Seid bereit, immer bereit! - Jan Schäfer - E-Book

Seid bereit, immer bereit! E-Book

Jan Schäfer

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Beschreibung

Die DDR hat über die BRD triumphiert und die Wiedervereinigung initiiert. Eine Sensation! Als Staat ist die Bundesrepublik damit von der Landkarte verschwunden. Schwer vorstellbar, dass ein Szenario wie dieses die Realität bestimmt. In diesem Buch schon. Angelegt zwischen historischen Fakten und einer Neuauslegung der Ereignisse unternimmt es erzählerisch den Versuch, dass Unmögliche zu beschreiben. Die Tatsache, in der Vergangenheit eine ruhende Form der Geschichte zu haben, liefert den Plot. Das war für die Entstehung des vorliegenden Buches wichtig. Zumeist beziehungsreich auf die Fakten konzentriert, dann wieder voller Anspielung und mit Blick auf das Gewesene. Dabei ist das Buch versucht, den Spannungsbogen wie ein Wunder mit revolutionärem Anspruch zu gebrauchen. So bleibt die Handlung der Thematik treu. DDR und BRD wiedervereint, der kühn gewagte Moment der Unmöglichkeit, genannt Wiedervereinigung. Dieser Kampf der Systeme prägt auch gleich die Weltordnung neu. Viel Hintergrund für eine visionär-realistische Erzählung, die zwischen Schelmenstück und Zeitzeugnis so ziemlich alles sein kann. Ausgehend von der Annahme einer Korrektur der Tatsachen natürlich, wie sie sich oft zutragen, doch selten so von Dauer sind. In diesem Fall spielt die Handlung mit dem Geschehen und ruft einen Überraschungssieger aus: die ruhmreiche DDR!

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Jan Schäfer

Seid bereit, immer bereit!

Wie die DDR die BRD wiedervereinte

Erzählung

Engelsdorfer VerlagLeipzig2021

Diese Erzählung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttps://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © hansmuench [Adobe Stock]

Gestaltung: T. Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

›Eine neue Art von Denken ist notwendig,

wenn die Menschheit weiterleben will.‹

Albert Einstein

Einleitung

Wir schreiben das Jahr 1998. Seit einem Jahr ist die Bundesrepublik Deutschland Teil der Deutschen Demokratischen Republik. Deutschland ist damit wiedervereint. Zehn Jahre zuvor hatte ein hochrangiger bundesdeutscher Politiker Staatsgeheimnisse preisgegeben und dafür mit seinem Leben bezahlt. Die wahren Umstände seines Todes blieben ungeklärt oder aber Teil von Mutmaßungen und Spekulationen über mögliche Szenarien. Die Kapitalmasse, die in den ostdeutschen Staatshaushalt einfloss, wurde von einer eigens gebildeten treuhänderischen Kommission nach sozialistischem Vorbild erfasst. Unter Leitung des Generalsekretärs der SED und der ihm unterstellten Einrichtungen und Kader der DDR begann so die systematische Zerschlagung bundesdeutschen Eigentums. Das war ein Kraftakt von epischem Ausmaß. Möglich nur dadurch, dass staatstragende Geheimnisse aus dem Bundesministerium des Innern auf dem Schreibtisch des Chefs der Hauptverwaltung Aufklärung landeten, der damit alle Mittel besaß, um einen weltpolitischen Coup zu landen. Man frohlockte nicht ohne heimliche Genugtuung, denn der Grabenkrieg der Geheimdienste hatte bizarre Formen angenommen. Spätestens seit dem Ende der mächtigen Sowjetunion und aller sich daraus ergebenden Konsequenzen hatte niemand eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Dass es das kleine Land zwischen Ostsee und Thüringer Wald überhaupt noch gab und alle Bemühungen des Westens, es von der Landkarte verschwinden zu lassen gescheitert waren, grenzte an ein Wunder. Besonders da, wo traditionell das Kapital regierte, wollte man es nicht für möglich halten. Aus diesen Reihen erwuchs dem sozialistischen Staat auch der schärfste Widerstand gegen die Politik der Wiedervereinigung und Verstaatlichung im Sinne des Arbeiter- und Bauernstaates. Doch es gab kein Comeback der Waffengewalt, um den politischen Gegner zum Schweigen zu bringen und es wurden keine energischen Gegenmaßnahmen getroffen, wie zunächst zu erwarten stand. Allein die Grenzöffnung sah Deutsche im Widerstreit vereint, denen es egal war, dass gerade der Zusammenbruch eines Systems erfolgte und niemand so recht wusste, wie das überhaupt möglich sein konnte. Im Zentralrat der SED und im Politbüro hatte man diese Entwicklung mit Wohlwollen aufgenommen. Die Parteiführung sah sich bestätigt und der Staatsapparat belächelte das Gebaren börsenorientierter Aufsichtsräte, für die Sozialismus immer nur ein Fremdwort war. Der gewaltige Wirbel, der folgte, war mit nichts zu vergleichen. Die DDR dagegen untermauerte ihre Existenz eindrucksvoll.

Seid bereit, immer bereit. Wie die DDR die BRD wiedervereinte

Inmitten all dieser Vorgänge war Hermann Schreiner damit befasst, seine Briefmarkensammlung zu sortieren. Ein Markensatz aus der Nachkriegszeit wechselte von der Pinzette geführt seinen Sammelort in ein neu angelegtes Album zu jener Zeit. Hermann hatte keine Mühe, doch es kostete ihn etliche Schweißperlen, die empfindlichen Marken unbeschädigt umzusetzen. Mit auf dem Tisch lag die Zeitung ›Neues Deutschland‹, ein Blatt mit dem er normalerweise nichts anfangen konnte, doch hin und wieder las er darin so, als wolle er in Erfahrung bringen, ob mit der Neuverstaatlichung der BRD auch neue Märkte für Philatelisten entstehen. Dabei entging ihm nicht die Polemik des Klassenkampfes, die den Heißhunger des Kapitals auf höhere Profite für beendet erklärte und anzeigte, dass Konzerne keine Zukunft haben. Er erfuhr auch weitreichende Aufklärung über die abwertende Umschreibung Zonengrenze, wie der ehemalige deutsch-deutsche Grenzstreifen genannt wurde. Über vierzig Jahre hatte auf der anderen Seite die BRD regiert. Das war Hermann natürlich bekannt, doch es ging alles so plötzlich. Nicht von ungefähr fühlte er sich angehalten, vorsichtig zu sein. Als gelernter DDR-Bürger argwöhnte er skeptisch was Veränderungen betraf, doch seit Perestroika und Glasnost war auch Neugier im Spiel. Er wollte wissen, wie die deutsche Geschichte weiterging, seit es im Kreml so gewaltig rumort hatte, dass der Bruderkuss aus der Mode kam. Die Interessen der Machthaber ließen keinen Schmusekurs mehr zu, sondern bestimmten über den Fortgang der Ereignisse neu. Damit erlebte die Sowjetunion eine Aufspaltung ihres Territoriums, mit der die Auflösung des Landes verbunden war. Für die DDR, die mit der Wiedervereinigung alles auf einmal riskierte, ziemlich viel für den Anfang. Hermann Schreiner schätzte das mit der Reserviertheit und Zurückhaltung eines Menschen ein, der so etwas aus der Vergangenheit nicht kannte. Raubtierkapitalismus war im Übrigen ein Wort, mit dem er nichts verbinden konnte und so schob er die Zeitung ein Stück von sich.

