Schwerer als das Licht - Tanja Raich - E-Book

Schwerer als das Licht E-Book

Tanja Raich

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Beschreibung

Eine Frau lebt auf einer tropischen Insel. Berichtartig gibt sie Auskunft über all die seltsamen Dinge, die passieren. Die Blätter der Bäume färben sich schwarz. Am Ufer liegen tote Fische. Sterne fallen vom Himmel. Und in ihr wächst die Angst vor denen, die im Norden der Insel leben. Sie baut ihr Haus zu einer Festung aus, ständig gefasst auf den Angriff ihrer Feinde.

Realität und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, Licht und Schatten - alles überlagert sich und bald ist nicht mehr klar: Sind es die anderen, oder ist sie sich selbst die größte Bedrohung?

Schwerer als das Licht“ ist ein Roman, der reich ist an Bildern und Deutungsmöglichkeiten und durch seinen parabelhaften Charakter von den zentralen Gegenpolen des Lebens erzählt: vom Anfang und Ende, von Licht und Schatten, von der Natur und dem Übernatürlichen, Krieg und Frieden, Macht und Ohnmacht, Täter und Opfer. Es ist eine Geschichte der Menschheit und ihres Untergangs, die uns schmerzlich vor Augen führt, was wir verloren haben und was wir noch verlieren werden.

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Seitenzahl: 169

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DASBUCH

Eine Frau lebt allein auf einer tropischen Insel, im Einklang mit allen Pflanzen und Lebewesen, und ernährt sich von dem, was die Natur ihr bietet. Berichtartig gibt sie Auskunft über die seltsamen Dinge, die geschehen: Die Blätter der Bäume färben sich schwarz. Am Strand liegen tote Fische. Die Sterne fallen vom Himmel. Die Nahrung wird knapp und in ihr wächst die Angst vor denen, die im Norden der Insel leben. Sie baut ihr Haus zu einer Festung aus, ständig gefasst auf den Angriff ihrer Feinde.

Realität und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, Anfang und Ende, Licht und Schatten – alles beginnt sich in der Wahrnehmung der Protagonistin zu überlagern, und bald ist nicht mehr klar, woher ihre Angst eigentlich kommt: Sind es die »anderen«, die sich verändernde Natur oder ist sie sich selbst die größte Bedrohung?

Schwerer als das Licht ist ein Roman, der von den zentralen Gegenpolen des Lebens erzählt: von Krieg und Frieden, Macht und Ohnmacht, Täter und Opfer. Ein kraftvoller, schonungsloser, sprachlich so messerscharfer wie hypnotisierender Text, der die Natur – und ihre Zerstörung – mit allen Sinnen erfahrbar macht.

DIEAUTORIN

Tanja Raich, 1986 in Meran (Italien) geboren, lebt als Lektorin und Autorin in Wien. Ihr Debütroman Jesolo wurde für den Österreichischen Buch-preis Debüt sowie für den Alpha Literaturpreis nominiert. Zuletzt erschien die von ihr herausgegebene Anthologie Das Paradies ist weiblich. 20 Einladungen in eine Welt, in der Frauen das Sagen haben. Schwerer als das Licht ist ihr zweiter Roman, für einen Auszug daraus gewann sie 2017 den Ö1-Literaturwettbewerb »Aber sicher«.

TANJA RAICH

SCHWERER

ALS

DAS

LICHT

Roman

Blessing

Die Arbeit an diesem Roman wurde durch die one world foundation

in Sri Lanka, das Bundeskanzleramt Österreich

und die Kulturabteilung der Provinz Bozen gefördert.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Tanja Raich

und Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Christine Fischer

Umschlagabbildung: © Shutterstock/Le Panda

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29170-9V002

www.blessing-verlag.de

Für Sinali

Angenommen, in der Steppe, auf offener Flur steht ein großes Dorf; am Rande, an einem windigen Ort, ist eine viereckige Hütte. In dieser Hütte sitzt der Schrecken. Er sitzt und spinnt mit der Spindel, er singt und arbeitet die ganze Nacht. Er singt wunderliche Geschichten vor sich hin.

