Schmerzzentrale Gehirn - Luise Walther - E-Book

Schmerzzentrale Gehirn E-Book

Luise Walther

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  • Herausgeber: TRIAS
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

<p><strong>Dein Weg aus dem Schmerz</strong></p> <p>Es gibt Menschen mit Bandscheibenvorfall oder Arthrose, die schmerzfrei durchs Leben gehen, während andere lange unter starken Schmerzen leiden, ohne dass dafür eine körperliche Ursache gefunden wird. Der Grund: Schmerzen entstehen im Gehirn. Hier setzt Luise Walther, Expertin für Neurozentriertes Training, an.</p> <ul> <li>Schmerzgedächtnis umprogrammieren: Einfache und gezielte Bewegungsübungen für Augen, Gleichgewicht und Körperwahrnehmung.</li> <li>Die optimale Atmung: Mit der Kraft des Atems Schmerzen lindern.</li> <li>Einfache Umsetzung: Das Training in den Alltag integrieren und Schmerzen langfristig in den Griff bekommen.</li> </ul> <p>Aktive Schmerzbewältigung durch effektives Gehirntraining.</p>

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Seitenzahl: 155

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Schmerzzentrale Gehirn

Neurozentriertes Training: das Schmerzgedächtnis umprogrammieren und Schmerzen lindern

Luise Walther

1. Auflage 2023

100 Abbildungen

Liebe Leserin, lieber Leser,wenn es um die eigene Gesundheit geht, darf man nichts dem Zufall überlassen. „Für eine bessere Medizin und mehr Gesundheit im Leben“: So lautet das Qualitätsversprechen der Marke Thieme. Ärztlich Tätige, Pflegekräfte, Physiotherapeuten oder Hebammen – sie alle verlassen sich darauf, dass sie von Thieme, dem führenden Anbieter von medizinischen Fachinformationen und Services, die entscheidenden Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort bekommen. So können sie die Menschen, die sich ihnen anvertrauen, bestmöglich unterstützen. Auch Sie können sich auf die TRIAS Ratgeber mit dem Thieme Qualitätssiegel verlassen! Diese Informationsangebote helfen Ihnen dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wenn es um Ihre Gesundheit geht, selbst daran mitzuwirken, gesund zu werden, sich gesund zu erhalten oder das Fortschreiten einer Erkrankung zu vermeiden. Mit einem TRIAS Titel aus dem Hause Thieme überlassen Sie Ihre Gesundheit nicht dem Zufall! Ihr TRIAS Team

Meine Geschichte

Ich liege auf dem Boden im Flur und habe keine Ahnung, wie ich die nächsten zwei Stunden überstehen soll. Der Weg vom Schlafzimmer in den Flur hat mich sicherlich 30 Minuten gekostet. Wie ein Käfer auf dem Rücken …

So liege ich da, der Ohnmacht nahe. Einfach nicht bewegen, denke ich mir, dann tut es nicht so weh. Wenn ich weniger tief atme, bewege ich mich weniger und habe weniger Schmerzen. Aber wie lange kann ich in dieser Situation ausharren? Dieses Brennen im Rücken, das sich über das Bein bis in den Fuß zieht, ist unerträglich. Mal kribbelt es, mal sticht es, mal sind es gefühlte Nadelstiche, dann wieder fühlt es sich an, als ob mein Rücken und mein Bein Feuer gefangen hätten. Lange halte ich das nicht mehr aus.

Dann klingelt das Handy. Meine Schwester fragt mich, wie es mir geht, ob sie mir was vorbeibringen soll. Ich spaße, dass ich gern eine Portion Kaiserschmarrn hätte, aber die Tür vermutlich nicht öffnen könnte, sie müsste also über den Nachbarbalkon in die Wohnung kommen. Wir lachen beide. Für einen Moment ist der Schmerz wie verflogen. Nicht da. Nicht spürbar. Herrlich. Aber wie kann das sein? Als ich auflege, merke ich, wie sich das Brennen vom Fuß über die Wade bis ins Gesäß hochzieht. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass ich einfach nichts mehr spüre. Keine Schmerzen mehr.