Der Krawall aus dem Fernseher ging Hermann mächtig auf die Nerven. Er sah sich nur widerwillig die gesendeten Bilder an und konnte sich ihnen doch nicht entziehen. Vor einer Woche hatte der Zentralrat der SED den Abriss der Berliner Mauer beschlossen und seit einer Stunde waren Bagger damit befasst, die ersten Teilstücke zu demontieren. Vor dem Brandenburger Tor protestierte eine Gruppe ehemaliger Abgeordneter des Bundestages gegen diese Maßnahme. Sie wurden aber von den Sicherheitsorganen der DDR zurückgedrängt und in der Ausübung ihres Protestes zurechtgewiesen. Dabei intonierten sie lautstark Parolen, schwenkten Transparente auf denen feindselige Losungen zu lesen waren und beklagten die ausgebliebene Hilfe der Nato. Eigentlich berief man sich auf den Bündnisfall, aber eben nur eigentlich. Hermann mokierte sich über die Dummheit dieser Leute, die doch wissen mussten, dass zwischen der DDR und der Nato ein Nichtangriffspakt bestand. Emsige Diplomaten hatten das Kunststück vollbracht, mit dem westlichen Verteidigungsbündnis einen Separatfrieden auszuhandeln, der den Amerikanern lukrative Geschäfte im Rahmen der Wiedervereinigung zusicherte. Der Ex-Sowjetunion wurden zeitgleich Aufbauhilfen zugesichert, die den Zusammenbruch auffangen und einen Neubeginn unterstützen sollten. Als dann die DDR-Regierung aus Washington die Garantie erhielt, dass von Seiten des westlichen Militärs keine entsprechenden Abwehrmaßnahmen geplant seien, sollte demonstrativ vor dem Brandenburger Tor mit dem Abriss begonnen werden. So geschah es nun auch. Eben da umstanden die Demonstranten eine Baubrigade vom Berliner ›Kombinat für urbane Flächenplanung‹ und machten ihrem Ärger Luft. Hermann fühlte sich ganz scheußlich beunruhigt ob dessen was da zu sehen war, doch die Angst schwand mit dem Vertrauen in die Sicherheitskräfte der DDR. Bald war das erste Teilstück der befremdlichen Mauer abgebrochen, jenes antifaschistischen Schutzwalles, den die DDR einst selbst errichtet hatte. Ironie des Schicksals, dachte Hermann und schaltete die Glotze aus.

In der Wohnungsgenossenschaft ›Friedensglück‹ wohnten fast ausschließlich verdiente Persönlichkeiten der DDR. Überzeugte Antifaschisten, meist Parteiveteranen, die ihr Leben der Sache des Kommunismus gewidmet hatten und für die ein Mann wie Ernst Thälmann ein leuchtendes Vorbild war. Beim Spatenstich zum Baubeginn in den späten fünfziger Jahren war Walther Ulbricht höchst selbst erschienen. Fast so lange wohnte Günther Liebig im Haus, ein altgedienter Parteigänger der SED, inzwischen verwitwet und trotzdem kein Kind von Traurigkeit. Hermann, seines Zeichens erst im Jahr 1993 eingezogen, war für ihn so etwas wie ein Ziehsohn aus der Nachbarschaft, der ihm schon etliche Einkaufstaschen hochgeschleppt hatte, von denen einige schwer zu tragen waren. Dass er noch lebe, habe er ausschließlich dem Hermann zu verdanken, sagte Herr Liebig immer. Mit dieser Übertreibung wollte er weiter nichts als anzeigen, welche Wertschätzung er dem jungen Mann entgegenbrachte. Dieses Lob schmeichelte Hermann in seiner Bescheidenheit, ja es beschämte ihn fast ein wenig. Er hatte ja noch Liebigs Frau Gertrud und ihre zupackende Art erlebt und die nimmermüde Kraft, mit der sie im Haushalt schaltete und waltete. Die beiden waren ein Paar, seit sie sich Mitte der dreißiger Jahre kennengelernt hatten. In einem Sommerlager für Jungkommunisten inmitten der Schorfheide, da wo früher ein Teil der Parteiprominenz eine Datsche zu haben pflegte und ein gewisser Herr Honecker viele Jahre der Jagd auf Hirsche und Wildschweine nachgegangen war. Dort hatte die Liebe zwischen Gertrud und Günther ihren Anfang genommen. Nun war Herr Liebig Ende achtzig, fast so aufmerksam und pfiffig wie in jungen Jahren und manchmal von einer Zufriedenheit erfüllt, wie man sie von ihm nicht kannte. Seitdem die politischen Ereignisse zum Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus geführt hatten, bemerkte man diese Verwandlung immer mal wieder mit. Das ließ den alten Arbeitersohn sämtliche Gebrechen des Alters vergessen. Seine Hingabe an den Frühsport markierte jeden Morgen die Lebenslust, mit der er darauf reagierte. Natürlich sprachen Hermann und er nun viel öfter über die Ereignisse. Dabei urteilten beide unterschiedlich. Während Günther Liebig eine gesund-optimistische Haltung an den Tag legte, hielt Hermann sich noch bedeckt.

