SOKO bizarr - Axel Hildebrand - E-Book

SOKO bizarr E-Book

Axel Hildebrand

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Beschreibung

SOKO bizarr – zu krank fürs Fernsehen. Geschichten aus dem Leben von Männern, Frauen und Monstern, denen man ungern im Dunkeln begegnen möchte. Sie lauern im Schwimmbad, hinter der nächsten Ecke oder in Deinem Wandschrank. Sie töten mit Scheren, Legosteinen, Armbrüsten oder gewaltig großen Penissen. Sie töten aus Langeweile, aus Freude oder weil es einfach gerade viel zu still ist. Sie töten oft. Und sie werden nie erwischt. Nur wo SOKO bizarr draufsteht, ist auch SOKO bizarr drin.

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1. Auflage März 2017

Copyright © 2017 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

[email protected]; www.roterdrache.org

Buchgestaltung: Holger Kliemannel

Titelbild: Foto © by Axel Hildebrand

Lektorat: Isa Theobald

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 978-3-944180-94-6

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Vorwort von Isa Theobald

Trigger-Warnung

Spanner

Feuer

Pinguine

Die Patientin

Brüder

Still

Langsam

Spiel

Grüner Daumen

Atemlos

Alt

Monster

Der Autor

Weitere Bücher

LIEBER LESER,

verzeihen Sie mir die Vertraulichkeit, aber hier, am Beginn der absonderlichen Reise in die menschlichen Abgründe, die dieses Buch für Sie sein wird, wollte ich Sie mit Freundlichkeit empfangen. Mit Mitgefühl. Davon wird es im restlichen Teil des Buches nicht mehr viel für Sie geben.

Soko Bizarr entführt Sie in dreizehn Geschichten in Welten voller Blut, Tod und Feuer. Menschen, die sich gegenseitig auf die absonderlichsten Arten und aus den merkwürdigsten Gründen heraus um die Ecke bringen, Tatwaffen, bei denen jeder Polizist Kopfschmerzen bekäme, dazwischen Verstümmelungen, Kannibalismus, Brandstiftung und Gartenarbeit. Bizarr, in der Tat.

Man sollte meinen, ein Autor, in dessen Kopf es derart abgedreht zugeht, sei ein Sonderling, einer, der sich in dunklen Ecken herum treibt und der, wie der Meister des Horrors Stephen King einmal schrieb, das Herz eines Jungen hat. In einem Glas, auf seinem Schreibtisch. Weit gefehlt, lieber Leser. Der Autor dieses Buches wickelt Sie, so Sie ihm denn begegnen, charmant um den Finger, verzaubert Sie mit Freundlichkeit und verzichtet dann gnädiger weise darauf, Ihnen das Leben zu rauben. Den Schlaf, vielleicht. Wenn Sie sensibel sein sollten. Dann einfach nicht abends lesen.

Normalerweise würde ich Ihnen an dieser Stelle viel Freude wünschen, aber machen wir uns nichts vor: wenn Sie bei dieser Art von Geschichten Freude empfinden, sollten Sie vielleicht einen Therapeuten aufsuchen. Ich gebe Ihnen stattdessen lieber eine Warnung mit auf den Weg: verlieren Sie sich nicht in den Geschichten. Und achten Sie auf die Worte. Manche davon haben scharfe Kanten.

Isa Theobald

(in der inständigen Hoffnung, besagtem Autor ausreichend geschmeichelt zu haben, um im nächsten Buch weder als Psychopath noch als Opfer verwurstet zu werden)

TRIGGER—WARNUNG

Ja, es gibt eine Trigger-Warnung.

Weil man das jetzt so macht.

Machen muss.

Und für alle die nicht wissen, was das bedeuten soll: In diesem Buch werden Situationen und Sachverhalte fiktional dargestellt, die landläufig unter „kranke Scheiße“ laufen.

Weil es Menschen gibt, die sich durch irritierende, anstößige und möglicherweise traumatisierende Inhalte abgestoßen, verunsichert und in ihren Gefühlen verletzt fühlen.

Weil diese Menschen sich vermutlich denken: „Oha, da ist `bizarr` im Titel. Und ein Umriss von einer Leiche mit Riesendödel auf dem Cover. Und Blutflecken. Und Lötkolben. Und Küchengeräte. Und Hundespielzeug als Tatwaffe. Das kann ja nicht so schlimm sein. Das bringe ich meiner herzkranken Tante mit oder lege es im Kindergarten aus oder lese es in der Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete vor.“

Sowas kommt häufiger vor, als man denkt.

