Solartopia – Am Anfang der Welt - Victoria Hume - E-Book
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Solartopia – Am Anfang der Welt E-Book

Victoria Hume

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Beschreibung

»Wir sind die Letzten. Finn und ich in einem Wolkenkratzer mitten im Nirgendwo. Wie zwei Pflanzen, deren Wurzeln sich auf einen kargen Felsen krallen. Wir werden hier überleben. Weil wir müssen.« Seit sie denken kann, lebt die sechzehnjährige Nova zusammen mit ihren Pflanzen und ihrem besten Freund Finn in Turris, einem riesigen, einst luxuriösen Hochhaus. Weit unter ihnen gibt es nichts als giftigen Smog. In der Turmspitze jedoch versorgen sie sich autark dank ihres Dachgartens, einem kleinen Paradies. Aber als der giftige Nebel am Turm hochkriecht und Novas Garten zu sterben beginnt, weiß sie: Sie müssen Turris verlassen. Auf einer lebensgefährlichen Reise erkennt Nova, dass nichts von dem, was sie über die Welt weiß, zu stimmen scheint. Sie und Finn entdecken Solartopia, eine futuristische Metropole, in der die Menschen in Einklang mit Technik und Natur leben. Gemeinsam mit dem jungen Piloten Jett kommen sie dem Geheimnis von Solartopia auf die Spur – und entfesseln einen Kampf, der die letzten Reste der Menschheit vernichten könnte.Der erste Band des packenden Future-Fiction-Zweiteilers!

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Seitenzahl: 327

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Victoria Hume

Solartopia

Am Anfang der Welt

 

Aus dem Englischen von Katrin Segerer

 

Über dieses Buch

 

 

Seit sie denken kann, lebt die sechzehnjährige Nova zusammen mit ihrem besten Freund Finn in Turris, einem riesigen, einst luxuriösen Hochhaus. Weit unter ihnen gibt es nichts als giftigen Smog. In der Turmspitze jedoch versorgen sie sich autark dank ihres Dachgartens, einem kleinen Paradies. Aber als der giftige Nebel am Turm hochkriecht und Novas Garten zu sterben beginnt, weiß sie: Sie müssen Turris verlassen. Auf einer lebensgefährlichen Reise erkennt Nova, dass nichts von dem, was sie über die Welt weiß, stimmt. Sie und Finn entdecken Solartopia, eine futuristische Metropole, in der die Menschen in Einklang mit Technik und Natur zu leben scheinen. Gemeinsam mit dem jungen Piloten Jett kommen sie dem Geheimnis von Solartopia auf die Spur – und entfesseln einen Kampf, der die letzten Reste der Menschheit vernichten könnte.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Victoria Hume wurde 2022 von The Society of Children's Book Writers and Illustrators als eine der unentdeckten Stimmen des Jahres ausgezeichnet. Sie ist Ökologin und daher oft in der Wildnis Englands zu finden. Ihre Liebe zur Natur verleiht ihren Geschichten eine besondere emotionale Tiefe. Sie lebt mit Mann und Sohn in Brighton. Der »Solartopia«-Zweiteiler ist ihr Debüt.

Inhalt

[Widmung]

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

[Hinweis auf die Leseprobe]

[Leseprobe]

Für meinen Mann Graeme und meinen Sohn Harrison. Danke, dass ihr das alles mitmacht.

Kapitel 1

Wenn ich könnte, würde ich Wurzeln schlagen. Das sagt Finn gern scherzhaft zu mir. Vielleicht hat er recht. Vielleicht kann ich deswegen in unserem Dachgarten besser schlafen – ein Stück näher dran, selbst zur Pflanze zu werden. Und gestern Abend, nach einem schrecklichen Winter, war er endlich auch der Meinung, dass es warm genug für die Hängematte ist.

Die Luft kurz vor Sonnenaufgang riecht grün und lebendig, wie ein saurer Apfel – so viel besser als mein stickiges Schlafzimmer. Als ich die Augen öffne, sehe ich ein Meer Blauregen, das über Nacht gewachsen ist. Die limonengrünen Wedel hängen wie ein Vorhang vom Kirschbaum. Ich strecke mich, und die schwingende Hängematte lässt die Blätter flattern.

Eine Ranke hat sich um meinen Arm geschlungen, als wollte sie meine Hand streicheln. Kichernd wickle ich sie ab, wobei ich gut aufpasse, den zarten jungen Trieb nicht zu beschädigen. Goldene Pheromone schrauben sich prahlerisch in die Höhe und signalisieren den anderen Pflanzen: Schaut mich an. Ich bin groß. Ich bin großartig!

Angeber.

»Du kannst nicht einfach überall rumklettern«, schimpfe ich den Blauregen, aber meine Stimme ist sanft, und ich kann mir das Lächeln nicht verkneifen.

Die Pflanze pulsiert unter meinen Fingerspitzen. Ich bin mir nicht sicher, ob es ihr leidtut oder sie trotz allem stolz auf sich ist.

Auch wenn Finn oft Witze darüber macht, ich weiß, wie schwer es als Pflanze sein muss. An einem Fleck festzusitzen. Keine andere Wahl zu haben, als das Beste draus zu machen. Eine kratzbürstige Distel schießt aus dem Boden? Dann kannst du dich nicht einfach in ein anderes Beet verziehen. Du musst kämpfen. Aber hier gilt: mein Garten, meine Regeln. Ich sorge dafür, dass jeder Platz findet: die Tyrannen, die Pionierinnen, die Sprinter. Alle müssen sich vertragen. Am besten gebe ich dem Blauregen nicht mehr so viel Kompost, bis er sich ein bisschen beruhigt hat.

»Auch endlich wach, Nova?«, ruft Finn vom anderen Ende der Hängematte.

Wir schlafen Fuß an Fuß, schon seit wir klein waren. Ich greife nach seiner Hand und drücke sie fest. Er ist für mich das, was einer Familie am nächsten kommt. Finn und ich gegen alles, was die verseuchte Welt uns entgegenschleudert. Nicht, dass wir sonderlich viel über die Welt außerhalb von Turris wüssten. Aber wir wissen genug, um für den Schutz dieses Hochhauses sehr, sehr dankbar zu sein.

Die Luft ist ruhig heute Morgen, aber der Wind wird bald auffrischen. So hoch oben ist es immer zugig.

