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»Mila Summers schreibt mit einer Leichtigkeit, die verzaubert!« Katharina Herzog Lotte kommt das Angebot ihrer Großmutter, sie in ihrem Hotel in Binz auf Rügen zu vertreten, gerade recht. Und so tritt die Hamburger Grafikerin ohne jede Erfahrung als Hotelchefin den Posten an. Glücklicherweise steht ihr der gutaussehende Hausmeister Felix zur Seite, um mit den Tücken des Traditionshauses fertigzuwerden. Anfangs verhält er sich distanziert, doch das macht ihn nur noch interessanter. Lotte versucht, hinter sein Geheimnis zu kommen, während ihre Großmutter einer Liebe aus einer lange zurückliegenden Zeit auf der Spur ist.
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Seitenzahl: 362
Mila Summers
Ein Rügen-Roman
Als Lottes Großmutter sie bittet, sie in ihrem Hotel in Binz auf der Ostseeinsel Rügen zu vertreten, kommt Lotte das Angebot ziemlich ungelegen. Dennoch willigt die Hamburger Grafikerin schließlich ein, sowohl die mondäne Bädervilla an der Promenade zu führen, als auch sich um ihre etwas eigenwillige Großtante zu kümmern, die ohne ihren roten Samtbademantel das Haus nicht verlässt. Zum Glück steht ihr der gutaussehende Hausmeister Felix zur Seite. Und das obwohl sie bei ihrer ersten Begegnung mit ihm mächtig ins Fettnäpfchen tritt. Anfangs verhält er sich ihr gegenüber distanziert, doch das macht ihn nur noch interessanter. Lotte versucht, hinter sein Geheimnis zu gelangen, während ihre Großmutter ihrer Jugendliebe auf der Spur ist.
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Mila Summers lebt mit ihrem Mann, den beiden Kindern, der quirligen Jack-Russell-Hündin und den beiden Schildkröten in Nordbayern und hat immer Sehnsucht nach dem Meer. Deshalb verbringt sie ihren Urlaub am liebsten an Nord- und Ostsee, lässt sich eine frische Meeresbrise um die Nase wehen, während sie den Sand unter den Füßen spürt und mit ihrer Familie Burgen am Strand baut. Seit 2015 schreibt sie erfolgreich romantische Wohlfühlromane, die regelmäßig die Bestsellerlisten stürmen.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Epilog
[Leseprobe]
1. Kapitel
2. Kapitel
Der Tannenhäher legt im Sommer Vorräte an und vergräbt Haselnüsse und Zierbelkiefersamen im Erdboden. Im Winter weiß er oft nicht mehr, wo diese zu finden sind. Durch seine Vergesslichkeit wachsen überall neue Zierbelkiefern. Der Vogel trägt dadurch zur natürlichen Verbreitung des Baumes bei, seine Vergesslichkeit hat also etwas Gutes.
Wofür meine Vergesslichkeit gut sein sollte, habe ich in den dreißig Jahren meines Lebens nicht ergründen können.
»Wo ist schon wieder mein Schlüssel? Das kann doch nicht wahr sein! Wenn ich rechtzeitig im Verlag sein will, dann muss ich jetzt los.«
Nervös durchsuchte ich die Schubladen der Kommode, die in meinem schmalen Flur stand, kramte in der Jackentasche, nur um dann den kompletten Inhalt meiner Handtasche auf dem Boden auszukippen. Was ich bereits dreimal getan hatte. Aus Ermangelung an Alternativen versuchte ich es ein weiteres Mal. Was blieb mir anderes übrig, ohne Schlüssel konnte ich ja schlecht das Haus verlassen. Also durchwühlte ich die Tasche mit demselben Ergebnis: zwei Haargummis, eine Schachtel Bonbons, ein Geldbeutel, ein Regenschirm, zwei Taschentücher (lose), sieben zerknitterte Kassenzettel, ein altes Bahnticket und ein Lipgloss. Sonst nichts. Kein Schlüssel.
»Vielleicht ist er ja in der Küche auf der Anrichte neben den Trockenblumensträußen, die ich gestern Abend noch gebunden habe«, murmelte ich vor mich hin, ehe ich entnervt die Arme in die Höhe sausen ließ. »Und wem erzähle ich das eigentlich? Schließlich bin ich allein hier. Wenn das so weitergeht, sollte ich mir dringend einen Kater anschaffen. So einen flauschigen Stubentiger wie meine Großtante Agnes, die auf Rügen lebte, hat, der …« Als ich bemerkte, dass ich schon wieder Selbstgespräche führte, brach ich mitten im Satz ab, ging zurück in den Flur, blieb genervt stehen, weil das Handy in meiner Hosentasche vibrierte.
Auch das noch. Hatte ich etwa eine falsche Uhrzeit im Kopf? Und ich hatte es nicht mal aus dem Haus geschafft. So ein Mist! Dieser Auftrag des renommierten Hamburger Verlags war verdammt wichtig für mich. So sollte ich nicht nur das Cover für den neuen Titel einer Bestsellerautorin entwerfen, nein, zusätzlich brauchten sie verschiedene Vorlagen für Merchandise-Produkte rund um das Buchcover. Sie hatten mich sogar gebeten, eigene Ideen zu entwickeln und ihnen ein plausibles Gesamtpaket zu präsentieren. Das war meine Chance. Ein wirklich lukrativer Auftrag, einer von der Sorte, der meine Monatsmiete abdeckte und mir mindestens zwei Drei-Gänge-Menüs bei Luigi, dem Edelitaliener meiner Wahl, finanzierte.
Allerdings nur, wenn ich endlich in die Gänge kam und diesen verdammten Schlüssel fand. Wie oft hatte ich mir in der Vergangenheit vorgenommen, einen Ersatzschlüssel anfertigen zu lassen und ihn bei meiner besten Freundin Yara zu hinterlegen? Oder noch besser: bei Frau Severin im Erdgeschoss, der guten Seele des Hauses, die alles im Blick behielt und meine Pakete annahm, wenn ich nicht da war.
So oft schon, dass ich es nicht mehr zählen konnte. Genauer gesagt: mindestens fünfmal pro Woche, wenn ich wie üblich auf der Suche nach dem kleinen kantigen Gegenstand mit dem hakenförmigen Schaft war. Aber Jammern brachte mich im Moment nicht weiter. Wenn ich die Sache nicht noch schlimmer machen wollte, musste ich wohl oder übel den Anruf annehmen.
Doch als ich mein Handy aus der Hosentasche zog, war auf dem Display nicht das Logo des Verlags zu sehen, das ich nach der Auftragserteilung eingespeichert hatte, sondern Oma Elses Gesicht. Was die wohl wollte? Siedend heiß fiel mir wieder ein, dass sie schon gestern angerufen hatte. Aber da war ich gerade mit zwei voll bepackten Tüten die Treppen in den vierten Stock hochgekeucht. Memo an mich: Falls ich in diesem Leben noch einmal innerhalb Hamburgs umziehen sollte, dann unbedingt in ein Haus mit Aufzug.
