Snowflake - Louise Nealon - E-Book

Snowflake E-Book

Louise Nealon

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Beschreibung

Debbie White wird auf einer irischen Milchfarm groß. Ihr Onkel Billy haust in Gesellschaft der alten Griechen, einer Flasche Whiskey und des Sternenhimmels im Wohnwagen vor der Tür, ihre Mutter Maeve verbringt die Tage im Schlafzimmer, wo sie Träume aufzeichnet, die sie für Prophezeiungen hält. Als Debbie beginnt, nach Dublin zu pendeln, um dort ein Literaturstudium aufzunehmen, prallen Welten aufeinander. Debbies zunächst zögerlicher und dann ungestümer Versuch, sich trotz ihres Dialekts und ihrer abgetragenen Farmjeans einen Platz in der Stadt und den Reihen ihrer Mitstudierenden zu erkämpfen, droht nicht nur an ihren Selbstzweifeln zu scheitern, sondern auch an der Tatsache, dass die Verhältnisse auf dem Hof, der trotz allem ihr Zuhause ist, immer mehr aus dem Ruder laufen ... Mit Debbie White, die ihre Verletzlichkeit hinter ihrem trotzigen Humor verbirgt, hat Louise Nealon eine unvergessliche Heldin geschaffen, die an die Figuren von Sally Rooney erinnert.

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Seitenzahl: 357

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Louise Nealon

Snowflake

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Die Originalausgabe erschien 2021 unter demselben Titel bei Manilla Press / Bonnier Books UK, London.

Copyright © Louise Nealon 2021

Dieses Buch wurde mit der Unterstützung von Literature Ireland veröffentlicht

© 2022 by mareverlag, Hamburg

LektoratLisa Fabian

CovergestaltungNadja Zobel, Petra Koßmann /mareverlag

Coverabbildung© plainpicture / Michael Vincent Manalo (Silhouette Frau), © Tatsiana PPilipenka / Dreamstime.com (Illustration Hintergrund)

Datenkonvertierung E-BookBookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-815-1

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-660-7

www.mare.de

Meinen Eltern Tommy und Hilda, für ihre Weisheit, Liebe und Unterstützung.

Inhalt

Der Wohnwagen

Pendlerin

Nicht Maud Gonne

Saoirse

Schlampenstiche

Tabernakel

Aisling

In Deckung

Wo Wasser träumt

Segen

Dramaqueen

Fünfundzwanzig

Sweet Sensations

Typen

Zug

Inkubus

Meeresschnecke

Aufgestanden

Milchbad

Wendeltreppenschnecke

Literaturtheorie

Batman

Ergebnisse

Heilgabe

Zapfwelle

Totenwache

Raupe

Treppe

Im Hotel

Technical Love

Trinkschule

Fahrschule

Achter Dezember

Alice in der Passage

Igel

Wizard’s Sleeve

Rinderwahn

Kaffee

Schnee

Glatte Artemis

Erster Eindruck

Zwölf Pubs

Drinnen

Nelly

Sandmännchen

Grund

Ophelia

Lady Bracknell

Schneeflocken

Das Kuriositätenkabinett

Löwenzahn

Gloria

Der Wünschelrutengänger

Amuse-Bouche

Der gelbe Buchladen

Silver Island

Danksagung

Der Wohnwagen

Mein Onkel Billy lebt in einem Wohnwagen auf dem Feld hinter unserem Haus. Als ich zum ersten Mal einen Wohnwagen auf der Straße sah, dachte ich, jemand – ein anderes Kind – hätte ihn entführt. Erst da erfuhr ich, dass Wohnwagen eigentlich dazu gedacht sind, bewegt zu werden. Billys Wohnwagen fuhr nirgendwohin. Unverrückbar stand er auf einem Fundament aus Betonklötzen, immer da, seit dem Tag meiner Geburt.

Als Kind besuchte ich Billy oft, wenn ich Angst vor dem Einschlafen hatte. Er sagte, ich dürfe nur aus dem Haus kommen, wenn ich den Mond von meinem Fenster aus sehen könne und ihm Wünsche aus dem Garten mitbrächte. In der Nacht meines achten Geburtstags sauste ich beim Anblick des dicken, runden Mondes die Treppe hinunter und durch die Hintertür hinaus, spürte das nasse Gras an den nackten Füßen, die Dornen der Hecke haschten nach mir, zerrten an den Ärmeln meines Schlafanzugs.

Ich wusste, wo die Wünsche sich herumtrieben. Ein Grüppchen wuchs gleich beim Wohnwagen hinter der Hecke. Ich pflückte einen nach dem anderen, genoss das leise Reißen der Stängel, den klebrig aus dem abgetrennten Ende tropfenden Saft, die fluffig aneinanderstoßenden weißen Köpfe. Ich hielt die Hand davor, wie um Kerzen vor Wind zu schützen, damit ich auch ja kein Wunschbüschel an die Nacht verlor.

Beim Sammeln wirbelte ich die Silben im Kopf herum – Löwenzahn, Löwenzahn, Löwenzahn. Am selben Tag hatten Billy und ich das Wort in dem großen Wörterbuch unter seinem Bett nachgeschlagen: dandelion hieß es auf Englisch. Das käme vom Französischen dents de lion, erklärte Billy, den Zähnen des Löwen eben. Der Löwenzahn begann sein Leben als hübsches Ding, die Blätter seines Rocks spitz und gelb wie ein Tutu.

»Das ist das Kleid für tagsüber, aber irgendwann muss die Blüte schlafen gehen. Sie verwelkt, sieht müde und abgezehrt aus, und wenn man gerade meint, ihre Zeit wäre abgelaufen«, Billy ballte eine Hand zur Faust, »verwandelt sie sich in eine Pusteblume.« Er streckte die Finger und zauberte eine weiße Pusteblume hinter dem Rücken hervor, die aussah wie aus Zuckerwatte. »Ein Flauschmond. Eine heilige Gemeinschaft der Wünsche.« Er ließ mich die Wünsche auspusten wie Geburtstagskerzen. »Ein Sternbild der Träume.«

Billy staunte über den Pusteblumenstrauß, den ich ihm hinhielt, als er die Wohnwagentür aufmachte. Ich hatte so viele gepflückt, wie ich nur finden konnte, um ihn zu beeindrucken.

»Ich wusste es«, sagte er. »Ich hab genau gewusst, dass der Mond zu deinem Geburtstag rauskommt.«

Wir füllten ein leeres Marmeladenglas mit Wasser und pusteten die flauschigen Löwenzahnköpfe hinein, die Federn trieben hinter den gebogenen Samen wie winzige Rückenschwimmer. Ich schraubte den Deckel auf das Glas und schüttelte die Wünsche durch, ließ sie hochleben, schaute ihnen beim Tanzen zu. Wir stellten das Glas auf einen klammen Zeitungsstapel, damit es aus dem Plastikfenster des Wohnwagens schauen konnte.