»Bereit für den nächsten Tag voll Spaß?«, fragt Finn.

»Kommt drauf an.« Ich schmunzle. »Fällst du wieder in den Teich?«

Finn prustet los.

Vorsichtig teile ich den Blauregen und springe aus der Hängematte. Finn folgt mir. Wir sind in der Mitte des Gartens, ganz in der Nähe des Teichs. Wenn ich nicht allzu genau hinschaue, könnte man von hier aus fast meinen, mein Garten wäre endlos. Aber das ist er nicht. Er misst nur hundert mal sechzig Schritte. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass nur er zwischen uns und dem Verhungern steht. Aber es reicht, um Finn und mich am Leben zu halten.

Ich erschrecke einen frühen Vogel, eine Amsel, die sich in den Apfelbaum flüchtet und mit ihren dunklen Augen herauslugt. Sie erinnern mich an Finns Augen, scharf und wachsam. Die taufeuchte Frühlingsluft duftet nach Geißblatt. Allmählich werden auch die Pflanzen wach und summen ein bisschen lauter. Grün-goldener Glitzer steigt auf, wie Nieselregen, der verkehrt herum fällt. Pheromone, das offensichtlichste Anzeichen, wie es einer Pflanze geht, konnte ich schon immer sehen. Das Summen ist schwerer zu entschlüsseln, aber solange es grün und golden funkelt, weiß ich, dass alle glücklich und zufrieden sind.

Die Berge in der Ferne sind noch verschwommen, aber sobald die Sonne herauskommt, erkennt man grüne Fleckchen unterhalb der Schneegrenze. Der Morgenstern Venus scheint hell, ehe er hinter einer grimmigen grauen Wolke verschwindet. Ungebeten schießt mir eine Erinnerung durch den Kopf.

Zuerst zogen graue Wolken auf …

Panik durchfährt mich. Nicht heute. Heute darf es nicht regnen. Ich schließe die Augen und verscheuche die bösen Gedanken. Eine Wolke bedeutet noch gar nichts. Und selbst wenn – Regen ist etwas Gutes. Der Teich und die Wasserspeicher müssen dringend aufgefüllt werden.

Finn muss meine Angst spüren. »Entspann dich, Nova. Schau dir den Ringelrausch an. Wenn ein Gewitter aufziehen würde, wären die Blüten geschlossen.«

Ich nicke stumm.

Die Amsel beginnt den Tag mit einem vergnügten Zwitschern, samtig und süß wie Himbeermarmelade. Bald stimmen andere Vögel mit ein: freche Rotkehlchen und fluffige Zaunkönige mit ihrem ohrenbetäubenden Organ trotz ihrer winzigen Größe. Wie immer pfeife ich meine eigene Melodie – einen Oldie, den Ma früher gern gesungen hat. Novas Morgenkonzert. Dieser Teil des Tages macht mich fröhlich, ich vergesse meine Sorgen und fühle mich furchtlos und lebendig. Wir sind hier, allen Erwartungen zum Trotz. Man vergisst schnell, dass auch die Vögel hier festsitzen und sich ans Überleben klammern.

»Was für ein Geschrei«, brummt Finn, aber eigentlich gefällt es ihm – seine Lippen sind zu einem vertrauten schiefen Lächeln verzogen.

»Wer als Erstes drinnen ist!« Ich sprinte voran zur Tür, die vom Dach führt, schlüpfe in das schummrige Treppenhaus und schwinge das Bein übers Geländer. Finn ruft mir eine Warnung zu. Er steht nervös vor der obersten Stufe.

»Na los! Worauf wartest du?« Ich packe ihn und ziehe ihn mit mir auf den Handlauf. Kreischend sausen wir nach unten.

Unser dunkles, stilles Zuhause erstreckt sich über die obersten beiden Stockwerke des Hochhauses. Die weichen, dicken Teppiche schlucken jedes Geräusch meiner nackten Füße. Ich singe, um die Stille zu füllen. »Good morning, good morning«, trällere ich den leeren Räumen zu. Das ist der Text des Lieds, das ich auf dem Dach gepfiffen habe. »We’ve talked the whole night through.«

Ich steuere auf das einzige funktionierende Badezimmer zu mit den einstmals glänzenden Marmorfliesen und einer tiefen weißen Badewanne. Überall hängt meine Wäsche. Ein Spinnennetz aus Sprüngen überzieht den Marmor, und die halbe Wand ist aufgerissen, um an die Rohre zu kommen. Ma hat sie selbst neu verlegt. Sie werden vom Dach gespeist. Und was wirklich clever ist: Das Wasser von der Dusche und dem Waschbecken wird aufgefangen und für die Pflanzen wiederverwendet. Trotzdem darf ich nicht allzu lange brauchen. Wasser ist kostbar.

Ich werfe die dreckigen Klamotten von gestern in die Wanne, stecke den Stöpsel rein und drehe den Wasserhahn auf. Das kalte Nass aus dem Duschkopf lässt mich nur leicht zusammenzucken. Ich schrubbe mich so lange, wie ich es aushalte, ehe ich das Wasser wieder abdrehe, mich kurz abtrockne und das Handtuch um meinen Körper wickle. Dann stampfe ich auf meinen Kleidern im Duschwasser herum, um sie sauberzuscheuern, bevor ich sie grob auswringe und über den Rand werfe. Später werde ich sie raus in die Sonne hängen. Anschließend putze ich mir die Zähne. Die Zahnpasta ist uns schon vor Jahren ausgegangen, aber zum Glück haben wir noch Natron. Wenn man das mit kaltem Minztee mischt, ist es eine gute Alternative. Keine Ahnung, was ich mache, wenn das auch noch alle ist. Ma hat immer betont, wie wichtig saubere Zähne sind.

»Good morning, good morning to you!«, schmettere ich aus voller Kehle.

Finn schreit aus dem Nebenzimmer, dass ich die Klappe halten soll.