Leonid Lipavskij

PROLOG

AMANFANGWARDASMEER. Dunkel und seltsam still. Die Welt war wie erstarrt. Der kalte Sand unter mir. Ich hörte meinen Atem, ein Keuchen, tief in meiner Brust. Die Sterne leuchteten am Himmel. Die Wellen bäumten sich vor mir auf. Nichts war zu hören. Dann blitzte eine feine Linie auf, teilte die Dunkelheit entzwei und versank im Meer. Ein Tosen, ein Dröhnen, ein Rauschen von überall. Die Welt kam zu Atem. Alles erneuert sich. Alles beginnt immer wieder von vorn.

LICHT&SCHATTEN

1

Ich kämpfe mich durch das Geäst. Mit einer Axt hacke ich alles ab, was mir im Weg steht. Der Hunger treibt mich an. Im Wald gibt es noch Kokosnüsse, Mangos und Jackfrüchte. Vereinzelte Beeren, die alles verkleben, aber nicht satt machen. Ich klettere die Baumstämme hoch, bis ganz nach oben, und rüttle an den Ästen, bis die Kokosnüsse schwer auf den Boden fallen. Die Früchte wachsen nicht mehr nach. Immer tiefer muss ich in die Insel vordringen, auf der Suche nach Nahrung, immer weiter hinauf in den Norden.

2

Mein Haus ist eine Festung. Erbaut aus dem Fels, der mir Rückhalt gibt. Dunkel und mächtig erhebt er sich steil zum Himmel, undurchdringbar und unbezwingbar. Auf dem Gestein haben sich Risse gebildet, Texturen, die wie unverständliche Zeichen anmuten und sich täglich verändern. An manchen Tagen formen sie sich zu einem Heer aus Speeren, die auf mich gerichtet sind. Eine Mauer umgibt mich, sie ist schwarz wie der Sand des Meeres und so hoch, dass keiner von ihnen sie erklimmen kann. Kompliziert verzweigte Gänge führen durch ein verstecktes Loch in den Untergrund. Tödliche Fallen lauern dort auf sie. Gruben mit spitzen Pflöcken und Schlangen darin. Ihr Zischen hallt als Echo durch die Gänge. Ein komplexer Bau, den ich mühselig erdacht und in langen Nächten geplant und aufgezeichnet habe. Erst als ich jeden Gang, jede Falle angelegt hatte und alles an seinem Platz war, verbrannte ich die Pläne im Feuer. Jetzt ist alles in meinem Kopf, der einzig sichere Weg von draußen nach drinnen und von drinnen hinaus.

3

Wenn der Wind günstig steht, hört man die Trommeln und ihren Gesang bis in den Süden. Das sind die anderen. Sie hausen im Norden, in brüchigen Baracken aus Holz. Sie sprechen eine seltsame Sprache und pflegen eigentümliche Rituale. Sie tanzen zum Beispiel im Dunkeln und beginnen zu trommeln, sobald die Sichel des Mondes am Himmel auftaucht. Sie bemalen ihre Körper mit Asche und Indigo, glauben an Götter und Geister, an Dämonen und Weltuntergänge. Sie zeichnen Sternbilder in die Erde, darin glauben sie die Zukunft zu erkennen. Sie sind überzeugt von einer Rechtmäßigkeit, beanspruchen den Besitz dieser Insel. Eines Tages standen sie in geschlossener Formation vor meinem Tor. Sie schrien und sangen. Manche hatten ihre Trommeln mitgebracht und schlugen in wilden Rhythmen darauf ein. Kurz standen wir uns gegenüber. Ich auf dem Wachturm, sie vor den Toren. Sie sahen noch kleiner aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Pfeile prallten an den Mauern meiner Festung ab. Ich blickte auf sie hinunter, jeden Einzelnen von ihnen nahm ich ins Visier, während die Trommeln leiser wurden und ihre Stimmen allmählich verstummten. Dann suchten sie das Weite und kehrten nicht wieder zurück.

