Schwarzer Verrat - Marion Hübinger - E-Book
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Schwarzer Verrat E-Book

Marion Hübinger

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Beschreibung

Schwarz ist die Aura des Verrats Mit aller Kraft versucht Sarina jede Erinnerung an ihren alten Heimatplaneten Aeterna von sich zu schieben und gemeinsam mit Liam auf der Erde ein neues Leben zu beginnen. Aber das ist gar nicht so leicht. Farben haben hier eine andere Bedeutung und kein Auren-Scan kann ihr mehr helfen, Freund und Feind auseinander zu halten. Doch gerade das wäre jetzt dringend nötig, denn was Sarina nicht weiß: Ihre Gegner auf Aeterna schmieden bereits ein Komplott, dessen Ausmaße bis zur Erde reichen…

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Sammlungen



Schwarzer Verrat
Über die Autorin
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Epilog
Danksagung

Marion Hübinger

Schwarzer Verrat

Soul Colours 3

Über die Autorin

Marion Hübinger ist am Bodensee aufgewachsen, aus beruflichen Gründen zog es sie später nach München, wo sie seitdem mit ihrer Familie lebt. Als gelernte Buchhändlerin steht das Lesen und Verkaufen von Büchern im Vordergrund, doch sie hat ihren Wunsch, etwas Eigenes mit Worten zu schaffen, nie aus den Augen verloren. Im Genre Fantasy fand sie 2014 ihren schriftstellerischen Hafen, neben zahlreichen Fantasy Jugendromanen veröffentlicht sie auch Kinderbücher und Romance. Heute arbeitet sie in einer kleinen Buchhandlung mit Schwerpunkt Kinder-/ Jugendbuch. Wenn sie jetzt nach Hause kommt, wartet ein Schreibtisch voller Hefte, Blöcke, Stifte und Notizen auf sie. Ihre fantasievollen Geschichten fließen immer zuerst auf unzählige Seiten Papier.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-98658-034-6

Auch als eBook erhältlich

Text: © Marion Hübinger

Die Soul-Colours-Reihe von Marion Hübinger erschien von 2015 bis 2022 als eBook-only-Ausgabe bei Impress, einem Imprint des Carlsen Verlages.

Buchsatz: Grit Richter, Tagträumer Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, Tagträumer Verlag

unter Verwendung von Bildmaterial von creativemarket.com

Lektorat: Pia Praska

Tagträumer Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meine Schwester, zur Erinnerung an unsere erste gemeinsame Reise nach Schottland.

1. Kapitel

Das Leben auf der Erde hat wirklich seine guten Seiten. Allein schon dieser Ort. Gerade breitet sich wieder ein atemloses Hochgefühl in mir aus, während ich die zahlreichen Stufen zu meinem Lieblingscafé erklimme und als Erstes einen Blick auf die Dächer von Edinburgh und das Meer in der Ferne werfe. Selbst nach fünf Monaten, zwei Wochen und achtzehn Tagen. Ich halte meine Nase in den Wind, der die Wolken mit wahren Peitschenhieben vorantreibt und an meinen Haaren zerrt. Sie sind mittlerweile fast wieder schulterlang und wellen sich mehr denn je. Einer meiner ersten Besuche in Edinburgh galt einem Frisör, der aus Sunnys radikalem Haarschnitt so etwas wie eine Frisur zauberte, mit der ich mich wieder ohne zusammen zu zucken im Spiegel ansehen konnte.

Ach, Sunny, ich vermisse dich. Viel zu selten erhalte ich Nachrichten von den Zurückgebliebenen. Als ich mich zum zweiten Mal von meinem Heimatplaneten Aeterna verabschieden musste, habe ich neben meinen besten Freunden Marie und Josh in Sunny auch die einzige Vertraute zurückgelassen, die früh von meiner Rebellion wusste. Einer Rebellion gegen unsere Regierung, gegen die Macht des Eliteapparates und zuletzt sogar gegen meine eigene Mutter, die sich zu meinem großen Entsetzen in deren Dienste gestellt hatte. Das alles hatte ich Liams Auftauchen auf unserem Planeten zu verdanken. Er und die restliche Mannschaft der SAVE1 waren gekommen, um Aeterna vor einer Gefahr zu bewahren, von deren Existenz wir aufgrund einer rigorosen Manipulation nicht einmal ahnten. Erst beim zweiten Einsatz, an dem ich unmittelbar beteiligt war, gelang es uns mit den vereinten Kräften der Opposition die Regierung zu stürzen. Auch wenn mein Verstand mir tagtäglich sagt, dass wir richtig gehandelt haben, so muss ich dennoch fast gewaltsam meine Sehnsucht verschließen. Ich kann nichts dagegen tun, dass mein Herz für zwei Planeten schlägt.

Während ich hier oben am Geländer stehe, sehe ich unter mir eine pulsierende Stadt. Alles scheint in Bewegung zu sein. Menschen, Autos, Busse, die Studenten auf dem Campus, die Wolken. Ich lasse meinen Blick über die blassbraunen Häuserfassaden und Dächer schweifen, zwischen denen immer wieder ein Turm herausragt. Diese gehören zu Kirchen, Denkmälern, manchmal aber auch zu einem der zahlreichen Friedhöfe. Letztere sind seltsame Orte, die mich von Anfang an mit Ehrfurcht erfüllt haben. Mir war nicht klar, dass man Tote auf diese Weise ehren kann. Während der Pandemie auf der Erde, die mittlerweile über zweiundzwanzig Jahre zurückliegt, hat es Milliarden davon gegeben. Allein Edinburgh hat gut fünfhunderttausend Menschen betrauert, die dem tödlichen Ikarusvirus zum Opfer gefallen sind. Ganze Städte, Landstriche und Länder sind ausgerottet worden. Zu spät war die Ausbreitung ernst genommen worden, da ein früherer Virus aus Afrika mit ähnlichen Maßnahmen eingedämmt werden konnte. Zu spät auch die Suche nach einem Gegenmittel. Doch die Überlebenden haben ihre Städte nach und nach wieder in Besitz genommen. Sonst würde ich jetzt nicht hier stehen. Mitten auf dem Campus, auf dem Dach des Café Roofless.

Ein verirrter Lichtblitz lenkt mich von diesen traurigen Gedanken ab. Er führt mir vor, wie umfangreich die Farbpalette des Himmels sein kann, sobald die Sonne ein Schlupfloch findet. Auch darüber staune ich regelmäßig. Da, wo ich herkomme – ich weigere mich beharrlich meinen Heimatplaneten beim Namen zu nennen, auch wenn dies nur zu einem meiner absurden Versuche zählt ihn zu vergessen – dort kennt das Auge nichts anderes als das allumfassende Caeruleumblau. Lediglich zu Sturmzeiten, die den Planeten in regelmäßigen Abständen heimsuchen, wird dieses Blau gegen eine graue Alldecke eingetauscht.