Auf dem Weg in mein Schlafzimmer summe ich vor mich hin. Im Lauf der Jahre habe ich die langweiligen weißen Wände mit mehr oder weniger gelungenen Zeichnungen von Pflanzen dekoriert. Vorsichtig bahne ich mir einen Weg zwischen den Klamottenhaufen hindurch und entscheide mich schließlich für eine hellgrüne Leggings mit pinken Tigern drauf und ein neongelbes Oberteil mit Fledermausärmeln, das von der Vorhangstange baumelt. Perfekt! Beim Blick in den hohen Spiegel runzle ich die Stirn. Meine dunklen Locken fallen schon wieder bis über die Ellbogen. Die sind fast so schlimm wie der Blauregen. Ich muss sie bald schneiden, aber für den Moment binde ich sie erst einmal mit dem Blumentuch zurück, das nach Lavendel riecht. Das haben wir in der Wohnung mit den rosafarbenen Wänden im elften Stock gefunden.

»Nova, mein Schatz«, sage ich zu mir selbst, »du bist bereit für den Tag.«

Dann starte ich mit meiner Morgenroutine. Irgendwie habe ich Angst, dass etwas Schlimmes passiert, wenn ich meine Checkliste vergesse. Routinen sorgen für unsere Sicherheit.

Ich überprüfe alle Lager: den Werkzeugraum, den Müllraum, den Samenraum und zuletzt die Essensvorräte. Die Regale sind beinahe leer. Ich suche jede Ecke penibel nach Spuren von Mäusen oder Insekten ab, und die Wände nach Feuchtigkeit oder Schimmel. Verluste wären eine Katastrophe.

Im Esszimmer mache ich zwanzig Sit-ups, zwanzig Kniebeugen, zwanzig Liegestütze und zwanzig Hampelmänner. Danach versuche ich, meine Zehen zu berühren, und schaffe es fast. Ich messe meinen Puls, der beruhigend normal ist. Wir müssen gesund bleiben. Hier gibt es keinen Arzt, der uns wieder aufpäppelt, wenn wir krank werden.

Ich streiche einen weiteren Tag vom Kalender: 24. April.

Der Kühlschrank in der Küche ist immer noch kalt. Das Licht geht an und aus, was mich daran erinnert, dass ich das Solarpanel putzen muss. Ich stecke die elektrische Laterne ein, um sie aufzuladen.

Als ich es nicht mehr länger hinauszögern kann, checke ich die Kette an der Tür zum Treppenhaus, das nach unten führt. Dabei achte ich allerdings darauf, nicht durch die dunkle Scheibe zu linsen oder direkt vor dem Glas zu stehen. Nur für den Fall.

Zufrieden, dass alles in bester Ordnung ist, laufe ich zurück in die Küche und mache mir mit unserem treuen alten Wasserkocher einen Brennnesseltee. Während der Tee zieht, hüpfe ich auf den kalten Fliesen von einem Fuß auf den anderen, starre aus den schmutzigen Fenstern und knibble an dem Loch in der hölzernen Arbeitsplatte herum. Danach wandere ich in die Bibliothek und lümmle mich in einen alten Sessel mit Blumenmuster, bis der Tee abkühlt. Die Regale neben mir biegen sich unter all den Büchern, die ich im Lauf der Jahre auftreiben konnte. Hauptsächlich Nachschlagewerke, aber auch Romane. Alte Krimis mag ich am liebsten. Die Spurensuche der Ermittlerinnen und Ermittler erinnert mich daran, wie ich selbst bei meinen Pflanzen nach Hinweisen auf ihr Wohlbefinden forsche.

Ich blättere durch meine Notizbücher und schaue nach, welche Gartenarbeiten anstehen. Samen müssen eingepflanzt werden: Gurke, Kürbis, Melone, Zuckermais. Vielleicht noch ein paar Radieschen und Blattsalate. Ich muss mehr pflanzen als letztes Jahr, damit wir es durch den nächsten Winter schaffen. Dieses Jahr sind uns so viele Sachen ausgegangen. Abendelang musste ich mich mit eingelegter Roter Bete begnügen, wobei ich am Ende dankbar für jeden Bissen war. Als das erste Frühlingsgemüse reif war, hätte ich beinahe geheult vor Erleichterung.

»It’s great to stay up late«, singe ich weiter, während ich zum Samenraum tänzle.

Laut dem Handbuch für Heimgärtner müssen Samen an einem dunklen, trockenen Ort mit gleichbleibender Temperatur gelagert werden, dafür eignet sich eins der ausgedienten, fensterlosen Badezimmer perfekt. In Badewanne und Waschbecken stapeln sich Schachteln, Schälchen, Gläser und Tütchen, die wir nach und nach aus den unteren Stockwerken zusammengesammelt haben. Die kleinen Samen betteln förmlich darum, ausgesät zu werden.

»Jetzt seid ihr an der Reihe«, flüstere ich, während ich mir meine Auswahl herauspicke.

Ich bringe sie ins Gewächshaus, das eigentlich gar kein richtiges Gewächshaus ist. Früher war es mal ein Wohnzimmer voll mit opulenten Sofas und Samtvorhängen vor den bodentiefen Fenstern. Ma hat sie schon vor Jahren abgenommen, um mehr Licht reinzulassen. Manchmal benutzen Finn und ich die Vorhänge als zusätzliche Decken. Als ich klein war, haben wir verschüttetes Wasser noch von den polierten Holzkommoden gewischt, bevor sie Flecken bekamen, und Erdkrümel aus dem weichen Teppich entfernt. Heute erscheint mir das überflüssig. Dieser Raum hat, wie alles hier, schon bessere Tage gesehen.

»Good morning, good morning to you«, flöte ich und deute auf die Anzuchtschalen.

In der Luft liegt das hohe Sirren junger Keimlinge, die wie kleine Kinder nach Aufmerksamkeit quieken. Grüne und goldene Funken stieben in die Luft. Ich drehe das Bewässerungssystem auf und gönne allen einen Schluck, ehe ich die neuen Samen einpflanze. Die knubbeligen Radieschensamen rutschen perfekt durch die Falte meiner Handfläche in die Erde. Als wären unsere Körper genau dafür da.

»When the band began to play, the stars were shining bright.« An die nächste Zeile kann ich mich nicht mehr erinnern, deshalb erfinde ich sie neu. »Doch jetzt sagt Nova euch: Geschwind, wachst hoch zur Helligkeit.« Bei meinem cleveren Ständchen muss ich grinsen.

Die Stangenbohnen, die ich vor drei Wochen vorgezogen habe, sind bereit für ihre Umsiedelung aufs Dach. Ich stelle sie auf den Wagen. Ihre biegsamen Ranken ringeln sich aufgeregt.