Billy machte einen Topf Milch auf dem Gasherd warm. Seine Küche sah aus wie ein Spielzeug, das ich mir zu Weihnachten wünschte. Ich war jedes Mal überrascht, dass sie wirklich funktionierte. Ich durfte die Milch umrühren, bis sie blubberte und eine weiße Haut bildete, die ich mit dem Löffelrücken abschöpfte. Er kippte Kakaopulver hinein, und ich rührte und rührte, bis mir der Arm fast abfiel. Die dampfende braune Flüssigkeit schütteten wir schließlich in eine Thermosflasche und nahmen sie mit aufs Dach zum Sternegucken.

Es dauerte mehrere Tage, bis die Löwenzahnsamen komplett untergegangen waren. Sie hielten sich an der Oberfläche, hingen von ihrem Wasserhimmel, bis sie entweder aufgaben oder ihnen zu langweilig wurde. Und wenn die Welt sie längst aufgegeben hatte, erschienen winzige grüne Triebe, als wären sie Pflanzenmeerjungfrauen, denen unter Wasser Schwänze wuchsen. Dann rief Billy mich rüber, um die sturen kleinen Dinger zu bewundern, die sich weigerten zu sterben.

Heute ist mein achtzehnter Geburtstag. Ich bin ein bisschen nervös, als ich an Billys Tür klopfe. Eigentlich besuche ich ihn nachts nicht mehr. Die Außenhaut des Wohnwagens ist kalt an meinen Fingerknöcheln. Die Tür hat eine Gummilippe wie ein Kühlschrank. Ich drücke die Nägel in das Weiche und reiße ein Stück ab. Ein glatter Streifen löst sich wie das Fett von einer Scheibe Schinken. Ich höre Papiergeraschel und Schritte. Billy macht die Tür auf und gibt sich alle Mühe, nicht überrascht zu wirken.

»Na, so was«, sagt er auf dem Weg zurück in seinen Sessel.

»Na, du Schlafmütze«, begrüße ich ihn. Er ist heute Morgen nicht zum Melken aufgestanden, und ich musste für ihn einspringen.

»Ja, tut mir leid.«

»Und das an meinem Geburtstag«, sage ich.

»Ach, verdammte Scheiße.« Er verzieht das Gesicht. »Ein Wunder, dass Sankt James dich aus dem leaba geholt hat.«

»Er wusste nichts davon. Mam hat vergessen, es ihm zu sagen.«

»Wir sind echt das Letzte. Wie alt bist du denn überhaupt geworden? Süße sechzehn?«

»Aufsässige achtzehn.«

Das amüsierte Grinsen, das sich auf seinem Gesicht breitmacht, verschafft mir ein wenig Genugtuung. Ich warte, bis er mir den Rücken zudreht und den Wasserkocher füllt.

»Die Collegebescheide sind heute gekommen«, sage ich.

Er dreht den Wasserhahn zu und schaut mich an. »Das war heute?«

»Ja. Ich bin am Trinity angenommen. Nächste Woche geht’s los.«

Er wirkt traurig. Dann packt er mich an den Schultern und lässt einen lauten Seufzer fahren. »Verdammte Scheiße noch mal, das freut mich für dich!«

»Danke.«

»Scheiß auf den Tee«, sagt er und wischt die Vorstellung weg. »Scheiß auf den Tee, ich hol den Whiskey raus.«

Er wühlt im Küchenschrank. Teller klappern, ein paar gestapelte Schälchen fallen um. Er versucht, die Geschirrlawine mit dem Knie zurückzudrängen. Ich will das Chaos aufräumen, um mich zu beschäftigen, aber da taucht Billy triumphierend mit einer Flasche Jameson aus dem Schrank auf.

»Happy Birthday, Debs«, sagt er.

»Danke.« Ich nehme die Flasche Whiskey entgegen, als wäre sie ein Tombolapreis.

Dann stehen wir unbeholfen rum. Auf keinen Fall will ich diejenige sein, die den Vorschlag macht. Ich bin doch jetzt erwachsen. Ich kann nicht mehr darum betteln, dass wir irgendwas machen.

»Der Himmel ist heute ganz klar«, sagt er schließlich.

»Und es ist arschkalt draußen«, erwidere ich.

»Im Schrank ist ’ne Wärmflasche, wenn du willst.« Billy holt die Ausziehleiter runter, die durch die Deckenluke aufs Dach führt. Er stapft mit seinen schweren Schuhen rauf und zieht den Schlafsack hinter sich her wie ein Kind auf dem Weg ins Bett.

Ich setze Wasser auf. Die seltsame Einrichtung des Wohnwagens schaut mich an. Über Billys Bett baumelt ein altes Modellflugzeug aus Holz. Ein Männchen sitzt mit Fernglas in der Hand darauf wie auf einer Schaukel. Wir haben ihn Pierre getauft, weil er einen Schnurrbart hat.

Das heiße Gummi der Wärmflasche wärmt meine Hände. Ich nehme immer zwei Sprossen auf einmal, bis mir der Nachtwind um die Nase weht. Es ist wie auf einem Boot. Wir krabbeln in unsere Schlafsackkokons und legen uns auf das verzinkte Blech, das Billys Zuhause umhüllt. Das Dach unter meinen Händen ist kalt und glitschig. Es fühlt sich an, als würde ich auf einem Eisblock liegen. Wir schauen in den Himmel, als ob es von uns abhängt, dass er da oben bleibt.

Der Ausblick vom Wohnwagendach ist das Einzige, was nicht kleiner wird, je älter ich werde. Wir hören die Hufe der Kühe im Gras rascheln. Sie kommen schnuppernd angelatscht, um nachzusehen, was los ist. Ich nehme einen Zug vom klammen, muffigen Wohnwagenschweiß aus dem Schlafsack. Billy riecht nach Zigaretten und Diesel. Seine Pulloverärmel baumeln über den fingerlosen Wollhandschuhen. Bartstoppeln wachsen in einem Streifen um seinen Mund herum und ziehen sich die Wangenknochen rauf, wo sie sich mit den Haaren hinter seinen Ohren vereinigen.

»Du hast also eine Geschichte für mich«, sagt Billy.

»Ich hab keine Lust auf eine Geschichte.«

»Hast du wohl«, sagt er. »Ich such mir einen Stern aus.«

Ich tue wenig begeistert und fummle am Reißverschluss meines Schlafsacks rum. Ich stecke mir die Haare hinter die Ohren und warte, dass er sich für einen Stern entscheidet.