Ich reiße mich von dem Anblick der Stadt und meinen Erinnerungen los und mache mich auf den Weg zu Liams und meinem Stammplatz auf der Hinterseite des Gebäudes. Die Dachterrasse des Roofless ist legendär. Sie erstreckt sich über das gesamte Gebäude und ist mit langen Bänken, kleinen runden Tischgruppen und Liegestühlen ausgestattet. Deren schrille Farben schreien förmlich danach gesehen zu werden. Ich ergattere tatsächlich noch eine der freien quietschgrünen Bänke an der Mauer und lasse mich gemütlich auf das bunte Sitzkissen fallen.

»Madame haben Kaffee bestellt, ihr persönlicher Lakai liefert«, kündigt sich kurz darauf auch schon Liam an und stellt lächelnd ein beladenes Tablett vor mir auf dem kleinen roten Metalltisch ab. »Ich habe mir auch erlaubt einen Salat mitzubringen, er sieht einfach zu lecker aus, hier, Sarina.«

»Woher hast du gewusst, dass ich Hunger habe?«, frage ich meinen Freund, der in seiner Jeans und der braunen Fliegerjacke einfach unwiderstehlich aussieht.

»Das Knurren war bis an die Theke zu hören.«

»Ach komm«, grinse ich und gebe Liam schnell einen Kuss, weil er sich zu mir beugt, um Zucker in den Kaffee zu schütten. »Du bist einfach der Beste.«

Auch das zählt zu den guten Seiten. Liam und ich verbringen so viel Zeit wie möglich miteinander, seit wir nach der Befreiung meines Heimatplaneten zurück auf der Erde sind. Obwohl er der Meinung ist, dass es noch viel mehr Zeit sein könnte, wenn ich mich erst entschieden hätte bei ihm einzuziehen. Mitten in der Stadt. Haymarket, das absolute Trendviertel, hier tobt endlich wieder das Leben - mit derartigen Worten hat er versucht mir den Einzug schmackhaft zu machen. Doch das erschien mir nicht erstrebenswert. Im Gegenteil. Ich bin stattdessen zusammen mit Jenna und ihrem Bruder Jason in eine WG nach Leith in die Nähe des Meeres gezogen. Niemals hätte ich die beiden allein lassen wollen. Sie stellen die Nabelschnur dar, die mich mit meiner alten Heimat verbindet. Eine Heimat, die im Grunde keine mehr für mich ist, seit meine Familie dort nicht mehr existiert. Aber daran möchte ich an einem Tag wie heute nicht denken.

»Suchst du mal wieder das bisschen UV-Licht, das sich durchschmuggelt?«, fragt Liam spöttelnd und steckt sich eine Tomate in den Mund. »Pass auf, dass du dir keinen Sonnenbrand holst.«

»Ich weiß«, antworte ich lahm. »Die Wolken können wie Scheinwerfer wirken, bla, bla. Du klingst fast wie Jason, der sogar hier ständig die Wetterapp im Blick hat.«

Ich stochere ein paar gekräuselte Salatblätter auf und richte mein Gesicht beim Kauen trotzig in Richtung der dünnen Wolkendecke über uns. »Hm«, sage ich genießerisch, verrate ihm aber nicht, ob ich den Salat meine oder das Sonnenlicht, das sich gerade durch eine kleine Lücke seinen Weg direkt zu mir bahnt.

»Ich mein‘s ja nur gut mit dir«, behauptet Liam gönnerhaft. »Oder hast du deinen ersten Sonnenbrand neulich schon vergessen?«

Natürlich nicht. Wie könnte ich auch. Wir waren an einem der ersten Frühlingstage auf einen Vulkankegel namens Arthur‘s Seat gewandert und haben dort den ganzen Nachmittag verbracht. Auf dem Planet Erde erhält das Jahr gemäß der Wetterveränderungen eine Einteilung in vier Jahreszeiten, was auf Aeterna völlig sinnlos wäre, weil es derartige Schwankungen nicht gibt. Mit frühlingshaft hatte ich bis dahin lediglich verbunden, dass ich die dick gefütterte Jacke, die ich die ganzen Wochen seit unserer Ankunft getragen hatte, gegen eine dünnere Variante eintauschen konnte. Liams Erklärung meine empfindliche blasse Haut mit Sonnencreme schützen zu müssen, selbst wenn nicht einmal ein Hauch von Sonne zu sehen wäre, hatte ich ignoriert, weil sie mir recht unsinnig erschien. Mein gerötetes Gesicht am Abend, das unangenehm spannte und wie Feuer brannte, hatte mich darum auch eiskalt erwischt.

»Ich pass schon auf«, versichere ich Liam, der sich gerade ein Stück gegrilltes Fleisch stibitzt. Entspannt lehne ich mich an die warme Hauswand. Um mich herum füllen die Stimmen der Studenten das Dach. Ich sitze einfach zu gern hier und nehme die Rolle einer heimlichen Beobachterin ein, auch wenn ich selbst seit über einem Semester eine von ihnen bin. Wenn ich mich konzentriere, fangen meine Ohren viele fremde Klänge auf.

Das Leben an einem College bedeutet vor allem ein Aufeinandertreffen internationaler Studenten. Aus diesem Grund habe ich mich auch von Anfang an nicht fremd gefühlt. Oft sieht man größere Gruppen zusammenstehen oder sitzen, die sich allein aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft finden. Selbst Jenna, Jason und ich bilden ein eigenes kleines Konglomerat, zu dem bisher nur Timothy dazu stoßen durfte. Timothy, witzig und liebenswert zugleich, den das Musikstudium genauso begeistert wie mich, und dessen größte Schwäche ausgerechnet Science Fiction ist. Und natürlich gehört Liam zu unserer Gruppe. Er allein ist der Grund, warum ich in Edinburgh lebe und studiere. Ohne seine Hilfe und den Einfluss einiger einflussreicher Leute bei der SAVE1 wären wir niemals am College angenommen worden. Jedenfalls nicht ohne jeglichen Nachweis unseres Leistungsstandes.