»Ich habe den perfekten Ort für euch, wartet’s ab. Frisch umgegraben und mit ordentlich Kompost. Da werdet ihr euch pudelwohl fühlen.«

Ich schiebe den Wagen zur Treppe. Die klapprigen Räder zucken und eiern und schrammen über die goldene Tapete. An der Treppe drehe ich mich um und hieve den Wagen rückwärts die Stufen hoch. Der Wind hat aufgefrischt. Die schneidende Luft lässt mich frösteln. Finn kauert am Teich und beobachtet die sich wimmelnden Kaulquappen. Also muss ich die Bohnen allein in ihr neues Zuhause setzen.

Genau wie Menschen haben Blumen ihre ganz eigenen Gewohnheiten. Vom Frühaufsteher Löwenzahn über die morgenmuffeligen Mittagsveilchen bis hin zum Nachtschwärmer Sternendorn kann ich anhand dessen, was gerade blüht, die Uhrzeit ablesen. Im Moment entfaltet zum Beispiel die Eiswinde ihre bläulichen Trichter. Die öffnen sich bei Sonnenaufgang. Und tatsächlich schiebt sich soeben die Sonne über die ferne Ebene. Finn wollte immer, dass ich eine normale Uhr benutze, aber nachdem irgendwann auch die letzte stehen geblieben ist, war er froh über diese Methode. Außerdem lebe ich lieber im Takt des Gartens als nach irgendwelchen willkürlichen Zahlen.

Kurz nach Sonnenaufgang frischte der Wind auf …

Ich verdränge den Gedanken und konzentriere mich auf meine Aufgaben. Es ist leicht, nicht der Vergangenheit nachzuhängen, wenn man in der Gegenwart so viel zu tun hat.

Die Wege abgehen. Den Garten kontrollieren.

Immer mehr Pflanzen erwachen und verströmen zufrieden goldene und grüne Pheromone. Dicke, pollenbeladene Bienen schwirren zwischen den Blüten des nach Kokos duftenden Stechginsters umher. Eine Singdrossel hämmert rhythmisch eine Schnecke gegen einen Pflasterstein, um deren Haus zu knacken. Ordentliche Reihen von Winterknoblauch, Lauch und Frühlingszwiebeln schwanken im Wind, aber von nahem scheinen sie stiller als üblich. Hier glitzern keine grünen oder goldenen Pheromone. Auch keine weißen Notsignale. Die Pflanzen wirken … ausdruckslos. Seltsam.

Ich gucke nach Schädlingsbefall. Die Blätter sind gesund. Dann bohre ich die Finger in die feuchte Erde, streichle die Wurzeln und bringe meine Gedanken zum Schweigen, um den Pflanzen zuzuhören, so wie Ma es tun würde. Nichts. Kaum ein zittriger Piep. Ich versuche, die Töne zu summen, die sie beruhigen, aber obwohl ich gern singe, bin ich ziemlich schlecht darin, und noch schlechter, wenn es um die Lieder der Pflanzen geht. Ich kriege die Tonlage einfach nicht richtig hin.

Ma kauert im peitschenden Regen, die Hände in der Erde, und summt ein ruhiges Lied inmitten des Chaos …

Diese Erinnerung klingt länger nach, ich kann sie nicht vertreiben. Der Schrecken von vor zehn Jahren hält mich gefangen. Angst und Schmerz fluten aus meinen Fingern in die Erde. Schnell reiße ich die Hände zurück. Das können meine Pflanzen jetzt gar nicht gebrauchen. Ich beiße mir auf die Lippen und setze mich auf die Fersen, schließe die Augen, strecke das Gesicht in die Sonne und spüre die Wärme auf den Wangen.

Denk nach, Nova.

Ich darf nicht riskieren, dass meine Pflanzen krank werden.

Wenn Ma bloß hier wäre … Sie wüsste, wie man ihnen helfen kann. Natürlich! Ihre Notizbücher! Ich rufe Finn zu, dass ich gleich wieder da bin, und renne in ihr Arbeitszimmer.

Dort steht ein Regal, das von ihrer Forschung nur so überquillt. Ich greife nach dem dicken Notizbuch mit dem braunen Ledereinband und blättere die vertrauten Seiten durch, fahre mit dem Finger über akribische Zeichnungen von Pflanzenteilen, Erkennungsmerkmale, ein Mittel gegen Blattlausbefall und eins gegen Kraut- und Braunfäule. Endlich entdecke ich ein Stärkungstonikum.

 

Für Pflanzen, die an allgemeinem Unwohlsein leiden

1 Teil Kaffeepulver

1 Teil Beinwell (Achtung vor den Haaren!)

1 Teil Brennnessel (Achtung vor den Haaren!)

1 Handvoll Eisennägel

6 Teile Wasser

2–3 Wochen in einem luftdicht verschlossenen Eimer gären lassen (Achtung vor dem Gestank!) und abseihen, anschließend die Wurzeln damit tränken. Wenn es eilt, die Zutaten pürieren (natürlich ohne die Nägel). Liefert lebenswichtigen Stickstoff, Kalium und Eisen und wirkt als Muntermacher. Für noch mehr Eisen oder falls der Gärvorgang ausgelassen wird, rostiges Metall in der Erde vergraben. Nicht für den menschlichen Verzehr geeignet!

 

Mas Kommentare bringen mich zum Lächeln. Eilig suche ich die Zutaten zusammen und schneide Beinwell und Brennnesseln mit der Hand klein, um den Mixer nicht zu schrotten. Ich bin ziemlich stolz auf mich, dass ich mich nur zweimal brenne. In den Lagerräumen finde ich ein uraltes Paket Kaffee und ein Eimerchen voll rostiger Nägel. Bis ich fertig bin, haben sich die zitronengelben Strahlenblüten der Kratzdistel auf meiner Blumenuhr geöffnet. Eine neue Stunde hat geschlagen, und die Sonne steigt immer höher.

»Bitte schön, meine Kleinen. Das sollte euch wieder aufpäppeln«, sage ich, während ich die Mischung rund um die Wurzeln verteile und die Nägel in die Erde stecke.

Zufrieden überprüfe ich noch rasch den Rest des Gartens. Im Kräuterbeet beschießen sich Salbei und Majoran mit wütenden roten Funken. Jetzt im Frühling bringen sie neue Blätter hervor, deshalb rangeln sie um Platz.