»Siehst du den Polarstern?«

»Nee, ist ja nur der hellste Stern am Himmel.«

»In Wirklichkeit ist der Hundsstern der hellste.«

»Du hast gesagt, es wäre der Polarstern.«

»Tja, da hab ich mich wohl geirrt.«

»Das ist jetzt ein ziemlicher Schock.«

»Also, siehst du ihn jetzt? Den hab ich dir doch schon mal gezeigt, oder?«

»Erst ein paar Hundert Mal, Billy, aber du hast mir immer erzählt, er wäre der hellste Stern am Himmel.«

»Der zweithellste.«

»Und ich soll jetzt den zweithellsten Stern finden?«

»Der mit dem W daneben.«

»Ja, ich weiß, der, der am hellsten aussieht … aber es gar nicht ist.«

»Ich will nur sicherstellen, dass wir über denselben Stern reden. Meine Fresse. Also, siehst du die fünf Sterne daneben, die zusammen ein schiefes W ergeben?«

Ich blinzle in den Himmel und versuche, die Punkte zu verbinden. Früher habe ich immer so getan, als würde ich sehen, was Billy sah. Es ist so blöd, wenn man sich richtig anstrengt und trotzdem nichts erkennt. Ich stelle es mir vor wie Blindenschrift lesen, nur mit Lichtern, die in etlichen Milliarden Kilometern Entfernung leuchten. Es sind einfach zu viele – wenn mich der ganze Haufen auf einmal anstarrt, bin ich überfordert.

Je älter ich werde, desto mehr Mühe gebe ich mir. Billy unterteilt die Sterne in Bilder und Geschichten, das macht es einfacher, sich zu orientieren. Das W ist einigermaßen leicht zu erkennen.

»Ja, das kenn ich«, sage ich. »Das, was wie ein Schaukelstuhl aussieht.«

»Genau«, sagt er. Ich schaue auf seinen Zeigefinger, der mühelos Linien zwischen den Sternen zieht. »Kassiopeias Stuhl.«

»An die erinner ich mich.«

»Gut – dann erzähl mir mal von ihr.«

»Du kennst die Geschichte doch, Billy«, sage ich.

»Von dir hab ich sie aber noch nie gehört.«

Ich seufze, um Zeit zu gewinnen. Die Figuren finden sich in meinem Kopf allmählich zusammen.

»Na los«, fordert Billy mich auf.

»In einem früheren Leben war Kassiopeia eine Königin, die Frau von Kepheus«, erkläre ich. »Der ist auch da oben. Kassiopeia war richtig gut drauf. Sie war total nett, aber die Leute fanden sie komisch. Sie trug die Haare offen und lief die ganze Zeit barfuß rum, was die Leute empörte, weil sie doch adelig war. Sie gebar eine Tochter namens Andromeda und brachte ihr bei, sich selbst zu lieben und zu respektieren – das war damals echt radikal. Aber ihr Freigeist wurde für Arroganz gehalten. Es sprach sich rum, dass diese Hippiekönigin barfuß durch die Gegend lief, sich selbst liebte und ihrer Tochter das Gleiche beibrachte. Das konnte Poseidon natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er beschloss, den Menschen in Erinnerung zu rufen, dass sie rein gar nichts zu melden hatten. Also schickte er ein Seeungeheuer, um das Königreich von Kassiopeias Gatten zu verwüsten. Es hieß, Kassiopeia könne das Königreich nur retten, indem sie ihre Tochter opferte, also tat sie das. Sie kettete Andromeda an einen Felsen am Rand einer Klippe und überließ sie dem Tod.«

»Herzloses Miststück«, sagt Billy.

»Tja, sie hatte keine Wahl. Sonst hätte das Ungeheuer alle umgebracht.«

»Die alten Griechen hatten echt ’nen Knall. Darf ich raten, was mit Andromeda passiert ist?«

»Darfst du.«

»Wurde von einem Märchenprinzen gerettet?«

»Na klar«, sage ich.

Billy reicht mir die Flasche mit dem Whiskey. Er brennt im Hals.

»Perseus, der gerade erst die Medusa erledigt hatte, machte das Seeungeheuer auf dem Rückweg platt, und da musste Andromeda ihn natürlich zum Dank heiraten«, sage ich.

»Typisch. Und was war mit Kassiopeia?«

Ich zeige zu ihr auf. »Die sitzt da oben in ihrem Schaukelstuhl. Poseidon hat sie daran festgebunden, damit sie auf dem Kopf steht, wenn sie den Nordpol umrundet. Aus dem Stuhl kommt sie nicht mehr raus und muss sich bis in alle Ewigkeit drehen.«

»O Mann«, sagt Billy. »Das halbe Leben lang kopfstehen. Da sieht man die Welt vielleicht irgendwann mit anderen Augen.«

»Mir würde nur schwindelig werden.«

»Am Anfang vielleicht, aber daran gewöhnt man sich bestimmt.«

»Ich bin ganz froh über die Schwerkraft, danke.«

»So froh, dass ich dich jetzt vom Dach stoßen könnte?«

Er schubst mich so heftig, dass ich mitsamt Schlafsack herumrolle und aufschreie. »Billy, du Arsch! Das ist nicht witzig.«

»Bist du etwa keine Freundin von Geburtstagsüberraschungen?«

»Hör auf jetzt«, sage ich, aber innerlich bin ich glücklich und zufrieden. Ich denke über meine Geschichte nach und setze die Flasche noch einmal an. Schon der erste Schluck Whiskey hat das Himmelskarussell in Gang gesetzt.

Pendlerin

Heute ist mein erster Tag an der Uni, und ich habe den Zug verpasst. Billy war sich ganz sicher, dass ich ihn noch kriege. Er hat zu lange mit dem Melken gebraucht und konnte mich erst danach zum Bahnhof fahren. Also komme ich jetzt zu spät. Wozu, weiß ich allerdings nicht so genau. Ich brauche Freunde, aber bis zum Mittag sind bestimmt schon alle guten weg. Es ist Orientierungswoche, und ich habe Collegefilme gesehen – wenn ich an der Uni meine zukünftige beste Freundin oder meine große Liebe treffe, dann am ersten Tag.

Ich war bisher immer nur im Dezember in Dublin. Billy und ich fahren jedes Jahr hin, um uns die Weihnachtsbeleuchtung anzusehen. In meiner ersten Erinnerung an Dublin warten wir an der O’Connell Bridge auf den Bus nach Hause, ich war vielleicht fünf oder sechs. Als der Bus endlich kam, war schon das Einsteigen eine Erleichterung, weil wir endlich aus dem strömenden Regen und dem Regenschirme umklappenden Wind raus waren. Billy klopfte beim Fahrer an die Scheibe und hielt ihm einen Zehneuroschein hin. Er faltete ihn und versuchte, ihn in den Münzschlitz zu stopfen, als würde er einen Zaubertrick vorführen.

Der Fahrer schaute ihn an. »Was soll ich damit?«

Billy zog den Schein wieder raus und ließ die Leute hinter uns vor, damit sie ihre Fahrkarten bezahlen konnten. »Meister, du hast doch da massenweise Wechselgeld«, sagte er und nickte in Richtung des Münzgeklimpers.

»Seh ich aus wie ’n einarmiger Bandit, oder was?« Der Fahrer starrte uns so lange an, bis Billy zurückwich.

Wir stiegen aus, zurück in den Regen. Von da an nahmen wir immer den Zug.

