Southern Gothic - Das Grauen wohnt nebenan - Grady Hendrix - E-Book

Southern Gothic - Das Grauen wohnt nebenan E-Book

Grady Hendrix

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Beschreibung

Patricia Campbell ist unzufrieden. Ihr Mann ist ein Workaholic, ihre beiden süßen Kinder sind zu launischen Teenagern mutiert, und ihre pflegebedürftige Schwiegermutter braucht ständig Aufmerksamkeit. Ihr einziger Lichtblick ist der Buchclub, den sie mit ihren engsten Freundinnen gegründet hat: Hier kann sie ihre Leidenschaft für True Crime und Serienkiller voll und ganz ausleben.

Eines Abends wird Patricia von ihrer dementen Nachbarin attackiert, und kurz darauf tritt deren Neffe, James Harris, in Patricias Leben. Der vielgereiste, belesene und unverschämt gutaussehende James weckt Gefühle in Patricia, die sie schon seit Jahren nicht mehr gespürt hat. Doch als im weniger wohlhabenden Viertel der Stadt immer mehr Kinder verschwinden, befürchtet Patricia, dass James mehr Ted Bundy als Brad Pitt ist. In Wahrheit ist James jedoch eine ganz andere Sorte Monster – und Patricia hat ihn schon längst in ihr Heim gelassen …

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DAS BUCH

Patricia Campbell führt eine Vorzeigeehe, hat zwei süße Kinder und ein Haus im schönsten Vorort von Charleston, South Carolina. Doch ihren Mann bekommt sie vor lauter Arbeit kaum zu Gesicht, und ihre Kinder sind zu launischen Teenagern mutiert. Ihr einziger Lichtblick sind die Buchclub-Abende, an denen sie mit ihren Freundinnen ihrer Leidenschaft für True Crime und Serienkiller frönt. Nach einem solchen Abend wird Patricia brutal von ihrer dementen Nachbarin attackiert, die kurz darauf stirbt. Wenig später zieht deren Neffe James Harris nach Charleston. Er ist höflich, belesen und sieht unverschämt gut aus. Doch irgendetwas stimmt mit ihm nicht, und als im ärmeren Viertel der Stadt immer mehr Kinder verschwinden, vermuten Patricia und ihre Freundinnen, dass James mehr Ted Bundy als Brad Pitt ist. In Wahrheit ist er jedoch eine ganz andere Sorte Monster – und Patricia hat es schon längst in ihr Heim gelassen …

DER AUTOR

Grady Hendrix wurde in Charleston, South Carolina, geboren und arbeitete jahrelang für die American Society for Psychical Research, wo er Anrufern Fragen zu Geistern, UFOs und Zeitreisen beantwortete, ehe er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete. Seitdem hat er unzählige Zeitungsartikel für Online- und Print-Zeitschriften sowie mehrere Horror-­Romane verfasst, die regelmäßig auf der Bestsellerliste der New York Times landen. Grady Hendrix lebt mit seiner Frau in New York.

Grady Hendrix

SOUTHERN GOTHIC

Das Grauen wohnt nebenan

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel THE SOUTHERN BOOK CLUB’S GUIDE TO SLAYING VAMPIRES

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2020 by Grady Hendrix

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Designomicon, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27347-7V002

www.heyne.de

Für Amanda,

wo auch immer all deine Teile verstreut sind …

Vorbemerkung des Autors

Vor ein paar Jahren schrieb ich ein Buch namens Der Exorzismus der Gretchen Lang, in dem es um zwei junge Frauen geht, die 1988 in Charleston, South Carolina, den Höhepunkt der »Satanic Panic« miterleben. Sie gelangen zu der Überzeugung, dass eine von ihnen vom Teufel besessen ist, und einen entsprechend unschönen Verlauf nimmt der Rest der Handlung.

Der Roman ist aus dem Blickwinkel einer Teenagerin geschrieben, und die Eltern kommen darin ziemlich schlecht weg, weil Eltern Teenagern nun mal ein Graus sind. Aber man kann die Geschichte auch aus dem Blickwinkel der Eltern erzählen; schildern, wie hilflos man sich fühlt, wenn das eigene Kind in Gefahr ist. Ich wollte eine Geschichte über diese Eltern schreiben, und so erblickte Southern Gothic das Licht der Welt. Es handelt sich bei diesem Buch nicht um eine Fortsetzung von Der Exorzismus der Gretchen Lang, aber es spielt ein paar Jahre später im selben Viertel, in dem auch ich aufgewachsen bin.

Als ich klein war, kam mir meine Mutter vollkommen lächerlich vor. Sie war Hausfrau und veranstaltete einen Buchclub, und sie und ihre Freundinnen hatten dauernd irgendwas zu erledigen, fuhren uns per Carpool umher und zwangen uns, Regeln zu befolgen, die keinen Sinn ergaben. Sie kamen uns ziemlich unterbelichtet vor. Heute ist mir klar, dass sie sich mit allem Möglichen herumschlagen mussten, von dem ich nicht das Geringste wusste. Sie haben die Köpfe hin­gehalten, damit wir unbeschwert durchs Leben segeln konnten, weil das nun mal so läuft: Die Eltern ertragen den Schmerz, damit ihre Kinder es nicht müssen.