Deswegen, liebe Menschen, die ihr wisst, was eine Trigger-Warnung ist und eine solche auch für nötig haltet:

Geht weg!

An alle anderen:

Herzlich willkommen bei ein paar Geschichten, die sich im Kopf eines Mainstream-Autoren gebildet haben wie Rost am Auto oder dieses grünliche Zeug auf der Wurst.

So schlimm wird es auch gar nicht.

Aber wie gesagt: Trigger-Trigger-Trigger!

Soll mir hinterher keiner kommen und sagen: „Hey, deinetwegen habe ich mich jetzt umgebracht.„ Oder „Deinetwegen habe ich jetzt irgendwen anders umgebracht, weil es sich bei dir so lustig angehört hat.“

Nee, nee, neeeee!

Ich lehne diese Verantwortung ab.

Axel Hildebrand

SPANNER

Raimund ist zwölf Jahre alt und leidet schon lange unter entzündeten Augen. Weil da die Haare immer reinhängen. Man kann bürsten, soviel man will. Raimund ist chronisch auf Augentropfen.

Die Verdauung von Raimund ist für sein Alter eher träge. Etwas stückig. Und riecht auch nicht. Also kaum. Im Gegensatz zu anderen.

Es wäre gut, wenn Raimund sich mehr bewegen würde. Dann hätte er kein Übergewicht und der Stuhlgang wäre auch weicher.

Raimund bewegt sich aber nicht gern. Das Sofa ist sein Lieblingsplatz.

Aber irgendwas muss er doch machen, wenn Benjamin den ganzen Tag nicht da ist.

Das Vieh kann doch nicht 24 Stunden lang pennen.

Oder doch?

Seit Benjamin seine neue Wohnung bezogen hat, gibt es eigentlich genug andere Projekte. Weil das Geld für eine Grundrenovierung fehlt, wohnt er seit zwei Monaten auf einer halben Baustelle. Das Wohnzimmer ist fertig. Die Küche auch. Aber Flur, Schlafzimmer und die kleine Kammer müssen noch gemacht werden.

Für Benjamin kein Problem. Er hat keine Freundin zur Zeit und die Umzugskisten und Malerfolien stören ihn nicht.

Jedes Wochenende kommt er mit der Renovierung seines neuen Heims ein kleines Stück weiter.

Trotzdem ist dieser brennende Wunsch entfacht, zu wissen, was Raimund tagsüber so treibt.

Der Tierarzt meinte mal, dass Katzen über ein Eigenleben verfügen. Dass sie – wie Menschen auch – Macken entwickeln. Zumindest in Wohnungen. Da werden alle Viecher neurotisch, die eigentlich ein paar Quadratkilometer als Revier brauchen.

Benjamin nimmt diese Aussage als Versprechen. Sein Kater Raimund hat also Macken. Und die sind bestimmt lustig. Vielleicht kann man einen YouTube-Channel machen? Der würde dann „Raimund allein zu Haus“ heißen.

Dieser Gedanke ist Benjamin die knapp 200 Euro für die Wlan-fähige Kamera wert. Es ist eine spezielle Haustier-Cam. Mit Bewegungssensor und HD-Auflösung. Alle Aktivitäten werden sofort auf einen Server geladen und Benjamin kann sich das dann auf seinem Handy ansehen. Oder später – nach Feierabend – auf dem Computer.

Vorfreude! Und wie!

Leider sind schon die ersten Aufnahmen ernüchternd. Das Weitwinkel erfasst den Moment, wo Benjamin die Wohnung verlässt (Bewegung) und den Moment, wo er wieder heimkommt (noch eine Bewegung).

Ansonsten nix.

Die Geburt des langweiligsten YouTube-Channels ever.

Benjamin findet, dass die 200 Euro sich irgendwie auszahlen müssen und schaltet den Sensor ab. Jetzt nimmt die Kamera alle 10 Sekunden ein Bild auf. Egal, ob sich etwas bewegt oder nicht. Damit wird Raimund sich keinesfalls mehr unbeobachtet durchs Zimmer schleichen können.

Ha!