Oma Elses leicht hektischer, aber dennoch herzlicher Blick musterte mich, während ich mit mir haderte, ob ich das Gespräch entgegennehmen oder besser meinen Schlüssel suchen sollte. Die Zeit drängte. Aber Oma Else eben auch. Sie konnte schrecklich nachtragend sein, wenn man ihre Anrufe ignorierte. Beim letzten Mal hatte sie mich darauf hingewiesen, dass ihre Großmutter sie mit Nichtbeachtung gestraft hätte, sofern sie ihren Anruf nicht angenommen hätte. Ich verkniff mir die Anmerkung, dass es zu jener Zeit definitiv noch keine Handys gab und kaum jemand im Besitz eines Telefons gewesen war.
Also nahm ich das Gespräch trotz der widrigen Umstände und um des lieben Friedens willen an.
»Hallo, Oma«, begrüßte ich sie mit einem leichten Singsang in der Stimme, der sich ein wenig wie das Fiepen einer Maus anhörte.
»Lotte, mein Kind. Alles in Ordnung mit dir? Du hörst dich so gestresst an.«
Meine Großmutter hatte schon immer ein feines Gespür für die Gemütsverfassung ihrer Mitmenschen.
»Ich bin auf dem Weg zu einem Kunden.« Es war auch nicht nötig, Oma Else mit Details zu behelligen. Schließlich galt es, einen Schlüssel zu finden, mich hinterher schnellstmöglich auf den Weg zum Verlag zu machen, um dort dafür Sorge tragen zu können, dass ich meine Miete weiterhin zahlen konnte. Mir schwirrte der Kopf.
»Ach, dann laufen die Geschäfte wieder besser?«
Oma Else legte gerne den Finger in die offene Wunde. Vor einigen Monaten hatte ich mich von Johannes getrennt, seitdem fiel es mir schwer, mich auf meine kreative Arbeit zu konzentrieren. Begonnene Projekte konnte ich nicht fertigstellen oder lieferte sie erst weit über den vereinbarten Fertigungstermin hinaus ab. Mehr als fünf Jahre waren wir ein Paar gewesen. Das steckte man nicht so einfach weg.
Als Angestellte hätte ich mich krankschreiben lassen können. Dr. Paulsen, mein Hausarzt, war sehr kulant, was das anbelangte. Um eine Bescheinigung von ihm zu bekommen, reichte es schon aus, wenn man in seiner Sprechstunde nieste oder über Magenschmerzen klagte. Was ich bisher aber noch nie getestet hatte. Eine ehemalige Arbeitskollegin hatte mir jedoch davon erzählt.
Vor genau einem Jahr hatte ich gekündigt, da die Stimmung in der Werbeagentur immer unschöner geworden war. Eine meiner Kolleginnen aus der Buchhaltung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir die Hölle auf Erden zu bereiten. Sie sabotierte nicht nur meine Arbeit, indem sie Kaffee über meine Tastatur kippte, sondern zerstach auch die Reifen meines Fahrrads. Und das alles, weil sie der Überzeugung war, ich hätte ein Verhältnis mit meinem Chef. Ein Verhältnis, das sie wohlgemerkt sehr gerne selbst gehabt hätte.
Aber das war totaler Blödsinn, ich war Johannes immer treu gewesen. Eines Tages meinte er auf einmal, wir würden doch nicht so gut zueinander passen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er daraufhin seine Sachen gepackt und war in die Wohnung einer Kollegin gezogen, von der er stets behauptet hatte, sie nicht ausstehen zu können. Dabei war mir ihr rubinroter Lippenstift noch nie geheuer gewesen.
»Ja, die Geschäfte laufen richtig gut«, sagte ich Oma Else und bediente mich dabei einer weiteren Halbwahrheit.
Okay, okay. Ich gab es ja zu, aber Oma Else durfte davon auf keinen Fall Wind bekommen: Es war eine Lüge. Wirklich rund lief es im Job momentan nicht. Der Markt war hart umkämpft. Niemand wartete auf eine weitere Graphikdesignerin, die sich mit Buchcovern und kleineren Auftragsarbeiten wie Logos und Briefpapiervorlagen über Wasser halten wollte.
Wenn es nach meiner Auftragslage ginge, dann sollte ich den nächsten Umzug wohl ein wenig vorziehen und nicht unbedingt an das Vorhandensein eines Aufzugs im Haus knüpfen.
Ohne Johannes’ Anteil an der Miete konnte ich die Drei-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Eppendorf nicht mehr lange halten. Außer ich bekäme weitere Aufträge von Verlagen wie diesem, den ich gerade im Begriff war zu versetzen. Meine Chancen schrumpften mit jeder Sekunde, die ich mich hier um meine eigene Achse drehte, auf die Größe eines Staubkorns zusammen.
»Gut. Gut«, hörte ich Oma Else daraufhin sagen. Ich atmete schon erleichtert aus, als ich glaubte, damit wäre alles gesagt und ich könnte sie irgendwann in Ruhe anrufen, wenn mein Leben etwas weniger hektisch war und ich mehr Zeit hatte, um mit ihr über Rügen, Großtante Agnes und das Hotel zu plaudern. Doch weit gefehlt.
»Dann wird es für dich sicher kein Problem sein, dir Urlaub zu nehmen und mich ab nächster Woche im Hotel zu vertreten.«
Bei ihren Worten fiel mir die Kinnlade herunter. Mein Handy versuchte, ebenfalls der Schwerkraft folgend, sich in die Tiefe zu stürzen, doch ich konnte es im letzten Moment davon abhalten. Geld für die Reparatur meines Handys konnte ich jetzt nicht auch noch aufbringen. An ein neues war gar nicht erst zu denken.
»Was?«, fragte ich wie vom Donner gerührt.
Das konnte nur ein schlechter Scherz gewesen sein. Vielleicht hatte ich mich auch verhört. Ja, so musste es sein. Ich hatte mich ganz sicher verhört. Oma Else übergab nämlich nicht einfach so die Führung ihrer hochheiligen Villa Sehnsucht. Dafür hatte sie viel zu wenig Vertrauen in die Leute. In ihren Augen konnte niemand so gut ihr Hotel managen wie sie selbst. Und in diesem Punkt waren wir sogar einer Meinung.