4

Es ist nicht lange her, da strömte ein kleiner Fluss durch die Wälder, er entsprang hoch oben im Fels und schlängelte sich durch die Landschaft, fast bis hinauf in den Norden. Fische und Warane schwammen darin, Rehe und Hirsche badeten darin, Lianen und Mangroven hingen ins Wasser. Die Insel gab alles, was es zum Leben brauchte. Holz für die Häuser, Stein für das Werkzeug. Trinkwasser, Früchte, Gewürze und Kräuter. Selbst das Salz ließ sich ganz einfach abbauen. Ein geschlossener Kreislauf, der reibungslos funktionierte. Palmen und Bananenbäume wechselten sich ab mit Zimtpflanzen, Bambus und Sandelholzbäumen. Ein Dach aus Blättern versperrte die Sicht zum Himmel. Orchideen, Frangipani und Hibiskusblüten leuchteten in den Wäldern und verströmten einen holzig süßen Geruch. Wohin man auch blickte, zeigte die Natur ihr ganzes Farbspektrum und wechselte den Geruch je nach Regen- oder Trockenzeit. Manchmal roch es nach Jasmin oder nach feuchter Erde, dann nach Zimt und Eisenholzblüten. Palmenhörnchen kletterten an den Ästen entlang. Eisvögel saßen in den Baumkronen, und Schmetterlinge, Kunstwerken gleich, flogen über die Blüten und Blätter. Doch dann veränderte sich die Insel. Zuerst waren es die Blüten, die verblassten und schließlich ihre Farbe verloren, dann waren es die Blätter, die sich schwarz färbten und abbrachen. Sie zerbröseln wie Staub zwischen den Fingern. Die Bäume werden jeden Tag dunkler. Nur vereinzelte Blätter strecken sich noch ins Licht. Die Pflanzen sterben langsam ab. Der Wald wird kahl. Die Zeit sitzt mir im Nacken.

5

Nichts wächst, nichts blüht mehr. Die Pflanzen knicken um, hängen tief über dem Boden. Die letzten Mangos haben sich schwarz gefärbt, ihre Haut ist von Rissen durchzogen. Nur in manchen ist noch ein Rest Fruchtfleisch. Bald wird nichts mehr zu finden sein, es ist nur eine Frage der Zeit. Die einzigen Früchte, die noch wachsen, leuchten zwischen den Ästen der Zerberusbäume, den Mangos zum Verwechseln ähnlich. Sie nennen sie Todesbäume, mit den Früchten töten sie sich selbst oder andere, aus dem Holz schnitzen sie Masken. Ein paar Languren haben sich an den Zerberusbäumen zu schaffen gemacht. Meist haben sie nur wenige Meter daneben ihr Ende gefunden. Wenn die Früchte zu Boden fallen und auseinanderbrechen, wächst ein neuer Baum daraus. Aber es ist nicht wie früher: Ein kleiner schwarzer Ast streckt sich aus dem Samen, seine Blätter sind schwarz und glänzen dunkel im Sonnenlicht. Es ist ein seltsamer Anblick, als würde der Tod zum Leben kommen.

6

Wenn sich die Nacht über die Insel legt, verbinden sich ihre Geräusche zu einem gemeinsamen Rhythmus, es klingt wie Musik mit ihren eigenen Gesetzen. Die Palmen wiegen sich im Wind, ein Knistern, wenn die Blätter aneinanderstoßen. Sie werfen dunkle Schatten im Mondlicht, dazwischen fliegen die Leuchtkäfer, rauscht das Meer, sind die Frösche, die Geckos, die Reiher zu hören, fliegen die Fledermäuse, am Himmel die liegende Sichel des Mondes und die Sterne. Die Ruhe der Nacht. Wenn der Mond in der Dunkelheit versunken ist, knackt es im Geäst, schwere Schritte, das Rascheln des Laubs, als würde etwas durch die Wälder wandern. Dann wird es schlagartig still, die Zikaden verstummen, die Rufe der Eulen ersticken, alles hält den Atem an.

7

Es gibt diese Geschichten von Göttern und Geistern, Dämonen und anderen Wesen, die man sich erzählt. Dunkle Gestalten, die in den Wäldern hausen, versteckt in den Höhlen, immer auf der Suche, immer auf der Jagd. Sie lösen sich von den Bäumen, kriechen in Körper hinein, reißen alles an sich. In einer anderen Zeit hat man ihnen Opfer gebracht, hat man Menschen und Tiere getötet, jetzt nimmt man es auf mit ihrem Zorn.