»Ihr Dummerchen, hört auf damit«, flüstere ich. Doch die Funken fliegen weiter. Wieder muss ich daran denken, wie leicht Ma den Streit schlichten würde, und werde von meiner Nutzlosigkeit überwältigt.

»Könnt ihr euch nicht vertragen?«, fauche ich frustriert. »Ihr müsst beide gut wachsen. Sonst … Sonst überleben wir niemals. Bitte helft doch einfach mit.«

»Es ist okay, wenn du traurig bist, gerade heute.« Finns Stimme lässt mich zusammenzucken.

»Nicht …«

»Du solltest was essen. Von wegen: immer schön gesund bleiben. Bist du nicht am Verhungern?«

Ich seufze. Er hat recht. Und dieser Tag schreit nach etwas Besonderem, um meine Laune zu heben.

In der Mitte des Gartens, gleich neben dem Teich, wächst meine allerliebste Pflanze. Ma hat sie gezüchtet und nach mir benannt: die Nova. Sie trägt die süßesten und besten Früchte auf der ganzen Welt. Nova bedeutet »neu«, und Ma hat immer gemeint, diese Pflanze sei einzigartig, genau wie ich.

Auf einmal kann ich die Erinnerungen nicht länger zurückdrängen. Ich bin wieder sechs Jahre alt.

Ma trägt die tropfnasse Novapflanze die Treppe herunter. Sie ist zerfleddert und plattgedrückt und verliert überall Blüten und Blätter. Blitze zucken über den Himmel, und der Donner kommt immer näher. Wir triefen und zittern, und ich heule, weil meine Pflanze STIRBT und Ma nur wirres Zeug redet.

Sie bringt sie ins Gewächshaus und setzt sie in einen großen Kübel voll Kompost. »Die wird schon wieder«, meint sie. »Bleib hier und sprich mit ihr. Mach ihr klar, dass sie in Sicherheit ist, während ich die anderen hole. Nicht weinen. Ich muss wieder rauf.«

NEIN, GEH NICHT WEG!

Ich schließe fest die Augen und reibe sie energisch. Finn starrt mich an. Er weiß nicht, was er sagen soll. Ich auch nicht, also konzentriere ich mich stattdessen aufs Frühstück. Ich habe keine Zeit, um traurig zu sein.

Die Nova hat wunderschöne rosafarbene Knitterblüten mit einem weißen Strahlenkranz in der Mitte. Weiter unten haben sich schon Früchte gebildet, aber das pinke Fleisch ist noch zu hart. Sonnengetränkte Erdbeeren schmecken bestimmt fast genauso gut. Nur ein halbes Dutzend sind schon reif. Ich kratze ein paar der winzigen gelben Samen ab und sammle sie in einem Weinblatt – zur Sicherheit, falls die Pflanze keine neuen Ausläufer bildet. Dann springe ich noch mal nach drinnen, um die Samen wegzubringen und die letzten getrockneten Apfelringe zu holen. Die leeren Regale starren mir entgegen. Vielleicht sollte ich die Äpfel für den Notfall aufheben? Aber die Hungermonate sind beinahe vorbei, und solange meine Pflanzen weiterwachsen, gibt es bald jede Menge zu essen.

Ich plumpse neben Finn und versuche, die saftigen roten Beeren zu genießen, ziehe mit den Zähnen Streifen von den blassen Apfelringen und behalte sie im Mund, um ihre Süße voll auszukosten.

Finn bricht das Schweigen. »War das nicht das Lieblingsfrühstück deiner Ma? Äpfel und Beeren?«

Er hat recht. Es fühlt sich richtig an, heute beides zu essen, als wollte Ma sicherstellen, dass ich versorgt bin. Plötzlich fällt mir auf, wie hoch die Sonne schon gestiegen ist. Die Mooslilien gehen auf. Um diese Zeit ist es passiert …

Ich kneife die Augen zu, als könnte ich das Gewitter dadurch beenden. Ein so heftiges habe ich noch nie erlebt. Es fühlt sich an, als würde Turris gleich auseinanderbrechen. Der Wind heult um unser Zuhause, und der Regen klatscht in waagerechten Wogen gegen die Fenster. Das Getöse ist ohrenbetäubend.

Ma hat gesagt, ich soll drinnen bleiben. Aber sie ist ganz allein da draußen. Ich bin schon groß. Ich kann ihr helfen. Ich renne aufs Dach. Regen schlägt mir ins Gesicht, peitscht mir die Haare in die Augen.

So viele Pflanzen, die gerettet werden müssen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

Ein Blitz. Ma, die mit einem Orangenbaum in einem schweren Topf kämpft. Ihre Augen weiten sich, als sie mich entdeckt. Sie schreit etwas, aber ich höre nur: »Wieder rein … gefährlich!«

Eine stürmische Windböe wirft eine Reihe Himbeersträucher um und schleudert mich zurück ins Treppenhaus. Ich klammere mich an den Rahmen der Luke. Noch einmal rauscht der Wind übers Dach. Im einen Moment kommt Ma noch auf mich zu, das Gesicht gegen den Regen verkniffen, im nächsten ist sie verschwunden. Über das Glasgeländer geschleudert. Vom Rand von Turris gefegt. Nur der Baum ist noch da, in seinem zerbrochenen Topf.

Ich blicke zum Dachrand, zum Orangenbaum, den ich wieder eingepflanzt habe und der jetzt vor meinen Augen verschwimmt. Ich blinzle die Tränen weg und schaue über meinen Garten hinaus zur staubigen Ebene weit, weit unter uns. Dort wächst gar nichts. Kein Fitzelchen Grün, nicht die kleinste Bewegung, nur die dunklen, giftigen Smogwolken, die alles ersticken, was sie berühren. Keine Menschen. Keine Häuser. Kein Lebenszeichen.

Wir sind allein. Finn und ich gegen den Rest der Welt, auf einem Wolkenkratzer namens Turris. Wie zwei Pflanzen, deren Wurzeln sich auf einem kargen Berggipfel festkrallen. Wir müssen hier bleiben. Und wir werden überleben. Weil Pflanzen genau das tun. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Ich nehme ihn fest in den Arm, und so sitzen wir lange schweigend da.