Seit Oma Else unser ehemaliges Familienhotel an der Binzer Promenade auf Rügen, das im Stil der Bäderarchitektur errichtet und uns zu DDR-Zeiten enteignet worden war, in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zurückerwerben konnte, war das Haus zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden. Mein Opa war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Voller Tatendrang hatte sie sich an die Arbeit gemacht, das Haus renovieren lassen, selbst mitangepackt und ihre Schwester Agnes zu sich geholt, die seit Jahren pflegebedürftig war.
Binz hatte meiner Großmutter wieder Lebensfreude geschenkt, ihr gezeigt, dass es mit Mitte fünfzig noch viel zu früh war, sich zur Ruhe zu setzen. Wir alle hatten diese glückliche Fügung gutgeheißen. Auch ich. Bis heute.
»W-was meinst du denn damit: Ich müsse dich ab nächster Woche im Hotel vertreten? W-was ist … mit deinen Angestellten? Ich habe doch gar keine Ahnung von der Materie. Und außerdem habe ich zwei linke Hände.« Verzweifelt versuchte ich, Oma Else von ihrem Vorhaben abzubringen.
»Papperlapapp! Was redest du denn da? Das hat dir bestimmt dieser aalglatte Schnösel eingeredet. Sei froh, dass du den los bist, mit dem wärst du nie glücklich geworden. Deine Hände sind genau richtig. Also, Lotte, mein Kind, es wäre schön, wenn du am Montag gegen Mittag hier eintreffen könntest. Ich muss spätestens um vierzehn Uhr los. Dann sollte uns noch genügend Zeit für die Übergabe bleiben.«
»Aber was ist denn passiert? Warum brauchst du so plötzlich Unterstützung? … Ich meine, wie bitte? Und was ist mit meinen Cousinen, Anne oder Sabine? Können die nicht einspringen? Die wohnen doch viel näher an Rügen.«
Oma Else schnaubte.
»Anne hat ein kleines Baby, und Sabine arbeitet als Richterin beim Verwaltungsgericht. Die kann sich nicht mal eben vier Wochen freinehmen.«
»Vier Wochen?«, platzte es aus mir heraus.
Den Hinweis, dass ich als Freiberuflerin ebenso meine Arbeit erledigen musste und niemanden hatte, der mich vertrat, verkniff ich mir, um nicht vom Thema abzulenken. Denn Zeit war ein knappes Gut.
»Ich soll vier Wochen auf die Insel kommen und mich um das Hotel kümmern? Oma, es ist gerade Hochsaison. Da ist doch mit Sicherheit alles ausgebucht.«
Oma Else lachte.
»Genau deshalb sollst du ja auch kommen. Schau mal, ich habe sonst niemanden. Deine Eltern sind in Thailand. Gott weiß, wie die sich mit ihrer Strandbar über Wasser halten. Ich bezweifle, dass sie mal eben das Geld für ein Flugticket auftreiben können. Außerdem mag ich es nicht, wenn Ricarda mit ihren Räucherstäbchen das ganze Haus verpestet. Die Villa Sehnsucht ist schon immer im Familienbesitz. Noch nie war jemand von außen maßgeblich für die Geschicke des Hauses verantwortlich. Ich würde das gute Stück nur ungern in fremde Hände geben, Lotte. Das will ich mir einfach nicht vorstellen. Auch wenn es nur auf Zeit wäre. Und dir geht es sicherlich genauso, horch mal tief in dich hinein.«
Oma hatte Mama noch nie besonders gemocht. In ihren Augen war sie eine esoterische Spinnerin. Was definitiv nicht der Fall war. Die Räucherstäbchen konnte ich aber auch nicht leiden, davon wurde mir immer schlecht.
Der Punkt, dass die Villa Sehnsucht eine Familienangelegenheit ist, war nicht von der Hand zu weisen. Mein Urgroßvater hatte das Haus gebaut und geleitet. Oma Else hatte es sich nach der Wende wiederbeschafft und seither alles getan, damit unser Familienbesitz Bestand hatte. Sie sorgte dafür, dass jedes Jahr aufs Neue Urlauber das Hotel buchten, um dort ihre Ferien zu genießen. Mittlerweile kamen viele schon in zweiter und dritter Generation, brachten ihre Enkelkinder mit und teilten mit ihnen all die Erinnerungen, die sie mit dem Haus verbanden. Die Villa Sehnsucht war nicht irgendein Hotel. Es war eine Institution, ein Sehnsuchtsort. Ein bisschen wie ein Nachhausekommen.
»Oma, was hast du überhaupt vor? Kannst du deine Pläne nicht ein wenig verschieben? Bei mir ist es gerade wirklich schlecht.«
Ein Blick auf meine Armbanduhr, und mein Magen schrumpfte zusammen auf die Größe einer Erbse.
Meine Großmutter seufzte.
»Eigentlich hatte ich dir ja nichts davon erzählen wollen, aber … mein Hausarzt hat mir dringend geraten, eine Kur zu machen. Mein Herz, weißt du.« Um die Tragweite ihrer Worte zu untermalen, seufzte sie abermals.
»Das ist ja schrecklich. Was ist denn passiert? Bist du ernsthaft erkrankt? Ist es etwas Akutes? Muss ich mir Sorgen machen?« Augenblicklich überkam mich ein schlechtes Gewissen. Ich hätte mich besser um sie kümmern müssen. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste, führte ein Hotel und sorgte zusätzlich noch für ihre Schwester. Aber Johannes hatte sich nicht gut mit ihr verstanden. Er hatte sich das Stirnrunzeln nie verkneifen können, wenn im Hotel nicht alles genau so ablief, wie er es gewohnt war. Da reichte es schon, wenn auch nur ein Bilderrahmen in Schieflage geraten war. Oma Else hatte das sehr wohl bemerkt. In solchen Fällen war sie nicht um die eine oder andere spitze Bemerkung verlegen. Irgendwann waren die Besuche für mich mehr zur Belastung als zur Erholung geworden, bis wir schließlich Abstand davon nahmen und statt an die Ostsee lieber ans Mittelmeer fuhren. Ein Entschluss, den ich nun zutiefst bereute.
»Das Alter, weißt du. Mein Herz macht das alles nicht mehr so gut mit wie früher.« Sie ging nicht weiter ins Detail. »Aber wenn du nicht kannst …«
Während ich mir die freie Hand auf die Stirn legte, wie um von außen meine wirren Gedanken dahinter in eine wie auch immer geartete Ordnung zu bringen, erklärte Oma Else mit Grabesstimme: »… dann bleibt mir keine andere Wahl: Ich werde das Hotel schließen müssen.«
»Nein!«, entfuhr es mir, abermals viel zu laut.
Aber bei Omas Worten schoben sich Bilder mit kleinen Kindern und ihren mit Tränen überströmten Gesichtern vor mein geistiges Auge. Die Vorstellung, wie sie mit dem Sandeimerchen in der Hand vor Oma Elses Villa Sehnsucht standen und nicht reinkonnten, brach mir fast das Herz.