Und es funktioniert. Jeden Tag gibt es einen Zeitrafferfilm von Benjamins Wohnzimmer.

Und auf etwa fünf Bildern ist Raimund zu sehen. Wie er vom Sofa klettert. Verschwindet. Und gegen Abend zurück aufs Sofa klettert.

Yeah. Big Deal. Die 200 Euro haben sich total gelohnt.

Benjamin vermutet, dass Raimund den Tag irgendwo im unrenovierten Teil der Wohnung verbringt und nimmt es als Motivation, endlich weiterzumachen.

Diese Wände streichen sich nicht von allein.

Nachdem die Tapete im Flur – sie setzt sich bis in die kleine Kammer am Ende fort – jetzt zum dritten Mal runtergefallen ist, muss Benjamin einsehen, dass das nix wird mit dem Überstreichen. Da befinden sich so viele Schichten Tapete auf der Wand, dass schon die leichte Feuchtigkeit seiner Wandfarbe reicht, um den uralten Kleister der oberen Schicht zu lösen. Platsch.

Also Spachtel und Dampfgerät und los.

Benjamin schuftet das komplette Wochenende. Natürlich geht die Tapete ohne Farbe drauf nur in winzigen Streifen ab. Und als es endlich Sonntagabend ist, hat er gerade mal den Flur und einen Teil der Kammer geschafft. An der Rückwand der Abstellkammer geht es ganz besonders schwer. Und Benjamin gibt auf. Für dieses Mal. Er erklärt sich die erstaunliche Haftkraft durch den anderen Untergrund.

Wenn man dran klopft, klingt es nicht wie Ziegelstein, sondern wie Holz.

Gibt es oft, in Altbauten. Das stammt aus einer Zeit, wo man noch Dienstboten hatte und die Wohnungen sich über komplette Etagen erstreckten. Damals müssen die Mieten dramatisch anders gewesen sein.

Benjamin vermutet eine alte, verrammelte Tür am Ende der Kammer. Denn früher war da vermutlich keine Kammer, sondern der Flur ging einfach weiter. Zum Südflügel. Wo die Chaiselongue der Erbtante stand. Oder so.

Jetzt ist das die Nachbarwohnung.

Schön. Die Tapete muss trotzdem runter.

Aber nächstes Wochenende erst.

Die nächsten Tage vergehen mit ereignislosen Zeitrafferfilmen einer kamerascheuen Katze.

Kollegen, denen Benjamin davon erzählt hat, meinen, man sollte seine Haustiere nicht stalken. Die hätten auch ein Recht auf Privatsphäre.

Benjamin findet das lächerlich. Er will Raimund bei seinen tollen, bemackten Aktivitäten sehen. Endlich! Aber dazu bräuchte er eine zweite Kamera. Für den anderen Teil der Wohnung. Oder sogar eine dritte. Fürs Schlafzimmer.

Denn wenn er die Kamera aus dem Wohnzimmer jetzt einfach umdreht, dann wird Raimund das merken und sein Verhalten ändern. Weil Katzen so sind. Aber Benjamin fehlt ohnehin das Geld für eine flächendeckende Überwachung und so macht er lieber mit der Renovierung weiter.

Damit es schneller geht, pfuscht er. Denn die Rückwand der Kammer wird sowieso nie einer zu sehen kriegen. Also bleibt die Tapete dran und wird einfach fleckig überstrichen. Und – das bestätigt die These mit dem anderen Untergrund – hier hält auch die Tapete.

Anschließend kommt das Schlafzimmer und Benjamin fühlt sich wie einer der Helden aus der Hornbachwerbung.

Bis zu dem Tag, als er Frau Soll aus dem ersten Stock trifft. Die Rentnerin meckert ihm die Ohren voll wegen der gestiegenen Heizkosten. Sie soll jetzt 85 Euro Abschlag jeden Monat zahlen. Von ihrer lächerlichen Witwenrente. Wo sie doch nur 56 Quadratmeter hat.

56?!

Benjamin hat die Wohnung mit 54 Quadratmetern vermietet bekommen. Wo sind seine restlichen 2?

Mit einem Maßband ist die Arbeit schnell erledigt. Wohnzimmer plus Küche plus Schlafzimmer plus Flur. Ergebnis 54.

