Sido - Colette - E-Book

Sido E-Book

Colette

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Beschreibung

Das Porträt ihrer Mutter Sido mit Wörtern zu malen war eine der großen Aufgaben, die sich die Schriftstellerin Colette immer wieder stellte; und auch in «Sido» scheint sie abzuweichen in Skizzen aus dem Leben in der Provinz ihrer Kindheit, in die Schilderung des häuslichen Gartens, in die unbeschriebenen Bücher, die der Vater hinterließ. Und doch entsteht hier auf indirektem Weg, über die meisterhafte Beschreibung einer blühenden, duftenden, pulsenden Welt, das Bild einer außergewöhnlichen, geradezu seherisch sensiblen Frau, von der wir nie etwas erfahren hätten, wäre aus ihrer Tochter nicht die Dichterin Colette geworden.

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Seitenzahl: 91

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Colette

Sido

Aus dem Französischen von Uli Aumüller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Colette

Sidonie-Gabrielle Colette, 1873 in Saint-Sauveur-en-Puisaye (Burgund) geboren und 1954 in Paris gestorben, war eine französische Schriftstellerin, Varietékünstlerin und Journalistin.

Inhaltsübersicht

1. Teil Sido2. Teil Der Hauptmann3. Teil Die Wilden

1. Teil Sido

«Und warum sollte ich mein Dorf auf einmal verleugnen? Das kann niemand erwarten. Du bist jetzt sehr stolz, meine arme Minet-Chéri, weil du seit deiner Heirat in Paris lebst. Ich muß einfach lachen, wenn ich sehe, wie stolz alle Pariser darauf sind, in Paris zu wohnen, die echten, weil sie das einem Adelstitel gleichsetzen, die falschen, weil sie sich einbilden, befördert worden zu sein. Wenn man es so nimmt, könnte ich mich damit brüsten, daß meine Mutter am Boulevard Bonne-Nouvelle geboren ist! Wenn ich nur an die Pariser denke … Die gebürtigen Pariser haben nämlich charakterlose Gesichter. Man könnte meinen, Paris löscht sie aus!»

Sie unterbrach sich, hob die Tüllgardine hoch, die das Fenster verhüllte:

«Aha, da geht Mademoiselle Thévenin, die ihre Kusine aus Paris im Triumph durch alle Straßen führt. Sie braucht mir gar nicht erst zu sagen, daß diese Dame Quériot aus Paris ist: viel Busen, die Füße klein und die Fesseln zu zart für das Körpergewicht; zwei oder drei Halsketten, die Haare sehr sorgfältig frisiert … So viel brauche ich gar nicht, um zu wissen, daß diese Dame Quériot in einem großen Café an der Kasse sitzt. Eine Pariser Kassiererin putzt nur ihren Kopf und ihren Oberkörper heraus, der Rest erblickt selten das Licht. Außerdem hat sie zu wenig Bewegung und setzt am Bauch Fett an. Du wirst dieses Modell Frau ohne Unterleib in Paris oft sehen.»

So sprach meine Mutter damals, als ich selbst eine blutjunge Frau war. Doch sie hatte schon lange vor meiner Heirat angefangen, der Provinz vor Paris den Vorzug zu geben. Aus meiner Kindheit sind mir Urteile – zumeist vernichtende – im Gedächtnis geblieben, die sie mit erstaunlichem Nachdruck vorbrachte. Woher nahm sie deren Entschiedenheit, deren Farbigkeit, sie, die ihr Département höchstens dreimal im Jahr verließ? Woher hatte sie die Gabe, zu definieren, zu durchschauen und diese apodiktische Art zu beobachten?

Hätte ich sie nicht von ihr geerbt, ich glaube, sie hätte sie mir vermittelt, die Liebe zur Provinz, wenn man unter Provinz nicht nur einen Ort, eine Gegend fern der Hauptstadt versteht, sondern einen Kastengeist, eine verbindliche Sittenreinheit, den Stolz auf einen altehrwürdigen Wohnsitz, der nach allen Seiten hin abgeschlossen ist, aber jederzeit geöffnet werden kann, um seine durchlüfteten Speicher, seinen gefüllten Heuboden, seine von der Benutzung und der Würde ihres Hauses geprägten Bewohner sehen zu lassen.

Als echte Provinzlerin richtete Sido, meine reizende Mutter, ihr geistiges Auge oft nach Paris. Pariser Theater, Pariser Moden und Feste waren ihr weder gleichgültig noch fremd. Sie liebte sie allenfalls mit einer etwas aggressiven Leidenschaft, unterlegt mit schmollender Koketterie, strategischen Annäherungen und Kriegstänzen. Das wenige, was sie von Paris genoß, etwa alle zwei Jahre, versorgte sie für die übrige Zeit. Schwer beladen mit Schokoladenriegeln, exotischen Waren und Kleiderstoffen kehrte sie zu uns zurück und fing an, uns Paris zu schildern, dessen Attraktionen alle für sie erreichbar waren, denn sie verschmähte nichts.