Im Roofless treffen wir uns immer, sobald es nicht regnet. Das verlangt meinen Freunden und mir viel Geduld ab, denn wir erreichen bei der extrem hohen Ansammlung von Wassermolekülen in der Luft eine Trefferquote von maximal zwanzig Prozent. Aber Jason hat uns erst gestern wärmere Temperaturen gepaart mit langen trockenen Phasen in Aussicht gestellt. Genau wie auf unserem Planeten legt er auch hier sein Tablet so gut wie nie aus der Hand, und sein erster Blick am Morgen gilt der Wetterapp. Auf Aeterna konnte dies lebenswichtig sein, um eine Sturmankündigung nicht zu verpassen.

Liam legt eine Hand auf mein Knie, so dass ich überrascht zusammenzucke. Seine gerunzelte Stirn deutet darauf hin, dass ihm etwas Kopfzerbrechen bereitet. Und ich bin sicher, dass es nicht das Wetter ist.

»Meinst du, wir können das Essen morgen ausfallen lassen? Es ist doch unser letzter Abend, bevor ich fahre?«, will Liam von mir wissen und wendet keine Sekunde den Blick von mir. Flüchtig bemerke ich, wie sich das Licht in seinen braunen Augen sprenkelt.

»Ach, auf einmal bin ich dir doch wichtig?«, platzt es aus mir heraus. »Die letzten Tage hat sich alles nur noch um Marty und die SAVE gedreht!«

»Bist du immer noch sauer, Sarina? Ich dachte, wir hätten das geklärt«, wagt Liam einen neuen Vorstoß.

»Das macht es mir nicht unbedingt leichter, weißt du?«, gestehe ich leise.

Mir geht es gar nicht gut bei dem Gedanken mit Liam Streit zu haben. Seit ich in Edinburgh lebe, hat er alles daran gesetzt, dass ich mich auf seinem Planeten zurecht finde und ihn an meiner Seite weiß. Bei den ersten zwei kurzen Einsätzen, zu denen er im Auftrag der SAVE1 dennoch aufgebrochen war, habe ich auch nichts gesagt. Aber nachdem er mir vor vier Tagen gestanden hat, dass er zu einer längeren Mission aufbrechen würde, überrumpelten mich meine eigenen Gefühle, die ich sonst so gut unter Kontrolle habe. Ein unbekannter Schmerz ätzte sich in jede Pore meiner Haut, mit zittriger Stimme brach es aus mir heraus: »Hast du mir nicht versprochen immer für mich da zu sein?«

Ich wusste im selben Moment, als die Worte aus meinem Mund sprangen, dass sie ungerechtfertigt waren. Und Liam wusste es auch, denn er machte kein großes Aufheben darum. »Schmollen passt nicht zu dir«, war eine klare Antwort.

Liam ist neben meinem Bruder der wichtigste Mensch in meinem Leben geworden. Und im Gegensatz zu Colin trennen uns maximal ein paar Stadtviertel voneinander. Als mein Bruder nur drei Wochen nach unserer Ankunft auf der Erde nach Schweden gezogen war, hat er diese Entscheidung ganz allein getroffen. Ich dagegen fühlte mich von ihm im Stich gelassen. Es hätte unser gemeinsames Abenteuer werden können Edinburgh zu entdecken. Die seltenen Telefonate können die Lücke, die er hinterlassen hat, auch nicht immer füllen.

»Bitte, Sarina«, sagt Liam nur und legt eine Hand auf meine Knie. Sein zerknirschter Gesichtsausdruck ist irgendwie süß. »Ich wünsche mir lediglich, dass du uns mehr als nur den Nachmittag gönnst. Unsere Freunde werden das verstehen, glaub mir.«

Das stand doch nie zur Debatte! Natürlich hätten sie nichts dagegen. Aber Liam weiß genau, dass ich Abschiede nun mal nicht mag. Das habe ich bereits gestern versucht ihm zu verklickern. Ungeduldig richte ich mich auf. »Es geht hier aber nicht nur um dich, Liam! Ich möchte einfach, dass morgen ein ganz normaler Mittwoch ist. Und die anderen freuen sich auch schon darauf.«

»Die anderen sind mir egal«, erwidert Liam mit einem verbissenen Zug um den Mund. »Du bist es, die zählt. Es ist unser letzter Abend!«

Seine Stimme klingt so aufgewühlt, dass ich eine Nanosekunde zögere. Doch ich kann und will ihm gerade keinen Schritt entgegen kommen. Genauso wie Liam nicht auf diesen Einsatz verzichten wird.

»Du weißt, was mir die Treffen bedeuten«, halte ich dagegen.

Der Mittwochabend mit meinen Freunden steht einfach nicht zur Diskussion. Punkt. Es ist der einzige Abend, an dem wir alle Zeit haben. Dieses Ritual hat von Anfang an etwas Tröstliches für mich gehabt, und das ist Liam natürlich auch bewusst. Es hilft dabei mir immer wieder zu zeigen, dass ein Leben auf der Erde mehr zu bieten hat. Regelmäßige Abende zum Beispiel, an denen wir über das Weltgeschehen diskutieren, während wir gemeinsam kochen und essen.

Solche Treffen würden dort, wo ich herkomme, niemals stattfinden. Auf meinem Heimatplaneten ist die Nahrungsaufnahme lediglich mit dem Abruf der körpereigenen Daten gekoppelt. Auf Gelüste ist die Watch nicht programmiert. Doch ich habe, seit ich auf der Erde bin, ständig Lust etwas Neues auszuprobieren. Dank Liam habe ich sogar die Freude am Kochen entdeckt. Von meiner Experimentierlaune profitieren Jenna, Jason und zu seiner großen Freude inzwischen auch mein neuer bester Freund Timothy jeden Mittwoch.

»Bitte, Sarina, sei nicht so hart. Du hast sie ja dafür ganz für dich, während ich weg bin.«

»Ach, Liam«, seufze ich bedeutungsschwer und lehne mich an ihn. Dabei atme ich seinen vertrauten herben Duft ein, von dem ich niemals genug bekommen kann. Zärtlich fahre ich über seine Bartstoppeln an der Wange und die kleine Narbe oberhalb der Lippe, die seinem Mund einen besonderen Zug gibt.

»Lass uns bitte so tun, als ob du nicht wochenlang weg sein wirst, ja?«, sage ich ernst. »Dann fällt es mir vielleicht nicht so schwer.«

»Hm«, überlegt Liam. Sein nachdenklicher Blick bohrt sich tief in meine Augen. »Wenn wir das Essen nicht verschieben, was bekomme ich dafür?«

»Was höre ich da? Wieso verschieben?«, poltert plötzlich neben uns eine Stimme und lässt uns auseinander fahren. Sie gehört eindeutig zu Timothy. »Ich hab doch schon die Currypaste und das Chili besorgt.«

Blinzelnd sehe ich hoch. Timothys Empörung steht ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben.