Dies ist außerdem ein Buch über Vampire. Vampire sind der amerikanische Archetyp des umherschweifenden Mannes in Jeans, der von Stadt zu Stadt zieht, ohne Vergangenheit und ohne persönliche Bindungen. Wie Jack Kerouac, wie Shane, wie Woody Guthrie. Wie Ted Bundy.

Denn Vampire sind die prototypischen Serienkiller, frei von allem, was uns menschlich macht – sie haben keine Freunde, keine Familie, keine Wurzeln, keine Kinder. Das Einzige, was sie haben, ist Hunger. Sie essen und essen, aber sie werden nie satt. Ich wollte in diesem Buch einen Mann, der frei von jeder Verantwortung, frei von allem außer seinen Gelüsten ist, gegen Frauen antreten lassen, deren Leben aus ihren Pflichten besteht. Ich wollte Dracula gegen meine Mutter antreten lassen.

Wie sich her­ausstellen wird, ist es kein fairer Kampf.

Prolog

Diese Geschichte endet blutig.

Jede Geschichte beginnt blutig. Ein schreiendes Baby wird im Krankenhaus aus dem Mutterleib gezogen, gebadet in Schleim und einem halben Liter Blut. Aber nur noch wenige Geschichten enden heutzutage blutig. Normalerweise kehrt man nach einem Herzinfarkt in der Auffahrt, einem Schlaganfall auf der Veranda oder einem langsamen Dahinsiechen an Lungenkrebs ins Krankenhaus zurück und stirbt, umgeben von Maschinen, einen trockenen, leisen Tod.

Diese Geschichte beginnt mit fünf kleinen Mädchen. Jedes davon wurde in einer Pfütze aus dem Blut seiner Mutter geboren, gesäubert, getrocknet und dann zu einer ordentlichen jungen Dame gemacht. Man hat sie in der weiblichen Kunst unterwiesen, perfekte Ehepartnerinnen und ihrerseits verantwortungsvolle Mütter zu sein, die bei den Hausaufgaben helfen und sich um die Wäsche kümmern, die in Kirchenvereinen mitarbeiten und Bunco-Turniere organisieren, die ihre Kinder zum Figurentanz und auf Privatschulen schicken.

Auch Sie haben diese Frauen schon oft gesehen. Sie treffen sich zum Mittagessen und lachen so laut, dass das ganze Restaurant sie hört. Sie sind nach einem einzigen Glas Wein beschwipst. Wenn sie mal etwas richtig Wagemutiges anstellen wollen, kaufen sie sich ein paar Weihnachtsohrringe mit Leuchtdioden. Sie ringen endlos mit der Entscheidung dar­über, ob sie Nachtisch bestellen sollen oder nicht.

Da sie achtbare Personen sind, werden ihre Namen nur jeweils dreimal in der Zeitung auftauchen – bei ihrer Geburt, wenn sie heiraten und wenn sie sterben. Sie sind liebenswürdige Gastgeberinnen. Sie spenden an die Bedürftigen. Sie ehren ihre Männer und sorgen für ihre Kinder. Sie wissen, wie wichtig es ist, Porzellan für unter der Woche zu haben, welche Verantwortung es mit sich bringt, das Silberbesteck ihrer Urgroßmütter zu erben, und dass gute Betttücher unbezahlbar sind.

Und am Ende dieser Geschichte werden sie blutüberströmt sein. Ein Teil dieses Blutes wird ihr eigenes sein. Ein Teil davon das von anderen. Aber es wird an ihnen hinablaufen. Sie werden darin schwimmen.

Sie werden darin ertrinken.

Hausfrau, die (Substantiv, feminin) – eine unbedeutende, wertlose Frau oder ein ebensolches Mädchen.

Oxford English Dictionary, Kompaktausgabe, 1971

Denn sie sollen getröstet werden

November 1988

Kapitel 1

1988 war es George W. H. Bush gerade gelungen, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, indem er die Menschen dazu aufgefordert hatte, ihm genau auf den Mund zu schauen, während Michael Dukakis sie verloren hatte, indem er in einem Panzer herumgefahren war. Dr. Huxtable war Amerikas Dad, Kate & Allie waren Amerikas Moms und die Golden Girls Amerikas Omas. McDonald’s verkündete, dass es seine erste Filiale in der Sowjetunion eröffnen würde, alle kauften Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit und lasen sie dann nicht, Das Phantom der Oper lief auf dem Broadway an, und Patricia Campbell machte sich bereit zu sterben.