In einer Woche hatte sie die ausgegrabene Mumie, das vergrößerte Museum, das neue Kaufhaus besichtigt, den Tenor und den Vortrag Birmanische Musik gehört. Sie brachte einen schlichten Mantel, haltbare Strümpfe, sehr teure Handschuhe mit. Vor allem brachte sie uns ihren flatternden grauen Blick zurück, ihre vor Müdigkeit gerötete Haut; sie kam mit aufgeregter Eile zurück, besorgt um alles, was ohne sie Wärme und Lebenslust verlor. Sie hat nie erfahren, daß der Geruch ihres Pelzmantels, durchdrungen von einem hellbraunen, weiblich-keuschen Duft, ganz anders als der verführerisch-gewöhnliche nach Achselschweiß, mir vor lauter Gefühlsüberschwang die Sprache raubte.

Mit einer Geste, mit einem Blick, nahm sie alles wieder in die Hand, mit was für einer Behendigkeit! Sie schnitt rosa Einwickelband auf, packte Kolonialwaren aus, faltete sorgsam das schwarze Teerpapier zusammen, das nach kalfaterten Booten roch. Sie redete, rief die Katze, beobachtete verstohlen meinen abgemagerten Vater, berührte und beschnupperte meine langen Zöpfe, um sich zu vergewissern, ob ich meine Haare gebürstet hatte. Einmal, als sie eine pfeifende Goldkordel aufknüpfte, bemerkte sie, daß an der Geranie, die zwischen Fensterscheibe und Tüllgardine stand, ein geknickter, aber noch lebender Trieb herunterhing. Die gerade aufgerollte Goldschnur wickelte sich, von einer kleinen Pappschiene gestützt, zwanzigmal um den wieder eingerenkten Zweig … Ich erschauerte und glaubte vor Eifersucht zu zittern, dabei handelte es sich nur um ein poetisches Echo, hervorgerufen von der Magie der wirksamen, mit Gold besiegelten Ersten Hilfe.

Um eine typische Provinzlerin zu sein, fehlte ihr nur die Lust am Verleumden. Ihr kritisches Empfinden war stark, wandelbar, lebhaft und heiter wie das einer jungen Eidechse. Im Flug erhaschte sie den markanten Zug, den Makel, machte blitzartig auf im Dunkel liegende Schönheiten aufmerksam und drang wie ein Lichtstrahl in enge Herzen ein.

«Ich bin rot, nicht wahr?» fragte sie, wenn sie aus dem schmalen Korridor irgendeiner Seele zurückkam.

Sie war tatsächlich rot. Die echten Hellseherinnen, die sich tief in das Innere eines anderen versenkt haben, tauchen halb erstickt wieder daraus auf. Ein ganz gewöhnlicher Besuch ließ sie manchmal puterrot und kraftlos in den Armen des großen Polstersessels aus grünem Rips zurück.

«Ah! Diese Vivenets! … Bin ich erschöpft … Diese Vivenets, mein Gott!»

«Was haben sie dir getan, Mama?»

Ich kam aus der Schule und grub mein kleines Gebiß halbmondförmig in einen dick mit Butter und Himbeergelee bestrichenen frischen Brotkanten.

«Was sie mir getan haben? Sie sind gekommen. Was hätten sie mir anderes und schlimmeres antun können? Die beiden Jungvermählten auf Hochzeitsbesuch, flankiert von der Mutter Vivenet … Ah! Diese Vivenets!»

Viel mehr sagte sie mir nicht, aber später, als mein Vater nach Hause kam, hörte ich mehr darüber.

«Ja», erzählte ihm meine Mutter, «seit vier Tagen Vermählte! Wie unschicklich! Seit vier Tagen Vermählte, das versteckt sich, läuft nicht durch die Straßen, macht sich nicht in Salons breit, stellt sich nicht mit der Mutter der Braut oder des Bräutigams zur Schau … Du lachst? Du hast kein Taktgefühl. Ich bin noch ganz rot, weil ich diese vier Tage alte Braut gesehen habe. Sie war verlegen, immerhin. Ein Gesicht, als hätte sie ihren Unterrock verloren oder sich auf eine frisch gestrichene Bank gesetzt. Aber er, der Mann … Grauenhaft. Daumen wie ein Mörder und ein Paar ganz kleine Augen, die auf dem Grund seiner beiden großen Augen auf der Lauer liegen. Er gehört zu der Sorte von Männern, die ein Zahlengedächtnis haben, die die Hand aufs Herz legen, wenn sie lügen, und die nachmittags Durst haben, was ein Zeichen von schlechter Verdauung und einem galligen Charakter ist.»