Billy im Umgang mit Fremden zu sehen, war seltsam. Er war gar nicht so selbstsicher wie sonst. Wenn er mich an die Hand nahm, wusste ich nicht, ob er das für mich oder für sich tat.

Wir fanden uns auf unsere Art in der Stadt zurecht. Die Jahre verschmelzen miteinander und werden eins: Wir schauten immer erst im General Post Office vorbei, um Cúchulainn und den Jungs die Ehre zu erweisen, dann ging es über die Brücke und die Dame Street zu der Bäckerei in der Thomas Street, wo uns eine gruselige Frau mit zerknautschtem Gesicht Würstchen im Blätterteig für fünfzig Cent verkaufte. Einmal bot Billy einem Obdachlosen am Kanal eine Zigarette an. Wir setzten uns mit ihm auf eine Bank und hielten die Art lockeren Plausch, den manche Leute nach der Messe am Kirchentor halten.

Auf der Grafton Street schauten wir einer Marionette im Schaufenster von Brown Thomas dabei zu, wie sie einen Schuh mit Hammer und Nagel bearbeitete. Spielzeugeisenbahnen bummelten auf ihren vorbestimmten Pfaden. Billy fragte mich, was ich werden wolle, wenn ich mal groß sei, und ich zeigte auf einen Straßenkünstler, der angemalt war wie eine Bronzestatue, und erklärte, so was könne ich mir vorstellen, weil es dann mein Beruf sei, Leute glücklich zu machen. Entweder das oder Priester. Er lächelte und sagte: »Na, dann mal viel Erfolg.«

Billy wollte immer, dass ich mich am Trinity College bewerbe. »Die einzige Uni, an der das Studieren lohnt. Sind aber ganz schön schnöselig da.« Er zeigte mir die hohen Steinmauern und spitzen Metallzäune am Seiteneingang auf der Nassau Street, aber wir gingen nie rein. Ich glaube, er wusste nicht, dass der Campus öffentlich zugänglich ist. In meinem Kopf lief es wie bei Die Verurteilten, nur umgekehrt. Man musste Morgan Freeman mit Zigaretten bestechen und einen Tunnel hineingraben.

Aber als wir letztes Jahr mit der Schule eine Berufsmesse besuchten, wurde der Trinity-Stand gar nicht von Morgan Freeman betreut. Stattdessen drückte mir eine Frau mit grauem Gesicht und dunkelblauem Hosenanzug eine Broschüre in die Hand und sagte, man brauche ziemlich viel Köpfchen, um dort angenommen zu werden. Sie hatte unrecht. Es braucht nicht viel Köpfchen. Man muss nicht schlau sein, um am Trinity angenommen zu werden. Nur hartnäckig.

Ich verliere mein Ticket auf der Hinfahrt. Das merke ich allerdings erst vor den Schranken an der Connolly Station. Ich gehe zu dem Kasten mit der Aufschrift INFORMATION und erzähle dem Mann hinter der Glasscheibe, was passiert ist.

»Wo sind Sie denn eingestiegen?«, fragt er.

»Maynooth.«

»Wie viel hat das Ticket gekostet?«

»Weiß ich nicht mehr.«

»Haben Sie mal einen Ausweis für mich?«

»Hab ich nicht dabei.«

»Wie heißen Sie denn, Herzchen?«

»Debbie. Äh, Deborah White.«

»Sind Sie schon achtzehn?«

»Ja.«

»Tja, Deborah, damit haben Sie sich hundert Euro Strafe eingehandelt.«

Er zeigt auf ein kleines Schild in der unteren Ecke seines Fensters, auf dem FESTE GELDSTRAFE BEI BEFÖRDERUNGSERSCHLEICHUNG steht, und schiebt mir einen Zettel durch die Schublade. Ich überfliege ihn: zahlbar innerhalb von einundzwanzig Tagen – strafrechtliche Verfolgung bei Nichtzahlung – Bußgeld im Falle einer Verurteilung: bis zu eintausend Euro.

»Ich hab das Ticket aber doch verloren«, sage ich.

»Kindchen, wenn Sie eins gekauft hätten, wüssten Sie ja noch, wie viel es gekostet hat.«

»Aber ich hab’s wirklich vergessen.«

»Da können Sie mir viel erzählen. Wenn Sie den Beleg beim Kollegen an der Schranke vorzeigen, lässt der Sie durch.«

Ich komme zum ersten Mal allein nach Dublin, als verurteilte Straftäterin.

Unbewusst laufe ich einer Frau hinterher, die auf dem Weg zur Arbeit ist. Sie trägt Bleistiftrock, Strumpfhose und Turnschuhe, hat einen Kaffee to go in der einen und eine Aktentasche in der anderen Hand. Sie läuft, als müsste sie den Rest des Tages einholen. Ich halte ein paar Schritte Abstand. Wir überqueren eine breite Brücke, die unter dem Gewicht der vielen Menschen vibriert, unter unseren Füßen federt, als wollte sie uns aufmuntern.

Erst an der O’Connell Street habe ich genug Mut beisammen, um einen Polizisten nach dem Weg zum Trinity College zu fragen. Er lacht mich aus, und ich werde rot, hasse mich dafür. Ich gehe in die Richtung, in die er mich schickt, und bin fest entschlossen, ab jetzt so auszusehen, als wüsste ich genau, wo ich hinmuss.

Ich warte erst mal eine Weile an dem Metallzaun vorm Haupttor. Ich schaue zu, wie Menschen durch das Mauseloch schlüpfen, das auf den Campus führt, und frage mich, warum man den Eingang wohl so klein gemacht hat. Ich muss an eine verstörende Oprah-Folge denken, die ich mit sechs heimlich mitangehört habe. Als Grandad noch lebte, war Nachmittagsfernsehen sein Kryptonit. Nachdem er mitten am Tag zu Abend gegessen hatte, setzte er sich immer vor den Fernseher und schaute Oprah, Judge Judy oder The Weakest Link mit Anne Robinson. In besagter Oprah-Folge erklärte ein Psychologe mit Wuschelhaar, dass das Durchschreiten einer Tür einen kurzen Gedächtnisaussetzer entstehen lasse. Den Frauen im Publikum verschlug es den Atem, sie nickten, erinnerten sich an die vielen Male, die sie einen Raum verlassen hatten, um etwas Bestimmtes zu tun, nur um sich hinterher ratlos am Kopf zu kratzen.

Ich weigerte mich, das Wohnzimmer zu verlassen, war felsenfest überzeugt, dass die Türen, jetzt, wo ich wusste, was sie im Schilde führten, mein Gedächtnis komplett löschen würden. Ich klammerte mich an den Sessel, vergrub den Kopf in den Kissenfalten, trat um mich und biss Mam in die Hand, als sie versuchte, mich hochzuziehen. Abends gab ich schließlich auf und ließ mich von ihr zum Abendessen in die Küche zerren. Beim Überqueren der Türschwelle fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich vergaß, wer ich war.