»Oh, hey«, begrüße ich Timothy nicht gerade einfallsreich. »Keine Panik, alles bleibt wie besprochen, stimmt‘s Liam?«

Ich fühle mich nur ein ganz kleines bisschen gemein Liam derart unter Druck zu setzen. Aber ich bin mir sowieso ziemlich sicher, dass er mir zuliebe in den sauren Apfel beißen wird. Ach, ich stehe auf diese erdischen Redewendungen.

Timothy wartet Liams Bestätigung nicht einmal ab. »Na, dann bin ich ja beruhigt. Ohne unseren Mittwoch wäre die Woche kaum zum Aushalten.«

»Quatsch, sag das nicht«, halte ich dagegen. »Du musst dich nur nicht immer in deinem Zimmer verkriechen. Wenn du nichts anderes als deine Science Fiction im Kopf hast, ist das ja auch kein Wunder.«

Über Timothy bin ich an meinem ersten Tag am Edinburgh College mehr oder minder gestolpert. Er schleppte seine riesige Tuba vor sich her, und ich hatte dummerweise nur Augen für den Campusplan auf meinem Tablet. Sein gutmütiges Lachen und die tausendfachen Entschuldigungen haben mich spontan für ihn eingenommen. Obwohl er in seiner froschgrünen Jacke und der schlabberigen Hose ziemlich merkwürdig wirkte. Dadurch versucht er – wie ich inzwischen weiß – von seinem fülligen Körperumfang abzulenken. Wären die zahlreichen Pickel nicht, könnte man sein Gesicht mit den kurzen blonden Haaren beinahe als hübsch bezeichnen. Als wir nach dem Zusammenstoß gemeinsam zum Hörsaal gelaufen sind, trafen uns etliche ungläubige Blicke. Ich habe sie einfach ignoriert.

»Träumst du mal wieder, Prinzessin?«, fragt mich Timothy und schubst mich zur Seite, damit ich ihm auf der Bank noch Platz mache. In seiner Hand hält er ein fettes Sandwich, in das er jetzt genießerisch reinbeißt.

Nur Timothy darf mich so nennen. Schon nach wenigen Wochen war mir klar, dass ich meinem neuen Freund trotz Liams Bedenken von meiner Heimat erzählen wollte. Liam sorgte sich darum, dass sich Gerüchte über meine ferne Herkunft schneller verbreiten könnten, als mir lieb wäre. Da die Menschen auf Aeterna vollkommen abgeschottet vom Rest der Welt existiert hatten, würde sich die Presse um diese Story nur so reißen. Außerdem wies er darauf hin, dass es jede Menge schlechte Witze über Aliens auf der Erde gäbe. Doch das konnte mich nicht umstimmen. Einem guten Freund etwas vorzumachen, fiel mir viel zu schwer. Timothys einziger Kommentar auf meine Enthüllungen fiel in etwa so aus: »Perfekt, dann bist du ab jetzt meine Prinzessin Leia«.

Liam konnte sich danach auf meine Kosten amüsieren. Gnädigerweise hat er dann aber die großen Fragezeichen in meinen Augen gelöst, indem er mir eine Kurzfassung der Geschichte von Star Wars erzählte. Dagegen hat es mich 865 Minuten inklusive sechzig Minuten Pause gekostet, um die sechs Episoden bei Timothy zuhause anzusehen. Auf die vierzig Minuten Bonusmaterial hatte ich im Anschluss großzügig verzichtet.

»Wie war Komponieren am Computer?«, frage ich Timothy jetzt neugierig, da ich mich nach einigem Abwägen gegen diesen Kurs entschieden hatte. Mir fällt es auch im zweiten Trimester noch schwer unter dem großen Kursangebot am College auszuwählen. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Musikstudium mehr bedeutet, als Noten lesen zu können und zwei Instrumente bis zur Perfektion spielen zu müssen. Obgleich ich mich nicht für das Orchester angemeldet, sondern dem Singen den Vorzug gegeben habe, gibt es noch so vieles, das mich darüber hinaus interessiert.

»Echt mega. Der Typ von der Music Academy hat Kontakte zur Filmbranche, und wir komponieren die Musik für einen Film. Schade, dass du nicht dabei bist.«

»Nicht schlecht«, stellt Liam anerkennend fest und beginnt mit Timothy ein Gespräch über berühmte Musikstücke aus Filmen, deren Namen mir größtenteils nichts sagen.

Zum Glück lenkt mich ein interessanter Typ, der an unseren Nachbartisch tritt, ab. Als Erstes sticht mir seine Tätowierung auf dem Oberarm ins Auge. Ich habe den keltischen Knoten bereits auf Abbildungen gesehen, aber noch nie auf einem schwarzen Untergrund mit brennenden Rändern eintätowiert. Sein Handgelenk ziert außerdem ein braunes grob geflochtenes Lederarmband. Er trägt nur ein graues Shirt, während ein Hemd in seiner Hand baumelt. Aus den Augenwinkeln inspiziere ich ihn noch einen Moment genauer. Sein Vollbart macht den Jungen interessant, und die kurz geschorenen braunen Haare würden mir an und für sich gefallen, wenn er nicht den Oberkopf gelockt gelassen hätte. Das sieht eher affig aus.

Die drei Mädchen, zu denen er sich stellt, himmeln den Typ von ihren Sitzplätzen regelrecht an. Sie waren mir schon vorher aufgefallen, weil sie bis zu den Fußspitzen gestylt sind und ihre Sonnenbrillen gekonnt im Haar tragen – als ob es sich lohnen würde, die je aufzusetzen! Die Stimme der einen langhaarigen Blondine ist dermaßen laut und schrill, dass ich selbst unter größter Anstrengung nicht weghören kann.

»Hi Sven, wie geht‘s?«

Der Typ begrüßt alle drei mit Küsschen auf die Wange. »Passt, und bei euch?«

»Oh, megamotiviert«, antwortet die Blonde und lacht dabei ziemlich gekünstelt.

Ihn scheint das nicht zu stören. Er steht lässig da, die Hände in den Hosentaschen und badet regelrecht in ihrer Aufmerksamkeit. »Das letzte Trimester lief nicht so gut, hab zwei Prüfungen verkackt«, erzählt er so cool, als wäre das eine Auszeichnung. Die Mädchen nicken anerkennend.

»Arbeitest du noch im Institut?«, will die andere, die kaum von dem blonden Mädchen zu unterscheiden ist, wissen.