Kapitel 2

»Wenn du die Augen schließt, geht es leichter«, flüstert Ma. Wir sitzen im Schatten des Kirschbaums, umgeben von einem Schneegestöber aus rosafarbenen Blüten. Sie trägt ihren viel zu großen grauen Pulli, an den ich mich so gern kuschle. Ihre offenen braunen Haare wehen im Wind, ihre grünen Augen sind wach und klar, sie lächelt breit.

Ich soll lernen, wie man Pflanzen lauscht. Ma sagt, je mehr ich übe, desto leichter fällt es mir, bis ich sie irgendwann alle höre. Das habe ich schon einmal geschafft – alles summte vom Geschnatter der Gänseblümchen und des Löwenzahns –, also kriege ich es hoffentlich wieder hin. Konzentrier dich, beschwöre ich mich selbst. Aber es ist gar nicht so leicht, den Kopf frei zu bekommen, während Finn alberne Witze reißt. Ich schließe die Augen, lockere die Schultern und atme ein paarmal tief ein und aus, die Finger an die Wurzeln des Kirschbaums gedrückt.

Ich öffne meinen Geist, versuche, ihn auf die Frequenz der Pflanzen einzustellen. Erst ist da nur dieses komische Kitzeln in meinem Gehirn. Dann plötzlich fühlt es sich an, als hätte jemand ein Licht angeknipst und die Welt erhellt. Wie in einer ganz neuen Dimension. Als hätte ich bisher unter Wasser gelebt, mit verzerrtem Ton, und nun die Oberfläche durchbrochen. Ein leises, sanftes Summen erfüllt die Luft. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, und ich schaudere. Ich höre es so klar und deutlich, wie kann es sein, dass ich es vorher nie wahrgenommen habe? Es erinnert mich an eine von Mas Lieblingsplatten – die mit den Cellos. Der Klang ist satt und melodisch und voller Freude. Und diese Freude überträgt sich auch auf mich.

»Es hat funktioniert!« Ich strahle, und Ma strahlt zurück. Doch in diesem Moment lässt meine Konzentration nach, und das wunderschöne Summen entgleitet mir.

»Nicht ablenken lassen«, drängt Ma. »Was hörst du noch?«

Wieder schließe ich die Augen und versuche, in diese andere Welt vorzudringen. Diesmal geht es schon ein bisschen leichter. Rechts neben mir höre ich ein abgehacktes Quieken – das muss von den Tomaten stammen, die um die Wette Blüten bilden. Darüber weben sich zarte, harfengleiche Töne. Die kenne ich! Das ist der Holunder, der sich seufzend im Wind wiegt. Den habe ich auch beim letzten Mal schon gehört. Dann vernehme ich ein leises, hektisches Summen, wie eine Biene, die unter einem Glas eingesperrt ist. Ich runzle die Stirn.

»Irgendwas stimmt nicht.« Ich drehe mich im Kreis, um die Quelle zu finden. »Hörst du das auch?«

»Was soll ich hören?«, fragt Finn beleidigt. Er konnte noch nie auf diese Weise mit Pflanzen kommunizieren.

»Wie ein wütender Bienenschwarm …«

Ich bleibe stehen und öffne die Augen. Wenn ich mich bewege, ist es schwieriger, die Verbindung zu halten, aber ich steuere grob in die Richtung der aufgebrachten Pflanze. Alle Pflanzen, an denen ich vorbeikomme, sprühen vor zufriedenen Pheromonen, hellgrün und golden glitzernd wie Sonnenlicht auf dem Wasser. Woher stammt nur das verärgerte Summen? In einer Ecke des Gartens entdecke ich schließlich einen weißen Funkenregen. Das untrügliche Zeichen einer Pflanze in Not.

Es ist eine Sonnenblume, die schon die Blätter hängen lässt, weil sie vertrocknet. Noch einmal nehme ich alle meine Sinne zusammen und höre ihre Verzweiflungsschreie. Sie verursacht das Geräusch, ganz sicher. Die Arme. Ich kann es kaum ertragen, sie so zu sehen.

»Ma! Sie braucht Wasser!«

Ma eilt mit einer Gießkanne herbei. Sie beugt sich vor, überprüft die Erde, bohrt die Finger hinein, um Kontakt zu den Pflanzen zu suchen und herauszufinden, was los ist.

»Der Kürbis da saugt alles leer, siehst du?« Sie deutet auf den wuchernden Übeltäter in der Nähe. »Gut gemacht, Nova!«

Stolz helfe ich mit, die Sonnenblume ordentlich zu wässern und den Kürbis zurückzuschneiden.

»Du weißt gar nicht, wie selten deine Gabe ist«, meint Ma. »Pflanzen so zu lauschen. Ich habe das ganze Leben gebraucht, um es zu lernen. Niemand sonst kann, was du kannst.«

Das verstehe ich nicht recht. »Es gibt doch auch niemanden sonst. Soll das heißen, dass Finn es niemals lernt?«

»Mir doch egal!«, mischt Finn sich von der anderen Seite des Gartens ein.

Aber ich höre ihm an, dass er neidisch ist und schmollt.

»Können wir noch ein bisschen üben?«, frage ich. »Ma? Ma!«

Sie seufzt und blickt hinunter auf ihre Hände. In ihren Augen glitzern Tränen.

Ich weiß, warum. Manchmal vergisst Ma, dass wir die Letzten hier sind. Sie kannte früher andere Menschen, vor Turris und vor mir und Finn. Andere verirrte Pflänzchen, die sich nach dem Sechsten Sterben ans Leben klammerten, wie auch mein Pa. Aber jetzt sind sie alle nicht mehr da.

Ich umarme sie. »Vermisst du die Vorher-Leute?«

Ma schüttelt den Kopf. »Ich vermisse nur deinen Vater. Was die anderen angeht, na ja, die sind der Grund, warum er nicht bei uns ist. Als es zu Ende ging, waren alle Vorher-Leute böse geworden.«

Ich wache in der blassgrauen Morgendämmerung auf, Fuß an Fuß mit Finn in der Hängematte, wie üblich. Mein Herz hämmert, kalter Schweiß klebt an meiner Haut, und mir schwirrt der Kopf von diesem Traum, der eigentlich eher eine Erinnerung war. Alles war so lebendig. Es hat sich richtig echt angefühlt. In letzter Zeit taucht Ma oft in meinen Träumen auf. Was nicht verwunderlich ist rund um den Jahrestag ihres Todes.