Mit dem Abzug der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR wurde ein weiteres Kapitel der Nachkriegsgeschichte beendet. Die Wiedervereinigung, nicht unwesentlich beeinflusst vom Geschehen in der ehemaligen Sowjetunion, hatte diesen Schritt schon fast herausgefordert. Vor ein paar Jahren und einem Machtkampf voller Gefahren war die westliche Allianz als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorgegangen. Da hatte es auch die BRD noch gegeben. Glücklicherweise schlug die Regierung der DDR daraus Kapital und nutzte die weltpolitische Windflaute, um sich mehr Souveränität und Sicherheit anzueignen. Die Bevölkerung hielt an der Beobachtung der Ereignisse aufmerksam fest. Sie ließ keine Zeit verstreichen, verlegte sich aufs Abwarten, noch skeptisch aber schon am Ablauf interessiert. Ungefähr so wie jemand, der die Vergangenheit loswerden wollte und es plötzlich auf einen vollkommenen Wandel ankommen ließ. Unter die Anteilnahme mischte sich vielfach Neugier, dass unstillbare Verlangen nach Teilhabe, um sich vielleicht selbst mehr einzubringen als zunächst gedacht oder angenommen. Auch Ostberlin bildete da keine Ausnahme, sondern teilte den Geist der Zeit. Es war nicht das erste Mal, dass sich viele Menschen in der Stadt versammelten, aber anders als je zuvor. Neugierige Westberliner kamen über die Grenze, die keine mehr war, sondern Gegenstand eines historischen Irrtums infolge einer fehlgeleiteten Nachkriegspolitik. Ihr Auftreten gegenüber den Sicherheitskräften im Uniformrock war ausgesprochen höflich. Sie machten die Grenzsoldaten der DDR freundlich darauf aufmerksam, nicht gleich die ständige Vertretung der BRD in Ostberlin zu informieren, die ja längst über alles Bescheid wusste. Das waren Vorgänge von einer Tragweite, wie sie ein Jahrzehnt zuvor möglicherweise noch zu einem atomaren Konflikt und damit zum Ende der Menschheit geführt hätten. Die damalige Friedensbewegung reagierte auf das Wettrüsten ausgelöst durch den Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung neuer Raketen auf dem Gebiet der BRD, nachgerade so, dass ein Atomkrieg bedrohlich realistisch erschien. Nunmehr waren diese Raketen Teil einer Altlast, die zur Beseitigung stand. Auch der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war eine Altlast, die alle Anstrengungen unternahm, die Wiedervereinigung zu boykottieren und das drohende Ende abzuwenden. Freilich ohne Erfolg.

Hermann hatte das Treppenhaus gewischt. Das war kein neusozialistisches Gebaren, sondern eine Pflicht, die einmal im Monat mietvertraglich auf dem Programm stand. Die Altneubauten dieser Generation hatten erfreulich kleine Treppen und Stufen. Einen Reinigungsservice, wie er andernorts schon üblich war, gab es bei der Genossenschaft nicht. Hinter den Wohnungstüren herrschte Stille. Auch aus der Wohnung von Frau Lutze, mit Vornamen Annegret, war nichts zu hören. Oft war es vorgekommen, dass sie plötzlich aus der Wohnung trat und ebenso deutliche wie ungestüme Bemerkungen gegen den westlichen Nachbarn, die Bundesrepublik, richtete. Ein Land, das nach ihrem Verständnis für eine permanente Bedrohung stand. Mannigfaltig waren die Anschuldigungen, die sie dabei verbal intonierte und ziemlich schonungslos die Wortwahl, derer sie sich bediente. Man konnte darüber glattweg vergessen, wie gebildet und kultiviert sie war. Frau Lutze wusste Hermann, war eine Verfolgte des Nationalsozialismus, die im Dritten Reich wegen aktiver politischer Tätigkeit für die Kommunisten fünf Jahre im KZ gesessen hatte. Geschunden und gequält von den Nazischergen, wie sie zu sagen pflegte. Die Annegret, wie Herr Liebig sie liebevoll beim Vornamen nannte, sei eine gute Seele, doch die BRD war für sie immer gleichbedeutend mit Adolfs NSDAP-geführtem Deutschland. Bei Wasser und Brot und Entbehrungen, wie sie sich kein Mensch vorstellen kann, habe sie unter Zwang die schlimmsten Arbeiten verrichten müssen und für ihre politischen Überzeugungen einen hohen Preis gezahlt. Das Nachkriegsdeutschland des Westens war für sie die Fortsetzung von Nazideutschland mit geringfügigen Änderungen. Diese Übertreibung hatte sie verinnerlicht wie die Narben auf ihrer Seele. Sie überhaupt noch lebend anzutreffen grenze an ein Wunder, so sagte Günther Liebig stets, wenn die Rede auf sie und ihr Schicksal kam. Immer wieder habe man sie bei ihrem Leben bedroht und immer wieder sei sie standhaft geblieben. Die Frage nach einer späten Gerechtigkeit bejahte sie mit der Begründung, dass sie in der DDR ein glückliches Leben leben durfte und dieses Land ihr die größte Freude sei. Nun war Hermann fast ein bisschen in Sorge ob der Stille, die hinter Frau Lutzes Wohnungstür herrschte. Bestimmt hat sie wieder die Kopfhörer auf und ist vor dem Fernseher eingeschlafen, dachte er.

Die neudeutsche Wirklichkeit offenbarte sich an jeder Straßenecke. Das sächsische Kleinstadtprofil von Hermann Schreiners Wohnort machte da keine Ausnahme. Auch hier bahnten sich Veränderungen an, wie sie das Land im Zuge der Wiedervereinigung erlebte. An den Ausläufern des Erzgebirges gelegen und nur einen Steinwurf von Karl-Marx-Stadt entfernt, lebte sie vom Tourismus und Holzhandel. ›Beschaulich eingebettet ins Erzgebirgsvorland‹ lautete eine Umschreibung, wie sie in jedem Reiseführer zu den Besonderheiten der Region zu finden war. Hermann sah sich da ein wenig abseits der allgemeinen Lesart, denn er verband seine Heimatstadt vor allem mit seiner Passion als Briefmarkensammler und Gelegenheitswanderer. Seine ausgeprägte Leidenschaft verfiel oft in den Stand einer lebensbegleitenden Notwendigkeit, ohne die sein Tun keinen Sinn hatte. In Anbetracht der Umstände jedoch spiegelte sich wider, was Hermann Schreiner und viele andere dazu brachte, ganz genau hinzusehen. Hier und da und unübersehbar nahm der Wandel im städtischen Stadtbild schnell konkrete Formen an. Plötzlich gelangten Westwaren in den Osten, die Hermann bis dahin nur aus der Werbung kannte. Die DDR-Regierung hatte den großen Handelsketten aus der Bundesrepublik eine Beteiligung am Staatsmonopol der freien Wettbewerbspolitik zugesprochen und sie in die Lage versetzt, ihr Handelsgebiet auf das Territorium jenseits der ehemaligen Grenze auszudehnen. Eine Offerte, die einen regelrechten Begeisterungssturm bei den Großhändlern im ehemaligen Westen ausübte. Lediglich fünf Prozent des monatlichen Nettogewinns waren an die Adresse des Staatshaushaltes abzuführen und galten somit als Gewinnbeteiligung der DDR. Ein Geschäft, das sofort Schule machte. Wenn also ein Aldi-Laster durch den Ort fuhr oder ein Rewe-Truck mal wieder die viel zu engen Durchfahrtsstraßen versperrte, war das ein sicheres Zeichen des politischen und wirtschaftlichen Triumphes der sozialistischen Staats- und Parteiführung. Selbst Günther Liebig hatte sich inzwischen bekehren lassen und Artikel in seinen Haushalt aufgenommen, die Hermann ihm gelegentlich vom Einkauf mitbrachte. Ihr Beispiel machte Schule und so wunderte es nicht, dass selbst in der Wohnungsgenossenschaft ›Friedensglück‹ bald vermehrt Westwaren auf den Einkaufszetteln vorzufinden waren.