Dieses Tor sieht aus, als hätte es die Macht, Ähnliches zu bewirken. Ganz egal, wer ich bin – sobald ich hindurchgehe, werde ich verändert sein. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich habe das Gefühl, ich müsste eine Beerdigung für mich abhalten.

Ich tue so, als würde ich auf jemanden warten, für den Fall, dass mich jemand beobachtet. Ich schaue aufs Handy und auf die Uhr und lasse den Blick über die seltsame Parade schweifen, die an mir vorbeizieht. Androgyner Grunge, schnöselige Sakkos, abgeschnittene Caprihosen, Pullover von Abercrombie and Fitch und T-Shirts von Ralph Lauren, Stoffbeutel voller Buttons, die ominöse politische Kampagnen bewerben.

Ein Mädchen in gelbem Regenmantel steigt vom Fahrrad. So ein Vintage-Rad mit Weidenkorb vorne dran. Keine Ahnung, wie sie es hinkriegt, im Regenmantel cool auszusehen. Schwarze Haare. Pony. Sommersprossen. Nasenpiercing. Sie wirkt fröhlich – aufgeregt, aber nicht auf eine peinliche Art.

Ich trage meine beste Jeans und eins von Billys karierten Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln. Ich sehe aus, als wäre ich auf dem Weg zur Kartoffelernte. Ich schaue zu, wie das Mädchen durch das Loch verschwindet, das auf den Front Square führt. Ich atme einmal tief durch und gehe ihr hinterher.

Ich stehe unter dem Banner, das die Orientierungswoche ankündigt, und mir ist schmerzlich bewusst, wie wenig Orientierung ich habe. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte – vielleicht eine ausgewiesene Ecke zum Freundefinden. Bevor ich sonst riskiere, jemanden anzusprechen, kenne ich normalerweise Namen und Hund der Person und weiß, wie ihr Vater besoffen drauf ist. Überall gibt es Stände und Pavillons, an denen lauter Leute stehen, die sich schon zu kennen scheinen. Englische Dialekte titschen über das Kopfsteinpflaster. Ich streife umher wie ein gehemmtes Gespenst und warte, dass mich jemand bemerkt.

»Hallo!«

»O Gott!«

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.« Eine bärtige Avocado spricht mit mir. »Ich bin von der Vegan Society, und wir spielen ein Assoziationsspiel, um Irrtümer zum Thema Veganismus auszuräumen. Also, was fällt dir als Erstes ein, wenn ich ›vegan‹ sage?«

»Hitler?«

»Wie bitte?«

»Hitler war Veganer. Heißt es jedenfalls immer. Wahrscheinlich Propaganda. Oder einfach Quatsch.«

»Okay, interessant. Du verbindest den Begriff also immer noch mit diesem Scheinfakt, obwohl er erwiesenermaßen falsch ist.«

»Hitler hat irgendwie was, das einem im Kopf bleibt.«

»Würdest du in Betracht ziehen, Veganerin zu werden?«

»Ich weiß nicht. Ich wohne auf einem Milchbauernhof.«

»Milchwirtschaft nimmt Müttern ihre Babys weg«, sagt er. Ich bin mir nicht sicher, ob er Witze macht oder das ernst meint. »Kühe sind über Jahrhunderte hinweg für den menschlichen Verzehr optimiert worden. Frankensteins Monster, jede einzelne.«

»Frankenstein hatte aber nur ein Monster«, sage ich.

Er hält inne, um darüber nachzudenken, und kommt dann offenbar zu einem Ergebnis. »Genau«, sagt er und zeigt auf mich, als hätte er eine Ziellinie überquert und das Gespräch gewonnen.

»Wie heißt du?«, frage ich mutig.

»Ricky.«

»Ricky«, wiederhole ich. »Das versuche ich mir zu merken.«

»Machst du eh nicht.« Ricky sieht aus, als würde er gleich noch was sagen, hält sich dann aber doch zurück. »Go vegan!«, ruft er stattdessen und reckt die Faust in die Luft.

Ich stelle mich in eine Schlange, um beschäftigt auszusehen.

»Ist das die Schlange für die Einschreibung?« Das Mädchen im gelben Regenmantel spricht mit mir.

»Glaub schon«, sage ich.

»Super, das muss ich heute machen. Was studierst du?«, fragt sie.

»Anglistik«, sage ich.

»Ach, super, ich auch. Wohnst du in den Halls?«

»Hä?«

»Im Wohnheim.«

»Nein, ich wohn zu Hause. Eine knappe Stunde von hier.«

»Ach, du bist Pendlerin! Und, wie findest du es?« Sie fragt, als wäre sie ehrlich an meinem Wohlergehen interessiert.

»Na ja, ich hab es ja erst ein Mal gemacht bisher.«

»Ach, stimmt, ja, das war eine dumme Frage.« Sie hält inne. »Ich bin übrigens Santy.«

»Freut mich, Santy. Cooler Name.«

»Danke, danke. Meine Eltern haben’s mit griechischer Mythologie.«

»Ach.« Ich habe noch nie von einer Griechin namens Santy gehört.

»Und wie heißt du?« Santy hat die Art grüne Augen, die ich nur aus Musikvideos kenne.

»Debbie.«

Sie lacht. »Sorry, aber … du hast gerade auf dich gezeigt.«

»Hab ich? Tut mir leid, ich stell mich nicht so oft vor.«

Santy kommt aus Dublin, aber sie spricht nicht wie die Dubliner Kids in der Gaeltacht, die so schnöselig klangen, dass sie fast aus einem anderen Land hätten sein können. Sie klingt ganz normal. Bodenständig. Nicht verhätschelt. Irgendwas stimmt da nicht.

»Santy!« Ein Mädchen mit Baskenmütze kommt auf uns zu. Sie ist klein und stämmig, trägt eine teure Brille und eine braune Ledertasche.

»Hey! Debbie, das ist meine Mitbewohnerin Orla. Sie kommt aus Clare.«

»Freut mich«, sage ich und begrüße sie mit einem festen Händedruck. Alle, die vom Land kommen, sind Konkurrenz. Es kann nur eine Flachbirne vom Arsch der Heide geben. Aber meine Sorge ist unbegründet. Orla klingt wie ein Mitglied des Königshauses.

»Was steht heute an?«, fragt sie Santy.

»Ich muss mich einschreiben.«

»Super, ich auch.« Orla holt einen Ordner aus ihrer Tasche. »Ich glaub, ich hab alles.«

»Sollten wir was mitbringen?«, frage ich.

»Hast du die Formulare nicht?«, fragt Orla zurück.

»Was für Formulare?«

»Man soll sich online registrieren. Du hast eine E-Mail gekriegt.«

»Die hab ich nicht gesehen«, sage ich. »Unser Internet zu Hause ist ziemlich lahm.«

»Oje.« Orla sieht aus, als würde sie sich für mich schämen. »Ohne die Formulare hat es keinen Zweck, sich anzustellen.«

Santy legt den Kopf schräg und schaut mich an, als wäre ich ein streunender Hund, den sie im Garten gefunden hat. »Nicht schlimm, du hast noch die ganze Woche Zeit dafür«, sagt sie. »Man kriegt da sowieso nur Kondome und eine Vergewaltigungspfeife.«

»Bekommen die Jungs auch Vergewaltigungspfeifen?«, fragt Orla.