Als ich 2016 vor meiner ersten Bandscheiben-OP im Flur lag, war ich verzweifelt und frustriert. Ich hatte eine Odyssee hinter mir – Orthopädie, Physiotherapie, Tagesklinik, Sport – und trotzdem immer wieder Rückenschmerzen. Nichts hat so richtig geholfen. Mich zermürbte das Gefühl, dass es mal einen Tag besser war, dann wieder schlechter. Morgens kam ich kaum in die Gänge, tagsüber wurde es besser. Jeder Tag fühlte sich unberechenbar an und ich vertraute meinem Körper überhaupt nicht mehr. Nach der OP und Reha war es nicht besser. Ich fühlte mich weder gut aufgeklärt noch gut beraten, wie es für mich wieder zurück ins normale Leben gehen konnte. Was darf ich tun, was sollte ich vermeiden? Wie finde ich wieder zu meiner alten Form zurück? Die medizinische Grundversorgung war tadellos und ich möchte nicht jammern, im Gegenteil. Nach der OP konnte ich zumindest wieder einigermaßen laufen und mich bewegen. Aber das Vertrauen in meinen Körper war weg. Der Schmerz leider nicht.

Ich habe in den folgenden Jahren meinen Job gekündigt und mich auf die Suche nach der Lösung für meine Schmerzen begeben. Ich habe so ziemlich alles ausprobiert: habe Trainer-Lizenzen gemacht, Weiterbildungen besucht und viel gelesen. Aber nichts hat langfristig und nachhaltig gewirkt. Bis ich gelernt und verstanden habe, dass Schmerz und Bewegung im Gehirn entstehen. Wir müssen also Schmerz und damit Therapie und Training radikal neu denken.

Für mich kam der Schmerz immer vom Bandscheibenvorfall. Dann wurde ich operiert, der Bandschiebenvorfall war also weg. Der Schmerz war aber noch da. Das ergab für mich keinen Sinn. Viele meiner Kundinnen und Kunden haben Schmerzen und es gibt keine anatomische Ursache. Auf dem MRT ist kein Bandscheibenvorfall zu sehen, der Schmerz ist aber dennoch da. Bei anderen sieht man Bandscheibenvorfälle auf dem MRT, aber der Schmerz passt anatomisch nicht zum Bild. Was haben alle diese Fälle gemeinsam?

In allen Beispielen überprüft das Gehirn individuell, ob die Person sich in Gefahr befindet oder nicht. Befinden wir uns in Gefahr, reagiert das Gehirn und will uns schützen. Um uns zu schützen, ist Schmerz ein gutes Mittel. Denn auf Schmerz reagieren wir sofort. Wenn es im Rücken zwickt, stehen wir auf, strecken und mobilisieren uns kurz. Treten wir auf einen spitzen Gegenstand, ziehen wir sofort den Fuß weg. Fassen wir etwas Heißes an, ziehen wir sofort die Hand weg. Schmerz dient uns als Warnung und Signal. Reagieren wir aber nicht rechtzeitig, nicht ausreichend, kommt der Schmerz wieder. Denn wenn wir auf eine Bedrohung nicht oder unzureichend reagieren und sich unser Gehirn dadurch weiterhin bedroht fühlt, wird es uns weiter warnen. Und der Schmerz bleibt.

Wir dürfen Schmerz also als individuelle Alarmanlage verstehen. Und diese Alarmanlage überprüft alles: unseren Körper, unsere Umwelt, unsere eigene Körperwahrnehmung. So kann es sein, dass der Schmerz in einem Moment nicht auszuhalten ist – und im nächsten Moment ist dein Gehirn mit etwas anderem beschäftigt. Das bedeutet nicht, dass du dir den Schmerz einbildest. Im Gegenteil. Schmerz ist immer individuell und komplex. Schmerz hat unterschiedliche Dimensionen; deswegen gilt es, bei diesem Thema die biomedizinische, mentale und soziale Ebene miteinander zu verbinden. Man spricht daher auch vom biopsychosozialen Modell. Es ist besonders bei der Erklärung von chronischen Schmerzen etabliert und setzt die biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren in Beziehung zueinander, die sich gegenseitig beeinflussen und nicht unabhängig voneinander betrachtet werden sollten.