»Ja, mehr denn je. Aber nach dem Sommer geh ich nach England, in irgend so ein Kaff, und mache ein Praktikum.«

»Du Ärmster«, kommentieren sie wie aus einem Mund. Was bitte schön veranlasst sie dazu ihn zu bedauern?

»Ich muss dann mal weiter«, erklärt der Typ und sucht sich zu meiner großen Verwunderung einen Platz an einem langen Tisch. Ich hätte gedacht, dass er irgendwie zu ihnen gehört. Stattdessen packt er ein Tablet aus und kramt in seinen Taschen nach einem Päckchen Zigaretten. Spätestens jetzt wäre der Kerl bei mir unten durch. Was aber hier nicht zur Debatte steht, da ich ihn nicht kenne. Ich bin auf jeden Fall froh, dass Rauchen auf Aeterna kein Thema war. Wer, bitte schön, kommt auf die Idee seinen Körper bewusst mit jedem Atemzug zu vergiften?

Ich räkle mich zufrieden. Hier oben passiert es mir immer wieder, dass ich abtauche in fremde Geschichten. Jenna tadelt mich oft, weil sie behauptet, ich würde die Privatsphäre von anderen missachten. Mein Argument, wir hätten doch so viel zu lernen über diesen Planeten, lässt sie nicht gelten. Jenna ist im Laufe der Monate eine enge Freundin geworden. Ich habe sie schon immer gemocht, aber als ältere Schwester von Josh zählte sie mich natürlich nicht zu ihrem engen Freundeskreis. Erst hier haben wir festgestellt, dass uns mehr als die gemeinsame Vergangenheit verbindet.

» … verarsch mich nicht, den kennst du wirklich?« Timothy sieht Liam gerade völlig entgeistert an. »Der ist echt ein Gott unter den Musikern. Selbst mein Vater gibt zu, dass der Baxter ein Genie ist. Angeblich spielt er sieben verschiedene Instrumente und hat zu ich weiß nicht wie vielen Filmen die Musik geschrieben.«

Ich sehe Timothy mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wer?«

»Mensch, Sarina, warum erfahr ich erst jetzt, dass Liam solche coolen Leute kennt.«

Mir ist nicht klar, womit ich seine Verärgerung verdient habe. Darum werfe ich ihm einen finsteren Blick zu und stehe auf. »Wir sollten langsam gehen.«

Timothy hebt entschuldigend die Hände und grinst mich an. Sein herausfordernder Gesichtsausdruck erinnert mich für den Bruchteil einer Sekunde an Pit. Er war sich auch immer sicher, dass ich ihm nicht böse sein könnte. Unbewusst unterdrücke ich einen Seufzer. Ich habe lange an Pits Tod zu knabbern gehabt. »Schon kapiert, Prinzessin. Nächstes Mal fass ich dich mit Samthandschuhen an.«

»Sollte er mal in Edinburgh sein, sag ich dir Bescheid«, erwähnt Liam so ganz nebenbei, während er sich neben mich stellt. »Er ist der Onkel von einem Studienfreund. Der hat mich mal auf ein Konzert mitgeschleppt. War nicht so ganz mein Geschmack, fürchte ich.«

Ich lege meinen Arm um Liams Taille und schiebe ihn sanft vorwärts. Dabei schießt es mir durch den Kopf, dass ich schon übermorgen ohne Liam im Roofless sitzen werde. Ich sollte mich besser jetzt schon mit einer harten Rüstung gegen das Gefühl wappnen ihn zu vermissen.

Kurz vor dem Hörsaal im dritten Stock, in dem Timothy und ich Musikpädagogikvorlesung haben, zieht mich Liam an eines der großen Fenster. »Wenn das Treffen der Mannschaft nicht zu lange dauert, komme ich später noch bei dir vorbei, okay?«

»Ja?«, frage ich ungläubig, doch mein Herz stolpert hoffnungsvoll.

»Ich weiß, was du denkst«, meint er zerknirscht. »Wir haben noch einiges durchzusprechen. Anna ist erst heute aus London eingetroffen und Alfred konnte auch nicht früher kommen. Er hat mit Mühe sein Besuchswochenende der Kinder verschieben können. Außerdem sind zwei Neue dabei.«

»Schon okay, Liam«, versichere ich ihm und bemühe mich großzügig zu klingen. Wenn er mir den Kochabend lässt, darf ich jetzt nicht knausrig sein. »Marty wird alles akribisch wie immer durchgehen.«

Auch wenn ich selbst an einer Aktion der SAVE1 beteiligt war und weiß, was an Vorbereitungen und Planungen dafür notwendig sind, knabbere ich immer noch daran, dass diese dritte Mission innerhalb von fünf Monaten keine einfache sein wird. Die Angst ist mein stiller Begleiter. Wieder einmal geht es darum ein Volk von einem selbsternannten Herrscher zu befreien. Doch die östlichen Grenzgebiete Äthiopiens sind unwegsam, und in der Region finden immer wieder blutige Aufstände statt. Auch nach dem Großen Sterben hat sich die Menschheit nicht wirklich verändert. Selbst auf Aeterna, dem damaligen selbsternannten Hoffnungsträger für eine bessere Welt, wurde der scheinbare Frieden untergraben.

»Marc hat ganz schön Druck gemacht. Angeblich lässt King Boruni mittlerweile einen ganzen Stamm verhungern. Er hat sie mit Panzern und Stacheldraht eingekesselt. Die Zahl der Opfer muss schon auf über tausend angestiegen sein«, erklärt mir Liam, was nicht gerade zu meiner Beruhigung beiträgt.

Natürlich sind die Leute der Einheit geschult für solche Einsätze. Nicht umsonst ist es ihnen gelungen meinen Bruder Colin aus der Gefangenschaft zu befreien und mich vor den Angriffen der Elite zu schützen. Dafür werde ich allen auf ewig dankbar sein. Trotzdem finde ich es gemein mich immer und immer wieder die Sorge um Liam durchleben zu lassen. Von ihm getrennt zu sein, ihn einer Gefahr ausgesetzt zu wissen nimmt mir manchmal fast den Atem. Ich lege eine Hand auf seine Brust, dort, wo sein Herz für mich schlägt.