«Bravo!» applaudierte mein Vater.

Bald darauf war ich an der Reihe, weil ich um die Erlaubnis gebeten hatte, im Sommer Söckchen zu tragen. «Wann hörst du endlich auf, Mimi Antonin in allem, was sie tut, nachäffen zu wollen, wenn sie in den Ferien zu ihrer Großmutter kommt? Mimi Antonin ist aus Paris, und du bist von hier. Sollen die Pariser Kinder im Sommer doch ihre dünnen Waden ohne Strümpfe zeigen und im Winter ihre zu kurzen Hosen und arme, rotgefrorene Oberschenkel. Die Pariser Mütter helfen dem allem ab, indem sie ihren Kindern, wenn sie vor Kälte schlottern, ein weißes Pelzkrägelchen umlegen. Bei sehr großer Kälte setzen sie ihnen noch eine dazu passende Pelzmütze auf. Und außerdem fängt man nicht mit elf Jahren an, Söckchen zu tragen. Bei den Waden, die du von mir hast? Du würdest ja aussehen wie eine Seiltänzerin, und es fehlte dir nur noch ein Sammelteller aus Blech.»

So sprach sie, und ohne je nach Worten zu suchen oder ihre Waffen loszulassen; Waffen nenne ich ihre zwei Paar «Augengläser», ein Taschenmesser, häufig auch eine Kleiderbürste, eine Heckenschere, alte Handschuhe, manchmal das zu einem dreilappigen Rackett geflochtene Zepter aus Weide, das «Klopfer» heißt und dazu dient, Vorhänge und Möbel auszuklopfen. Die Phantasie meiner Mutter unterwarf sich nur den Daten, die in der Provinz mit Hausputz, großer Wäsche und dem Einmotten von Wollsachen und Pelzen gefeiert werden. Aber weder kroch sie gerne in Schränken herum noch roch sie gerne das modrige Kampferpuder, das sie übrigens durch einige in Stücke geschnittene Zigarren, die Rückstände aus den Meerschaumpfeifen meines Vaters, und dicke Spinnen ersetzte, die sie in den wildreichen Schrank, die Zuflucht der silbernen Milben, sperrte.

Sie war zwar flink und immer in Bewegung, aber keine übereifrige Hausfrau; sauber, reinlich, zimperlich, aber weit entfernt von der Manie, mit der manche Frauen Handtücher, Zuckerstückchen und volle Flaschen zählen. Das Staubtuch in der Hand und das Dienstmädchen beaufsichtigend, das in aller Gemütlichkeit Fenster putzte und dem Nachbarn zulachte, entfuhren ihr nervöse Schreie, ungeduldige Rufe nach Freiheit.

«Wenn ich meine chinesischen Tassen lange und sorgfältig abtrockne, spüre ich, wie ich alt werde», sagte sie.

Sie führte ihre Arbeit pflichtgetreu zu Ende. Dann ging sie die zwei Stufen unseres Hauseingangs hinunter und war im Garten. Auf der Stelle fielen mürrische Erregung und Groll von ihr ab. Alles Pflanzliche wirkte auf sie wie ein Gegengift, und sie hatte eine merkwürdige Art, die Rosen am Kinn hochzuheben, um ihnen mitten ins Gesicht zu schauen.

«Siehst du, wie sehr dieses Stiefmütterchen mit seinem runden Bart Heinrich VIII. von England ähnlich sieht», sagte sie. «Eigentlich mag ich diese Haudegengesichter nicht besonders, die die gelb-violetten Stiefmütterchen haben …»

 

In meinem Geburtsort hätte man keine zwanzig Häuser ohne Garten zählen können. Die am schlechtesten bedachten hatten einen Hof, bepflanzt oder nicht, mit Weinlauben oder ohne. Hinter jeder Fassade verbarg sich ein weitläufiger «Hintergarten», der mit gemeinsamen Mauern an die anderen Hintergärten grenzte. Diese Hintergärten prägten das Dorf. Hier lebte man im Sommer, hier wurde gewaschen; im Winter wurde hier Holz gehackt, zu jeder Jahreszeit wurde hier gearbeitet, und die Kinder, die in den Schuppen spielten, saßen wie die Hühner auf den Leitern der ausgespannten Heuwagen.

Die eingefriedeten Grundstücke, die neben unserem lagen, forderten keine Geheimnistuerei: der abschüssige Boden, hohe und alte Mauern, Vorhänge aus Bäumen schützten unseren «oberen Garten» und unseren «unteren Garten». Die tönende Flanke des Abhangs warf die Geräusche zurück, trug die Neuigkeiten aus dem von Häusern umringten «Gemüse-Atoll» hinunter in den «Vergnügungspark».