Sie hat so viel für sich behalten. Mir kaum etwas von diesen bösen Menschen erzählt. Obwohl ich weiß, dass wir die Letzten sind, treibt mich allein der Gedanke an Ma jeden Morgen zu der verrammelten Tür Richtung untere Stockwerke, um die Ketten zu checken.

Über meinen Pa hat Ma mir auch nur wenig verraten. Er war wohl ein guter, freundlicher Mann und hat mich sehr geliebt. Wenn ich an ihn denke, bin ich traurig, aber die Traurigkeit fühlt sich dumpf an, eher wie ein Bedauern, ihn nie kennengelernt zu haben. Wie wenn in einem alten Kinderbuch Pommes und Milchshakes vorkommen. Man kann nichts vermissen, was man nie hatte, egal, wie toll es sein mag. Wenn ich hingegen an Ma zurückdenke, kriege ich keine Luft mehr, als hätte jemand mein Innerstes herausgerissen wie den Kern aus einer Kirsche.

Früher habe ich ihr Fragen über meinen Pa gestellt, aber von ihm zu reden, hat ihr sichtlich weh getan. Deshalb habe ich irgendwann damit aufgehört. Bei Mas Sachen sind keine Fotos von ihm oder irgendetwas anderes. Ich bin der einzige Beweis dafür, dass es ihn je gegeben hat. Wahrscheinlich dachte sie, sie hätte alle Zeit der Welt, mir von ihm zu erzählen, doch dann wurde uns die Zeit geraubt. Zurück blieb so viel Unbeantwortetes, ein ganzes Leben voll Wissen, das ich von ihr hätte lernen können. Was ist mit den bösen Menschen passiert? Was haben sie Pa angetan? Ich versuche, nicht ständig darüber nachzugrübeln, aber in letzter Zeit fällt es mir schwer, die Gedanken zu verscheuchen. Zum Glück habe ich gut zu tun, das lenkt ab. Seufzend schwinge ich die Beine aus der Hängematte … und erstarre. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Schnell wecke ich Finn.

»Natürlich stimmt hier was nicht«, brummt er. »Hast du dir mal deine Haare angeschaut?«

Ich streiche die zerzauste Bettfrisur glatt. »Sch! Hör doch.«

Auch ich höre hin, lausche, so wie Ma es mir beigebracht hat. Der Garten ist gespenstisch still. Angestrengt bemühe ich mich, in die geheime Klangwelt der Pflanzen einzutauchen. Doch heute Morgen sind sie alle matt und schweigsam. Ich kann auch weder goldene Glücksfunken noch sonderlich viele andere Pheromone entdecken. Warum sind die Pflanzen so leblos? Selbst Finn spürt es.

»Was ist denn mit denen los?«, fragt er.

Der gesamte Garten verhält sich so wie die Lauchzwiebeln und der Knoblauch gestern. Nirgendwo Notsignale, stattdessen überall eine seltsame Lethargie. Vielleicht haben sich dafür die Zwiebeln erholt? Ich sollte nachgucken, ob mein Tonikum gewirkt hat. Nervös eile ich zu meinen Patienten, aber wenn überhaupt, geht es ihnen heute noch schlechter als gestern. Die Röhrchen sind nicht mehr fest, sondern hängen kränklich und elend nach unten. Bestürzt starre ich sie an. Was soll ich jetzt nur tun?

»Was ist mit deiner Nova?« Auch Finn klingt besorgt.

Die Strahlenkranzblüten der Nova leuchten hell in der Morgensonne. Die herzförmigen Blätter sind prall und grün. Erleichtert seufze ich auf. Sie sieht gesund aus. Kerngesund. Die Früchte sind reif und warten nur darauf, verputzt zu werden. Behutsam pflücke ich eine.

Mit einem grässlichen Ratschen reißt die halbe Pflanze ab. Nein! Einen Moment lang starre ich den Trieb nur ungläubig an. Meine Augen brennen. Was habe ich getan? Wie konnte ich nur so ungeschickt sein? Vielleicht wächst er wieder an, wenn ich ihn bandagiere? Irgendwie muss ich das doch in Ordnung bringen können.

Dann fängt die Wunde an zu nässen. Zäher Saft sickert heraus, schwarz wie die Verwesung – schwarz wie der Tod. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich lasse den Ast fallen und weiche erschrocken zurück, ehe die Flüssigkeit mich berührt.

Meine Nova! Sie stirbt!

Ich versuche, nicht in Panik zu geraten, sondern auf ihre einzigartigen Schwingungen zu lauschen, um herauszufinden, was passiert ist. Aber ich höre keinen Mucks. Was ist da los? Mein Atem geht schnell und stoßweise. Ich beschwöre mich, ruhig zu bleiben, während ich dem benachbarten Gänsefuß ein Blatt abzwicke. Noch mehr schwarzer Schleim quillt heraus. Mir wird übel. Deswegen ist der Garten so still. Panisch stolpere ich von Pflanze zu Pflanze. Jede, die ich überprüfe, ist mit dieser schrecklichen Krankheit infiziert.

Das hier ist nicht natürlich. Nichts Natürliches würde so etwas auslösen.

Dieser Schwarzton … Ich kenne nur eins, was dem irgendwie nahe kommt. Ich eile zum Glasgeländer am Dachrand und spähe hinunter auf die wabernden Wolken.

»Die bösen Menschen sind schuld am Smog.«

Ich erinnere mich an Mas Worte, als wäre es gestern gewesen. Wie sie mich an den Schultern gepackt und mir tief in die Augen geschaut hat, damit ich auch ganz sicher zuhöre.

»Er vergiftet alles, was er berührt, tötet sämtliches Leben: Pflanzen, Tiere, sogar Bakterien. Wir haben Glück, dass Turris uns beschützt. So hoch oben kann er uns nicht erreichen. Bete, dass er niemals höher steigt, sonst vernichtet er unsere armen Pflanzen und uns gleich dazu. Versprich mir, dass du niemals ganz nach unten gehst.«

Schaudernd betrachte ich die teuflischen Schwaden. »Es liegt am Smog.«

Ausnahmsweise widerspricht Finn mir nicht.