»Okay«, hörte ich mich plötzlich sagen. Ich atmete tief durch. »Ich komme.«
»Ach, das ist ja toll. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, mein Lottchen. Sein Lebenswerk kann man nicht Angestellten überlassen. Dafür ist Familie doch da. Wir sehen uns dann am Montag. Nicht später als Mittag, denk dran. Mein Schiff geht am frühen Nachmittag.«
»Ähm, ja … ich …«
Tut, tut, tut.
Aufgelegt.
Oma Else hatte einfach aufgelegt.
War das denn zu fassen? Hatte ich gerade allen Ernstes eingewilligt, die Leitung des Hotels für sie zu übernehmen?
Wie schlimm konnte dieses Jahr eigentlich noch werden? Schuster, bleib bei deinen Leisten, hieß es. Wie konnte ich ihr nur zusagen, die Villa Sehnsucht für vier Wochen zu führen? Das war absurd. Ich hatte keine Ahnung von der Hotellerie. Woher auch? Das zählte nun mal nicht wirklich zum Berufsbild einer Graphikdesignerin. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?
Aber jetzt war nicht die Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Der Schlüssel musste her. Ganz dringend. Sonst konnte ich meine Wohnung noch vor Montag ausräumen und mit gepackten Kisten bei Oma Else auf Rügen aufschlagen. Die würde Augen machen.
Moment mal. Gepackte Kisten. Da kam mir ein Gedanke. Wie von der Tarantel gestochen, ging ich hinüber ins Schlafzimmer und stellte eine der Kisten vom Boden aufs Bett, in der ich erst gestern Abend alles gesammelt hatte, was Johannes bei seinem Auszug vergessen hatte.
»Ha!«, rief ich schließlich triumphierend, als sich mein Verdacht bestätigte. Vorhin in der Küche war mir der dämliche Korkenzieher in die Finger gekommen, den Johannes bei irgendeiner Weihnachtsfeier beim Wichteln bekommen hatte. Vermutlich von Mrs. Rubinrot. Um meine Stimmung nicht noch mehr zu trüben, verbat ich mir, weiter über diese Frau nachzudenken, freute mich darüber, endlich meinen Schlüssel gefunden zu haben, und sprintete zur Tür. Noch konnte ich es schaffen.
Auch wenn Oma Else dafür gesorgt hatte, dass sich in der Zwischenzeit ein weiteres, nicht unerhebliches Problem in meinem Leben aufgetürmt hatte. Ohne ihren Anruf wäre ich meinem Schlüssel sicher nicht so schnell auf die Spur gekommen. Auf eine ziemlich merkwürdige und kaum verständliche Weise musste ich ihr am Ende sogar noch dankbar sein.
Fünfzehn Minuten dauerte der Fußweg vom Binzer Bahnhof zur Villa Sehnsucht. Fünfzehn Minuten, in denen ich mir die Meeresbrise um die Nase wehen ließ und den Möwen dabei zusah, wie sie über mir ihre Kreise zogen und verschlagen auf das Fischbrötchen in meiner Hand linsten, das ich mir direkt am nächstgelegenen Kiosk gekauft hatte.
Es war ein wunderbares Gefühl, endlich hier zu sein. Erst jetzt, da ich wieder auf Rügen war, erkannte ich, wie sehr mir meine dreiwöchige Urlaubsroutine in den letzten Sommern gefehlt hatte. Mit Johannes war ich auf Mallorca, Korsika und Zypern gewesen, aber keine Insel war vergleichbar mit Rügen. Rügen war wie ein Teil von mir, ein Stück Heimat.
Als meine Eltern vor vielen Jahren nach Thailand auswanderten, war Rügen, und ganz besonders die Villa Sehnsucht, zu einem warmen Nest für mich geworden, in dem ich mich behütet und geborgen fühlte. Oma Else war zwar nicht die Großmutter, die einen mit eingeweckter Erdbeermarmelade und einem selbstgebackenen Kuchen erwartete. Dafür machten wir lange Strandspaziergänge am Meer oder spielten eine Runde Rommé im Wintergarten der Villa Sehnsucht. Sie liebte mich. Das wusste ich. Eben auf ihre eigene etwas energische und resolute, aber durchweg herzliche Art und Weise.
Während ich in die Strandpromenade einbog, klingelte das Handy, das ich in meiner Handtasche verstaut hatte. Ich hielt einen Moment inne, stellte den Rollkoffer ab und stopfte das Fischbrötchen zurück in die Tüte. Dann wühlte ich mich an Taschentüchern, Bonbons, Wasser und Keksen vorbei. Als ich mein Handy schließlich in Händen hielt, steckte ich die Tüte mit dem Fischbrötchen in die Tasche und warf einen Blick auf das Display. Dabei blieb mir fast das Herz stehen. Es war der Verlag, bei dem ich am vergangenen Freitag mit sage und schreibe fünfzehn Minuten Verspätung aufgeschlagen war. Mein Glück war gewesen, dass zuvor ein Meeting genau um diese fünfzehn Minuten überzogen worden war.
»Hallo, Frau Bundschuh. Schön, von Ihnen zu hören.«
Die Lektorin hatte zwar angekündigt, sich zu Beginn dieser Woche bei mir melden zu wollen, aber so schnell hatte ich nicht mit ihrem Anruf gerechnet. Dementsprechend überrumpelt und unvorbereitet fühlte ich mich.
Aufgeregt biss ich mir auf die Unterlippe, während eine Familie mit zwei kleinen Kindern und einem randvoll bepackten Bollerwagen an mir vorbei Richtung Strand zog.
Es war ein wundervoller Tag. Die Sonne strahlte mir von einem blauen Himmel entgegen. Keine Wolke war zu sehen. Und schon jetzt war es herrlich warm. Wenn es meine Verpflichtungen im Hotel zuließen, dann wollte ich später unbedingt noch ins Meer springen, meine Füße im Sand vergraben und in einem Strandkorb die Seele baumeln lassen. Aber irgendwas sagte mir, dass es nicht einfach werden würde, sich diese Wünsche zu erfüllen.
»Hallo, Frau Steltner. Haben Sie einen Moment für mich?«
»Ja, aber sicher doch«, sagte ich, während mir mein Herz in die Hose rutschte. War es nun ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen, dass sie sich so schnell bei mir meldete? Bei meiner Präsentation am Freitag schien sie recht angetan von meinen Vorschlägen gewesen zu sein, auch wenn die Reihenfolge meiner Folien irgendwie durcheinandergeraten war. Zum Glück fing ich mich schnell wieder und konnte einen eleganten Schlenker in meine Ausführungen einbauen. Aber so richtig konnte ich die Frau nicht einschätzen. Schließlich war ich mit einem unzufriedenen Gefühl aus dem Verlag nach Hause gegangen und hatte das halbe Wochenende darüber gegrübelt, weshalb ich ein so schrecklich unorganisierter Mensch war. Eine zermürbende Ungewissheit, die mich zusätzlich zu den Bedenken um Oma Elses Auftrag kaum hatte schlafen lassen.