Sie besprühte ihre Haare, steckte sich ihre Ohrringe an und tupfte über ihren Lippenstift, aber als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie keine neununddreißigjährige Hausfrau mit zwei Kindern und einer glänzenden Zukunft, sondern eine Tote. Wenn nicht ein Krieg aus- oder eine Sintflut losbrach oder die Erde in die Sonne stürzte, würde heute Abend das monatliche Treffen der Literaturgilde von Mt. Pleasant stattfinden, und sie hatte das Buch für diesen Monat nicht gelesen. Und sie war die Referentin. Was bedeutete, dass sie in weniger als neunzig Minuten vor einem Zimmer voller Frauen sitzen und ein Gespräch über ein Buch leiten würde, das sie nicht gelesen hatte.

Sie hatte Denn sie sollen getröstet werden wirklich lesen wollen, aber jedes Mal, wenn sie ihr Exemplar zur Hand nahm und die Worte »Von Ixopo führt eine malerische Straße in die Hügel« las, fuhr Korey mit ihrem Fahrrad vom Bootssteg, weil sie sich einbildete, dass sie damit über das Wasser sausen könnte, wenn sie nur schnell genug in die Pedale trat, oder sie zündete ihrem Bruder die Haare an, weil sie her­ausfinden wollte, wie nah man ihnen mit einem brennenden Streichholz kommen durfte, bevor sie Feuer fingen, oder sie erzählte ein ganzes Wochenende lang allen Anrufern, dass ihre Mutter nicht ans Telefon konnte, weil sie gestorben sei, was Patricia erst erfuhr, als die Leute mit Auflaufformen vor der Tür standen, um ihr Beileid zu bekunden.

Bevor Patricia in Erfahrung bringen konnte, war­um die Straße von Ixopo zu den Hügeln so schön war, sah sie Blue splitterfasernackt an den Fenstern zur Sonnenveranda vorbeirennen, oder ihr wurde mit einem Schlag klar, dass es deshalb so ruhig war, weil sie ihn in der Stadtbücherei vergessen hatte, sodass sie in den Volvo springen und über die Brücke zurückrasen musste und dabei nur beten konnte, dass er nicht von Moonys gekidnappt worden war, oder er hatte her­ausfinden wollen, wie viele Rosinen er sich in die Nase stecken konnte (vierundzwanzig). Sie erfuhr nie, wo Ixopo lag, weil ihre Schwiegermutter, Miss Mary, für sechs Wochen bei ihnen einzog, sie saubere Handtücher in der ausgebauten Garage brauchte und das Gästebett jeden Tag neu bezogen werden musste, und weil Miss Mary Schwierigkeiten damit hatte, aus der Wanne zu steigen, weshalb sie eine dieser Stangen anbringen lassen und erst jemanden dafür finden musste, und weil die Wäsche für die Kinder zu erledigen war, und weil Carters Hemden gebügelt werden mussten, und weil Korey genau die neuen Stollenschuhe haben wollte, die alle anderen auch hatten, obwohl sie sich so etwas im Moment eigentlich nicht leisten konnten, und weil Blue nur weiße Sachen aß, weshalb sie jeden Abend Reis zu kochen hatte … und so konnte sie der Straße von Ixopo in die Hügel nicht folgen.

Damals war es ihr wie eine gute Idee vorgekommen, der Literaturgilde von Mt. Pleasant beizutreten. Patricia war in jenem Moment, als sie sich bei einem Abendessen mit Carters Chef über den Tisch gebeugt hatte, um sein Steak für ihn kleinzuschneiden, klar geworden, dass sie raus aus dem Haus und neue Leute kennenlernen musste. Ein Buchclub klang passend, weil sie gerne las, vor allem Krimis. Carter hatte angemerkt, dass dies vielleicht dar­an lag, dass ihr ganzes Leben für sie wie ein rätselhafter Kriminalfall war, und da war sie durchaus seiner Meinung: Patricia Campbell und das Geheimnis der drei warmen Mahlzeiten am Tag, sieben Tage die Woche, ohne dabei durchzudrehen; Patricia Campbell und der Fall des Fünfjährigen, der einfach so andere Leute biss; Patricia Campbell und das Rätsel, wie man zum Zeitung­lesen kommen soll, wenn man zwei Kinder und eine Schwiegermutter bei sich wohnen hat und für alle waschen und kochen und das Haus sauber machen und der Hund seine Herzwurmpillen bekommen muss und man sich wahrscheinlich alle paar Tage auch mal selbst die Haare waschen sollte, weil die eigene Tochter sonst fragt, war­um man aussieht wie eine Obdachlose. Ein paar diskrete Erkundigungen, und schon hatte man sie zum ersten Treffen der Literaturgilde von Mt. Pleasant zu Hause bei Marjorie Fretwell eingeladen.

Die Literaturgilde von Mt. Pleasant wählte die Bücher für das jeweilige Jahr in einem sehr demokratischen Verfahren aus: Marjorie Fretwell lud sie alle zu sich ein, um elf Bücher aus einer Liste von dreizehn zu wählen, die ihr passend erschienen. Sie erkundigte sich, ob noch jemand andere Bücher empfehlen wollte, aber allen war klar, dass das keine ernst gemeinte Frage war, mit Ausnahme von Slick Paley, die anscheinend an einer chronischen Unfähigkeit litt, zwischenmenschliche Signale zu empfangen.