»Ach, Sarina«, seufzt Liam leise. »Du weißt, dass es mir nicht leicht fällt zu gehen.«

Dann bleib doch da! Diesen Gedanken spreche ich nicht aus. So unfair bin ich nicht. Ich sehe Liams Qual in seinen Augen. Sein dunkler Blick richtet sich unbeirrt auf mich. Sehnsüchtig dränge ich mich an ihn. Liams Hand fährt zärtlich über meinen Rücken, verharrt kurz auf meinem Po und sucht dann meine Finger. Wir verschränken sie ineinander. Zwischen unsere Körper passt nicht einmal ein Blatt Papier. Sie verschmelzen wie warme Schokoladensauce mit Eis. Und ich wünschte, wir könnten die Zeit anhalten, damit Liams sanfter Kuss niemals endet. Doch die eine zufallende Tür - oder waren es die Typen, die ins Gespräch vertieft zu nah an uns vorbeigegangen sind – holt uns wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Verdammt, ich muss los!«

»Na dann«, sage ich locker, doch in mein Gesicht schleicht sich ein verklärter Ausdruck. Ich liebe dich. Doch auch dieser Satz bleibt in meinem Kopf hängen wie ein ungepflückter Apfel.

2. Kapitel

Ich beobachte sie schon eine Weile so unauffällig wie möglich. Keine zwei Meter von mir entfernt scrollt sie genau wie ich die aktuellen Jobangebote durch. Ihre kobaltblaue Hose sitzt ziemlich eng, so dass der Hintern übertrieben betont wird. Das schwarze T-Shirt verbirgt die leichten Speckröllchen am Bauch nicht. Trotzdem trägt sie die kurze Jeansjacke mit den hochgekrempelten Ärmeln mit souveräner Haltung. In der freien Hand hält sie eine überquellende paillettenbesetzte Umhängetasche, unter dem Arm klemmt ein Mac – ich bin mir ziemlich sicher, dass es das allerneueste Modell ist – und die kinnlangen dunkelbraunen Haare können ihren verzweifelten Blick nicht vor mir verbergen.

»Hey, auch auf der Suche nach ‚nem Job?«, wage ich einen freundlich gemeinten Vorstoß. »Heut ist echt gar nichts Vernünftiges dabei.«

Ich muss sie erschreckt haben, denn ihr Kopf zuckt in meine Richtung und gleichzeitig fällt ihr die Tasche runter. Der komplette Inhalt ergießt sich zu ihren Füßen. »Mist«, höre ich sie leise fluchen.

»Soll ich helfen?«, frage ich freundlich und hocke mich zu ihr, ohne eine Antwort abzuwarten. Doch ihre finstere Miene spricht nicht unbedingt dafür, dass sie meine Hilfe möchte. Sie streicht sich ihre Haare hinters Ohr und fängt hektisch an ihre Tasche zu füllen.

»Schon gut, danke«, sagt sie leise und stöhnt, als ich ihr eine Haarbürste reiche, die weggerollt ist. »Ist heute wohl nicht mein Tag.«

»Warum schleppst du denn so viel Zeug mit dir rum, hast du keinen Spind?«

»Einen Spind, wofür?«

»Na für alles, was du gerade nicht brauchst.«

»Oh«, sagt sie. »Davon wusste ich nicht.«

Verwundert sehe ich sie an. Selbst ich habe meinen Spindschlüssel am zweiten Tag am College erhalten und ich weiß noch genau, wie ich davor stand und mir stolz zugeflüstert hatte: Jetzt bin ich eine Studentin.

»Bist du neu hier?«

»Ja, erster Tag, merkt man das?«

Ich lächle sie an. »Halb so wild. Aber deinen Spind bekommst du auf jeden Fall, wenn du deine Anmeldung abgibst.«

Ihre Augen huschen zur digitalen Zeitanzeige, die unmittelbar über uns hängt. »Ich glaube, das krieg ich hin. Aber kannst du mir vielleicht verraten, wie ich am schnellsten an einen Kaffee komme?«, will sie jetzt wissen. »Eine lebensspendende Quelle zu kennen, hätte durchaus seine Vorteile.«

Gute Idee, sage ich mir und muss über ihre Definition von Kaffee schmunzeln. Die ersten Vorlesungen beginnen erst in zweiunddreißig Minuten. Das Frühstück ist bei mir heute früh zugunsten der Jobsuche ausgefallen. Nach der morgendlichen Laufstrecke am Meer und einer kurzen Dusche blieb keine Zeit mehr.

»Klar, am schnellsten gleich hier durch die Halle und hinter der Treppe links. Ich könnte auch einen vertragen.«

Die hellbraunen Steinfliesen, auf denen wir beide immer noch knien, sind hart und kühl, darum stehe ich schnell auf. Sie rafft die letzten Sachen zusammen und folgt mir wortlos. Noch ist die Eingangshalle relativ leer und der Hall der einzelnen Stimmen verliert sich unter dem hohen Deckengewölbe. In der Mensa sitzen die üblichen durchnächtigten Studenten, die meist noch nicht einmal zuhause gewesen sind. Man erkennt sie an ihren zotteligen Haaren, dem Hemdzipfel, der unordentlich aus der Hose hängt, oder einem fahlen Gesichtsausdruck. In dem lieblosen Raum sind nur ein paar Tische beleuchtet, so als wäre der Rest noch im Ruhemodus. Selbst die Bedienung hinter der Theke arbeitet noch in Zeitlupe.

»Ah, das tut gut«, sagt meine neue Bekannte und leckt sich den Milchschaum von den Lippen. »Jetzt fühle ich mich langsam wie ein Mensch. Ich bin übrigens Vivienne. Meine Freunde nennen mich Vivi.«

»Sarina«, antworte ich prompt. »Kein Spitzname, keine Abkürzungen.«

Vivienne pustet ihren fransigen Pony aus dem Gesicht und grinst frech. »Ach, da lässt sich bestimmt was machen.«

Das Quietschen eines Stuhles lenkt sie zum Glück von dieser glorreichen Idee ab. Ein Mädchen mit grün gefärbten Haaren und mehreren langen geflochtenen Rastazöpfen hat sich zwei Plätze weiter gesetzt. Sie ist mir schon ein paar Mal über den Weg gelaufen, seit das Trimester begonnen hat. Mit schnellen Fingern tippt sie etwas in ihr Tablet. Uns beachtet sie überhaupt nicht. Dafür schnappt sich Vivienne im selben Moment ihren Mac – tatsächlich der neueste – und sucht etwas.

»Ah, da ist er ja!« Erleichtert schaut sie zu mir auf. »Wie weit ist es zum Musiktrakt? Ich hab gerade in meinem Stundenplan gesehen, dass ich da zu Musiktheorie muss .«

»Du auch?«, frage ich überrascht.