8

Die Grenze verläuft quer über die Insel. Lange Bambusstöcke mit Totenköpfen, die im Wind hin und her pendeln, die Augenhöhlen mit Asche beschmiert. Sie glauben, dass der Tod mir Angst macht. Der Tod ist doch das Geringste! Die Markierungen dienen nur der Abschreckung, die Grenze ist problemlos passierbar. Durchs Gebüsch bewege ich mich Richtung Norden. Auch hier zerbröseln die braunen Blätter zwischen meinen Fingern. Plötzlich sehe ich einen von ihnen. Er steht unter einem Baum und hat mich nicht bemerkt. Vorsichtig krieche ich wieder zurück, verstecke mich und beobachte ihn. Seine Augen sind geschlossen. Er steht reglos auf einem Bein. Seine Haare Filzstränge, die wie schwarze Schlangen von seinem Kopf hängen. Die Stirn ist mit roter Farbe bemalt. Ein eigenartiger Anblick. Als wäre er tot. Unter den Bäumen glauben sie den Göttern am nächsten zu sein. Sie sagen, ihre Körper spannen sich über die Äste. Ihre Energie strömt über den Baumstamm bis hinunter in die kleinsten Wurzeln. Warum glauben sie, dass die Götter noch hier sind, jetzt, wo die Bäume sterben?

9

Der Wald schwindet mit jedem Tag. Ich weiß nicht, wann genau es begonnen hat. Eines Tages fiel mir auf, wie blass die Blüten geworden waren, wie schwarz die Blätter, wie nichts mehr nachwuchs. Ich dachte mir nicht viel dabei, es hätte eine Krankheit oder ein Schädling sein können, aber als das Sterben sich ausweitete, als auch die Stämme und Äste einbrachen, bemerkte ich, was ich die ganze Zeit übersehen hatte. Ich lief durch die Wälder, suchte nach dem Ursprung. Es gab keinen Baum, keine Pflanze, die nicht befallen war. Bei einigen war der Verfall stärker als bei anderen, aber jede Pflanze trug dieselben Zeichen. Die Farblosigkeit, die Schwärze, das Morsche. Das Leben wich allmählich aus ihnen. Ich goss Wasser über die Wurzeln, band die Äste wieder nach oben, ich schnitt die Triebe ab, riss Pflanzen aus, um anderen Platz zu verschaffen, aber nichts änderte etwas. Sie erholten sich nicht mehr. Da ist etwas passiert, was nicht mehr rückgängig zu machen ist.

10

Das Meer speit alles aus, was in ihm lebt. Das Ufer ist voller Fischleichen. Ihre Mäuler weit geöffnet, für einen letzten Atemzug, die Augen aufgerissen und strahlend weiß, wie kleine Perlen. Ihre Schuppen glänzen in der Sonne. Manche sind von der Kraft des Meeres zerfetzt worden, Körperteile liegen verstreut, manche eingerissen oder angebissen. Von manchen ist nur noch das Skelett übrig. Schwarze Algen schlängeln sich um die Körper. Der Wind peitscht auf das Meer. Die Wellen bäumen sich auf, immer höher, wie Flammen lodern sie, die Gischt schlägt sich ans Ufer, spült die Fische weit in den Wald hinein. Das Meer stirbt. Der Wald stirbt. Die Insel stirbt. Nur die Tiere leben noch. Ich lebe noch. Es ist eigenartig still geworden.

11

Am Ufer liegen Äste, leere Kokosnüsse, liegen die Panzer der Schildkröten. Eine Spur ist im Sand zu erkennen, als wäre jemand dem Meer entstiegen. Sie führt hinein in den Wald. Das Rufen der Drongos von weit her. Ein Adler wirft Schatten in den Sand, er kreist über mir, wartet. Früher stand ich oft am Ufer und blickte in die Ferne. Das Meer war mein Ruhepol. Jetzt ist es feindlich gestimmt. Meine Füße versinken im kalten Sand. Das Wasser umspült meine Beine, als ob sich kleine Messer in meine Haut bohren würden. Die Sonne steht am Horizont, leuchtend rot steht sie mir gegenüber und taucht die Landschaft in ein feuriges Licht. Etwas bleibt an meinem Fuß hängen, ein langer, schwerer Körper. Es ist eine tote Muräne. Ihr Maul steht offen, kleine spitze Zähne, nutzlos geworden. Ihre Haut wie das Fell eines Leoparden. Der Kopf bewegt sich im Wasser. Ich stütze ihn mit meiner Hand, er ist kalt und glatt wie Stein, das leuchtende Gelb der Augen verblasst. Ich hebe die Muräne langsam aus dem Wasser. Ein Krebs fällt aus ihrem Maul und verschwindet wieder im Meer. Ich lege den schweren Körper behutsam über meine Schultern und gehe zurück in die Festung.