»Ich würde gerne Wie die Lämmer zur Schlachtbank: Ihr Kind und der Okkultismus vorschlagen«, sagte Slick. »Angesichts dieses Kristallladens auf dem Coleman Boulevard – und wenn man bedenkt, dass Shirley MacLaine auf der Titelseite des Time Magazine von ihren früheren Leben erzählen darf – brauchen wir einen Weckruf.«

»Von dem Buch habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Marjorie Fretwell. »Daher nehme ich an, dass es nicht unter unser Auswahlkriterium fällt, eines der großen Werke der westlichen Welt zu sein. Sonst noch wer?«

»Aber …«, wandte Slick ein.

»Sonst noch wer?«, wiederholte Marjorie.

Sie wählten die Bücher, die Marjorie für sie ausgewählt hatte, teilten sie nach Marjories Dafürhalten den Monaten zu und wählten die Referentinnen, die Marjorie für die passendsten hielt. Die Referentinnen sollten das Treffen eröffnen, indem sie einen zwanzigminütigen Vortrag über das Buch, seine Hintergründe und das Leben des Autors oder der Autorin hielten, um anschließend die Diskussion in der Gruppe anzuleiten. Eine Referentin konnte nicht einfach absagen oder mit einer anderen das Buch tauschen, ohne dafür eine empfindliche Strafe zu zahlen, weil die Literaturgilde von Mt. Pleasant eine ernste Sache war.

Als ihr klar wurde, dass sie es nicht schaffen würde, Denn sie sollen getröstet werden zu Ende zu lesen, rief Patricia Marjorie an.

»Marjorie«, sagte sie am Telefon, während sie den Deckel auf den Reistopf legte und die Platte runterdrehte, um ihn köcheln zu lassen. »Hier ist Patricia Campbell. Ich muss mit dir über Denn sie sollen getröstet werden reden.«

»Wirklich ein beeindruckendes Buch«, sagte Marjorie.

»Natürlich«, antwortete Patricia.

»Ich weiß, dass du ihm die gebührende Ehre erweisen wirst«, sagte Marjorie.

»Ich werde mein Bestes geben«, sagte Patricia, während ihr klar wurde, dass sie das genaue Gegenteil hätte sagen sollen.

»Und es passt so gut auf die gegenwärtige Situation in Südafrika«, fuhr Marjorie fort.

Kalter Schrecken durchzuckte Patricia. Was war die gegenwärtige Situation in Südafrika?

Nach dem Auflegen verfluchte Patricia sich für ihre Feigheit und Dummheit und nahm sich fest vor, in die Bücherei zu fahren und Denn sie sollen getröstet werden im Lexikon der Weltliteratur nachzuschlagen. Aber dann musste sie Snacks für Koreys Fußballmannschaft vorbereiten, und die Babysitterin hatte Drüsenfieber, und Carter musste plötzlich nach Columbia reisen und sie musste ihm packen helfen, und dann kam eine Schlange aus der Toilette in der ausgebauten Garage, und sie musste sie mit einer Harke totschlagen, und Blue trank eine Flasche Tipp-Ex, und sie musste mit ihm zum Arzt, um her­auszufinden, ob er dar­an sterben würde (nein, würde er nicht). Sie versuchte es damit, Alan Paton, den Autor, in ihrer Großen Enzyklopädie nachzuschlagen, aber der Band mit P fehlte. Sie notierte sich im Geiste, dass sie eine neue Enzyklopädie brauchten.

Es klingelte an der Tür.

»Moooom«, rief Korey von unten aus dem Flur. »Die Pizza ist da!«

Sie konnte es nicht mehr länger aufschieben. Es war an der Zeit, sich Marjorie zu stellen.

Marjorie hatte Handouts mitgebracht.

»Nur ein paar Artikel über die gegenwärtigen Ereignisse in Südafrika, darunter der jüngste unschöne Vorfall in Vanderbijlpark«, sagte sie. »Aber ich nehme an, dass Patricia all das schön für uns zusammenfassen wird, wenn sie uns Mr. Alan Patons Denn sie sollen getröstet werden vorstellt.«

Alle drehten sich zu Patricia um, die auf Marjories riesigem, rosa-weißem Sofa saß, und starrten sie an. Sie hatte sich nicht so genau an Marjories Einrichtung erinnert und ein Blümchenkleid angezogen, weshalb die Leute sie wahrscheinlich nur als einen Kopf und ein Paar in der Luft schwebende Hände sahen. Am liebsten hätte sie sich ganz in ihr Kleid verkrochen und wäre verschwunden. Sie spürte, wie ihre Seele ihren Körper verließ und über ihr unter der Decke schwebte.