Während ich schmerzverzerrt auf dem Boden lag und mit meiner Schwester telefonierte, spürte ich keinerlei Schmerz. Mein Gehirn fühlte sich für einen Moment so sicher, dass der Schmerzreiz nicht ausgelöst wurde.

Wie das alles zusammenhängt, erfährst du in diesem Buch. Und vor allem wirst du lernen, was du selbst aktiv tun kannst. Denn keine Ärztin, kein Therapeut – niemand kann dir diese Aufgabe abnehmen. Du kannst dir Hilfe und Unterstützung holen und darfst dann selbst aktiv werden. Denn deine Alarmanlage ist individuell auf dich abgestimmt. Den Zugang hast also nur du.

Ich freue mich, dich auf diesem Weg begleiten zu dürfen, dich mit diesem Buch und den Beispielen zu motivieren, deine Neugierde zu wecken und dir Mut zu machen, selbst aktiv zu werden.

Luise Walther

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Meine Geschichte

Schmerz entsteht im Gehirn

Schmerz und Bewegung

Wie arbeitet unser Gehirn?

Schmerz lässt sich verändern

Bewegung verändert sich ein Leben lang

Schmerz gehört zum Leben dazu

Mit Wissen gegen den Schmerz

Was ist Schmerz?

Welche Aufgabe hat Schmerz?

Die Körper-Geist-Beziehung

Statische Positionen führen zu Schmerzen

Wie entsteht Schmerz?

Unser Nervensystem

Sympathikus

Parasympathikus

Nozizeption

Bewusstsein

Unterbewusstsein

Welche Rolle hat das Gehirn?

Reizweiterleitung ans Gehirn

Reizverarbeitung im Gehirn

Schmerz – das Ergebnis der Auswertung im Gehirn

Limbisches System

Das Gehirn kann Schmerzen »lernen«

Welche Arten von Schmerz gibt es?

Chronische Schmerzen

Wie arbeiten Gehirn und Körper zusammen?

Input: Empfang sensorischer Informationen

Integration: Entscheidung, was der Input bedeutet

Erzeugung eines motorischen Outputs

Woher bezieht der Körper seine Informationen?

Was passiert im Gehirn?

Welche Bewegungsarten gibt es?

Wo wird Schmerz verarbeitet?

Rückenmark

Hippocampus

Kleinhirn

Hypothalamus

Thalamus

Amygdala

Insula

Periaquäduktales Grau

Primärer somatosensorischer Kortex

Vorderer cingulärer Kortex

Prämotorischer Kortex

Primärer motorischer Kortex

Präfrontaler Kortex

Welche Einflussfaktoren für Schmerz gibt es?

Der Gefahreneimer

Auch Wissen hilft gegen Schmerzen

Aktiv gegen den Schmerz

Neurozentriertes Training

Selbstwirksamkeit und Schmerzen

Was ist Neurozentriertes Training?

Wie funktioniert Neurozentriertes Training?

Welchen Einfluss hat die Atmung?

Äußere und innere Atmung

Welche Muskeln steuern die Atmung?

Was passiert bei der Überatmung?

Bauchatmung

Atmung gegen einen Bauchgurt

Langsames Atmen

Zwerchfelldehnung

Front Opener

Verlängerte Ausatmung

Atmung durch das linke Nasenloch

Welchen Einfluss haben die Augen?

Augenliegestütze

Palming

Welchen Einfluss hat die Insula?

Summen

Gurgeln

Zungenkreisen

Schmerzen langfristig in den Griff bekommen

Schmerzmanagement

Die SMART-Formel

Durch Training die Leistungsfähigkeit erhöhen

Was bedeutet Schmerzmanagement?

Schmerz beschreiben

Schmerz visualisieren

Relationsübung

Wie gelingt der Alltagstransfer?

Betrachte deinen Gefahreneimer

Setze dir kleine Ziele

Die dynamische Balance ist wichtig

Was kannst du im Alltag verändern?

Wie lässt sich das praktisch umsetzen?

Wie helfen neue Perspektiven?

Ausdauer ist entscheidend

Was bedeutet das konkret?

Die verrückte Acht

Was passiert bei der Übung?