»Ich habe Ihre Ansätze jetzt mit meiner Kollegin besprochen und wir beide sind uns einig, dass …«
Noch ehe ich hören konnte, zu welchem Ergebnis die beiden Damen gekommen waren, rempelte mich jemand so heftig an der Schulter an, dass mir mein Handy aus der Hand auf das Kopfsteinpflaster flog. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, während ich schnell mein Handy aufhob und erleichtert feststellte, dass es wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war.
»Können Sie nicht aufpassen?«, blaffte ich die Person an, die soeben mit mir kollidiert war.
»Sorry, das tut mir echt leid. Ist das Telefon kaputt? Ich kann ziemlich gut reparieren, müssen Sie wissen«, behauptete der Mann mit einem schelmischen Grinsen.
Seine grün-blauen Augen leuchteten mit der Sonne um die Wette. Der Typ erinnerte mich an irgendeinen Schauspieler. Wie hieß der noch gleich? Der aus Hangover.
»Nein, es scheint zum Glück nicht beschädigt zu sein. Aber in Zukunft sollten Sie besser auf Ihren Weg achten. Dann müssen Sie auch nichts reparieren.«
»Okay, aber passen Sie gut auf sich auf, mit dem Kopfsteinpflaster hier ist nicht zu spaßen!« Dabei zwinkerte er mir vielsagend zu. Zum Abschied erntete ich ein weiteres schiefes Grinsen.
»Frau Steltner, können Sie mich hören? Frau Steltner?«
Erst, als der gutaussehende Unbekannte außer Sichtweite war, realisierte ich, dass Frau Bundschuh noch immer in der Leitung hing. Und dass er mich an Bradley Cooper erinnerte.
»Ja, ich bin da. Entschuldigen Sie bitte. Mir hat gerade jemand das Handy aus der Hand geschlagen.«
»Oje, wurden Sie verletzt?«, fragte sie besorgt.
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich mir der Tatsache bewusst war, dass sie es nicht sehen konnte.
»Nein, nein, danke. Es war nur ein Versehen«, bemühte ich mich, sie zu beruhigen und dabei nicht weiter an die grün-blauen Augen zu denken, die mich ein wenig aus der Fassung gebracht hatten. Und das meinte ich nicht nur wegen des Schubses.
»Bei so einem Versehen, wie Sie es nennen, hat mir mal ein Kerl das Portemonnaie geklaut. Schauen Sie besser nach, ob es noch da ist. Vielleicht haben Sie eine Chance, ihm nachzugehen, falls es Ihnen so ergangen sein sollte wie mir damals. Weit kann er ja nicht sein.«
Noch während sie ihren Verdacht äußerte, kramte ich halbherzig in meiner Tasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Geldbeutel wirklich weg sein sollte. Das hätte ich doch bemerkt. Oder? Außerdem wirkte der Typ nicht wie ein Krimineller auf mich. Dafür sah er viel zu … gut aus. Klar, Taschendiebe und Kleinkriminelle sehen natürlich immer furchtbar verschlagen aus, haben Narben im Gesicht und ein Glasauge, veralberte mich meine innere Stimme.
Doch ich reagierte gar nicht auf ihren Einwand, sondern kramte derweil mit wachsendem Unbehagen in meiner Tasche. Mein Geldbeutel war nirgends zu finden. Frau Bundschuh hatte recht. Der Kerl hatte mich mit Absicht angerempelt. Das schelmische Grinsen, das Leuchten seiner Augen – alles nur Taktik, um mich abzulenken. Und ich war so doof und fiel darauf rein. Wie ein dämliches Honigkuchenpferd hatte ich ihn angehimmelt. Wahrscheinlich lachte er sich noch immer ins Fäustchen.
»Frau Bundschuh, ich … Mein Portemonnaie scheint wirklich weg zu sein. Ich würde mich später bei Ihnen melden, wenn das in Ordnung ist.«
Ein glücklich aussehendes Pärchen spazierte Arm in Arm an mir vorüber, während ich mich verzweifelt nach dem Dieb umsah. Doch der war wie vom Erdboden verschluckt.
Das war mal ein astreiner Start hier auf Rügen. Geld weg, Ausweis weg, Führerschein weg. Das letzte Foto von Johannes und mir war damit auch weg. Alle anderen Bilder von uns hatte ich bereits in die hinterste Ecke des Kellers verstaut. Nur bei diesem einen in meinem Geldbeutel hatte ich es nicht übers Herz gebracht, es ebenfalls auszumustern. Es war an meinem letzten Geburtstag aufgenommen worden. Wie glücklich wir da doch noch waren …
»Es tut mir sehr leid für Sie, Frau Steltner. Wir sprechen uns später. Nur so viel: Sie haben den Job. Ihre Präsentation fand überall großen Anklang. Sogar der Vertrieb hat bereits grünes Licht gegeben.«
Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag. Das ließ mich zwar auch nicht über meinen Verlust hinwegsehen, aber zumindest hatte ich nicht das Gefühl, auf ganzer Strecke versagt zu haben.
»Ich freue mich riesig und melde mich schnellstmöglich bei Ihnen zurück, Frau Bundschuh. Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten.«
»Ach, was. Da können Sie ja nichts für. Sie haben sich bestimmt nicht mit offener Handtasche vor den Mann hingestellt und ihn darum gebeten, Sie auszurauben.«
Ich lächelte verlegen. Denn irgendwie entsprach Frau Bundschuhs Zusammenfassung ziemlich genau dem Tathergang. Wenn ich mich von diesen grün-blauen Augen nicht so hätte einlullen lassen, dann wäre es diesem schmierigen Taschendieb nie im Leben gelungen, mich zu beklauen. Warum hatte ich sein Lächeln nur so bereitwillig erwidert? Ich war doch sonst nicht so unbedarft und naiv. Schließlich lebte ich in Hamburg, einer Millionenstadt.
»Danke, Frau Bundschuh. Wir hören uns.«
Aber genau das war der Unterschied. Rügen war nicht Hamburg. Hier gingen die Uhren ein wenig langsamer und von Kleinkriminellen und Mördern hatte ich auf der Insel auch noch nie etwas gehört. Offenbar hatte sich in den Jahren, in denen ich nicht hier gewesen war, einiges verändert. Bei diesem Gedanken durchfuhr ein Stich mein Herz. Das hier war doch meine Heimat. Meine heile Welt wollte ich nur ungern mit Menschen teilen, die ihre Mitmenschen, ohne mit der Wimper zu zucken, ausnahmen.