Im Plenar- und Tagungssaal der Volkskammer im Palast der Republik stimmten die Abgeordneten ›Die Internationale‹ an. Der riesige Saal mit seiner ausgeklügelten Akustik widerhallte vom Gesang der vielen hundert Stimmen. Mit der Unterzeichnung des Vertrages zur Wiedervereinigung seitens beider deutscher Staaten und der Anerkennung der DDR als rechtmäßiger Nachfolger der BRD sowie nunmehrigem Souverän auf gesamtdeutschem Territorium war die Hoheitsfrage zur Übernahme der Bundesrepublik geklärt. Sektgläser wurden gereicht, gegenseitiges Händeschütteln machte die Runde, Jubel brandete durch die Reihen der Anwesenden und stellenweise sah man geballte Fäuste in die Höhe ragen. Die Nationalhymne folgte überzeugend vorgetragen im machtvollen Chorus und man brachte Hochrufe auf die Gründungsväter der DDR aus. In einem festlichen Reigen feierte man den Beginn eines neuen Zeitalters, eines Zeitalters sozialer Gerechtigkeit und friedlicher Koexistenz mit den Staaten der Europäischen Union und der Nato. Die altehrwürdige Freundschaft zur Sowjetunion war einem Freundschaftspakt mit Russland gewichen, das, obwohl es die klassischen Blöcke und das Gleichgewicht des Kalten Krieges nicht mehr gab, neben den USA auch weiterhin als zweites politisches Schwergewicht auf der internationalen Bühne agierte. Man hatte sich ganz bewusst für diesen Weg entschieden, damit die bilateralen Beziehungen keinen Abbruch nahmen und mehr als vierzig Jahre teils sehr wechselvoller Nachkriegsgeschichte eine gemeinsame Zukunft haben. Unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin, der ›Heiligen Trinität der Sozialisten‹ wie man scherzeshalber zu sagen pflegte, erblühte ein neuer Zeitgeist und wie die Aktivisten von einst zeigte man sich entschlossen und gewillt, die historische Chance aufzunehmen und der weltpolitischen Mission gerecht zu werden, die mit der Wiedervereinigung verbunden war. Das, was lange Zeit als vollkommen unmöglich galt, wurde mit diesem Tag Lügen gestraft. Dazu gehörte auch, dass ›Der schwarze Kanal‹ keine Zukunft hatte, denn das Format der Sendung hatte ausgedient und wurde ersatzlos gestrichen. Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR und jetzige Alterspräsident der Volkskammer Erich Honecker sah sein politisches Lebenswerk gefährdet. Die Tatsache, nicht mehr Generalsekretär zu sein verstimmte ihn mehr als ein wenig, doch er arrangierte sich weitestgehend kritiklos. Seine politische Distanz nahm damit zu und offenbarte gelegentlich Abgründe. Als Alterspräsident der Volkskammer fühlte er sich dennoch recht wohl.

Hermann begleitete Günther Liebig auf dem Weg zum Einkauf in der ›HO‹, was als Kürzel für ›Handelsorganisation‹ stand. Herr Liebig brauchte Brot, Milch und Butter, – allesamt Lebensmittel, die seit Jahrzehnten extrem preisgünstig waren, weil sie vom Staat subventioniert wurden. Eine Errungenschaft des Sozialismus, wie Herr Liebig es zu nennen pflegte und ein Ausdruck der Wertschätzung des Volkes zum Wohle des Staates. Hermann half dem alten Herrn beim Einkauf, trotzdem dieser noch gut auf den Beinen war, was sich in seiner fußläufigen Geschwindigkeit widerspiegelte. So sah man sie nebeneinander die Straße hinuntergehen, dabei manchmal andere Passanten grüßen. Beiden entging nicht, dass der Delikat-Laden, der eine lange Tradition aufzuweisen hatte und als Tempel der Privilegierten galt, vor der Schließung stand. Herr Liebig hatte dort oft eingekauft, wenn es etwas zu feiern gab. Sein Verdienst als Werkzeugmaschinist und späterer Ingenieur für maschinelle Verfahrenstechnologie machte es möglich, zumal seit er als Verfolgter des Faschismus und Parteimitglied auch eine Zusatzrente erhielt. Seit der Grenzöffnung allerdings gab es Krimsekt, Bananen und Cognac der Marke Dujardin fast überall zu kaufen. Günther und Hermann war die ›HO‹ eh das Liebste, um die Einkäufe zu erledigen, zumal Gertrud Liebig für die Handelsorganisation gearbeitete hatte und die Angestellten dort immer besonders freundlich und zuvorkommend auf Herrn Liebig eingingen. Hermann sonnte sich dann in Günther Liebigs Glanz, der vielen zu Unrecht als Systemkritiker galt, weil er ganz öffentlich auf die Risiken der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit hinwies, die angetan war, sozialistische Werte zu torpedieren, wie er es in seinem Sprachgebrauch zu nennen pflegte. Auf die warnenden Worte achtete zumeist nur der Sekretär der SED-Bezirksleitung, der von Amtswegen dazu verpflichtet war und sorgfältig darüber wachte, mögliche Schäden am sozialistischen Gemeingut zu vermeiden. Hermann Schreiner und die anderen nahmen das mit Gelassenheit auf. Sie verwiesen den Kritiker Liebig liebevoll auf das Prinzip des freien Handels, wie es im Einigungsvertrag geschrieben stand und dankten ihm im selben Atemzug für seine selbstlose Agitation zum Schutz des Sozialismus. Günther dachte dann immer an Gertrud, um Rat suchend bei seiner verstorbenen Ehefrau. Ihre alten Kolleginnen halfen ihm über den Verlust hinweg und trösteten ihn so gut es ging. Am Ende des Einkaufs war Herr Liebig dann meist zufrieden, auch weil Hermann ihn mal wieder gut unterstützt hatte.