Vielleicht ist sein Grundriss anders als der von Frau Soll? Es gibt ja in Altbauten auch je nach Stockwerk unterschiedlich dicke Wände und so.

„Ja, unten dick und oben dünn.“, meint ein Kollege. Also müsste Frau Soll eher weniger Quadratmeter haben als Benjamin. Total unlogisch.

Aber eigentlich auch egal. Benjamin zahlt ja nur die Fläche, die er auch tatsächlich hat. Also lässt er es dabei bewenden.

Bis er eines Abends – eher aus genervter Langeweile und um eine gepfefferte Amazon-Rezension zu schreiben – die Filme der letzten Wochen ansieht.

Der Plot ist jedes Mal recht ähnlich: Katze schläft. Katze steht auf und geht weg, Katze kommt sechs Stunden später wieder.

Wie die STAR WARS-Filme. Nur eben mit Katze anstatt Todesstern. Irgendwie vorhersehbar.

Nur einer ist anders. Der mit dem Schatten. In einem Film gibt es – laut Zeitstempel gegen 13 Uhr – einen Schatten an der Wand. Das muss Raimund sein!

Aber was tut er da? Wo genau ist er da?

Man sieht im Bild nur den Schatten. Keine Katze. Keine Lichtquelle. Und es sind auch nur drei Einzelbilder. Scheiß Zeitraffer!

Benjamin verschiebt die Ein-Stern-Bewertung der Haustier-Cam und platzt fast vor Neugier. Er wird die Kamera umdrehen. Denn anscheinend geht die tägliche Action im Flur ab.

Benjamin versucht, die Situation zu rekonstruieren. Er schaltet das Licht im Flur an. Schon mal gut. Das muss es sein. Anders kriegt man keinen solchen Schatten an die Wohnzimmerwand.

Aber wo war Raimund? Es muss weiter oben gewesen sein. Der Schatten ist ziemlich lang und hoch.

Die Leiter?

Kann das sein, dass der phlegmatische Kater auf eine Malerleiter klettert und vorher das Licht anmacht?

Benjamin sieht endlich wieder eine Zukunft für seinen YouTube-Channel.

Am nächsten Tag geht er in der Mittagspause extra vor die Tür, um per Handy den Film abzurufen.

Flur. Dunkel. Keine Katze.

Na toll.

Aber Benjamin weiß, dass Naturforscher teilweise wochenlang vor dem Bau von irgendwelchen Nagern lauern – nur um ein gutes Bild zu machen.

Also fein. Abwarten. Cloudspeicher ist geduldig.

Nach fast zwei Wochen verliert Benjamin langsam die Lust. Denn außer ein paar kurzen Momenten, wo Raimund ins Schlafzimmer geht und in die Küche, passiert gar nichts.

Na, warte … Haustier-Cam-Hersteller! Das gibt Stunk auf Amazon.

„Alter, ruf mich nie wieder an!“

Benjamin ist verwirrt. Wieso reagiert Nicci so? Er hatte sie in einem Club kennengelernt und sie war genau sein Typ: Jede Menge Tattoos und Piercings und so Ghetto-Style, wie man nur sein kann, wenn man aus Esslingen stammt.

Und jetzt – nach nur einer Nacht – völlige Kontaktsperre.

Soooo blöd war der Sex jetzt auch wieder nicht. Also für Benjamin. Nicci hat da offenbar einen anderen Standpunkt. Aber was erwartet sie denn? Nach sechs Bier und zwei Nasen Ketamin?

Benjamin hakt die Sache ab. Bis sein Kumpel Toni bei seiner Freundin rausfliegt und für ein paar Tage bei ihm pennen muss.

Da war Toni am nächsten Morgen verschwunden. Nur ein Zettel auf dem Tisch: „Arschloch!“

Benjamin versucht ein paar Tage, die Geschichte zu klären. Aber Toni ist sowas von nicht mehr erreichbar für ihn. Geht ihm sogar auf der Straße aus dem Weg.

Was soll das?

Zuerst denkt Benjamin, dass Raimund Toni in die Schuhe gepisst hätte. Oder aufs Kopfkissen gekackt. Katzen äußern so häufig den Wunsch, dass der Besuch gehen soll.

Aber das kann’s ja wohl nicht sein. Nach fast 12 Jahren Freundschaft.

Toni verweigert aber jedes Gespräch. Und Benjamin beschließt, ihm aufzulauern. Vor der Firma.