Seufzend stopfte ich das Handy zurück in die Tasche und kramte die Tüte mit dem Brötchen hervor. Dem Täter jetzt noch nachzujagen war aussichtslos. Außerdem hatte ich nicht darauf geachtet, wohin er verschwunden war. Wahrscheinlich würde ich ihn nie wiedersehen. Das Bedauern, das ich zu meinem Erstaunen bei diesem Gedanken verspürte, hatte nicht nur etwas mit meinem gestohlenen Geldbeutel zu tun. Ohne es zu wollen, musste ich abermals an das umwerfende Lächeln denken, das mit einer solchen Leichtigkeit dahergekommen war. Fast schon fühlte ich mich so, als wäre ich auf Wolken unterwegs. Und dann diese grün-blauen Augen … Konnten das denn wirklich die Augen eines Kriminellen sein?
Nee, du hast natürlich recht. Verbrecher sind immer stiernackig und haben einen verschlagenen Blick, machte sich meine innere Stimme abermals über mich lustig.
Die meisten Menschen hätten in solch einem Moment vermutlich keinen Bissen heruntergebracht. Aber mein Magen reagierte da vollkommen anders. Am liebsten wäre er jetzt mit einer Tafel Schokolade verwöhnt worden. Aber die befand sich leider nicht in meiner Tasche. Da war ich mir ganz sicher. Schließlich hatte ich schon während der Zugfahrt vergebens danach gesucht, als ich mal wieder an Johannes denken musste.
Nach einem herzhaften Biss in mein Matjesbrötchen ließ ich meinen Blick über die Strandpromenade gleiten. Es war noch nicht einmal elf Uhr, und hier herrschte schon reges Treiben. Buggys, Rollatoren, Laufräder und Bollerwagen passierten mich gefühlt im Sekundentakt. Jeder hielt Ausschau nach dem schönsten Fleckchen am Strand.
Ich liebte es, auf Höhe der Villa Sehnsucht runter ans Meer zu laufen. Von dort aus hatte man einen wunderschönen Blick auf die Seebrücke. Besonders gern sah ich den Schiffen dabei zu, wie sie festmachten oder losfuhren. Schon als Kind hatte ich ein Faible für große alte Segelschiffe, die mir Geschichten aus einer anderen Zeit erzählten, wenn der Wind aus einer ganz bestimmten Richtung in ihr Segel blies.
Und während ich so vor mich hinträumte, bemerkte ich zu spät eine diebische Möwe, die mich offensichtlich nicht aus dem Blick gelassen hatte, sich nun auf mich herabstürzte und mir das Brötchen aus der Hand stibitzte.
Erschrocken starrte ich zunächst auf meine leere Hand und dann auf die freche Möwe, die sich einen sicheren Platz suchte, an dem sie ungestört ihr Diebesgut verzehren konnte.
»Na prima«, rief ich so laut, dass mich einige der Passanten verwundert ansahen.
Das war wirklich ein ganz wundervoller Start hier auf Rügen. Schlimmer konnte es jetzt wahrlich nicht mehr werden.
»Wie wundervoll! Du bist ja schon da.«
Kaum hatte ich die Villa Sehnsucht betreten, sprintete mir auch schon Oma Else überraschend leichtfüßig entgegen. Jedes Mal aufs Neue faszinierte es mich, wie gut sie mit ihren fast neunzig Jahren noch in Form war. Fitter als so manche Dreißigjährige. Und das körperlich und mental.
»Hallo, Oma Else«, sagte ich artig und ließ dabei meinen Rollkoffer stehen, um meine Großmutter in die Arme zu nehmen.
Unsere Begrüßung fiel nicht ganz so herzlich aus, wie ich es mir erhofft hatte, aber Oma Else wirkte etwas getrieben, rastlos, als müsste sie vor ihrer Abreise noch unzählige Dinge erledigen, die keinen Aufschub duldeten und trotz ihrer sicher makellosen Organisation offenbar zu kurz gekommen waren.
»Hallo, mein Lottchen. Lass dich mal ansehen! Gut siehst du aus, nur ein bisschen blass. Aber das werden wir mit der guten Seeluft schnell hinkriegen. Da bin ich mir sicher.«
Sie lächelte zuversichtlich, während ich zweifelte, hatte ich doch weder das Fischbrötchen noch die Sache mit meinem Geldbeutel verdaut.
An der Rezeption klingelte das Telefon.
»Oh, da muss ich rangehen. Svea ist heute nicht zur Arbeit gekommen. Ihre Tochter ist krank geworden. Vierzig Fieber. Das arme Ding. Ich habe leider so schnell keinen Ersatz für Svea finden können. Aber jetzt bist du ja da.«
Wenn ich auch nur ansatzweise gehofft hatte, dass das hier eine ruhige Nummer werden würde, wurde ich nicht mal fünf Minuten nach meiner Ankunft eines Besseren belehrt.
Die Villa Sehnsucht für vier Wochen in der Hochsaison zu übernehmen, kam einem Himmelfahrtskommando gleich. Wie sollte ich das nur alles schaffen? Allein beim Gedanken an die verschiedenen Horrorszenarien, die mich mit Sicherheit in absehbarer Zeit ereilen würden, brach mir bereits der kalte Angstschweiß aus.
»Ja, Frau Lambrecht. Genau … Ja, es bleibt alles beim Alten und den Sanddorn-Holunderblütentee, den Sie so lieben, sowie den Aronia- und Holunder-Fruchtaufstrich habe ich Ihnen bereits in die Ferienwohnung bringen lassen. Wir freuen uns auf Ihre Ankunft. Meine Enkelin wird sich um Sie kümmern. Es wird alles reibungslos ablaufen. Einem wunderschönen Aufenthalt hier bei uns steht also nichts im Wege.«
Bei Omas Worten musste ich trocken schlucken. Ich hatte mir weder gemerkt, welche Sorte Früchtetee Frau Lambrecht gerne trank, noch hatte ich eine Ahnung, um was genau ich mich alles kümmern sollte. Die Zeit war also mehr als überreif, um Oma Else nach Instruktionen zu fragen. Anders würde ich die kommenden Wochen nicht überleben und das Hotel schnurstracks in die Insolvenz treiben.
Außerdem musste ich dringend etwas wegen des gestohlenen Geldbeutels unternehmen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, gleich nach Betreten des Hauses bei der Polizei anzurufen und Anzeige zu erstatten. Denn zu meinem grenzenlosen Pech hatte der Akku meines Handys heute Nacht offenbar nicht richtig geladen. Oder anders formuliert: Das Ding gab keinen Pieps mehr von sich.
»Oma, ich …«, hob ich zu sprechen an, kaum dass meine Großmutter das Telefonat beendet hatte.