Eine Gruppe Thälmannpioniere mit roten Halstüchern zog die Straße unterhalb des Wohnblocks der Genossenschaft ›Friedensglück‹ entlang. Sie klingelten an und fragten, ob jemand Hilfe braucht. Annegret Lutze, die normalerweise einmal die Woche Wirtschaftshilfe erhielt, reagierte unentschlossen auf das Angebot. Andere Mieter im Block kamen gern auf die Initiative der Pioniere zurück und waren voll des Lobes ob dieser. Frau Lutze entschied sich letztlich doch dagegen. Sie wusste, dass sie in dringenden Fällen stets den Hermann bemühen durfte, weil sie dann immer noch jemanden hatte, mit dem sie eine Tasse Kaffee trinken konnte. Diese Annehmlichkeit wusste sie zu schätzen und so spendierte sie den Thälmannpionieren zwei Tafeln Schokolade und bedankte sich höflich. Als Frau Lutze die Wohnungstür geschlossen hatte, blickte sie auf ein Regal voller Auszeichnungen und Ehrenurkunden an der Wand. Sie war mehrfache Aktivistin, verdiente Leiterin des sozialistischen Kollektivs, Botschafterin des Friedens und sogar Trägerin des Vaterländischen Verdienstordens in Silber. Diese hohe Auszeichnung hatte sie für ihr unermüdliches Wirken zur Stärkung des Sozialismus in der DDR erhalten. Von ihrem selbstlosen Einsatz als Trümmerfrau bis hin zur leitenden Angestellten der Stadt Karl-Marx-Stadt waren es lange, harte Jahre voller Entbehrungen. Das war es auch, was ihr ständiges Misstrauen ausmachte, da sie nicht zu der Ruhe finden konnte, die anderen Sicherheit gab. Ein Gruppenfoto vom Betriebsausflug zeigte sie inmitten ihres Kollektivs vor dem ›Nischel‹, wie die honorige Titulierung der Kolossalbüste von Karl Marx im Stadtzentrum liebevoll lautete. Seitdem waren ein paar Jahre ins Land gegangen und neben Herrn Liebig und wenigen anderen Mietern zählte sie zu den Ältesten im Block. Die neue Zeit empfand sie, wenn schon nicht als Bedrohung, so doch als Gefahr. Ihr Vertrauen in die Führung und ihre politische Orientierung seit dem großen Triumph über den Klassenfeind verband sie mit wechselvoller Sympathie. Sie wusste nur zu gut, wieviel Kraft die Auferstehung aus Ruinen gekostet hatte und argwöhnte bezüglich der Hinterlist der Kapitalisten jeden Tag, was die Entwicklung des Landes anbetraf. Doch sie fand auch Trost bei Männern wie dem ortsansässigen Sekretär der SED-Bezirksleitung, zu dem sie einen direkten Draht hatte. Auch Hermann zerstreute ihre Skepsis, vor allem mit dem Argument, dass die Währungsreform abgeschlossen sei.

Die Mark der DDR war nun das landesweite Zahlungsmittel. Viele Milliarden mussten neu gedruckt werden, um sechzig Millionen ehemalige Bundesbürger mit Geld zu versorgen. Aufgrund der Vermögenslage besonders wohlhabender Kreise und auch aus Gründen der monetären Gesamtsituation, wurden zusätzlich eine 200- und eine 500 DDR-Mark Banknote eingeführt. Vor diesem Hintergrund gab es mancherorts einen Ansturm auf Verkaufseinrichtungen und Warenhäuser in den östlich gelegenen Großstädten der neuen sozialistisch-demokratisch legitimierten Republik. Tausendfach kamen in Scharen ehemalige Bundesbürger aus Westberlin und den alten Bundesländern, um sich dem Konsumrausch in Städten wie Leipzig, Magdeburg, Berlin und eben auch Karl-Marx-Stadt hinzugeben. Es bedurfte keiner Einladung, sie zu mobilisieren, um in den innerstädtischen Kaufhäusern der Konsumlust zu frönen. Sie hatten das meiste Geld gemessen an dem, was einem Arbeiter zur Verfügung stand. Einen Plan zur Umverteilung von Vermögenswerten oder gar einer Enteignung wie sie nach dem Krieg stattgefunden hatte, gab es nicht. Auch durften keine Ansprüche auf ehemaligen Privatbesitz geltend gemacht werden, denn solcher war als sozialistisches Eigentum Staatseigentum und galt damit als unantastbar. Mit dieser Entscheidung sollten die Besitzstände vorab eine eindeutige Regelung erfahren, denn sie gestand Erzkapitalisten die Sicherheit ihres Besitztandes zu, garantierte aber gleichzeitig Hoheitsrechte der DDR, die den zuständigen Organen Handlungsfreiheit bis hin zur Anwendung von Gewalt sicherte. Das war ein Akt der Notwendigkeit zur Absicherung des geltenden Rechts. Und es war ein Kompromiss, der ein weiteres Kapitel diplomatischer Erfolgsgeschichte bedeutete, dass die Unterhändler der DDR am Verhandlungstisch durchsetzen konnten. Neuzeitliche Demokratie hieß auch, dass man die 200 Mark-Note zu Ehren von Willy Brandt mit seinem Konterfei versah und auf dem 500 Mark-Schein die überparteiliche und neutrale, weil von Genialität getragene Forschermiene des Albert Einstein erschien. ›Der Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, wie ihn Alexander Dubcek einst genannt hatte, begann zu reifen, auch da wo Sterne über Autohäusern aufgingen oder alte Stahlbarone ihr Süppchen kochten. Gerade in der Stadt, die zu Ehren von Karl Marx seinen Namen trug und Kunstfasern wie ›Malimo‹ und ›Dederon‹ der Textilindustrie das Überleben gesichert hatten, erlebte man das hautnah mit, denn mit der Konsumwanderung von West nach Ost gelangten auch neue Unternehmenspläne zur Praxisreife. Gleich nebenan, da wo Hermann Schreiner vom Tag seiner Geburt an zu Hause war, geschah Gleiches nur in kleinerem Maßstab.