Bewegungen neu entdecken

Einen Ausblick wagen

Ziele formulieren mit der SMART-Formel

Empfehlungen von Luise Walther

Bücher

Websites

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Schmerz entsteht im Gehirn

Heute wissen wir, dass Schmerzen nicht an einem Körperteil entstehen, sondern im Gehirn. Der komplizierte Prozess ist noch nicht endgültig erforscht.

Schmerz und Bewegung

Unser Gehirn steuert unsere Bewegungen, aber auch unser Schmerzempfinden. Durch Schmerz warnt es uns vor Gefahr. Wichtig ist, dass wir die Signale richtig deuten.

Aus meiner eigenen anfänglichen Frustration im Umgang mit Schmerz und Bewegung habe ich die Motivation entwickelt, meine Erfahrungen und mein Wissen mit anderen zu teilen. Im Rahmen des Neurozentrierten Trainings begleite ich Betroffene auf dem Weg zur Bewältigung ihrer Schmerzen und zur Leistungssteigerung.

Ich habe immer Schmerzen – oder stelle ich mich an?

»Eine Kundin beschreibt mir ihren Alltag: Sie wacht morgens auf und hat Schmerzen. Sie steht auf, geht ins Bad, macht sich fertig und hat dabei Schmerzen. Sie kocht sich ihren Kaffee und fährt zur Arbeit und hat dabei Schmerzen. Acht Stunden sitzt sie im Büro und leidet unter Schmerzen. Nach Feierabend geht sie noch einkaufen, isst zu Abend und sieht fern. Danach macht sie sich fertig fürs Bett und hat auch dabei Schmerzen. Bis sie im Bett liegt und versucht einzuschlafen, hat sie den ganzen Tag unter Schmerzen gelitten.

Ich frage sie provokant: Hattest du wirklich den ganzen Tag Schmerzen? Auch beim Kaffeetrinken am Morgen? Auch beim Zähneputzen am Abend? Beim Telefonieren mit der Kollegin? Beim Plausch mit dem Kassierer?

Sie erzählt, dass der Schmerz nicht immer da sei, aber allein die Angst, dass er gleich wiederkomme, bedrücke sie. Deswegen fährt sie auch nicht mehr Rad. Ihre Freunde sagen, sie solle sich nicht so anstellen. Ihr Mann ist genervt, dass sie kaum noch etwas gemeinsam unternehmen und die Schmerzen das ganze Leben dominieren.

Und meine Kundin ist frustriert, dass sie keiner ernst nimmt und dass sie sich und ihren Schmerz verteidigen muss. Manchmal fragt sie sich selbst, ob sie sich zu sehr anstellt. Ob sie sich mehr zusammenreißen sollte. Vielleicht ist es alles nur psychisch. Vielleicht liegt es an ihr.«

Für Menschen wie sie schreibe ich dieses Buch. Weil es mich ärgert, wie wenig viele Betroffene über Schmerz wissen. Und weil sich kaum jemand die Zeit nimmt, es zu erklären, oder es nur in komplizierten Abhandlungen erklärt wird. In wissenschaftlichen Artikeln gibt es Unmengen an Informationen, aber wer hat schon die Zeit, sich das alles durchzulesen? Und wenn man die Zeit hat, was macht man dann mit all dem theoretischen Wissen?

Dieses Buch ist kein medizinisches Nachschlagewerk. Es ist auch kein Ersatz für eine Therapie oder ein Training. Sondern es ist der ehrliche Versuch, mit viel Herz und Hirn dich und alle anderen Lesenden zu ermutigen, den eigenen Körper zu verstehen und ihm zu vertrauen. Ich möchte dir helfen, einen guten Weg im Umgang mit Schmerz zu entdecken, damit du unbeschwert deinen Alltag genießen kannst. Ich zeige dir neue Perspektiven und motiviere dich, Ungewohntes zu wagen und dich neu kennen zu lernen.

Dazu solltest du die Funktionen und Arbeitsweisen deines Körpers und Nervensystems besser verstehen. Keine Angst, das wird keine hochkomplexe Abhandlung mit vielen neuroanatomischen Details. Ich möchte aber, dass du verstehst, was in deinem Körper vorgeht. Nur so kannst du seine Reaktionen verstehen und angemessen darauf reagieren. Viele Schmerzgeplagte kennen sich anatomisch bis ins kleinste Detail aus und können alle chemischen Bausteine der unterschiedlichen Medikamente, die sie bisher genommen haben, nennen. Mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns kennen sich aber die wenigsten aus.