»Im Ernst? Klingt gut. Dann kenn ich wenigstens schon jemand«, stellt sie fröhlich fest. »Ich hab noch nicht so ganz den Überblick.«

»Ach, das geht schnell, glaub‘s mir.«

Zu meiner großen Überraschung hakt sie sich auf dem Weg zum Hörsaal so selbstverständlich bei mir unter, als würden wir uns schon ewig kennen. An ihrer Seite fühlt es sich so unbeschwert an, als würde ich mit einem meiner Freunde durch die Gänge der Maxima, meiner ehemaligen Schule auf Aeterna, laufen. Unterwegs erzähle ich Vivienne von meinem letzten Job in der Bibliothek, der nicht nur gut bezahlt war, sondern mich auch begeistert hat. Im Stillen ertappe ich mich dabei, an das Haus des Wissens zu denken, das nicht weit entfernt von der Maxima liegt. Dort hätte ich früher oder später auch gern gearbeitet.

»Es war leider nur eine Urlaubsvertretung für vier Wochen«, sage ich frustriert. »Ohne Job wird es eng bei mir. Die Miete für die WG ist noch halbwegs bezahlbar, aber von irgendwas muss man ja auch leben. Wie ist es bei dir?«

Vivienne wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. »Ach, das wird schon irgendwie. Mir wurde gesagt, dass man als Studentin leicht Arbeit findet.«

»Ich hoffe wirklich, dass nochmal was in der Nebi frei wird«, seufze ich.

»Nebi? Was bedeutet das?«, hakt Vivienne interessiert nach.

»Kennst du die Abkürzung nicht? Das sagen alle hier für Neue Bibliothek. Obwohl sie eigentlich gar nicht so neu ist. Aber es gab früher in einem zweiten College eine weitere Bibliothek. Das College samt seiner Bibliothek musste leider nach der Epidemie aufgegeben werden.«

»Bei uns heißt das anders.«

Wir biegen gerade auf den breiten Gang Richtung Treppenaufgang, der voller Leute ist. Wenn man hier voran kommen will, muss man bestens im Slalomlaufen sein. Jeder nimmt sich so wichtig oder ist in Gedanken und Gespräche vertieft, dass er es regelrecht auf eine Kollision ankommen lässt. Mit etwas Übung hat man es raus unversehrt ans andere Ende zu kommen.

»Woher kommst du denn?«, frage ich nebenbei, während ich dem einen oder anderen Studenten zunicke.

»Ist ziemlich klein. Kennt kein Mensch«, antwortet sie, flucht aber in der nächsten Sekunde, weil sie von einem Entgegenkommenden angerempelt wird. Ich löse mich aus ihrem Arm, damit wir mehr Bewegungsfreiheit haben.

An der Treppe wartet Timothy. Er ist, was das Warten angeht, genauso treu wie Marie, meine beste Freundin auf Aeterna. Sie hat mich auch jeden Morgen vor der Schule abgefangen. Nicht immer macht es mir das leichter. An manchen Tagen schwappt die Sehnsucht nach ihr hoch, so als befände ich mich auf einem schwankenden Schiff. Ich habe den vertrauten Hafen meiner Heimat verlassen. Wenn ich mir nicht immer wieder sagen würde, warum ich auf der Erde bin, dann würde ich viel zu oft zurückblicken.

»Hallo Prinzessin«, begrüßt mich Timothy freudestrahlend. »Warst du erfolgreich?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, hab absolut nichts gefunden. Der Markt ist wie leergefegt.«

»Dann hab ich dir zum Trost einen Cupcake mitgebracht«, meint Timothy und reicht mir einen quietscherosa farbigen Minikuchen.

»Du bist echt mein Held«, lache ich und beiße ihm zuliebe ab. Im Gegensatz zu mir steht Timothy auf alles, was süß ist und Kuchen heißt. Ich reiche den angebissenen Cake an Vivienne weiter. »Hier, probier mal.«

Timothy zieht fragend die Augenbrauen hoch. »Oh sorry, ihr kennt euch ja noch gar nicht«, sage ich schnell. »Timothy, das ist Vivienne. Vivi, und das ist mein bester Freund Timothy. Er studiert auch Musik. Unter anderem.«

Prompt rollt Timothy mit den Augen. Er hasst es, wenn ich ihn damit aufziehe, dass er beinahe genauso intensiv, wenn nicht sogar noch zeitaufwendiger, das Leben der Figuren in den Star Wars-Filmen studiert.

»Hey, bist du neu hier?«, will er von Vivienne wissen.

»Steht das auf meiner Stirn oder wie?«, fragt sie und lächelt ihn an. »Ich bin erst vor zwei Tagen nach Edinburgh gezogen.«

»Dann hast du aber einiges nachzuholen. Das Trimester läuft ja schon seit vier Wochen. Und die Vorlesungen bei Professor Swan haben es in sich, nicht wahr Sarina?«

Vivienne schultert ihre Tasche neu und streicht sich fahrig eine der Haarsträhnen hinters Ohr. »Ich hab mir das meiste online geholt«, erklärt sie locker.

»Immerhin«, bemerkt Timothy und beobachtet Vivienne unverhohlen, während sie sich umsieht.

»Wo müssen wir hin?«, fragt sie und sieht mich fragend an.

Ich zeige mit dem Finger nach oben. »Dritter Stock, wir nehmen die Treppe. Du kannst aber auch den Glassy nehmen.«

Vivienne lacht hell auf. »Noch so eine Abkürzung, die ich kennen sollte?«

Eilfertig bemüht sich Timothy um eine Erklärung. »Der Aufzug ist komplett aus Glas, daher der Name. Ist nur so früh heillos überlaufen.«

»Gut, dann eben die Treppe«, erwidert sie mit einem amüsierten Kopfschütteln, das ihre kinnlangen Haare hin und her wippen lässt. »Schaden kann‘s ja nicht.«

Sie geht vorneweg, so dass Timothy auf meiner Augenhöhe bleibt. Er hebt vielsagend einen Daumen in die Höhe. Ich muss unwillkürlich grinsen. Timothy hat sich, seit ich ihn kenne, noch nie für ein Mädchen interessiert.

»Sie gefällt dir?«, raune ich ihm leise zu. Er funkelt mich drohend an, wirft sich die Tasche über den Rücken und stapft davon. Ich renne meinem Freund hinterher und boxe ihn auf den Oberarm. »Mensch, Tim, von mir erfährt sie‘s nicht. Ich find‘s cool.«

Zum Glück kann Timothy mit mir darüber lachen und wir holen Vivienne kurz vor dem dritten Stock ein. Mein Blick schweift unweigerlich zu dem Fenster, an dem ich erst gestern mit Liam gestanden habe. Sofort sehe ich unsere schmerzvoll verschränkten Hände vor mir, höre die ungesagten Worte - und das hält mir die Trostlosigkeit der kommenden Wochen vor Augen. Wird es jetzt jedes Mal so sein?