Günther Liebig konnte es nicht fassen, 500 Mark der Deutschen Demokratischen Republik in den Händen zu halten. Sein Leben lang war er ein sparsamer Mann gewesen und nun das! Einsteins Forschermiene schaute vielfragend skeptisch drein und auch einen Hauch von melancholisch verklärter Allwissenheit glaubte Herr Liebig darin zu entdecken. Das Gewohnheitsprinzip, mit der man einen 20 oder 50 Mark-Schein aus der Geldbörse nahm, wurde hier außer Kraft gesetzt. Herr Liebig hatte sich diesen Schein auf Wunsch bei seiner Bank auszahlen lassen, um nur einmal im Besitz eines solchen zu sein. Er feierte im Stillen und freute sich wie ein Schuljunge. Das sein Vaterland, dem er seinen Stand, seine Karriere und sein Lebensglück zu verdanken hatte, es jetzt verantworten konnte, so eine werthohe Banknote zu drucken, grenzte für ihn schlichtweg an ein Wunder. Mehrfach war er im Wohnzimmer auf und abgewandert, den Geldschein vor sich hertragend, ihn dabei immer wieder hochhaltend, als würde er tatsächlich den Heiligen Gral vor sich haben. Es wäre wohl vermessen, fand Günther Liebig, dieses vermeintliche Stück Papier wie einen Schatz zu feiern, doch der besondere Moment war eigentlich nur vergleichbar mit dem Tag, als er es sich das erste Mal leisten konnte, im ›Delikat‹ einzukaufen. Seine nüchterne Weltsicht und seine Definition von Vernunft gaben ihm aber auch zu verstehen, dass es sich nur um Geld handelte. Hier im ›Friedensglück‹ wollte er sich weder durch Raffgier noch durch Prahlerei neu definieren, schon gar nicht auf seine alten Tage und er glaubte zu wissen, warum. Liebig verstand seinen Reichtum aus Sicht eines Arbeiters, der auf ein erfülltes Leben zurückblickte und eben gerade jetzt wusste er um die Bedeutung seiner Herkunft und seines Standes nur allzu gut Bescheid. Und als er sich gesetzt hatte, folgte auf die Einsicht die Ruhe. Aus Einsteins Konterfei erwuchs mehr als eine Summe. Die altehrwürdige DDR würde schon damit zurechtkommen, dass er den neuen Reichtum in Frage stellte und es dennoch als Triumph ansah, was sich innerhalb kürzester Zeit ereignet hatte. So demonstrativ in Schwarz gekleidet, wie sich die Abgeordneten des Bundestages zu ihrer letzten Sitzung versammelt hatten, käme es nun darauf an, dass die DDR nicht am Besitzdenken scheitert und dem Kapital seine Grenzen aufgezeigt werden. Ein guter Kaffee machte dem alten Günther Liebig bewusst, wie wichtig das war.

Die Bundesrepublik Deutschland war Geschichte. Nach über vierzig Jahren ihres Bestehens hatte sie aufgehört zu existieren. Im Kanzleramt oder dem was davon übrig war herrschte Trauerstimmung. Der ehemalige Kanzler und seine Minister saßen ratlos zusammen und haderten mit ihrem Schicksal. Das Geschehene zu begreifen, grenzte für sie an eine Laune des Schicksals. Von ihren Gesichtern war abzulesen, was sie dachten und fühlten und mit der Verdrossenheit machte Müdigkeit die Runde. An der ehemaligen innerdeutschen Grenze wurden von den Sicherheitskräften der DDR die Grenzschutzanlagen abgebaut, in Berlin wurde stückweise die Mauer demontiert und aus Moskau und Washington erhielten die Sozialisten auch noch Unterstützung. Das war zweifellos eine friedliche Revolution, so wie sie von allen Seiten angepriesen wurde, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Der Bundeskanzler und sein Stab hatten eigentlich andere Pläne gehabt, die politisch nicht minder motiviert angelegt waren, doch dieser windige Spion im Kanzleramt hatte mit seinen Aktivitäten hochbrisantes Geheimmaterial ausspioniert und an die Genossen nach Ostberlin geliefert. Zwar hatte Erich Honecker nicht die Schalmei aus dem Geschenkefundus gekramt, was manch anderer getan hätte, um wie ein Triumphator den politischen Coup offenkundig zu machen. Dazu war es dank der Vernunft und im Interesse der Beibehaltung des internationalen Friedens dann doch nicht gekommen. Trotzdem rumorte es im politischen Gedärm ganz gewaltig und ein paar Etagen weiter oben, da wo der politische Verstand an der Bewältigung des Fiaskos zu knabbern hatte, verweigerte sich den Herren auf der Suche nach dem politischen Neubeginn der Erfolg. Der Kanzler druckste herum, sparte nicht an moralinsaurer Miene und war bemüht, dass Politbeben herunterzuspielen. Die mächtige BRD, die der kleinen DDR scheinbar immer in allen Belangen überlegen war, würde von der Landkarte verschwinden und den Geschichtsschreibern viel Stoff und Anlass geben, ihrer Arbeit nachzugehen. Das betretene Schweigen in der Runde sprach Bände. Als ein Minister schließlich laut dachte und das Alte Testament bemühte, wo das Kräftemessen zwischen David und Goliath auch ganz anders verlief als angenommen, wurde er barsch zurechtgewiesen. Gespenstisch schön, sonderbar skurril, merkwürdig anders und missmutig angespannt verlautete das gegenstandslose Protokoll der Szene, hätte es eines gegeben. Auch wenn der Bundeskanzler die politische Verantwortung übernahm, blieb vieles offen. Neben Fragen, welche die neudeutsche Wirklichkeit zur Disposition stellten und der erklärten Absicht, sich von allen Aktivitäten politischer Natur künftig fernzuhalten, gab es Ambitionen, die Entwicklung rückläufig zu machen. Das war die Hoffnung einer Gruppe von Verantwortungsträgern, die den Konflikt nicht scheute.