»Aber bevor sie anfängt«, sagte Marjorie, und alle Blicke wandten sich wieder ihr zu, »sollten wir eine Schweige­minute für Mr. Alan Paton einlegen. Sein Dahinscheiden dieses Jahr hat die Literaturwelt ebenso sehr erschüttert wie mich persönlich.«

In Patricias Kopf jagten die Gedanken einander im Kreis herum. Der Autor war tot? Und erst seit Kurzem? In der Zeitung hatte sie nichts davon gelesen. Was konnte sie dazu sagen? Wie war er gestorben? Hatte man ihn ermordet? War er von wilden Hunden zerrissen worden? Hatte er einen Herzinfarkt erlitten?

»Amen«, sagte Marjorie. »Patricia?«

Patricias Seele beschloss klugerweise, sich in ihr nächstes Leben zu verabschieden und Patricia der Gnade der Frauen zu überlassen, die um sie herumsaßen. Da war Grace Cavanaugh, die nur zwei Türen weiter von Patricia wohnte, die sie aber nur ein einziges Mal getroffen hatte, als Grace bei ihr geklingelt hatte, um zu sagen: »Tut mir leid, wenn ich störe, aber Sie wohnen jetzt seit sechs Monaten hier, und ich muss es einfach wissen: Soll Ihr Vorgarten so aussehen?«

Slick Paley blinzelte hektisch. Der Blick ihrer winzigen Augen in dem spitzen Fuchsgesicht war fest auf Patricia geheftet, und sie hielt ihren Kugelschreiber über ihrem Notizbuch bereit. Louise Gibbes räusperte sich. Cuffy Williams putzte sich bedächtig mit einem Kleenex die Nase. Sadie Funche beugte sich vor und durchbohrte Patricia mit Blicken, während sie an einer Käsestange knabberte. Die einzige Person, die nicht in Patricias Richtung sah, war Kitty Scruggs, die stattdessen die Weinflasche beäugte, die in der Mitte des Teetischchens stand und die niemand zu öffnen gewagt hatte.

»Nun …«, setzte Patricia an. »Wahrscheinlich waren alle begeistert von Denn sie sollen getröstet werden?«

Sadie, Slick und Cuffy nickten. Patricia warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sieben Sekunden vergangen waren. Sie konnte auf Zeit spielen. Sie wartete, während die Stille sich in die Länge zog, in der Hoffnung, dass jemand etwas einwerfen würde, aber die entstehende Pause führte lediglich dazu, dass Marjorie »Patricia?« sagte.

»Es ist so traurig, dass Alan Paton in den besten Jahren seines Lebens von uns genommen wurde, bevor er noch mehr Bücher wie Denn sie sollen getröstet werden schreiben konnte«, sagte Patricia. Wort für Wort tastete sie sich voran und ließ sich dabei vom Nicken der anderen leiten. »Dieses Buch hat uns so viel Aktuelles und Relevantes mitzuteilen, gerade jetzt, nach den schrecklichen Ereignissen in Vander … Vanderbill … Südafrika.«

Das allgemeine Nicken wurde nachdrücklicher. Patricia spürte, wie ihre Seele in ihren Körper zurückkehrte. Kühn fuhr sie fort: »Ich wollte euch eigentlich etwas über das Leben von Alan Paton erzählen«, sagte sie, »und dar­über, war­um er dieses Buch geschrieben hat, aber all diese Fakten können nicht vermitteln, welche Kraft dieser Geschichte innewohnt, wie sehr sie mich bewegt hat, welche Empörung ich beim Lesen empfunden habe. Das hier ist ein Buch, das man mit dem Herzen liest, nicht mit dem Kopf. Ging es noch jemandem so?«

Nun wurde überall im Wohnzimmer genickt.

»Genau, jawohl«, stimmte Slick Paley zu.

»Ich empfinde sehr leidenschaftlich, wenn es um das Thema Südafrika geht«, sagte Patricia, und dann fiel ihr ein, dass Mary Brasingtons Mann für eine Bank arbeitete und Joanie Winters Mann irgendwas mit Aktien zu tun hatte und sie vielleicht dort investiert hatten. »Aber ich weiß, dass man diese Sache von vielen Seiten betrachten kann, und vielleicht möchte ja jemand eine andere Sichtweise beitragen. Im Geiste von Mr. Patons Buch sollte das hier ein Gespräch sein, kein Vortrag.«

Alle nickten. Ihre Seele ließ sich nun wieder gänzlich in ihrem Körper nieder. Sie hatte es geschafft. Sie hatte überlebt. Marjorie räusperte sich.