Geduckt, hinterm Auto versteckt, kommt Benjamin sich ziemlich bescheuert vor. Ist das das Ende von Leuten, die erst ihre Katzen per Kamera bespannen? Dass sie irgendwann auf dem Parkplatz hocken und ihren besten Freunden auflauern?

„Hau ab!“

Toni reagiert gar nicht auf das Auflauern. Nur auf Benjamin.

Aber der besteht drauf. Schreit Toni an, dass er mal endlich sagen soll, was eigentlich los ist!

Toni sieht jetzt Benjamin an. Ziemlich lange. Dann schüttelt er nur den Kopf. Meint, er will da nie wieder drüber sprechen oder nachdenken. Seit damals kann er keine Nacht mehr pennen. Und das ist Benjamins Schuld.

„Was hab ich denn gemacht?!“

„Komm mir jetzt nicht so. Das war das Ekelhafteste, was ich jemals erlebt habe!“

Benjamin ist jetzt klar, dass er irgendwas gemacht hat. Aber er kann sich nicht dran erinnern. Wirklich nicht!

Ob er schlafwandelt? Als Kind soll ihm das öfter passiert sein. Sagt Benjamins Mutter. Da sei er wie ein Gespenst durchs Haus geschlichen und hätte die Geschwister erschreckt. Indem er sich einfach zu ihnen ins Bett gelegt hat.

Könnte eine Erklärung sein. Falls – nur mal angenommen – falls Benjamin sich wirklich in der Nacht schlafwandelnd zu Tom aufs Sofa gelegt hätte … unter die Decke gekuschelt … dann muss das ziemlich schwul rübergekommen sein.

Und wenn sowas wirklich passiert ist – dann hat er eine Aufnahme davon.

Denkt Benjamin.

Aber die Nachtsicht der Haustier-Cam ist ziemlich übel. Nur grünlich-schwarzes Geflimmer.

Immer wieder spult er zu dem Punkt, wo Toni fluchtartig die Wohnung verlässt. 01:23 Uhr sagt der Zeitstempel.

Und vorher niemand, der aus dem Schlafzimmer kommt.

Na, schön. Also kein Schlafwandeln.

Aber Licht.

Licht?!

Benjamin hat immer nur bis der Stelle gespult, wo Toni geht. Aber zehn Minuten später ist Licht im Flur. Nicht im ganzen Flur. Sondern in der Kammer. Ein schmaler Streifen. Und nur auf einem einzelnen Bild.

Benjamin sucht den Film, auf dem Nicci abhaut. 3:46 Uhr. Nicci rennt – erst halb angezogen – aus der Tür.

Und dann – 12 Minuten später wieder das Licht.

Für ein Bild.

Was auch immer Raimund in der Kammer getrieben hat – er kann kein Licht eingeschaltet haben. Weil da gar keine Lampe drin ist. Die liegt noch im Karton von IKEA, den Benjamin nächstes Wochenende anpacken will.

Benjamin geht durch seinen Flur. Er betritt die Kammer. Kein Licht. Wie auch?

Benjamin horcht an der Rückwand aus Holz. Stille. Was sollte man da auch hören?

Dann klopft er. Ziemlich doll. Die ehemalige Tür wackelt.

Moment mal!

Was, wenn das gar keine Verkleidung aus Brettern ist? Was wäre, wenn er neben einem Irren wohnt, der auf seiner Seite noch eine Klinke an der Tür hat? Und Licht dahinter?

Na toll. Jetzt kommt die Paranoia.

Benjamin würde es aber doch gerne genau wissen. Er verlässt die Kammer und da hört er das Klopfen. Wie eine Antwort auf sein Gehämmere von eben.

„Na warte! Du Wichser!“

Benjamin stürzt aus der Wohnung und klingelt beim Nachbarn.

Erst jetzt fällt ihm auf, dass er den noch nie gesehen hat. Schön, Benjamin ist auch den ganzen Tag nicht da. Aber wer schon „Hellmann“ heißt …

„Ja, bitte?“

Da steht eine Frau vor ihm. Ende 20. Keine Tattoos, keine Piercings, aber trotzdem wunderschön.

Benjamin entschuldigt sich erst mal – ist ja schon spät. Und dann murmelt er irgendwas von wegen Feuchtigkeit und vielleicht ein Rohrbruch und ob er mal kurz die Flurwand sehen könnte.