Annegret Lutze saß im Wohnzimmer und rauchte. Im Fernsehen liefen die Nachrichten der aktuellen Kamera. Die ›Aktuelle Kamera‹ war das Nachrichtenformat im Fernsehen der DDR, vergleichbar mit der ›Tagesschau‹ im Programm der ARD. Frau Lutze war erfreut, ihren Lieblingssprecher zu sehen. Ein Mann Mitte fünfzig mit dunklen, vollen Haaren, einer Brille, die ihn überaus interessant erscheinen ließ, und einer Stimme, deren samtener Klang mit einer Männlichkeit kokettierte, dass sie noch immer in Begeisterung ausbrach, wenn er die Nachrichten verlas. Natürlich und nicht umsonst wie sie fand, war dieser Sprecher mehrfacher Fernsehliebling der DDR. Auch sie hatte ihm ihre Stimme gegeben und das nicht nur, weil er so ein perfekter Nachrichtensprecher war. Auf einem Ball für die Aktivisten des Volkes in Berlin hatte sie ihn einst ganz aus der Nähe erlebt. Weil ihr gefiel, was sie sah, getraute sie sich nach einem Autogramm zu fragen. Es hatte sie unendlich viel Überwindung gekostet, dieses Wagnis einzugehen, doch seine nahe Gegenwart und die Tatsache, dass er bereitwillig Autogramme schrieb, machten ihr Mut. Im ehemaligen Westfernsehen gab es keinen, für den sie auch nur annähernd so schwärmte wie für ihn. Als sie an der Reihe war und sich endlich erfolgreich durch die Schlange der Verehrerinnen vorgearbeitet hatte, stockte ihr der Atem. Sie wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte, bis sie ihre Fassung wiederfand. Es war ja eigentlich gar keine Schwärmerei, sondern doch eher Verehrung wie man sie für einen Sportchampion oder einen unerreichten Operntenor empfand. Annegret Lutze zog an ihrer Zigarette, denn sie wusste nur zu gut, dass sie damals schon Mitte sechzig war. Trotzdem hatte sie mit beinah mädchenhafter Verzückung nach einem Autogramm gefragt und es sofort bekommen. Schon damals trat ihr der Nachrichtensprecher mit ausgesuchter Höflichkeit entgegen und unterschrieb die Autogrammkarte mit eben jenem Lächeln im Gesicht, das sie von der Mattscheibe so gut kannte. Für einen Moment wagte sie kaum zu atmen und sie erinnerte sich sofort, wie sie etwas zurückgewichen war und ihr geliebter Nachrichtenmann einen Schritt auf sie zugemacht hatte, um die Situation zu retten. So kam es, dass sie für einen Moment glücklich in seinen Armen lag. Und während sie ihn sah und seine Stimme hörte, fühlte sie in aller Bescheidenheit ein Glück jenseits aller Politik und Entbehrungen, wie es sie in ihrem Leben reichlich gegeben hatte. Sie nahm noch einen Zug, dann machte sie die Zigarette aus. Die ›Aktuelle Kamera‹ war so gut wie vorüber.

Auf dem Marktplatz von Hermanns Heimatstadt hatte sich eine Gruppe junger Leute zu einer Kundgebung der FDJ zusammengefunden. Die Freie Deutsche Jugend war die Jugendorganisation der SED und gleichzeitig Kampfreserve der Partei. ›Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf,- Freie Deutsche Jugend bau auf …‹, musizierte ein Gitarrenduo mitten unter ihnen. Zum Klang von Arbeiterliedern wiegten sich junge Menschen im Reigen und bekundeten ihre Verbundenheit mit dem Arbeiter- und Bauernstaat. Auch sie bejubelten frohgelaunt den großen politischen Triumph der Staatsführung, ein wenig vom Bier beschwingt, das die nahegelegene Brauerei spendiert hatte. Hermann hatte sich eingereiht und teilte die Jubelstimmung indem er sich neugierig umsah, welche Aufnahme die Veranstaltung bei den Umstehenden fand. Das Lied vom ›Kleinen Trompeter‹ wie das nicht minder bekannte Kampflied von den ›Moorsoldaten‹ ernteten viel Zuspruch. Der Stolz, den die Bewohner der kleinen Stadt empfanden, löste sich in Zweifeln und Skepsis auf, doch keiner erging sich in Mutlosigkeit, was das Thema der Wiedervereinigung betraf. Da wo Alt und Jung aufeinandertrafen, verging die Anspannung unter dem Einfluss der Freude, nicht außer Acht lassend jene Art von generationsübergreifender Nähe, wie sie Menschen vereint und einander näherbringt. Hermann bildete da keine Ausnahme. Als Mitglied der FDJ engagierte er sich seit jeher für das Zusammenleben der Alters- und Interessengruppen. So hatte er erfolgreich gemeinsame Treffen organisiert, mit dem Ergebnis, dass die Alten im Ort wieder reger in der Öffentlichkeit auftraten, besonders da, wo die Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit jungen Menschen ihrer Lebenserfahrung und Hilfe bedurfte. In der Zeitung ›Junge Welt‹, dem offiziellen Organ der FDJ, fand das bereits mehrfach Erwähnung und gerade in Hinsicht auf die politische Entwicklung im Land mit jener Dynamik der vergangenen Wochen und Monate war das wichtig. Man sprach miteinander, pflegte den politischen Witz, übte sich in politischer Agitation und versäumte nicht, die Thüringer Bratwurst zu probieren. Nicht nur weil Bier und Bratwurst seit jeher fester Bestandteil solcher Veranstaltungen waren, bediente sich die Klientel der Anwesenden auch eifrig. Hinter dem politischen Kalkül stand durchaus so etwas wie ein Wohlgefühl, wie es seit jeher nur im Osten unter den Menschen anzutreffen war oder anders gesagt menschliche Wärme, von der ein Bürger der BRD vergleichsweise wenig wusste. Das gehörte zum Selbstverständnis der FDJler dazu, dass Menschlichkeit kein Fremdwort sein durfte. Seit den Tagen des großen Pfingsttreffens der FDJ im Jahr 1973, als ein Zeichen an die Welt ging, dass die DDR ein selbstbestimmter Staat der Jugend ist, hatte die Organisation ihre Strukturen gefestigt und Prioritäten gesetzt. Hermann fühlte sich von einer freisinnigen Zugehörigkeit ergriffen, die da anknüpfte, wo er seine geistige Heimat sah. Seine Stimmung war auf dem Höhepunkt, als das Gitarrenduo ›Alt wie ein Baum‹ von den Puhdys intonierte.