Wie arbeitet unser Gehirn?

Aufbau der Nervenzellen

Vereinfacht gesagt, ist unser Gehirn dafür da, unser Überleben zu schützen. Unser Gehirn besteht aus über 100 Milliarden Nervenzellen, dadurch kann es sich immer wieder umbauen und neu strukturieren. Jede Nervenzelle besteht aus einem Axon, einem schlauchartigen Fortsatz, und unzähligen Dendriten, den Zellausläufern, über die sie Kontakt mit anderen Nervenzellen an den Synapsen aufnehmen kann. Dieser Kontakt kann über chemische und elektrische Signale geschehen. Und daraus entsteht ein verzweigtes Netzwerk, dass ein Leben lang neue Axone und Dendriten bilden kann und damit dynamisch auf das reagiert, was unser Körper erlebt und tut.

Diese Fähigkeit unseres Gehirns, sich immer wieder umzubauen und an äußere und innere Einflüsse anzupassen, nennt man Neuroplastizität. Und genau das ist die Grundlage des Neurozentrierten Trainings. Denn wenn zum Beispiel durch eine Krankheit oder einen Unfall Nervenzellen zerstört werden, übernehmen die benachbarten Nervenzellen die ursprüngliche Funktion. Dieses Prinzip nennt man auch kompensatorische Regulation.

Durch die Bildung neuer Dendriten entstehen ständig neue Verbindungen. Je mehr aktive Verbindungen, desto flexibler, kreativer und schneller kann der Körper reagieren. Je neugieriger und aktiver du bist, desto mehr Verknüpfungen gibt es zwischen den Neuronen. Ein aktiver und bewegter Lebensstil ist also ideal, um Schmerzen zu mindern oder ihnen vorzubeugen.

Es ist die Aufgabe der menschlichen Schaltzentrale, uns vor Gefahr und Bedrohung zu schützen. Dafür überprüft das Gehirn in jeder Millisekunde, ob wir uns in einer Gefahrensituation befinden oder nicht, indem es Informationen über den Körper aufnimmt. Hierfür gibt es drei unterschiedliche Möglichkeiten. Über die Sinnesorgane, zum Beispiel Augen, Ohren und Haut, werden Information aus der Umwelt aufgenommen und an das Gehirn gesendet. Informationen aus dem Inneren des Körpers, aus den Organen, werden ebenso an das Gehirn geschickt. Und über die Körperwahrnehmung wird die Position des Körpers und der Gliedmaßen im Raum an das Gehirn gesendet. Mehr dazu erfährst du im Kapitel ▶ »Woher bezieht der Körper seine Informationen?«.

All diese Informationen werden im Gehirn miteinander abgeglichen und ausgewertet. Erst nach der Interpretation aller Daten entscheidet das Gehirn, welche Reaktion erfolgt. Aufgrund dieser Datenanalyse können zum Beispiel eine Bewegung geplant und ausgeführt oder auch Signale in Schmerz umgewandelt werden. Du siehst, erst durch die Verarbeitung der Informationen entsteht Schmerz und Bewegung im Gehirn. Sie sind das Ergebnis der Integration und Interpretation aller vorliegenden Daten. Schmerz entsteht nicht im Knie, nicht im Rücken und nicht an der Wunde. Dort werden nur Gefahrenreize unter anderem über Nozizeptoren wahrgenommen. Der Schmerz entsteht erst im Gehirn.

Und genau da setzt das Neurozentrierte Training an. Es stellt die Informationsaufnahme des Körpers und die Verarbeitung der Informationen im Gehirn in den Mittelpunkt. Meiner Meinung nach steckt die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen, was das Begreifen der Informationsverarbeitung im Gehirn angeht, auch wenn sie in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat. Aber wirklich valide Aussagen über die detaillierten Vorgänge im Gehirn können wir nach meinem Empfinden nicht machen. Wir wissen, dass das Gehirn in Netzwerken arbeitet, was genau aber in welcher Intensität geschieht und in welcher Abhängigkeit steht, wissen wir noch nicht. Sehr gut belegt ist aber, dass sich die Qualität und Menge der aufgenommenen Informationen und die generelle Aktivierung der betroffenen Hirnareale im Training verbessern lässt. Das kann man sich vorstellen wie beim Kochen.