12

Die Tiere kommen aus ihren Verstecken, auch sie haben die Veränderung bemerkt. Blauschwarze Schmetterlinge setzen sich auf meine Schultern. Kleine Palmenhörnchen klettern an meinen Beinen entlang. Schlangen kriechen über den Boden, winden sich um Baumstämme. In den Ästen sitzen die Languren und beobachten mich. Ihre Schwänze hängen von den Bäumen, und die Zähne blitzen weiß in der Dunkelheit. Als ich zu einer Lichtung komme, steht ein großer Axishirsch vor mir. Sein Fell glänzt kupfern im Licht und ist von strahlend weißen Flecken durchzogen. Aus seinem Maul hängen die Reste des spröden Grases. Auf seinem Rücken steht ein Silberreiher, der Ausschau hält. Ein Bein angewinkelt, zuckt sein Kopf wie ein Zeiger von Westen nach Norden nach Osten und wieder zurück. Der Hirsch bewegt sich langsam auf mich zu. Er hebt seinen Kopf und sieht mich an. Auf seinem Fell sind tiefe Narben erkennbar, das Geweih abgebrochen. In seinem Blick eine Mischung aus Skepsis und Neugier, während die Ohren zucken, sobald sich eine Fliege daraufsetzt. Erst jetzt sehe ich, dass hinter dem Reiher eine ganze Familie schläft. Ist das der Frieden? Ein Zeichen, dass sich alles wendet?

13

Ich wandere durch meine Festung, gehe die Gänge ab, kontrolliere die Fallen. Ich taste mich an den Wänden durch die Dunkelheit. Das hungrige Zischen der Schlangen hallt durch das Labyrinth. Ein falscher Schritt, ein Stolpern, und ich selbst könnte die Fallen auslösen. Die Schlangen würden sich auf mich stürzen. Gruben würden sich auftun. Aber ich kenne jede Abzweigung, jeden Winkel meiner Festung, kann mich blind darin bewegen. Ich taste mich bis ans Ende. Öffne die Tür zur Kammer, nehme eines der Gewehre in die Hand. Ich halte es gegen meine Schulter und blicke durch das Visier. Mit meinem Gesicht berühre ich den Schaft. Mein Atem, langsam und tief. Ich entsichere das Gewehr. Drücke den Abzug und schieße ins Leere. Der Rückstoß pocht noch lange in meinen Knochen, der Knall dröhnt in meinen Ohren.

14

Die Zikaden übertönen meine Schritte. Ein ganzes Heer muss mittlerweile in den Bäumen sitzen. Ich beziehe Stellung, lege mich ins Gras oder das, was noch davon übrig ist. Mein Gewehr presse ich gegen die Schulter, ich ziele ins Ungewisse, warte auf eine Regung. Plötzlich ein Geräusch. Ich ziele auf den Baum. Eine fliegende Schlange, fast hätte ich sie nicht gesehen. Sie windet sich um einen Baumstamm und gleitet durch die Luft auf mich zu. Ihr Körper zeichnet sich in Schattenwellen auf der Erde ab. Ich springe auf. Im Gebüsch raschelt und knackt es. Mein Herz rast. Ich richte das Gewehr in das Gebüsch. Ein kleiner Vogel springt hervor. Er kommt auf mich zu, hüpft auf und ab. Er öffnet seinen gelben Schnabel und starrt mich an. Ich drücke ab. Der Schuss ein Echo im Wald.

15

Sie sagen, unsere Ahnen stecken in allem. Ihre Körper lösen sich auf, werden zu Erde, wandern in die Stämme der Bäume, in die Blätter und Blüten. Sie bilden Jahresringe in den Bäumen, tanzen im Licht der Blätter, werden zu Blütenstaub, der sich über die ganze Insel verteilt. Wir sehen ihre Spuren nicht, weil wir blind sind für den Lauf der Welt. Aber wenn es ganz still ist, kann man ihre Stimmen hören, zarte Echos von weit her. Sie erinnern an den Ruf eines Vogels, an das Schnattern der Geckos, an das Rauschen der Blätter oder den Gesang eines Mädchens, zerbrechlich und von ungekannter Schönheit. Manchmal versammeln sich die Stimmen und schwellen an zu einem ohrenbetäubenden Rauschen, das sich über die Insel legt und alles andere verstummen lässt.