»Patricia«, fragte Marjorie. »Wie denkst du über das, was Paton in dem Buch über Nelson Mandela schreibt?«

»Es macht mir Mut«, sagte Patricia. »Mandela thront über allem, obwohl er eigentlich nur am Rande erwähnt wird.«

»Ich glaube nicht, dass er erwähnt wird«, sagte Marjorie, und Slick Paley hörte zu nicken auf. »Wo hast du ihn denn auftauchen sehen? Auf welcher Seite?«

Patricias Seele stieg langsam wieder dem Licht entgegen. Lebewohl, sagte sie. Lebewohl, Patricia. Du bist jetzt auf dich allein gestellt …

»Sein Geist der Freiheit?«, sagte Patricia. »Er durchdringt jede einzelne Seite?«

»Als das Buch geschrieben wurde«, sagte Marjorie, »hat Nelson Mandela noch Jura studiert und war nur eines von vielen Mitgliedern des ANC. Ich wüsste nicht, wie sein Geist in diesem Buch auftauchen sollte, ganz zu schweigen davon, dass er jede Seite durchdringt.«

Marjories Blick bohrte sich wie ein Eispickel in Patricias Gesicht.

»Tja«, krächzte Patricia, weil sie inzwischen tot war und der Tod sich anscheinend sehr, sehr trocken anfühlte. »Das, was er dann später tun sollte. Man hat gespürt, wie es sich anbahnt. Hier drin. In dem Buch. Das wir gelesen haben.«

»Patricia«, sagte Marjorie. »Du hast das Buch nicht gelesen, oder?«

Die Zeit stand still. Niemand regte sich. Patricia wollte lügen, aber lebenslange Zurichtung hatte eine Dame aus ihr gemacht.

»Teilweise«, sagte Patricia.

Marjorie stieß einen Seufzer aus, der vom Grunde ihrer Seele kam und kein Ende zu nehmen schien.

»Wie weit hast du es gelesen?«

»Die erste Seite?«, sagte Patricia und plapperte dann los: »Es tut mir leid, ich weiß, dass ich euch enttäuscht habe, aber die Babysitterin hatte Drüsenfieber, und Carters Mutter wohnt gerade bei uns, und eine Schlange kam aus dem Schrank, und diesen Monat war einfach alles furchtbar anstrengend. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, außer dass es mir sehr, sehr leidtut.«

Vom Rande ihres Blickfelds kroch die Schwärze heran. Ein schriller Ton erklang in ihrem rechten Ohr.

»Tja«, sagte Marjorie. »Letztendlich ist es dein Verlust. Du hast dich eines der vielleicht besten Werke der Weltliteratur beraubt. Und uns hast du deiner ganz besonderen Sichtweise darauf beraubt. Aber jetzt ist es nun mal passiert. Wer ist stattdessen bereit, die Diskussion zu leiten?«

Sadie Funche zog sich wie eine Schildkröte in ihr Laura-Ashley-Kleid zurück, Nancy Fox begann bereits, den Kopf zu schütteln, bevor Marjorie den Satz auch nur zu Ende gesprochen hatte, und Cuffy Williams erstarrte wie ein Beutetier, das sich seinem Jäger gegenübersah.

»Hat irgendjemand das Buch für diesen Monat gelesen?«, fragte Marjorie.

Schweigen.

»Ich glaube es einfach nicht«, sagte Marjorie. »Vor elf Monaten waren wir uns alle einig, dass wir die großen Bücher der westlichen Welt lesen würden, und jetzt, nicht einmal ein Jahr später, ist es so weit gekommen. Ich bin zutiefst enttäuscht von euch allen. Ich dachte, wir wollten unseren Horizont erweitern, uns für Gedanken und Ideen öffnen, die sich nicht auf unser Leben in Mt. Pleasant beschränken. Die Männer sagen immer: ›Klug sein zu wollen ist für Frauen keine besonders kluge Idee‹, und dann lachen sie über uns und bilden sich dabei ein, wir würden uns nur für unsere Frisuren interessieren. Die einzigen Bücher, die sie uns schenken, sind Kochbücher, weil sie glauben, dass wir dumm wären und von nichts eine Ahnung hätten. Und ihr habt ihnen gerade recht gegeben.«

Sie hielt inne, um Luft zu holen. Patricia sah, dass Schweißtropfen in ihren Augenbrauen glitzerten. Marjorie fuhr fort:

»Ich schlage vor, dass ihr alle nach Hause geht und dar­über nachdenkt, ob ihr nächsten Monat Jude Fawley, der Unbekannte mit uns lesen wollt …«

Grace Cavenough stand auf und hängte sich die Handtasche über die Schulter.

»Grace?«, fragte Marjorie. »Willst du nicht bleiben?«

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich eine Verabredung habe«, sagte Grace. »Hatte ich vollkommen vergessen.«

»Tja«, sagte Marjorie, aus dem Konzept gebracht. »Dann lass dich nicht aufhalten.«

»Das würde ich mir niemals einfallen lassen«, erwiderte Grace.

Und damit schwebte die hochgewachsene, elegante, frühzeitig ergraute Grace aus dem Zimmer.

Nun, da das Bewegungsmoment dahin war, löste die Versammlung sich auf. Marjorie zog sich in die Küche zurück, gefolgt von einer besorgten Sadie Funche. Ein Grüppchen Frauen um den Desserttisch plauderte in gedrückter Stimmung. Patricia drückte sich in ihrem Stuhl herum, bis sie sich unbeobachtet fühlte, und flitzte dann aus dem Haus.