Doch sie ließ mich gar nicht erst ausreden.
»Lass uns alles Weitere im Wintergarten besprechen. Die Zeit drängt.«
Bewaffnet mit dem mobilen Telefon in der Hand, lief sie an mir vorbei, ohne auf mich zu warten. Ich folgte ihr eilig, nachdem ich meinen Rollkoffer ein wenig zur Seite gestellt hatte. So würde hoffentlich niemand darüber stürzen. Und vor allem für mögliche Diebe unsichtbar sein. Hier schien es neuerdings vor Kriminellen ja nur so zu wimmeln.
Die verglaste Veranda links neben dem Haupteingang des Hauses war der schönste Ort im Hotel. Bequeme Stühle und runde Holztische luden dazu ein, sich zu setzen, zu plaudern oder sich an der reichlich bestückten Spielesammlung aus dem offenen Regal zu bedienen. So konnte man seine Zeit mit Skat, Memory oder Monopoly verbringen, während man hinaus aufs Meer blickte. Und das zu jeder Jahreszeit, unabhängig von Wind und Wetter.
Oma wies mir einen Platz zu, und ich setzte mich ihr artig gegenüber.
»Es ist ein wenig unglücklich, dass Svea heute nicht da ist«, seufzte sie. »Sie weiß neben mir am besten über die Vorgänge im Haus Bescheid.« Dann winkte sie ab und setzte ihr Alles-wird-gut-Lächeln auf. »Aber das schaffen wir auch so. Da bin ich mir sicher.«
Wir? Von einem Wir konnte nicht die Rede sein. Ein Wir würde vielleicht noch eine Stunde und sechsunddreißig Minuten existieren. Aber für die nächsten vier Wochen musste ich allein klarkommen.
Atme, Lotte, atme!, forderte mich meine innere Stimme auf.
»Wann kommt Svea denn wieder?«, fragte ich mit mulmigem Gefühl im Magen.
Oma Elses Lächeln kippte. »Nun, so genau kann man das nicht sagen. Das Kind hat wohl Windpocken, das kann dauern. Und Svea ist weder geimpft noch hatte sie sie selbst als Kind …«
Das verhieß nichts Gutes.
»Heißt das also, dass ich für die nächste Zeit auf mich allein gestellt sein werde?«, fragte ich, einer Panikattacke nahe. »Was ist mit dem … Reinigungspersonal oder … der Küchencrew? Was ist mit dem Hausmeister?«
Oma Else tätschelte meine Hand, während sie ein mildes Lächeln aufsetzte.
»Lottchen, du wirst sehen, wie gut dir das alles gelingen wird. Mach dir nicht schon im Vorfeld solche Gedanken. Außerdem ist ja noch Agnes im Haus. Sie weiß bestimmt auch das ein oder andere.«
Meine Großmutter zog ein schwarzes kleines Notizbuch aus der eingenähten Tasche ihres Etuikleids. Schon als Kind fand ich es äußerst faszinierend, was sie alles mit sich herumtrug. Bevor sie vor einigen Jahren Herrn Theves, den Hausmeister, eingestellt hatte, hatte sie auch immer einen Schraubenschlüssel und einen kleinen Zollstock dabei. Oma Else überließ wirklich nichts dem Zufall.
Umso weniger verstand ich, dass sie mir praktisch über Nacht die Verantwortung für ihr geliebtes Hotel übergeben wollte, ohne mit mir die Planung bis ins kleinste Detail besprochen zu haben. Aber vielleicht würde das ja jetzt noch kommen. So zumindest mein frommer Wunsch.
»Geht es Großtante Agnes denn besser?«
Agnes war Oma Elses ältere Schwester. Die Gute hörte seit Jahren kaum etwas und brachte schon länger alles durcheinander.
»Hm?«, meinte sie und gab vor, in Gedanken zu sein. Doch ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie meine Frage sehr wohl gehört hatte.
»Ich müsste mal dringend telefonieren.« Schließlich musste ich unbedingt endlich die Polizei darüber informieren, dass an der Strandpromenade ein Dieb sein Unwesen trieb und arme Touristen skrupellos ausnahm. Wenn das spärliche Bargeld, das in meinem Geldbeutel war, aufgebraucht war, würde der Typ vermutlich versuchen, mit meiner EC-Karte zu bezahlen. Verdammt! Daran hatte ich gar nicht gedacht. Noch viel dringender als die Polizei musste ich meine Bank anrufen. Um genau zu sein: jetzt.
»Das kannst du gleich«, erklärte sie, schob sich die Brille von der Nasenspitze nach oben und blätterte mit der anderen Hand in dem kleinen schwarzen Büchlein.
»Im Prinzip findest du hier alles. Die Anleitung für das EC-Gerät, die Menüplanung für die nächsten vier Wochen und die Namen der Gäste inklusive ihrer Sonderwünsche.«
Ohne von den Seiten aufzublicken, blätterte Oma Else weiter. Nach einiger Zeit schloss sie das Buch, nahm ihre Brille von der Nase, klappte sie zusammen und verstaute sie in diesen mächtig praktischen Taschen ihres Kleides.
Dann überreichte sie mir das Buch mit einem feierlichen Gesichtsausdruck.
»Wenn du dich an das Buch hältst, sollte nichts schiefgehen. Unabhängig davon, ob Svea nach ihrer Erkrankung in den Urlaub fährt oder nicht.«
»Urlaub?«, fragte ich, einem Herzinfarkt nahe.
Davon war bisher noch nicht die Rede gewesen. Bis vor zwei Sekunden war ich felsenfest davon ausgegangen, dass mir Svea spätestens in zwei Wochen zur Seite stehen würde. Dieser Gedanke hatte mich aufrecht gehalten.
»Ja, Svea ist alleinerziehend und fährt in diesen zwei Wochen zu ihrer Familie nach Bayern. Das macht sie jedes Jahr so«, erklärte sie mir, als wäre daran nicht mehr zu rütteln.
»Obwohl sie wusste, dass du eine Kur machst?«, hakte ich nach. Ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb. Auch wenn der mehr und mehr in die Ferne rückte und kaum noch zu erkennen war.
»Ihre Urlaubsplanung steht schon seit Anfang des Jahres. Meine Kur wurde ja erst vor zwei Wochen bewilligt. Es wäre doch reichlich unfair, Svea nun zu bitten, ihren Urlaub abzusagen, nur weil mir die Krankenkasse die Kur so kurzfristig genehmigt hat. Findest du nicht auch?«
Was ich wirklich unfair fand, war die Tatsache, dass Oma Else bereits seit zwei Wochen von dieser Kur wusste und mich erst am vergangenen Freitag darüber informiert hatte. Vermutlich hätte es zwar nichts geändert, da ich wegen meiner Verpflichtungen in Hamburg nicht früher hätte kommen können. Aber dennoch … Sie hätte es mir sagen können. Doch sie hatte gezögert und den spätestmöglichsten Termin abgewartet. Warum auch immer.