»Bestimmt«, sagt Santy. »Wär ja total sexistisch, wenn sie nicht allen eine geben würden.«

»Wisst ihr, wo ich hier einen Computer finde?«, frage ich.

»Hast du mal in der Bibliothek geguckt?« Orla hält mich eindeutig für eine Idiotin.

»Ach ja, klar, sorry«, sage ich und entschuldige mich aus der Schlange.

»Da lang«, sagt Orla und zeigt in die entgegengesetzte Richtung.

»Danke.«

Ich tue so, als würde ich zur Bibliothek gehen, und klappe mein Portemonnaie auf, um Kleingeld für den Zug nach Hause zu zählen.

Nicht Maud Gonne

Ich lade meine Tasche in der Küche ab und gehe direkt weiter auf den Hof. Billy steht in einem der Pferche und will gerade ein frisch geborenes Kalb füttern. Zu diesem Zweck hat er einen kleinen Kunststoffkanister dabei, aus dem ein Schlauch hängt, wo sonst der Deckel sitzt. Er sieht mich und schleicht sich mit übertriebenen Schritten an sein Opfer ran. Es büxt aus, sobald er es nur berührt.

»Komm her, du kleiner Scheißer«, sagt er, packt das Kalb am Schwanz und zieht es zu sich heran.

»Scheißerin«, korrigiere ich ihn. »Das ist doch ein Mädchen. Bei den Kühen ist es das Gleiche, die nennst du immer Bastarde, obwohl es Frauen sind.«

»Wenn ich mir irgendwann über die Genderidentität von Kühen Gedanken machen muss, kannst du mich notschlachten.« Er steckt dem Kalb den Plastikschlauch in den Hals, dreht die Flasche auf den Kopf und hält sie hoch. Die Biestmilch gluckert dem Kalb in den Magen. Ich frage mich, ob es davon was schmeckt.

»Du siehst fertig aus«, sagt Billy.

»Bin ich auch.«

»Wie ist es gelaufen?«

Ich schüttle den Kopf und merke, wie ich rot werde.

»So schlimm?«

»Warum hast du mir nie gesagt, dass es bei den alten Griechen eine Santy gibt?«, frage ich.

»Hä?«

»Ich hab ein Mädchen kennengelernt. Sie heißt Santy.«

»Freut mich für sie«, sagt er.

»Ich dachte, du kennst die alle?«

»Die alten Griechen? Eine ganze antike Zivilisation? Du schmeichelst mir.«

»Du redest immer, als wär es so.«

Billy steckt die Zunge in die Wange, als würde er kopfrechnen. »Warte, nur noch mal zum Verständnis. Du bist sauer, dass ich dir was nicht erzählt hab, weil ich dachte, du wüsstest es schon?«

»Nein, ich bin sauer auf dich, weil du immer tust, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen.«

»Wow! Das nenn ich mal einen Vorwurf.«

Ich springe übers Tor und setze mich im Schneidersitz ins Stroh. »Und jetzt klinge ich wie die letzte Flachbirne.«

»Und wie. Das Mädchen … das heißt nicht zufällig Xanthe, oder? X-a-n-t-h-e. Das ist ein griechischer Name.«

»Ach du Scheiße!« Ich lasse mich ins Stroh fallen. Mir schießt das Blut in den Kopf. »Ich hab sie die ganze Zeit genannt wie Santa Claus.«

»Tja, jetzt weißt du Bescheid.«

»Wie kann ich schon so lange leben und immer noch keinen Schimmer von nichts haben?«

»›Ich weiß, dass ich nichts weiß.‹ Sokrates. Über den wissen übrigens auch andere Bescheid, ich hab da kein Alleinrecht drauf.«

Ich drehe einen Strohhalm zwischen den Fingern. Wenn ich das linke Auge öffne und schließe, wird aus zwei verschwommenen Halmen einer. »Es ist so scheiße, dumm zu sein.«

»Du bist nicht dumm. Nur ein bisschen naiv vielleicht.«

»Das ist jetzt aber herablassend.«

»Kein bisschen. Naiv ist ein tolles Wort. Solltest du mal nachschlagen.«

»Lass stecken.«

»Naiv, vom französischen naïf, das wiederum vom lateinischen nativus kommt, was so viel heißt wie ›natürlich‹ oder ›angeboren‹. Es hat die gleiche Wurzel wie das französische naître – ›geboren werden‹.« Er zieht dem Kalb den Schlauch aus dem Maul, jetzt hängt er im Stroh wie eine Nabelschnur. »Wir sind alle naiv. Das geht gar nicht anders.«

»Muss echt anstrengend sein, so tief zu schürfen.«

»Ich hab dir alles beigebracht, was ich weiß«, sagt er und macht das Tor auf.

»Ich glaub, das ist das Problem.«

»Machst du mir einen Happen zu essen?«

»Hab ich eine Wahl?«

Ich strecke die Hand aus, und er hilft mir aus dem Stroh auf.

Neben dem Schuppen liegen drei tote Kälber.

»Fällt dir bei dem da was auf?«, fragt Billy und stupst das mittlere an.

»Es ist tot?«

Er dreht das Kalb mit dem Stiefel um. »Die Beine sind mitten am Bauch.«

»Ist ja fast wie in Tschernobyl«, sage ich. »Was war mit den anderen beiden?«

»Zu groß. Der Bulle zeugt Kälber, die so groß sind, dass die Mädels sie nicht mehr rauskriegen. Ich hab alles gegeben, aber die hier sind nicht durchgekommen.«

»Hm.« Ich nicke und versuche die Kontrolle darüber zu behalten, was diese Information mit mir macht. Als würde das Problem irgendwie kleiner, wenn man mehr darüber weiß.

Ich hole Schinken, Tomaten und Butter aus dem Kühlschrank und schleudere sie auf den Tisch.

»Was ist das erste Wort, das dir einfällt, wenn ich ›vegan‹ sage?«, frage ich.

»Hitler«, sagt Billy.

»Genau.«

»Obwohl er wahrscheinlich gar keiner war.«

»Ja, ich weiß.«

Ich fange an, die Cherrytomaten zu halbieren. »Ich hab mich nicht rechtzeitig für den Studienkredit beworben.«

»Warum das denn nicht?«

»Weil ich allergisch gegen die Realität bin.«

»Damit muss jetzt aber langsam Schluss sein. Kann ich die Gebühren für dieses Jahr noch irgendwie übernehmen?«

»Das kannst du dir doch gar nicht leisten.«

Er füllt den Wasserkocher durch die Schütte auf. »Und du kannst dir nicht leisten, nicht zur Uni zu gehen. Du willst hier raus.«

»Ich bin noch nicht bereit.«

»Was soll das heißen, du bist nicht bereit? Dir müsste es doch in den Fingern jucken, hier wegzukommen.«

»Tja, ist aber nicht so«, sage ich. »Wir haben ja nicht mal richtiges Internet.«

»Ich krieg vom Wohnwagendach aus keinen guten Empfang«, sagt Billy.