»… also, Vivi, hier oben finden alle Musikvorlesungen statt«, reißt mich Timothys Erklärung aus meinen Erinnerungen. »Am Ende des Ganges«, er zeigt in die entgegengesetzte Richtung »liegen die Musizierräume, eine Treppe höher musst du nur, wenn du im Orchester mitmachst. Was für ein Instrument spielst du überhaupt?«

Jetzt sehe auch ich Vivienne erwartungsvoll an. Es macht mich stutzig, dass sie sich mit ihrer Antwort ziert. »Ich? Ähm, ich hab mich noch nicht entschieden. Aber wahrscheinlich wähle ich Gesang.«

»Oh, cool, dann kommst du vielleicht zu Sarina in den Kurs«, ereifert sich jedoch Timothy sofort und verscheucht das kurze Aufflackern einer Frage. »Ich spiele die Tuba.«

»Und nicht nur die«, ergänze ich jetzt, weil ich meinen Freund zu gern mit seiner Bescheidenheit aufziehe. Prompt läuft er rot an.

***

»Meine Damen, meine Herren, würden Sie bitte in den Hörsaal gehen«, tönt es plötzlich ganz in unserer Nähe und ich schrecke zusammen. Wir müssen viel später dran sein als sonst. Automatisch fühle ich mich ertappt, denn die Worte unserer Professorin erinnern mich an die Elitesprecher der Maxima. Zu deren Aufgaben zählte es das Herumlungern in den Gängen zu unterbinden. Und natürlich nicht nur das. Wann immer sie einen Scan entdeckten, der auch nur im entferntesten eine Rotfärbung aufwies, behielten sie denjenigen genau im Visier. Ich sehe mich gewohnheitsgemäß um. Doch keiner der Studenten um mich herum wirkt sonderlich beeindruckt. Sie alle schlendern ohne jegliches Anzeichen von Panik der Professorin hinterher. Die Stuhlreihen sind bereits gut gefüllt, so dass wir nur noch in Türnähe drei Plätze ergattern. Frau Dr. Patterson steht bereits vorn auf der Empore und beginnt mit ihrem Vortrag über Rhythmik und Improvisation. Dabei wirbeln ihre Hände wild herum, so als verwende sie nicht Worte, sondern Taktstöcke.

Nach dem zweistündigen Vortrag und einer kurzen Pause folgt das praktische Seminar. Die Reihenfolge der Schlaginstrumente aus einer Aufnahme des legendären Martin Grubinger herauszuhören zählt nicht zu den leichtesten Übungen. Die Musik ist laut, im wahrsten Sinn hammerlaut. Ich frage mich, was Vivienne davon hält und sehe sie von der Seite an. Ihre weit aufgerissenen Augen erinnern mich an mein eigenes Erstaunen, das ich vor ein paar Monaten in genau diesem Raum erlebt habe. Musikalische Hörbeispiele zählten nicht zum Musikunterricht auf Aeterna. Dieser beschränkte sich darauf Noten zu lernen und Musiksätze lesen zu können.

»Mensch, ich bekomme echt Kopfschmerzen«, beklagt sich Timothy plötzlich lautstark neben mir und lenkt mich endgültig ab. Seine hohe Anfälligkeit für Kopfschmerzen ist mir ebenso bekannt wie die Tatsache, dass es dagegen kein Mittel außer Ruhe und Schlaf zu geben scheint.

»Hey, das geht gar nicht, wir brauchen dich heute Abend. Dich und deinen ausgereiften Gaumen. Oder wer soll mir sonst für mein Curry vier Sterne geben?«, raune ich ihm leise zu.

Das mit den Sternen war Timothys Idee, weil er nach einem meiner ersten Kochversuche erklärt hatte, ich müsse noch eine Weile üben, um an einen Viersternekoch heranzukommen. Inzwischen ist es ein liebgewonnenes Ritual, das Mittwoch-Abend-Menü im Anschluss zu prämieren.

»Hast Recht, ich muss was dagegen tun«, erklärt mir Timothy mit einem verschwörerischen Blick. »Lass uns verschwinden, okay?«

Überrascht sehe ich ihn an. Die Vorlesung dauert noch über eine halbe Stunde. Meint er das ernst?

»Du musst nicht mitkommen«, greift er meine unausgesprochene Frage auf und stemmt sich aus seinem Stuhl.

Ich habe noch keine einzige Vorlesung verpasst, seit ich hier am College bin. Natürlich habe ich mit der Zeit festgestellt, dass nicht jeder das Studieren so ernst nimmt wie ich. Aber soll ich alles, was ich auf meinem Heimatplaneten gelernt habe, einfach in den Wind schießen? Eine herrliche Metapher, ich muss sie einfach benutzen! Selbst jetzt, wo ich keinerlei Kontrolle mehr unterliege, halte ich mich an die gewohnten Regeln, zum Beispiel die Anwesenheitspflicht.

Es beunruhigt mich zu beobachten, wie Timothy so dreist die Tür öffnet. Gleich wird sein Scan aufleuchten! Ich bin auf der Erde, schelte ich mich selber, mir kann nichts geschehen. Und mit einem Mal befreie ich mich aus der Starre und folge ihm einfach.

Erst unten in der Halle lache ich befreit auf. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich daran auch noch Spaß finden kann. Timothy holt eine Flasche Cola aus dem Getränkeautomaten und prostet mir zu.

»Tapfer, Prinzessin. Viel zu lernen du noch hast!«

Ich sehe ihn irritiert an, während wir nach unten gehen.

»… sagt Yoda.«

»Alles klar«, erwidere ich. »Wenn du schon wieder zu Scherzen aufgelegt bist, können die Kopfschmerzen ja nicht so schlimm sein.«

»Doch«, behauptet Timothy mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Aber die hier«, und er weist auf die Cola und trinkt sie in einem Zug leer »ist meine Rettung. Du glaubst gar nicht, wie schnell das Zeug in die Blutbahn gerät. Und mein Hirn bekommt einen krassen Zuckerflash und vergisst hoffentlich schnell die Kopfschmerzen.«

»Du und Cola? Du bist fast so schlimm wie Liam«, stelle ich kopfschüttelnd fest. »Für den gibt es nichts anderes.«

»Ist mir sehr sympathisch«, kommentiert Timothy.

»Und was jetzt?«, will ich wissen.

»Hm, hast du Lust, noch eine Runde durch den Park zu laufen? Frische Luft kann nicht schaden.«