Schmerz lässt sich verändern

Wir können ein Kochrezept verfeinern und gute Zutaten auswählen. Wir können sorgsam die unterschiedlichen Zutaten zubereiten. Das Gericht, das am Ende serviert wird, wird aber jedes Mal etwas anders schmecken, denn unglaublich viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: Welche Pfanne wurde benutzt? Wie genau ist die Temperaturanzeige des Ofens? Wie oft wurde umgerührt? War das Fleisch wässrig oder gut abgehangen? War das Obst frisch oder lag es schon ein paar Tage? War der Parmesan reif oder noch zu jung? War das Chili schärfer als vermutet? Selbst wenn man ein sehr genaues Rezept hat, kann das Gericht doch immer wieder anders schmecken. Auch wenn man einzelne Zutaten auswechselt, zum Beispiel statt Koriander Dill verwendet oder statt einer Prise Zucker einen Löffel Honig nimmt, ändert sich die Konsistenz und auch der Geschmack.

Und genauso ist es mit Schmerzen. Wenn du wie in einem Rezept die Zutaten austauschst, kann sich das Gericht verändern. Wenn du statt der üblichen Bewegungen, die du machst, neue Bewegungsimpulse setzt, kann sich der Schmerz verändern. Wenn du durch deine Atmung die biochemische Zusammensetzung deines Körpers optimierst, ist das, wie wenn du eine Prise Salz oder Muskat in das Gericht gibst – es verändert sich.

Vielen Betroffenen hilft dieser Vergleich von Schmerz mit Essen. Essen kann man individuell verändern, Schmerzen auch. Das Training ist in diesem Fall das Büffet, an dem du dich bedienen kannst. Du kannst dir deine eigenen Zutaten zusammenstellen, die du magst und die sich für dich gut anfühlen. Und wie bei einem Büffet und dem Geschmack ist es individuell und kann sich von Zeit zu Zeit verändern. Mal magst du lieber gedünstetes Gemüse und mal einen frischen Salat. An anderen Tagen willst du Nudeln und dann eher einen Nachtisch.

Das Training bei Schmerzen ist genauso vielfältig. Bediene dich in diesem Buch wie an einem Büffet und picke dir immer mal wieder ein Bewegungshäppchen heraus, das in deinen Alltag passt und dir guttut. Denn gerade, wenn du Schmerzen hast, solltest du auf deine Körperwahrnehmung und dein Körpergefühl achten. Schon allein dadurch sammelst du neue Informationen. Ziel sollte immer sein, dass du dich frei und mit Leichtigkeit bewegen kannst.

Bewegung verändert sich ein Leben lang

Unser Gehirn erstellt Programme für jede Bewegung. Sie werden unentwegt weiterentwickelt. Grundlage dafür ist, wie wir uns bewegen, ob und wie wir Bewegungen üben und wie komplex und vielfältig diese Bewegungen sind. Im Laufe des Lebens verändern sich diese Programme also kontinuierlich und spiegeln wider, was wir im Alltag tun. Sitzen oder laufen wir viel, sehen die Bewegungsprogramme entsprechend verschieden aus.

Ein kleines Kind, das Laufen lernt, verbessert Tag für Tag die Bewegungsabläufe, bis es, ohne zu stolpern und an der Hand gehalten zu werden, frei und leicht durchs Leben geht. Im Laufe der Schulzeit kommen dann meistens sportliche Fertigkeiten hinzu: Man spielt Fußball, Tennis oder Volleyball und findet vielleicht auch im Verein oder mit Freunden weitere Hobbys, die meistens mit Bewegung verbunden sind. Bei Kletterausflügen, auf Wanderungen oder beim Schwimmen lernt der Körper immer speziellere und feiner aufeinander abgestimmte Bewegungen und erhält Informationen über die Körperhaltung, die Kopf- und Augenpositionen, die Koordination der Gliedmaßen.