16

Die letzten Blätter fallen von den Bäumen, ein Regen aus schwarzem Laub. Sie wirbeln im Kreis, steigen auf und fallen wieder herab, bewegen sich tänzelnd über die Erde. Auf dem Boden liegen die Reste des Waldes, die abgebrochenen Blüten und Äste, auf dem Boden liegt all das, was noch bis vor Kurzem gelebt hat. Ich nehme die Blätter in die Hand, sie zerfallen zu Staub, wenn ich sie zwischen meinen Fingern zerreibe, und der Geruch von Verbranntem steigt auf, ein stechend süßer Geruch nach Verwesung, nach dem Tod und dem Ende. Wo ich früher zusehen konnte, wie alles wuchs, wie die Blüten sich öffneten, wie die Pflanzen über Nacht neue Blätter formten und sich immer weiter in die Höhe rankten, sehe ich jetzt nur noch, wie alles vergeht. Wo einmal ein Ast voller Blätter war, ragt jetzt ein nackter Stock in die Luft, wo einmal kostbare Früchte hingen, ist jetzt nur noch Fäulnis. Alles, was fruchtbar war, ist vergangen.

17

Auf meinem Streifzug durch den Wald finde ich einen Vogel. Er hängt an einem Baum und pendelt in der Luft. Ein dichtes Netz aus Spinnweben hat sich um seinen Körper gelegt. Die kleinen blauen Flügel schlagen noch zaghaft, der Schnabel öffnet und schließt sich. An seinem Hals sitzt eine Spinne, größer als sein Kopf. Sie umklammert ihn mit ihren langen, leuchtend roten Beinen. Mit ihren Klauen arbeitet sie sich vor, ein Loch, das größer und größer wird, bis sie ihren Kopf in das Fleisch stoßen kann. Der Blick des Vogels ist starr, die Flügel schlagen noch ein paarmal, bis sie endlich erschlaffen.

18

Wenn das letzte Sonnenlicht vom Wald verschluckt wird, wenn die Dunkelheit sich über mich erbricht, verschanze ich mich in meiner Festung. Ich verriegle die Türen und stopfe Laub und kleine Äste in die Ritzen. Schließe ich die Augen, flirren Zeichen im Dunkeln, Lichtpunkte, die sich bewegen, zu einem Kreis formen, der schmäler wird, sich schließlich zu einem Auge formt, das mich anstarrt. Erst wenn ich die Augen wieder öffne, verschwindet es. Von draußen höre ich das Pfeifen des Windes. Das Schnattern der Geckos. Das Schnarren der Zikaden. Die Rufe der Eulen. Mungos und Warane, die sich durch das Geäst schlagen. Die Tiere finden immer einen Weg. Sie kämpfen sich zu meinem Haus und lauern in der Dunkelheit. Languren laufen über mein Dach. Ihre Schritte hallen durch den Raum. Mal sind es nur zwei, mal vier, mal ist das ganze Dach voll davon. Sie sitzen und warten.

19

Ich erinnere mich an diesen Tag, der schon lange zurückliegt. Eines Morgens regnete es alle möglichen Formen und Farben. Nagas- und Hibiskusblüten, Orchideen und Amaryllis, ein buntes Treiben zwischen den Bäumen und hoch in der Luft. Ich hatte nie zuvor etwas Schöneres gesehen. Der Wind wirbelte die Blüten über die Baumkronen, wirbelte sie über die ganze Insel. Sie trieben wie Schmetterlinge durch die Luft. Eine Hibiskusblüte schlug mir ins Gesicht und hinterließ einen stechenden Schmerz. Und als die Blüten verdorrten, gab es endgültig keine Farben, kein Leuchten mehr. Keine Knospen, nichts folgte nach. Alles wurde stumpf und braun und grau.

20

Die im Norden sagen, dass der Untergang lange schon feststeht. In den Sternbildern steht es geschrieben: Zuerst stirbt der Wald, dann die Tiere, das Meer, der Mensch. Das sind keine Jagdhunde dort oben, Zentauren oder Oktanten, sondern Schriftzeichen, die sich über den Himmel ziehen. Sobald sich eine Prophezeiung erfüllt, fällt ein Stern vom Himmel. Am Ende wird alles schwarz sein und leer, und die Sterne schwarze Klumpen im Meer.

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