In den Altbundesländern sorgte die rasante Entwicklung für banges Staunen. Die Menschen dort verbrachten die Zeit in einer Mischung aus Neugier und Unbehagen. Sie wussten so gar nichts über ihre Landsleute in der DDR und scheuten die Nähe zu ihnen. Seit jeher hatte die BRD im deutsch-deutschen Geschehen den Ton angegeben, sich ihrer Macht und ihres Einflusses vollauf bewusst und dank ihrer wirtschaftlichen Stärke über jeden Zweifel erhaben. Seit die DDR die Grenzanlagen geöffnet hatte war man in eine Art Schockzustand verfallen, denn man fürchtete die Barbaren aus dem Osten mehr als die eigene Schwiegermutter. Die friedliche Kolonisierung mit Hilfe von Bananen war fehlgeschlagen, alle Interventionen begünstigt durch einen regen Rentnerreiseverkehr hatten nichts gebracht und gewissermaßen mussten sämtliche Pläne einer Übernahme erfolglos quittiert werden. Das Wort Katastrophe schlug buchstäblich in Realität um, als der greise Herr Honecker im honorigen Stil wie ein kleiner Napoleon die Seiten wechselte und plötzlich im Westen angekommen war. Ein gefundenes Fressen für die Zeitungen, besonders die ›Bild-Zeitung‹, die auf dem Titelblatt den nationalen Notstand ausrief, weil sie das natürlich auch durfte, denn die Pressefreiheit war garantiertes Gesetzesmittel im Staat. Der kantige Kanzler, der aus seiner Schmäh für die neuen Machthaber kein Geheimnis machte, stand damit nicht allein, so unverkennbar stritt die Medienlandschaft und kämpfte dagegen an, in einen Topf mit den Zeitungen ›Neues Deutschland‹ oder ›Junge Welt‹ geworfen zu werden. Aus dem Osten antwortete die Gelassenheit einer neu positionierten Regierungsriege, die schon mal freundschaftliche Verbindungen zur SPD unterhielt, wo die Kontakte zu den Sozialisten von der anderen Seite schon im Kalten Krieg zu einer Nähe gereift waren, die freundschaftliche Beziehungen gedeihen ließ. Es war ja auch alles ziemlich kompliziert und über alle Maßen schwierig, besonders dann, wenn in einer Westfirma ein Kombinatsdirektor erschien und versuchte, dem Firmenchef die Vorteile der Planwirtschaft zu erläutern. Manchen sah man mit wutverzerrter Miene aus dem eigenen Büro stürzen, doch die neudeutsche Gesetzgebung sah eine Zusammenarbeit vor, die sicherstellte, dass soziale Risiken vermieden werden. Die Gesetzbücher der DDR bildeten die Grundlage dieser Einigungsrichtlinie und waren das Hauptinstrument für die Ausarbeitung des Einigungsvertrages, der bei weitem kein Diktat, sondern eine fortschrittliche Gesetzesnovelle unter Wahrung und Achtung der Interessen beider Parteien darstellte. Quasi eine notariell beglaubigte Heiratsurkunde mit leichten Vorteilen zugunsten des Staatsapparates der DDR. Die Deutsche Demokratische Republik war jetzt der Hauptaktionär in Staatsdiensten und ihre Handhabe der Devisen sprudelte aus den Kassen der neu eingeführten Vermögenssteuer, die lediglich zwei Prozent betrug. Klar, dass diesem Entscheid ein Sturm der Entrüstung folgte. Doch die Lobbyisten führten ihrer freundschaftlich verbundenen Klientel vor, wie trotz dieser Regelung neuer Reichtum erwachsen kann und dass dank der wirtschaftlichen Expansion bald neue Märkte entstehen würden. Schließlich bot allein der Handel mit China einen Markt, der in seiner Fülle und Vielfalt gewaltige wirtschaftliche Gewinne versprach. Für Amerika und die EU fiel da auch noch genügend ab.

Günther Liebig sah aus dem Fenster auf die Straße hinaus. Seine Augen waren längst nicht mehr so gut wie früher und die Brille ihm heilig. Ein Blick vorbei an der Fassade der Wohnungsgenossenschaft ›Friedensglück‹ offenbarte ihm schon genug. Zwischen den verwinkelten Gassen und Straßen war zu sehen, dass die Zeit nicht stehen blieb, gerade jetzt, wo alles auf Veränderung stand. Herrn Liebigs Lebenserfahrung endete aber nicht an der nächsten Straßenecke, sondern legte im Hinterkopf ein Archiv für Gestern und Heute an. Der unverstellte Blick auf die Konsum-Verkaufsstätte war möglich, weil die Kriegsruine davor schon vor Jahrzehnten abgerissen und an selber Stelle nun eine kleine Grünanlage zu finden war. Auch auf seine Initiative hin hatte der Stadtrat diese Maßnahme beschlossen, wie er sich zu erinnern wusste. Hässliche Spuren von misslungenen Bauaktivitäten galt es zu vermeiden, was damals wie heute Priorität bei der Stadtgestaltung hatte, auch wenn windige, an anderer Stelle geschäftstüchtig genannte Investoren gerne damit abschließen wollten. Doch in der kleinen Stadt am Fuße des Erzgebirges endete das Verständnis für Städtebau nicht mit der Kapitulation vor der mächtigen Finanzwelt. Hier gab es Männer wie Günther Liebig, die eine geschlossene Abwehrfront bildeten, sobald jemand mit einem Projekt die natürliche Bausubstanz des Ortes in Gefahr brachte oder glaubte, er könne über die Köpfe der örtlichen Parteizentrale hinweg entscheiden. Darüber wachte Herr Liebig auch wenn er aus dem Fenster sah und beim Blick auf die vertraute Kulisse die Errungenschaften des Sozialismus ins Visier nahm. Manche Spötter hatten schon vor Jahren vor einem Ausverkauf gewarnt, als die Zerstörung des Stadtbildes begonnen und man mit vereinten Kräften die Berliner Regierungsentscheidung rückgängig gemacht hatte. Ein Erfolg, der Günther Liebig am selben Abend mit dem Kreissekretär in der Ratsschänke sah, wo sich ein illustrer Kreis ortsbekannter Führungskräfte zusammengefunden hatte, die alle das Glas erhoben und mit zufriedener Miene ihren Triumph über die Berliner Parteigenossen begossen. Dort, im Zentrum der Macht, war der Widerstand auf massives Missfallen gestoßen, das aber letztlich ausgeräumt werden konnte, nachdem eine Erfolgsmeldung der Hauptabteilung Aufklärung im Politbüro landete die besagte, dass ein Nachrichtenoffizier aus jener Gegend sensationelle, neue Erkenntnisse über das Kanzleramt zur Verfügung habe. Dann kamen sogar noch eine Grußadresse nebst einem Glückwunschtelegramm nach und auf dem Ortskonto der Partei befanden sich zehntausend Mark mehr als vorher. Günther Liebigs Vergangenheit hatte also einiges vorzuweisen. Viel mehr als man dem alten Mann zutraute, wie er so aus dem Fenster sah. Als Gertrud noch lebte, hatte sie ihrem Günther auch so manches nachgesehen, weil sie wusste, dass die Augen hinter seiner Brille Dinge sahen, die anderen verborgen blieben.