Kann er.

Da steht eine kleine Kommode. Auf dieser Seite gibt es keine Kammer. Nur sauber verputzte Wände.

„Alles trocken.“, meint die Nachbarin. Und sie ist froh, dass sie jetzt wieder einen netten Nachbarn hat. Weil sie ja schon seit drei Jahren hier wohnt und es toll findet. Nebenan wechselt es alle paar Monate.

„Warum eigentlich? Gibt’s da Schimmel, bei dir?“

Das würde Benjamin gerne von seiner Nachbarin wissen. Das „warum eigentlich.“ Denn dass das Problem auf keinen Fall Schimmel ist, da besteht für Benjamin kein Zweifel mehr.

Benjamin fragt noch, was da für Leute wohnten. Vorher. Und er hört, dass eine alte Frau mit ihrem Sohn da wohl fast 30 Jahre gelebt hat. Und nachdem die gestorben war, kamen und gingen ständig neue Leute. Alle eher im Alter von Benjamin.

Benjamin bedankt sich und geht.

Er würde eigentlich gerne die Einladung zum Begrüßungswein annehmen. Aber jetzt muss er erst mal schnell zur Kiste mit dem großen „W“ drauf. Da ist sein Werkzeug drin.

Benjamin angelt zwischen alten Sägen und Schraubzwingen ein Brecheisen hervor. Der klassische „Kuhfuß“. Benutzt hat er den nie. Aber sein Vater meinte damals beim Auszug, dass man sowas haben muss.

„Nimm mal mit, Junge.“

Jetzt braucht Benjamin das Ding auch. Und zwar dringend. Kein Auge würde er mehr zukriegen, solange er nicht weiß, was hinter dieser alten Tür ist.

Es knackt sehr laut. Splitter fliegen. Dann geht alles ganz einfach.

Benjamin muss nicht Tausend rostige Nägel entfernen. Nur einen kleinen Schnappriegel.

Die Scharniere der Tür sind bestens geschmiert. Quietschen nicht mal. Kein Wunder – da liegt eine Dose Sprüh-Öl, die er seit Längerem schon vermisst.

Und hinter der Tür sieht Benjamin jetzt eine Kammer. So um die 2 Quadratmeter. Auf dem Boden eine Matratze. Etwas stinkig, aber sonst sauber. Dazu Decken und Kissen. Und ein Wandregal mit Konservendosen.

Beleuchtet von einer Lampe, die Benjamin gerade angeknipst hat.

Damit wäre mal geklärt, woher der Lichtstreifen auf dem Film kam.

Ansonsten ist hier gar nichts geklärt.

Benjamin steht zitternd da und langsam sickert in seinen Verstand die Erkenntnis, dass hier jemand wohnt.

Und zwar schon seit seinem Einzug. Vielleicht schon seit Jahren.

Zwar ist der Raum kleiner als eine Gefängniszelle – aber irgendwer hat sich hier eingenistet! Wie eine Zecke im Fell von Katzen!

Hinter Benjamins Beinen erscheint jetzt Raimund. Er streicht kurz an Benjamins Hose vorbei und legt sich dann auf das Bett – also vielmehr die Matratze.

Schnurrend.

Damit wäre dann auch geklärt, was Raimund so tagsüber tut. Auch ohne Kamera.

Offen ist weiterhin: Wo geht der geheimnisvolle Katzenbetreuer eigentlich aufs Klo?

Die Antwort ist leider ziemlich zwingend: In der Wohnung natürlich.

Und weil dieser winzige Raum keine Verstecke bietet, gibt es auch nicht viele andere Möglichkeiten, wo der Mitbewohner jetzt gerade ist. Sebastian umklammert das Brecheisen und dreht sich um.

Gerade ist im Bad der Spülknopf gedrückt worden …

FEUER

„Der arme Mann brennt. Der reiche Mann brennt. Frauen brennen. Kinder brennen.

Hunde und Katzen. Alle brennen.

Feuer macht keine Unterschiede.

Feuer ist gerecht.

Wenn man also ein Feuer legt, dann hilft man eigentlich nur dem Schicksal nach.

Hey, Moment! Gerechtigkeit im Tod hat ja wohl nichts mit dem Schicksal zu tun, könnte man jetzt einwerfen.

Aber auch die Nörgler und Besserwisser brennen.

Alle gleich. Alle Asche am Ende.“

Holger sitzt am Küchentisch und schreibt. Seine Hand saust über das Papier. Der Kugelschreiber schmiert.

„Alles brennt.“

Holger hängen die Haare ins Gesicht. Er hält inne. Starrt auf das Papier. Die Seite ist voll. Holger nimmt das Blatt und legt es auf einen Stapel zu den anderen. Der Stapel ist ziemlich groß. Mindestens 300, 400 Blatt liegen da schon.

Man bekommt eine ungefähre Idee, womit Holger seine Freizeit verbringt.

Irgendwo draußen wartet Melanie auf den Bus. Der Wind pfeift und das kleine Bushäuschen ist an der einen Ecke angekokelt und in der anderen Ecke vollgekackt. Also steht sie lieber draußen im Wind.

Es wird noch – wenn sie Glück hat – etwa eine Viertelstunde dauern, bis sie im Warmen sitzen kann. Bis der Bus – der Lumpensammler – seinem Spitznamen gerecht wird und die letzten Heimkehrer einsammelt.

Und wenn Melanie Pech hat, dann ist irgendwas mit dem klapprigen Scheißding. Dann steht er im Depot. Oder wenn der Fahrer krank ist. Oder was auch immer. Der letzte Bus ist schon oft nicht gekommen. Und wenn doch, dann zu spät. Also wird Melanie noch eine Weile frieren.

Aber so ist das eben, wenn man die gute Landluft dem städtischen Feinstaub vorzieht und preiswerter wohnen will. Für Melanie ist das okay. Sie kriegt ja auch ihren Führerschein nächsten Monat wieder und dann ist die Welt auf dem platten Land wieder schön.

Bis man das nächste Mal eingeladen wird, 30km weg von zu Zuhause, und entweder nichts trinkt oder riskiert, dass man wieder einen Monat Bus fahren darf.

Melanie beschließt, weniger zu trinken.

Irgendwann beschließt sie, gar nichts mehr zu trinken. Denn ihr ist so kalt und der beschissene Bus lässt sich immer noch nicht blicken.

Und obwohl ihre Nase schon fast taub ist vor Kälte, riecht sie jetzt etwas. Etwas, das sich aus dem Pisse-Kokel-Geruch des Bushäuschens schält: Feuer!

Melanie dreht sich um und sieht – gar nicht weit weg – eine alte Scheune, aus der Rauch aufsteigt.

Na toll.

Melanie überlegt, ob sie hingehen soll.

Oder auf den Bus warten.

Menschenleben retten.

Bus.

Harte Entscheidung um die Zeit.

Dann läuft sie doch los.

Netz hat ihr Handy nicht. Aber im Haus neben der Scheune brennt Licht und da wird es ja wohl ein gutes, altmodisches Festnetztelefon geben.

Hoffentlich.

Als Melanie die Scheune erreicht, sieht man die Flammen schon hinter den Fenstern. Also eher Fensterrahmen – denn Glas gibt es hier nicht. Hat es vermutlich auch nie gegeben. Das soll auch richtig so sein, hat ihr Opa mal erzählt, weil dann der Luftzug dafür sorgt, dass das Heu nicht schimmelt über den Winter.

Melanie sieht, dass da dringend Handlungsbedarf ist und klingelt beim Haus.

Klingelt Sturm.

Dann endlich geht die Tür auf. Ein Mann – mit ein, zwei Flecken vom Essen der letzten Tage auf dem Hemd – steht vor ihr.

Ja?

Es brennt!

Wo?

In Ihrer Scheune! Los, los! Feuerwehr rufen!

Der Mann nickt und geht zurück ins Haus. Die Tür geht vor Melanies Nase zu.

Sie weiß nicht genau, was das soll. Der Typ muss ihr ja jetzt nicht einen heißen Tee anbieten oder sich auf Knien bedanken. Aber wenigstens aufwärmen wird sie sich ja wohl dürfen.

Wohl nicht. Die Tür ist zu.

Und als Melanie sich umdreht, sieht sie gerade noch ihren Bus.

Schön. Danke.

Melanie klingelt wieder.

Hier draußen ist es sehr, sehr kalt!

Keine Antwort.

Und nochmal klingeln.