Auf dem Weg durch Marjories Vorgarten hörte sie ein Geräusch, das wie He klang. Sie hielt inne und versuchte auszumachen, woher es kam.

»He«, wiederholte Kitty Scruggs.

Kitty stand auf der anderen Seite der Reihe von Autos in Marjories Auffahrt. Eine blaue Rauchwolke schwebte über ihrem Kopf, und sie hielt eine lange, dünne Zigarette zwischen den Fingern. Neben ihr stand Maryellen Wie-hieß-sie-noch-weiter, die ebenfalls rauchte. Kitty winkte Patricia mit einer Hand heran.

Patricia wusste, dass Maryellen ein Yankee aus Massachusetts war und allen erzählte, sie sei Feministin. Und Kitty gehörte zu der Sorte kräftiger Frauen, die Kleidung trugen, die andere wohlwollend als »lustig« bezeichneten – weite Pullis mit bunten Handabdrücken darauf, plus klobiger Plastikschmuck. Patricia hegte den Verdacht, dass man, wenn man sich erst einmal mit solchen Frauen einließ, ganz schnell zu Weihnachten ein Rentiergeweih auf dem Kopf haben oder vor einer Shoppingmall stehen und die Leute darum bitten würde, eine Petition zu unterzeichnen, deshalb näherte sie sich äußerst vorsichtig.

»Ich fand es gut, was du da drin gemacht hast«, sagte Kitty.

»Ich hätte mir irgendwie die Zeit nehmen sollen, das Buch zu lesen«, erwiderte Patricia.

»War­um?«, fragte Kitty. »Es war langweilig. Ich habe es nicht über das erste Kapitel hinaus geschafft.«

»Ich muss Marjorie einen Brief schreiben«, sagte Patricia. »Um mich zu entschuldigen.«

Maryellen sah sie mit zusammengekniffenen Augen durch den Rauch an und zog an ihrer Zigarette.

»Marjorie hat gekriegt, was sie verdient«, sagte sie beim Ausatmen.

»Hört mal.« Kitty platzierte sich zwischen den beiden und Marjories Haustür, nur für den Fall, dass Marjorie zusah und Lippen lesen konnte. »Ich habe mit ein paar Leuten abgemacht, dass wir ein Buch lesen und sie nächsten Monat zu mir nach Hause kommen und wir dar­über reden. Maryellen ist auch dabei.«

»Ich habe niemals genug Zeit für zwei Buchclubs«, sagte Patricia.

»Glaub mir«, sagte Kitty. »Nach den heutigen Ereignissen ist Marjories Buchclub erledigt.«

»Was für Bücher lest ihr?«, fragte Patricia auf der verzweifelten Suche nach Gründen, das Angebot abzulehnen.

Kitty griff in ihre Umhängetasche aus Jeansstoff und holte ein billiges Taschenbuch von der Sorte, wie man sie in Drogerien bekam, daraus hervor.

»Liebesbeweis: Eine wahre Geschichte von Leidenschaft und Tod in der Vorstadt«, sagte sie.

Patricia war überrumpelt. Das war eines dieser Schundbücher über wahre Verbrechen. Aber Kitty las es offenbar, und man durfte die Lesevorlieben einer anderen Person nicht kritisieren, auch dann nicht, wenn man gute Gründe dafür hatte.

»Ich weiß nicht, ob solche Bücher etwas für mich sind«, sagte Patricia.

»Die beiden Frauen waren beste Freundinnen, und sie haben sich gegenseitig mit Äxten in Stücke gehauen«, sagte Kitty. »Tu bloß nicht so, als wolltest du nicht wissen, was zwischen ihnen gelaufen ist.«

»Es hat gute Gründe, dass Jude unbekannt ist«, knurrte Maryellen.

»Und macht ihr das bisher nur zu zweit?«, fragte Patricia.

Eine Stimme meldete sich hinter ihnen zu Wort.

»He, Leute«, sagte Slick Paley. »Worüber redet ihr?«

Kapitel 2

Irgendwo in den Tiefen der Albemarle Academy erklang das letzte Klingeln des Tages. Die Doppeltüren öffneten sich und spien eine Horde kleiner Kinder aus, die sich unter den aus allen Nähten platzenden Schulranzen beugten, an denen sie festgeschnallt waren. Unter der Last der Hefte und Gemeinschaftskundebücher taumelten sie zum Carpool-Bereich wie greise Gnome. Patricia sah Korey und drückte kurz auf die Hupe. Korey blickte auf, und als Patricia sah, wie sie mit weiten Sätzen losrannte, krampfte sich ihr das Herz zusammen. Ihre Tochter rutschte auf den Beifahrersitz und nahm ihren Schulranzen auf den Schoß.

»Anschnallgurt«, mahnte Patricia, und Korey schnallte sich an.