»Ich …«, hob ich an, aber Oma Else ließ mich nicht aussprechen.
»Wie dem auch sei. Die Dinge sind so, wie sie sind. Wir werden an der jetzigen Situation nichts ändern können. Aber wenn du die Informationen in diesem Büchlein hier«, sie deutete auf den Gegenstand in meiner Hand, den ich bisher nicht mal gewagt hatte anzusehen, »beherzigst und dich ganz genau an alles hältst, sollte wirklich nichts passieren.«
Bei ihren Worten verspürte ich den plötzlichen, unnachgiebigen Drang, das Buch an mich zu ketten und keinen Schritt mehr ohne es zu machen. Nicht auszudenken, wenn es mir abhandenkäme.
»Ein paar Dinge würde ich dennoch gerne mit dir besprechen. In der nächsten Woche kommt ein neuer Koch. Er soll unseren Küchenchef unterstützen. Allerdings …«
»Allerdings?«, fragte ich alarmiert, während ich spürte, dass mir mein Herz noch eine Etage tiefer rutschte.
»Herr Oltmann ist zwar ein sehr netter Mensch und ein vorzüglicher Koch obendrein. Aber das mit dem Zwischenmenschlichen liegt ihm nicht besonders. Falls der neue Koch nicht seinen Erwartungen entspricht oder ihm gar ins Handwerk pfuscht, dann könnte das für ein wenig Zündstoff in der Küche sorgen. Deine Aufgabe wird es sein, die Gemüter zu beschwichtigen und ein offenes Ohr für alle Parteien zu haben. Eines darfst du dabei nicht vergessen: Du bist die Chefin des Hauses. Also lass dir von niemandem auf der Nase herumtanzen, aber bemühe dich um einen stets respektvollen Umgang mit deinen Angestellten und um eine gute Arbeitsatmosphäre.«
Klar! Warum setzte sie nicht gleich noch den Weltfrieden auf die Agenda? Ich kannte Herrn Oltmann von meinen Urlauben. Er war wirklich kein besonders umgänglicher Typ. Wenn man die Karotten nicht akkurat so schnitt, wie er es gerne hätte, konnte es seinerseits schon mal zu einem cholerischen Wutausbruch führen. Ohne Frage, er war ein guter Koch. Aber menschlich gesehen eine so große Baustelle, dass ich meine Großmutter am liebsten gefragt hätte, wie ich das neben all den anderen Herausforderungen auch noch schaffen sollte.
»Und bevor ich es vergesse …« Ihr Blick wurde eindringlicher. »Du musst unter allen Umständen dafür sorgen, dass Frau Deter keinen Alkohol bekommt.«
Wer zur Hölle war denn das nun wieder?
»Frau Deter ist …?«
»… ein Stammgast. Sie kommt jedes Jahr im Sommer für exakt zehn Tage. Mittlerweile allein. Früher hat ihr Mann sie begleitet, aber der hat sich eine Jüngere genommen. Und anstatt diesen Idioten endlich zu vergessen, ertränkt sie in diesen zehn Tagen hier auf der Insel ihren Kummer in Alkohol. Die hiesige Gastronomie weiß Bescheid und schenkt nichts mehr an sie aus. Ab und an ergattert sie was im Supermarkt, oder sie hat bereits einen Vorrat im Koffer. Dennoch musst du darauf achten, dass sie es nicht übertreibt. Die Folgen wären verheerend.«
Okay, ich ergänzte auf meiner gedanklichen Liste neben dem Weltfrieden gleich noch die Heilung aller Süchtigen. Ein Kinderspiel. Ich rettete die Welt schließlich jeden Tag ein Stück weit, indem ich den Müll trennte und beim Metzger darauf achtete, dass das Fleisch nur aus zertifizierten Betrieben stammte. Das hier war also ein Klacks für mich. Ahhhh! Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?
»So, das sollte es erst mal gewesen sein. Ich muss mich jetzt noch fertig machen. Du kommst so weit klar?«, fragte sie abschließend allen Ernstes, während sie sich erhob und das Telefon in ihre Tasche steckte.
»Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wie das hier ohne dich funktionieren soll, Oma. Ich meine, was hab ich denn schon für Erfahrung in diesem Bereich? Nichts, was ich an der Uni oder in meinem Berufsleben gelernt habe, hat mich auf das hier vorbereitet.«
Oma Else tätschelte meine Wange.
»Mach dir doch nicht unnötige Sorgen über ungelegte Eier. An der Uni hätte man dir auch nichts beibringen können, was du mit ein wenig gesundem Menschenverstand spielend leicht hinbekommst. Ich lasse dir Sveas Nummer zur Sicherheit vorne an der Rezeption, und in dem schwarzen Notizbuch ist sie unter den Kontakten aufgeführt. Auch wenn sie nicht persönlich hier sein kann, kannst du sie anrufen. Zur Not stehen dir die Personalakten der Mitarbeiter zur Verfügung. Das wird aber, denke ich, nicht nötig sein. Du schaffst das, mein Lottchen. Du musst nur ein bisschen mehr an dich glauben. Dann wird das schon.« Trotzdem hob sie mahnend den Zeigefinger in die Höhe. »Noch mal zu Svea: Ruf sie wirklich nur im äußersten Notfall an. Svea muss jetzt für ihre kleine Familie da sein, und sie hat einen Anspruch auf einen schönen Sommerurlaub.«
Das fand ich ja auch. Ich war grundsätzlich der Meinung, dass jeder seinen Urlaub dazu nutzen sollte, sich auszuruhen und neue Kraft zu tanken. Dummerweise hielt ich mich selbst nicht dran. In meinen Ferien führte ich zur Abwechslung ein Hotel und musste meinen ersten großen Verlagsauftrag als Graphikdesignerin abarbeiten. Das hörte sich zumindest in meinen Ohren nicht unbedingt nach Urlaub an.
»Kann ich dich zur Not erreichen?«
»Wie?«, meinte Großmutter.
»Na, du wirst sicher ein Telefon auf dem Zimmer haben. Und dein Handy steckst du doch auch ein.«
Anstatt mir zu antworten, fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar und blickte abwesend nach draußen aufs Meer.
»Schön ist es heute. Wann immer es dir möglich sein wird, gönn dir eine kleine Auszeit und geh raus an den Strand. Hörst du? Die Seele braucht das. Ach, und nimm dabei am besten auch gleich Agnes mit. Sie verbringt viel zu viel Zeit im Haus. Was mitunter meine Schuld ist.«
»Wie geht es ihr?«
Oma seufzte.