»Ich hab kein Geld für einen Laptop.«

»Darum geht’s? Du kannst nicht zur Uni, weil unser Breitband zu lahmarschig ist?«

»Nicht nur deswegen, wegen allem Möglichen. Wer soll sich zum Beispiel um Mam kümmern?«

»Das ist nicht deine Aufgabe.«

»Das sagst du so, aber irgendjemand muss doch ein Auge auf sie haben. Und dieser Jemand bist nicht du.«

»Ehrlich gesagt bist du auch nicht gerade gut darin.« Er setzt sich an den Tisch. »Seit wann heißt du Mutter Teresa? Du suchst doch nur Vorwände, um hierzubleiben, dabei solltest du mit den Hufen scharren.«

»Nur das eine Jahr. Dieses setze ich noch aus. Ich kann das Studium zurückstellen und nächstes Jahr anfangen. Dann aber so richtig.«

»Der richtige Zeitpunkt, um mit etwas anzufangen, kommt nie.«

»Doch. Ich will in der Stadt wohnen.«

»Warte.« Er hebt die Hand und schluckt den Sandwichbissen herunter, den er im Mund hat. »Noch mal zum Mitschreiben: Du kommst traumatisiert nach Hause, nachdem du ein paar Stunden da warst, und jetzt willst du auf einmal hinziehen?«

»Ich beantrage dann einen Platz im Wohnheim.«

»In einer Stadt, wegen der du dir gerade noch fast in die Hose gemacht hast?«

»Ich spare dieses Jahr. Du musst mir auch nicht so viel zahlen wie James.«

»Keine Sorge. Ich zahle nicht annähernd genug für die ganze Arbeit, die er auf dem Hof macht und von den Stunden, die er damit verbringt, deine Mutter zu hüten, will ich gar nicht erst anfangen. Das macht er für lau.«

»Gib mir einfach genug, dass ich nächstes Jahr ausziehen kann.«

»Damit du es für eine Schuhschachtel in der Stadt aus dem Fenster wirfst?«

»Das macht man nun mal so«, sage ich.

Er leckt seinen Zeigefinger an und pickt Brotkrümel auf wie ein Kind. »Mal sehen, vielleicht kann ich dir einen Wohnwagen besorgen.«

»Ist das ein Ja?«, frage ich.

»Nix da.«

»Egal, ich geh jedenfalls nicht wieder hin. Das kann ich nicht.«

»Du kannst und du wirst.«

»Du kannst mich nicht zwingen.«

»Mein Gott, Debs, hör dir doch mal zu. Merkst du eigentlich, wie verzogen du klingst? Ein Tag in Dublin, und du bist ein anderer Mensch.«

Ich lege den Kopf in den Nacken und versuche, die Tränen zurückzuzwingen. Ich war schon immer nah am Wasser gebaut. Ich hasse mich dafür, was es nur schlimmer macht. Ich schniefe ein paarmal.

Billy seufzt, meine Tränen sind ihm peinlich. »Jetzt komm, das muss doch nicht sein. Kopf hoch, Schneeflöckchen.«

»Nenn mich nicht so.«

»Nenn mich nicht so«, äfft er mich nach.

»Du bist so ein Kindskopf«, sage ich, aber es wirkt. Ich höre auf zu weinen und wische mir die Tränen mit den Ärmeln ab.

»Debs.« Er wartet, bis ich ihn anschaue. »Die Stadt macht dir Angst. Lass dich davon nicht abschrecken. Lern sie kennen.«

»Weißt du eigentlich, dass ich die Stadt nur von den Ausflügen mit dir zu den Collins Barracks und zum General Post Office kenne?«, frage ich.

»Mein Versuch, dich zu radikalisieren. Aber du bist einfach keine Maud Gonne.«

»Sie selbst ja auch nicht. Eine in England geborene irische Revolutionsmuse. Wie hat sie das bitte hingekriegt?« Ich tunke einen Keks in meinen Tee.

»Ihr Vater kam aus Mayo. Kann sie doch nichts dafür, dass sie in England geboren wurde. Sie jedenfalls hat ihre Naivität abgelegt.«

Ich fange den vollgesogenen Keks mit dem Mund auf, als er gerade in den Tee fallen will. »Sie hat zugelassen, dass man sie zum Mythos verklärt hat.«

»Und das ist was Schlechtes?«

»Ich glaub schon.«

Billy steht auf und schlittert auf Socken zur Hintertür. »Du gehst dieses Jahr zur Uni«, sagt er. »Und wenn ich dafür blechen muss, dann ist es eben so.« Er bückt sich zum Schuheanziehen. »Lern du Autofahren, ich kümmer mich ums Internet«, sagt er und knallt die Tür hinter sich zu.

Saoirse

Unser Haus steht in einer Kurve am Fuß eines Bergs. Wir nennen ihn Clock’s Hill, weil so der Mann heißt, der in dem Bungalow ganz oben wohnt. Ich weiß nicht, wie er in Wirklichkeit heißt oder warum ihn alle Clock nennen. Clock fährt jeden Tag mit dem Rad an unserem Tor vorbei, um sich die Zeitung zu kaufen. Er grüßt nie. Er riecht nach altem Torf und ist der einzige Mann, den ich kenne, der Pfeife raucht. Manchmal rekrutiert James ihn, um beim Viehtrieb eine Lücke zu schließen, und dann fühle ich mich verpflichtet, mit ihm zu reden, weil er alt und einsam ist. Er sagt nicht viel, aber manchmal versucht er, mein Alter zu erraten. Er hält mich immer für deutlich jünger und guckt mich skeptisch an, wenn ich mir die Mühe mache, ihn zu korrigieren.

Unsere Kühe stehen verstreut auf den Feldern zu beiden Seiten der Straße, die von Clocks Haus runter ins Dorf führt. Der Kirchturm lugt durch die Baumspitzen. Die Hecken sind gestutzt, damit Platz ist für die Aussicht, die von den Ästen zweier Eichen auf beiden Seiten der Straße gerahmt wird. Gegenüber von unserem Haus, in der Innenflanke des Bergs, ist ein Schild mit der Aufschrift Fáilte angebracht, das die Menschen willkommen heißt, die auf dem Weg anderswohin durch unser Dorf kommen.

An der Mauer unserer Hofeinfahrt hing immer ein Holzschild. Billy hatte es mir zum siebten Geburtstag gemacht. Ich wollte unbedingt ein Pferd, aber Mam erlaubte es nicht. Stattdessen durfte ich das Haus taufen, was definitiv nichts war, was man verschenken konnte. Billy machte ein Geschenk draus, weil es nichts kostete. Ich gab ihm den Namen, den ich auch meinem Pferd gegeben hätte: Saoirse, nach der berauschenden Freiheit, die zu spüren ich mir vorstellte, wenn ich vom Berg auf unseren Hof heruntergaloppiert käme.