»War­um holst du mich ab?«, fragte Korey.

»Ich dachte, wir könnten bei Foot Locker haltmachen und nach Stollenschuhen schauen«, sagte Patricia. »Meintest du nicht, dass du neue brauchst? Und außerdem habe ich Lust auf Frozen Yogurt bekommen.«

Sie spürte, wie ihre Tochter zu strahlen begann, und während sie über die West Ashley Bridge fuhren, erklärte Korey ihrer Mom alles über die verschiedenen Arten von Stollenschuhen, die die anderen Mädchen hatten, und war­um sie unbedingt Klingenstollen brauchte und war­um es Stollenschuhe für harten Boden und nicht welche für weichen Boden sein mussten, obwohl sie auf dem Rasen spielten, weil Schuhe für harten Boden schneller waren. Als sie innehielt, um Luft zu holen, sagte Patricia: »Ich habe gehört, was in der Pause passiert ist.«

Alles Strahlen verließ Korey, und Patricia bereute sofort, dass sie etwas gesagt hatte, aber sie hatte etwas sagen müssen, denn schließlich machten Mütter das so, oder?

»Ich weiß nicht, war­um Chelsea dir vor der Klasse die Hosen runtergezogen hat«, sagte Patricia. »Jedenfalls war das sehr hässlich und gemein von ihr. Sobald wir zu Hause sind, rufe ich bei ihrer Mutter an.«

»Nein!«, flehte Korey. »Bitte, bitte, bitte, es ist nichts passiert. Es war keine große Sache. Bitte, Mom.«

Patricias eigene Mutter war nie auf ihrer Seite gewesen, und Patricia wollte, dass Korey verstand, dass sie nicht bestraft wurde, dass Patricia ihr etwas Gutes tat, aber Korey weigerte sich, das Foot Locker-Geschäft zu betreten und erklärte nuschelnd, dass sie keinen Frozen Yogurt wollte. Patricia empfand das als zutiefst ungerecht. Sie versuchte nur, eine gute Mutter zu sein, aber offenbar machten all ihre Bemühungen sie irgendwie zur Bösen Hexe des Westens. Als sie zu Hause ankam, das Lenkrad mit mörderischem Griff umklammert, war sie nicht in der Stimmung, einen weißen Cadillac von der Größe eines kleinen Schiffs in ihrer Auffahrt und Kitty Scruggs auf ihrer Eingangstreppe zu sehen.

»Hallooo«, rief Kitty auf eine Art, von der Patricia unverzüglich die Zähne wehtaten.

»Korey, das ist Mrs. Scruggs«, sagte Patricia und lächelte deutlich zu angestrengt.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, murmelte Korey.

»Du bist Korey?«, fragte Kitty. »Ich habe gehört, was Donna Phelps’ kleines Mädchen heute in der Schule mit dir angestellt hat.«

Korey blickte zu Boden, sodass ihr die Haare vor das Gesicht hingen. Patricia hätte Kitty am liebsten gesagt, dass sie alles nur noch schlimmer machte.

»Das nächste Mal, wenn Chelsea Phelps so etwas macht«, sagte Kitty unverdrossen, »erzählst du allen aus vollem Hals: ›Chelsea Phelps hat letzten Monat bei Merit Scrubbs zu Hause übernachtet, und dabei hat sie in den Schlafsack gepinkelt und dem Hund die Schuld in die Schuhe geschoben.‹«

Patricia konnte es nicht glauben. So etwas sagten Eltern nicht über die Kinder anderer Leute. Sie wandte sich Korey zu, um ihr zu raten, nicht hinzuhören, stellte jedoch fest, dass ihre Tochter Kitty ehrfürchtig anstarrte, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund.

»Wirklich?«, fragte Korey.

»Bei Tisch gepupst hat sie auch«, sagte Kitty. »Und das wollte sie meinem vierjährigen Sohn anhängen.«

Für einen langen, erstarrten Moment wusste Patricia nicht, was sie sagen sollte, und dann brach Korey lauthals in Gelächter aus. Sie musste sich vor Lachen auf die Eingangstreppe setzen, kippte zur Seite und schnappte nach Luft, bis sie Schluckauf bekam.

»Geh rein und sag deiner Großmutter Hallo«, sagte Patricia, die Kitty mit einem Mal ziemlich dankbar war.

»Sie sind einfach Nervensägen in dem Alter, oder?«, meinte Kitty, während sie Korey nachsah.

»Sie sind eigenartig«, sagte Patricia.

»Sie sind Nervensägen«, sagte Kitty. »Kleine Nervensägen, die man in einen Sack stecken und erst wieder rauslassen sollte, wenn sie achtzehn sind. Hey, ich habe dir was mitgebracht.«

Sie reichte Patricia ein glänzendes neues Exemplar von Liebesbeweis.

»Ich weiß, dass du das für Schund hältst«, sagte Kitty. »Aber es geht darin um Leidenschaft, Liebe, Hass, Romantik, