und legen ihre Bademäntel ab. Ich mache einen Knoten in die Bändel meiner Schwimmshorts und ziehe meinen kaum sichtbaren Bauchansatz ein. Der austrainierte Cousin meiner Mutter, dessen Namen ich vergessen habe, hat weiße Haare auf der Brust, die er völlig selbstbewusst in den Raum streckt. Er steigt als Erster in die Wanne. Sie ist trotz ihrer ovalen Form groß genug für drei. »Oder ist dir das unangenehm mit uns?« Ich habe nie bei Joline Caulfield studiert, aber immer viel Gutes über sie gehört. Ich sage: »Ach was.« Als wir wenig später bis zu den Schultern mit Schaum bedeckt sind und sich unsere Beine unten im Wasser jederzeit zu berühren drohen, reichen wir die Sektflasche im Kreis herum. Ich sitze an der Stirnseite, links Caulfield, rechts der Cousin, ich hätte Gläser nicht schlecht gefunden. Aus den Radioboxen an der Raumdecke grüßt meine Mutter. Sie hofft, dass sich alle wohlfühlen und aufwärmen, und lädt für später zum Buffet in der Lobby ein. Joline Caulfield nimmt einen großen Schluck Sekt und fragt nach meinen Plänen für den Frühling. Ich blicke auf die schwarzen Träger ihres Bikinis. Die älteren Bewohner von CobyCounty gehen immer davon aus, dass der Frühling für uns Jüngere mit prägenden Neudefinitionen einhergeht. Als würden uns die Wochen zwischen März und Mai zu völlig unsoliden Figuren transformieren. Vermutlich denken sie das, weil es so in diversen Kultur- und Businessmagazinen nachzulesen ist. Über den Frühling in CobyCounty gibt es regelmäßig Reportagen mit szenischen Einstiegen: ›Gegen zehn am Morgen hat das junge Paar aus Bristol UK noch lange nicht genug vom Tanzen im Sand.‹ Und auf diese Sätze folgen dann immer Statistiken, die kaum zu glauben sind, und danach wieder Beschreibungen, die sich mit den eigenen Eindrücken merkwürdig vermengen.

Um in diesem Schaumbad nicht zur Projektionsfläche für eine ehemalige Volkswirtschaftsprofessorin und einen austrainierten Cousin zu werden, behaupte ich, dass ich im kommenden Frühling vielleicht verreise: »Mich interessiert, wie das Frühlingsleben an anderen Orten aussieht.« Danach sage ich nichts mehr und sehe die beiden nachdenklich im Schaum sitzen. Wahrscheinlich fragen sie sich jetzt, ob ich nur ein besonders merkwürdiger später Jugendlicher bin oder ob sie vielleicht doch ganz falsche Vorstellungen von Gegenwartsjugend haben. In Wahrheit plane ich natürlich nicht, im Frühling zu verreisen, in Wahrheit fiebere ich dem Frühling in CobyCounty genauso entgegen wie alle anderen auch. Joline Caulfield hält die Sektflasche in den schwülen Badedunst. Die Flasche ist von außen beschlagen, ich greife nach ihr und trinke und wundere mich, dass der Sekt noch perlt. Dann bricht der Cousin das Schweigen: »Also wir sollten bald mal ans Buffet, meint ihr nicht?« Als er sich aus der Wanne erhebt, hängt seine Brustbehaarung in dunkelweißen Streifen an ihm herunter. Er rubbelt sie mit einem Handtuch trocken und klatscht danach in die Hände. Nahezu synchron verlassen nun auch Miss Caulfield und ich das noch immer heiße Wasser.

 

Am Buffet treffe ich meine Mutter, sie hält ihre nächste Pepsicola in der Hand und hat frisch geföhntes Haar. Sie fragt, mit wem ich habe baden müssen. Ich erzähle es ihr und sage, dass es überhaupt gar kein Problem gewesen sei, meine Mutter grinst und fährt mir mit einer Hand über den Kopf: »Viele sind noch gar nicht wieder aus den Bädern gekommen«, sagt sie, »da ergeben sich vielleicht ein paar Romanzen.« Als ich ernst nicke, lacht meine Mutter: »Ach Wim, irgendwann wirst du manches nicht mehr so eng sehen.« Ich nicke wieder und atme aus und schöpfe mir etwas Fenchelcremesuppe in einen tiefen Teller. Bevor meine Mutter davongeht, drückt sie mich kurz an sich und sagt: »Bald wird es Frühling!« Ich schreibe Wesley eine SMS, in der steht, dass sich das Milieu unserer Mütter fast genauso auf den Frühling freut wie wir. Dabei kann ich gar nicht behaupten, dass unsere Mütter dem gleichen Milieu angehören, denn Wesleys Mutter hat CobyCounty vor eineinhalb Jahren als Neo-Spiritualistin verlassen. Sein Dad, der ein einflussreicher Webdesigner ist, aber aus Understatementgründen in einem kleineren Apartment lebt als sein Sohn, hat sie nicht daran hindern wollen. Wesley wird nie müde zu erwähnen, dass er CobyCounty liebt. Bislang bucht er nur im Sommer billige Flüge, verschwindet für lange Wochenenden und betrinkt sich an fremden Orten, bloß um dann an regnerischen Dienstagen völlig ermattet zurückzukehren: »Woanders würde ich nur sehr früh sehr alt werden.« Ich kenne Wesley seit fast vierzehn Jahren, aber ich habe noch nie zu ihm gesagt, dass er aufhören soll, sich etwas vorzumachen. Eigentlich habe ich auch nicht vor, ihm das jemals zu sagen. Denn eigentlich habe ich ja nichts dagegen, wenn sich Leute etwas vormachen.

Im Laufe der Geburtstagsnacht kommt es zu mehreren Gesprächen mit Personen, die mich schon kannten, als ich noch ein kleiner Junge in Jeansjacke war. Je angetrunkener ich werde, desto mehr berühren mich ihre lobenden Aussagen: Früher soll ich immer deutlich blasser gewesen sein. Auch soll ich jetzt häufiger lächeln und das würde mir gut stehen, ebenso wie mir mein Hemd gut stehen würde. Ich werde gefragt, ob ich zurzeit eine Beziehung, eine Freundin oder einen Freund habe, und ich erzähle, dass Carla heute leider krank ist und mit einer Wärmflasche in meinem Bett liegt. In Wahrheit liegt Carla ohne Wärmflasche in ihrem eigenen Bett, und solange sie erkältet ist, haben wir eigentlich nicht vor, uns zu sehen. Irgendwann fange ich an Gespräche zu führen, die mir in nüchternem Zustand zuwider wären. Als ich mich verabschiede, werde ich mehrfach umarmt.

 

Im Frühling reisen gutaussehende Touristen in unsere Stadt. Sie kommen mit Schnellzügen angefahren oder fliegen mit Discountflugzeugen ein. Wesley will sich zwischen Anfang März und Ende April Urlaub nehmen, um wieder auf direkte Weise den Kontakt zu diesen jungen Leuten zu suchen. Ihr Alltagsleben verbringen sie als talentierte Freiberufler in den Metropolen der westlichen Welt. Wesley würde auch den Kontakt zu Touristen aus anderen Kulturkreisen suchen, aber von denen fährt keiner jemals nach CobyCounty. Zumindest ist das mein Eindruck. Andererseits kann ich gar nicht sicher sagen, ob ich Touristen aus anderen Kulturkreisen tatsächlich erkennen würde. Rein ethnisch ist CobyCounty enorm heterogen. Mein Teint zum Beispiel ist ziemlich weiß, aber der von Wesley eher ockerfarben. Trotzdem würde man sofort annehmen, dass wir auf eine gemeinsame Vergangenheit zurückblicken, schließlich sind unsere Collegejacken mit den gleichen großen Buchstaben beflockt. Wir haben die CobyCounty School of Arts and Economics besucht. Wesley war für ›Kunstgeschichte seit 1995‹ eingeschrieben und mein Studiengang hieß ›Neues internationales Literaturmarketing‹. Heute haben wir Jobs, die vielleicht in keiner anderen Stadt der Welt so gut bezahlt sein könnten. Als Agent für junge Literatur sind meine Klienten teilweise noch minderjährig, ich streiche in ihren Texten Fehler an und verhandle später mit Verlagen über Vorschüsse und Royalties. Die Texte meiner Teenageautoren sind voll sprachlicher Wucht und sie zeigen uns älteren Jugendlichen, wie sich das Leben der jüngeren Jugendlichen heute anfühlt: Denen scheint ihr Schul- und Ferienalltag mittlerweile wie ein irrer, existenzieller Rausch vorzukommen, nicht mehr wie die leicht ironische Romantic Comedy, die Wesley und ich noch durchleben mussten. Als Teenager sind wir davon ausgegangen, dass ein Leben in kleinen, in sich abgeschlossenen Episoden stattfindet. Also haben wir uns irgendwann zum ersten Mal verliebt und es zu sinnlichen Knutschszenen auf Wiesen und Anhöhen kommen lassen. Später mussten wir tragische Trennungen hinnehmen und feierten dann aus Trotz ausschweifende Tanzpartys am Strand. Das Prinzip war, dass sich dieser Verlauf regelmäßig wiederholte: Sinnlichkeit, Trennung, Tanzparty. Gut daran ist, dass sich bis heute nie etwas verschlechtert hat.

Inhaltsverzeichnis

2

Am Valentinstag finden jedes Jahr Filmpremieren im Promenadenkino statt. Dieses Jahr ist es eine leicht farbkorrigierte Langversion von ›Schimmernder Dunst über CobyCounty‹, also eigentlich gar keine echte Premiere, trotzdem sind die Tickets seit Wochen hart umkämpft. Sieben wurden in die Agentur geschickt, fünf hat sich mein Chef Calvin Van Persy persönlich mitgenommen, zwei blieben übrig. Ich habe Carla gar nicht erst gefragt. Zum einen ist sie noch immer stark erkältet, zum anderen weiß sie, dass die Filmpremieren am Valentinstag für Wesley und mich eine lange Tradition haben. Seit wir mit der Highschool fertig sind, waren wir dort jedes Jahr, anfangs mit den Eintrittskarten, die unseren Dads zugesandt wurden, später mit den Akkreditierungen unserer Hochschule. ›Schimmernder Dunst über CobyCounty‹ ist ein kritischer Dokumentarfilm über das leichte Leben in unserer Stadt, eine französische Jungregisseurin gewann damit vor zwei Jahren den Spezialpreis beim Festival von Cannes. Es heißt zwar, dass sie diesen Preis auf keinen Fall verdient habe, doch seit der Film in europäischen Programmkinos gezeigt wurde, kommen noch mehr attraktive Touristen im Frühling.

 

Wesley gibt Führungen im CobyCountyArthouse, dem konservativsten und teuersten Museum der Stadt. Während der Arbeit muss er helle Pullover und marineblaue Hosen tragen. Alle Mitarbeiter des Museums sehen wie Seemänner aus alten Bilderbüchern aus. An Feiertagen sind sie sogar angewiesen, die dazu passenden Mützen aufzusetzen. Wesley weigert sich, so eine Mütze zu tragen, denn er findet Uniformen bedenklich. Sobald es um die Seemannsmützen geht, verhält er sich wie ein Sechzehnjähriger. In Wahrheit wird Wesley am siebzehnten Mai aber schon siebenundzwanzig. Früher hat mir die Idee gefallen, sich bis in den Joballtag hinein ein Stück Pubertät zu erhalten, doch mittlerweile ermüdet mich Wesleys Art manchmal, denn eigentlich geht es ihm ja gut. Er hat dunkelblondes, schulterlanges Haar, und wenn er an heißen Tagen in Badehose an einem Strandkorb lehnt, dann sieht er aus wie ein braun gebranntes einundzwanzigjähriges Herrenmodel. Eigentlich braucht er sich nicht zu beklagen.

 

Als er mich in der Agentur abholen will, ist es noch viel zu früh, die Premiere beginnt erst in zwei Stunden, also koche ich Kaffee und stelle uns einen Teller mit Obst auf den alten Eichenholztisch in der Küche. Die Kaffeemaschine arbeitet fast geräuschlos. Van Persy hat sie an einem Dienstag im Internet bestellt und schon am Mittwoch wurde sie von einem hageren Postbeamten in die Agentur getragen. Jedenfalls trinke ich jetzt jeden Tag mindestens zweimal Kaffee und es kommt mir tatsächlich so vor, als würde mich das optimistischer und produktiver machen. Dass ich Kaffee erst jetzt mit Mitte zwanzig kennengelernt habe, nachdem andere sich schon in ihrer Highschoolzeit ständig Pappbecher am Automaten abgefüllt haben, bringt mich manchmal zum Lächeln. Es ist ein bitteres Lächeln, denn im Kern lächle ich ja darüber, dass ich nach all den Jahren eingeknickt bin, und darüber, dass die anderen immer recht hatten. Ich gieße den Kaffee in Tassen, die mit Tiergesichtern bedruckt sind. Tiergesichter: das ist so ein Running Gag zwischen Wesley und mir.

Durch alle Fenster der Agentur kann man das Meer sehen. »Ich gehe irgendwie davon aus, dass es in CobyCounty ausschließlich Büros gibt, die von Licht durchflutet werden«, sage ich zu Wesley, der mir heute etwas verschwiegen erscheint, und Wesley sagt: »Ja. Davon gehe ich auch aus.« Wir schütten Rohrzucker in unsere Tiertassen und schauen in den farblosen Nachmittag hinter den Scheiben. Die Wolkendecke ist zwar zu dünn, als dass es aus ihr regnen könnte, doch erst ab Anfang März wird die Sonne wieder aus einem durch und durch blauen Himmel auf CobyCounty herunterbrennen. Nicht immer habe ich Augen für unser Panorama. Vielleicht kann man sich nicht sechsundzwanzig Jahre lang jeden Abend neu davon überwältigen lassen, wie die Sonne glühend im Meer versinkt und dann auf dem Pier die Lichterketten angehen. Vielleicht lasse ich mich manchmal aber auch nicht genug darauf ein.

 

Wesley hält seine leere Kaffeetasse vors Fenster. Er trinkt alles immer sehr schnell. »Was ist das eigentlich für ein alter Tisch?«, fragt er und befühlt das Eichenholz. Ich sage: »Calvin Van Persy hat ihn aus dem Haus seiner Großmutter mitgebracht. Der Tisch soll der Agentenküche die Seele geben, die auch gute Texte brauchen.« Wesley grinst und ich erwidere sein Grinsen. Augenblicke später schlägt er vor, einen Umweg durchs Industriegebiet zu fahren.

Im Industriegebiet haben die Lokale im Frühling vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Am Valentinstag schließen sie nicht vor drei Uhr nachts. Wir fahren auf alten Damenrädern an gut besuchten Suppenrestaurants und koreanischen Bistros vorbei. Es wird jetzt schlagartig dunkel. Ich kann Wesleys Dynamo summen hören, obwohl seine Lampe kaum leuchtet. Wir würden niemals ohne Licht fahren, dafür immer sehr schnell. Das bewahren wir uns: dieses sportliche Fahren im Stehen. Wir durchschneiden CobyCountys wandlungsfähigsten Bezirk und unsere halb geöffneten Regenjacken blasen sich im Wind auf. Viele der ehemaligen Fabrikräume von Colemen&Aura sind hell erleuchtet, und selbst im Vorbeirasen sehe ich, wie in einem der ersten Stockwerke eng getanzt wird. Soweit ich weiß, nehmen dort Paare jenseits der fünfunddreißig an therapeutischen Tanzkursen teil. In der Nacht, in der ich zum dritten Mal mit Carla geschlafen habe, waren wir dort in einem Seminar für neueren Flashdance. Als jüngste Teilnehmer brachten wir der Veranstaltung zu wenig Ernst entgegen und kehrten nie zurück. Heute leben Carla und ich unsere erwachsen gewordene Liebe primär via Shortmessages aus. Wir waren noch nie gut im Telefonieren. Durch die Leitung klingt meine Stimme auch dann müde und genervt, wenn ich gar nicht müde und genervt bin. Carlas Art, schriftlich immer neue, simple Metaphern dafür zu finden, dass sie mich sehr vermisst, gefällt mir.

Das Premierenpublikum hat sich im großen Empfangssaal des Kinos versammelt. Es steht mit seinen Straßenschuhen auf dickem, bordeauxrotem Teppich und viele halten sich wegen des Valentinstags an den Händen. Das Kino wurde erbaut, als sich CobyCounty gerade zur Kurstadt entwickelt hatte und vor allem alte Colemen&Aura-Kunden hier Bäder genommen und Fisch gegessen haben. Zu dieser Zeit hat es an jedem vierzehnten Februar Paraden gegeben, auf denen neue Produkte präsentiert wurden, insbesondere Parfums und edle Seifen. Die Aufzeichnungen, die es von diesen Paraden gibt, kursieren heute in manchen Onlineforen, sie werden zu Musikvideos verfremdet und als Grußkarten verschickt. Das CobyCounty von damals ist trotz dieser Videobeweise für manchen kaum vorstellbar. Meinem Geschichtsunterricht zufolge haben die Halbgeschwister Jerome Colemen und Steven Aura, die zwei wohlhabende Drogeristen waren, in CobyCounty zunächst nur eine sonnige Produktionsstätte für Hygiene- und Schönheitsartikel gesehen. Mit dem Bau ihrer ersten Beautyfarm hätten sie wenige Jahre später, eher unbewusst als kalkuliert, den Grundstein für die gesamte Kultur- und Tourismusszenerie der Stadt gelegt. In den Folgejahren habe es dann immer mehr junge Avantgardisten an diesen unverbrauchten, am Meer liegenden Ort gezogen, sodass CobyCounty facetten- und temporeich heranwachsen konnte. International wird diese Entwicklung teils als ›fragwürdiges Industriemärchen‹ bezeichnet. Ohne die ›mächtigen Investoren aus der Kosmetikbranche‹ wäre auch das ›individuelle Engagement der jungen Zugereisten‹ undenkbar gewesen, heißt es da. Oft wird auch vor dem örtlichen Klima gewarnt, dieses könne jederzeit prekäre Situationen erzeugen. Mich haben solch indirekte Anfeindungen nie besonders beschäftigt, schließlich leben wir alle gerne hier. Unser Frühling ist fantastisch und stabil, der Sommer drückend, der Herbst mild, nur im Winter müssen wir uns vor Starkregenschauern in Acht nehmen. So ist unser Klima nun mal, und eigentlich fiele niemandem ein, sich darüber zu beklagen.

In der Menschenmenge im Kinofoyer entdecke ich zwei meiner Autoren. Sie sind als Paar gekommen, sie ist neunzehn, er einundzwanzig. Wenn ich die beiden nun sehe, entstehen allerhand Bilder vor meinen Augen, die ich aus ihren Texten kenne: erotische Szenen, abgründige Szenen und Szenen, die ich streiche. Weil die Autorin mir das sicher ansieht, lächelt sie leicht verlegen. Ich umarme zuerst sie, dann ihren Freund, beide auf meine neue, herzliche Art. Es kommt zu einem kurzen verbindlichen Drücken. Danach prosten wir uns zu und sagen: »Bis bald.«

 

Die Kinositze wurden neu bezogen, mit leicht aufgerautem, glänzendem Samt. Die Lehnen sind riesig und ich habe das Gefühl, dass sie schlecht für den Rücken sind. Wesley scheint neben mir zu versinken, er hatte nun schon einige Biere. Ich stelle eine Portion Eiskonfekt zwischen uns. Von überall her kann man es rascheln und knuspern hören. Die jungen Leute in CobyCounty sind Fans von redundanten, kleinen Snacks, trotzdem ist fast niemand übergewichtig. Das liegt vermutlich an unserer Liebe zum Sport, denke ich, während ein quadratisches Eiskonfektstück in meiner Mundhöhle zergeht. Mit Beginn des Films wird angetrunken applaudiert.

Auf der Leinwand ist zuerst unser Strand zu sehen, an einem eisblauen Tag, vermutlich im April. Zu hören ist nur das Meer. Es folgt ein trockener Schnitt in den irren Karneval des Industriegebiets: Mädchen und Jungs Anfang zwanzig, die sich in den Armen liegen, die tanzen und johlen. Wesley flüstert: »Da! Da war ich! Hast du gesehen?« Ich habe Wesley schon wieder nicht gesehen, aber ich nicke. Teile des Publikums sprechen die bekanntesten O-Töne laut mit: »Wir träumen davon, eines Tages auf dem ColemenHills Softeis zu verkaufen.« Und dann lachen alle. Als nach zweiundachtzig Minuten die Credits über die Leinwand fahren und mir die Namen vieler Statisten wie immer bekannt vorkommen, habe ich das Gefühl, dass im gesamten Saal ein warmer Zusammenhalt herrscht.

 

Im Foyer blicke ich sofort auf mein Handy: keine Nachricht von Carla. Sie ist also immer noch in der Lage, mich zu überraschen. Wesley und ich nehmen noch ein Getränk. Er sagt: »Indem der Film ausschließlich Bilder von CobyCounty zeigt, verweist er ganz subtil auf eine Welt da draußen.« Er führt seinen Strohhalm zum Mund und zieht eine große Menge Flüssigkeit aus seinem Longdrink: »Gerade deshalb ist der Film auch international so erfolgreich.« Wesleys Stimme klingt etwas höher als sonst und er ist nicht offen für Widerworte. Glücklicherweise sehe ich momentan auch keinen Anlass, Wesley zu widersprechen.

 

Draußen herrscht Sturm. Die meisten Premierenbesucher winken Taxis herbei, ihre Jacken und Mäntel flattern. »Lass uns mal wieder mit der Hochbahn fahren«, sage ich zu Wesley. Von dort oben sind gut achtzig Prozent des Stadtgebiets zu überblicken, und jetzt in der Nacht wäre zu erkennen, wie symmetrisch unsere Straßenlaternen angeordnet sind. Ich erinnere mich, dass dieser Blick immer sehr beruhigend auf mich gewirkt hat, schon als ich erst neun oder elf Jahre alt war. Aber Wesley sagt: »Auf die Hochbahn habe ich heute überhaupt keine Lust. Es ist viel zu windig.« Ich halte seine Aussage für abwegig, aber ich möchte nicht diskutieren, ich sage: »Vielleicht hast du recht.« Wesley war nie ein Fan der Hochbahn, er scheint sogar irrationale Ängste mit der Bahn zu verbinden. Laut Statistik hat es in den vergangenen siebzehn Jahren nur drei Verzögerungen im Betriebsablauf gegeben, soweit ich weiß keine einzige wegen Sturm. Die Hochbahn schwebt auf einer stabilen Schiene über die Stadt, täglich zwischen acht Uhr morgens und drei Uhr nachts, im Frühling sogar länger. Allerdings ist der Sturm der diesjährigen Valentinsnacht tatsächlich außergewöhnlich. Er zerreißt die Frisuren der Passanten und schleudert leere Getränkedosen aus den Mülleimern heraus. An Radfahren ist gar nicht zu denken. Wir stemmen uns gegen den Wind und schieben unsere Damenräder bis ins Industriegebiet, wo wir uns von den hohen Fassaden Schutz versprechen. In den Imbissen und Bistros brennt noch Licht. Überall scheinen sich Paare an Zweiertischen gegenüberzusitzen, Karaffen mit Wein zu bestellen und sich bemüht in die Augen zu blicken. Ich glaube nicht, dass es hier Beziehungen gibt, in denen der Valentinstag ungebrochen zelebriert wird. Vor unseren Füßen rotieren Sandkörner, manche fliegen uns in den Mund, also sprechen wir kaum. Es scheint mir, als hätte der letzte Longdrink Wesley ziemlich nachdenklich gemacht. Früher hätte er in dieser Stimmung ein leicht drastisches Gespräch gesucht, über die Unmöglichkeit aufrichtiger Erotik zum Beispiel oder über die Angst, eines Tages mal selbst ein Dad zu sein. Heute weiß er sich zu kontrollieren. An unserer Kreuzung verabschieden wir uns mit einem gegenseitigen Nicken.

 

Als ich die Verkehrsinsel vor meiner Wohnung passiere, fürchte ich, dass die dort installierte Shampooskulptur vom Sturm aus ihrer Halterung gerissen werden und mich erschlagen könnte. Dabei weiß ich grundsätzlich, dass Colemen&Aura-Skulpturen mit ihren Schaumstoffkernen und den dünnen Pappmachéüberzügen dafür gar nicht schwer genug und eigentlich sicher sind. Die übergroße Shampooflasche biegt sich elastisch im Wind, ist jedoch bombenfest mit ihrem Sockel verschnürt. Ich schiebe mein Fahrrad in den Hof und kette es an.

 

Nach wenigen Stunden Schlaf stehe ich in Boxershorts auf meinem Balkon. Mittlerweile ist es windstill. Junge Frauen und Männer in hellen Uniformen durchkämmen die Stadt und lesen auf, was vom Sturm über die Straßen verteilt wurde. Sie schieben blaue Müllkörbe auf Rollen vor sich her und nutzen große Greifzangen. Sie hinterlassen glattgebügelten, in der Morgensonne glänzenden Asphalt. Erst spät fällt mein Blick auf die Verkehrsinsel und dann stehe ich für Augenblicke reglos da, drei Etagen über dieser neuen Lücke im Straßenbild. Ich umgreife das Balkongeländer und schlussfolgere, dass die Skulptur von den uniformierten Frauen und Männern frühmorgens planmäßig abmontiert wurde und dass sie vermutlich noch heute eine neue Werbeinstallation aufbauen werden. Gleichzeitig muss ich mir eingestehen, dass mich der Blick auf die nun unbespielte Verkehrsinsel deprimiert und dass ich vielleicht noch immer nichts dazugelernt habe. Wenn ich als Kind im Auto meiner Eltern auf der Rückbank saß, machte es mich traurig, wenn im Stadtbild neue Plakate auftauchten und dafür alte verschwunden waren. Meine Eltern behaupteten, das sei ein typisch kindlicher Reflex, ein Blick auf die Umwelt, der sich nach klaren Strukturen sehne. Heute fürchte ich, dass ich als Kind bereits Melancholiker war. An den wechselnden Werbeplakaten war für mich abzulesen, dass die Zeit verstreicht, dass Tage gehen und nicht wiederkommen. Es war eine schlichte Melancholie, in der ich mich auf dem Autorücksitz einlullen und wohlfühlen konnte, eine Stimmung, die keinerlei Konsequenz von mir verlangte, die wahrscheinlich harmlos, aber auch unproduktiv und lähmend war. Und jetzt entsteht gerade so ein Moment, da blitzt diese Stimmung wieder auf. Eine der uniformierten Arbeiterinnen von der Straße schaut nach oben, kurz halten wir Blickkontakt, dann winke ich und verschwinde ins Wohnzimmer. Mein Handy leuchtet. Carla behauptet via SMS, dass sie nicht mehr verschnupft sei. Sie fragt, ob ich ›unseren Sturm‹ gut überstanden hätte, und lädt mich für den frühen Nachmittag zu sich ein.

Inhaltsverzeichnis

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