Der Name hielt ein paar Monate, bis irgendwann mitten in der Nacht ein Auto in unseren Garten krachte. Es war blau und hatte einen Heckspoiler, der sich beim Aufprall löste und über unsere Hecke flog. Es war den Berg zu schnell heruntergefahren, auf Glatteis ins Schlingern geraten und voll gegen das Schild mit der Aufschrift Saoirse gedonnert. Ein neunzehnjähriger Junge kam dabei ums Leben. Manchmal legt die Familie zu seinem Todestag einen Strauß weißer Lilien an die Mauer. Wir schauen zu, wie sie in der schmutzigen Plastikhülle verwelken.

In der Nacht, in der das Auto in unsere Mauer fuhr, hatte ich einen Traum. Im Traum war ich ein Junge, und ich saß im Auto. Ich weiß nicht mehr, worum es in dem Traum ging, aber an das Ende erinnere ich mich. Die scharfe Kurve am Fuß des Bergs sah ich erst in letzter Sekunde. Ich riss das Lenkrad herum, und da spürte ich das Eis unter den Reifen, und irgendwie war das alles ganz anmutig. Dann kam mir ein schöner Gedanke. Dass die Welt mich herumwirbelte, wie wenn man von einer Frau unerwartet auf der Tanzfläche herumgewirbelt wird und sich dabei ein bisschen albern vorkommt, entmannt irgendwie, aber es ist nicht schlimm, weil man ja nur ein bisschen Quatsch macht und denkt, dass sie einen vielleicht trotzdem gut findet …

Mam sagt, ich sei schreiend aufgewacht, bevor wir das Auto in die Mauer krachen hörten. Ich ließ mich gar nicht mehr beruhigen. Ich war schuld, dass der Junge starb. Er war in meinen Kopf gerast, und wegen mir kam er nicht in den Himmel. Es hatte ihn in zu viele Teile zerlegt, wie das Auto, von dem wir andauernd neue Wrackteile im Garten fanden. Immer wieder brach ich in Tränen aus. Ich heulte mir im Bett die Augen aus. Mam tat ihr Bestes, um mich zu trösten.

Von da an ging ich nachts oft raus zum Wohnwagen. Als ich einmal sagte, ich könne nicht schlafen, weil der Junge noch immer in mir stecke, riss Billy der Geduldsfaden. Er schlug mir so fest ins Gesicht, dass ich bis heute unsicher bin, ob es wirklich passiert ist. »Dieser Unfall hatte nichts mit dir zu tun«, schrie er. Und dann vergrub er das Gesicht in den Händen und sagte, er sei nicht böse auf mich. Er sei böse auf meine Mutter.

Wir haben nie ein neues Saoirse-Schild aufgehängt. Billy vergaß es, und ich traute mich nicht, ihn zu erinnern. Es kommt immer noch vor, dass ich nachts im Bett sitze und vor Angst nicht schlafen kann, dass ich auf das nächste Auto, auf den nächsten Geist warte, der auf seinem Weg ins Vergessen eine Bruchlandung in unserem Garten hinlegt.

Schlampenstiche

Ich schaue aus dem Küchenfenster und sehe, wie meine Mutter splitterfasernackt in einem Brennnesselbusch tanzt. Die Stängel reichen ihr bis zur Brust wie ein Publikum aus Palmwedeln, das ihr bewundernd zuwinkt. Ihre Wirbelsäule windet sich, und die Schultern küssen abwechselnd die Haut unter ihrem Kinn. Mit den Händen beschreibt sie Halbkreise, als würde sie durch Wasser waten. Es wirkt, als würde sie überhaupt nicht gestochen, bis sie herauskommt und man sieht, dass sie feuerrot ist.

Als die Jungs zum Abendessen reinkommen, hat sie sich schon blutig gekratzt. Billy tut so, als würde er nichts merken. Aber im Suff hat er den Ausschlag mal als Schlampenstiche bezeichnet.

Als Mam James seinen Teller reicht, streichelt er die rotweißen Quaddeln auf ihrer Haut.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragt er.

»Hab ein paar Brennnesselstiche abgekriegt.«

»Ein paar? Du bist ja völlig übersät. Bist du reingefallen?«

»Nein, gesprungen.«

»Was?«

Mam versichert ihm, dass sie sich absichtlich hat stechen lassen.

»Wieso das denn?«

»Da ist Serotonin drin. Deswegen stechen sie auch – die haben natürliche Nadeln, die einem Glücksbotenstoffe spritzen. Das ist gesund.«

»Ach ja?«

»Ja.«

James denkt kurz nach und nickt schließlich. »Na gut.«

»Jim-Bob springt bestimmt gerne mit dir ins Nesselbett, Maeve«, sagt Billy, ohne vom Kartoffelpellen aufzuschauen.

»So weit würde ich jetzt nicht gleich gehen.«

»Ich kann mir bessere Arten vorstellen, Drogen zu konsumieren«, sagt Billy.

»Süßer Schmerz, Billy, schon mal gehört?«, fragt James.

»Bei ihm gibt’s nur süßen Suff«, erwidert Mam.

So lustig ist es gar nicht, aber James’ Lachen bringt den ganzen Tisch zum Wackeln.

»Es gibt ja bekanntlich so viele Arten von Alkoholikern wie Sterne am Himmel, und ich bin froh, zu den geselligen zu gehören. Andere haben so viel Serotonin, dass sie sich zu Hause im Bett einen Wein nach dem andern reinstellen können –«

»Mensch, Billy, bleib locker. War doch nur ein Witz«, sagt James.

»Tja, manchmal liegen Spaß und Ernst nah beieinander.«

So sieht das Abendessen bei uns aus. Mam und James gegen Billy und mich. Immer die gleichen Teams, die schon feststehen, bevor wir uns an den Tisch setzen.

Es wollte mir noch nie in den Kopf, dass meine Mutter mich geboren haben soll. Viel wahrscheinlicher kommt es mir vor, dass ich wie eine Höllenvenus aus der Jauchegrube gestiegen oder hinten aus einer Kuh geplumpst bin. Es wäre irgendwie logisch, wenn James mein Vater wäre, weil er Mam liebt, aber er war erst sechs, als ich geboren wurde. James selbst wurde noch im Kreißsaal in seinen John-Deere-Overall genäht und in eine Familie ohne Landbesitz geboren. Er war sechzehn und zapfte Pints im Pub seiner Mutter, als Grandad starb. Billy fragte ihn, ob er bei uns arbeiten wolle, und das erwies sich als Geschenk des Himmels – er molk die Kühe, flickte Zäune und holte zu jeder Tagesund Nachtzeit Kälber. Und Mam, die nach dem Tod ihres Vaters am Boden zerstört war, lebte jedes Mal auf, wenn er in der Nähe war.