Ich beiße mir auf die Lippen und denke nach. Ich fühle mich so hilflos. Ich weiß absolut gar nichts über den Smog. Wie soll ich meinen Garten vor etwas beschützen, von dem ich nicht die leiseste Ahnung habe? Wenn Ma doch nur hier wäre …

Einen Moment lang bin ich wie hypnotisiert von der wirbelnden Masse unter mir. Bilde ich mir das nur ein, oder sind die Wolken dichter geworden? Ich kann sogar einzelne Fahnen erkennen. O nein … Der Smog muss höher geklettert sein.

»Er ist näher gekommen«, sage ich mit wachsender Gewissheit.

»Ich weiß nicht«, murmelt Finn. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Das bin ich einfach. Wir müssen überprüfen, wie schnell er steigt.«

Während wir uns vorbereiten, hadert Finn die ganze Zeit. »Du kannst doch nicht ernsthaft da runterwollen. Wir waren seit Jahren nicht mehr unten.«

Früher sind Ma, Finn und ich ständig die endlose Treppe zu den niedrigeren Stockwerken von Turris hinabgetigert. Ma nannte diese Ausflüge Expeditionen, und wir haben so getan, als würden wir zu einem großen Abenteuer aufbrechen. Dabei haben wir eigentlich nur nach Medikamenten und anderen nützlichen Schätzen gesucht und jede Menge Staub aufgewirbelt. Aber ich habe unsere gemeinsamen Erkundungstouren durch all die verschiedenen Wohnungen geliebt. Jede davon war individuell eingerichtet und hat mich unendlich fasziniert. Für Finn und mich gibt es schon lange keinen Grund mehr, nach unten zu gehen. Alles, was auch nur im Entferntesten hilfreich sein könnte, haben wir vor Ewigkeiten hochgeschleppt. Und ohne Ma, die uns die seltsamen Apparate erklärt, sind die Wohnungen nur noch deprimierend und beklemmend. Es ist unheimlich, wenn man zu lange darüber nachdenkt, dass sie einst voller Menschen waren, vor allem, wenn wir alte Fotos finden von vor dem Sechsten Sterben, von vor dem Smog.

Das fünfte Massenaussterben hat die Dinosaurier ausgelöscht, das sechste beinahe alles andere. Laut Ma gab es vorher zu viele Menschen auf der Welt. Weder Nahrung noch Platz reichten mehr für jeden. Die Menschen hatten Land und Meer ausgesaugt. Dann kam der Klimakollaps: Fluten und Dürren, Feuer und Frost, Verschmutzung, Seuchen, Kriege. Inzwischen sind von den Milliarden Menschen nur noch alte Kleider und leere Wohnungen übrig. Und die Überlebenden – Finn und ich.

In Mas Arbeitszimmer steht eine graue Plastikbox, ganz unten im Bücherregal, vergraben unter einem Stapel alter Notizbücher, die zu Boden segeln, als ich das Ding herauszerre. Ich puste die Staubschicht vom Deckel.

»Hoffentlich funktioniert die Smogmaschine noch.« Ich klappe die Verschlüsse auf.

Finn lacht. »So heißt das Teil aber nicht.«

»Kannst du dich vielleicht noch an den richtigen Namen erinnern?«, fauche ich, um die plötzlichen Schuldgefühle zu überspielen.

Ich habe etwas vergessen, das Ma mir beigebracht hat. Was ist sonst noch verlorengegangen? Wie viele wichtige Details?

Finn antwortet nicht.

»Dachte ich mir.«

Zumindest weiß ich noch, wie das Gerät funktioniert. Ist ja auch nicht schwer. Ich drehe den Knopf, um es anzuschalten, und warte, bis die Anzeige auf dem kleinen orangefarbenen Display sich einpendelt. Hier oben im Arbeitszimmer liegt die Smogkonzentration weit unter der Grundbelastung.

Ich werfe einen Blick auf Mas Pinnwand, die über und über mit Bildern aus den anderen Wohnungen bedeckt ist. Fotos von der Welt, wie sie vor dem Sechsten Sterben war. Schillernde Städte, üppige Gärten, schöne Statuen, mehr Essen, als man sich vorstellen kann. Damals schien alles so viel einfacher und glücklicher – die Menschen lächelten ständig.

»Bereit?«, frage ich Finn.

Vorsichtig spähe ich durch das dunkle Fenster der Tür zum Treppenhaus, das zu den unteren Wohnungen führt, sehe aber nichts. Finn drängt mich, es hinter mich zu bringen. Ich beiße die Zähne zusammen und öffne das rostige Zahlenschloss. Quietschend schnappt es auf. Die Ketten rasseln laut hallend zu Boden. Ich schiebe die knarzende Tür auf. Mit der einen Hand greife ich nach Finn, mit der anderen halte ich die Smogmaschine vor uns in die Höhe wie einen Talisman, um das Böse abzuwehren. Das erinnert mich irgendwie an die alten Märchen, die Ma mir früher vorgelesen hat.

Im Treppenhaus ist es kalt und still. Ma hat immer von Grabesstille gesprochen. Der Gedanke daran lässt mich frösteln. Wir wagen uns tiefer und tiefer, schleichen uns möglichst leise auf nackten Füßen an den düsteren Türen vorbei. Als Ma noch am Leben war, hing der Smog knapp unter dem vierten Stock. Die Tür zum fünften war mit einer weiteren Kette samt Zahlenschloss gesichert, die wir unter keinen Umständen jemals öffnen sollten. Ich zähle rückwärts. In den Fünfer- und Nullerstockwerken gibt es jeweils ein Fenster, an dem wir anhalten, um die Smogwerte zu überprüfen. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und strecke, schaffe ich es gerade so, das Gerät gegen die Scheibe zu drücken. Fünfundsechzig, sechzig, fünfundfünfzig, fünfzig: alle in Ordnung.

Als wir die fünfunddreißigste Etage erreichen, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Die Fenster sind dunkel und trübe, als wären sie rußverkrustet. Als ich die Messung starte, geht sofort ein ohrenbetäubender Alarm los, und ich lasse vor Schreck fast die Maschine fallen.

»Lauf!«, ruft Finn.

Ich halte die Luft an, obwohl ich nicht weiß, ob das überhaupt etwas bringt, während wir die Stufen hinaufflüchten. Wie luftdicht ist dieses Gebäude? Wie viel von der tödlichen Verschmutzung kann hereingelangen? Kurz vor dem vierzigsten Stock verstummt das Heulen schließlich wieder.

Finn starrt mich ungläubig an. »Wie kann der Smog so hoch gestiegen sein?«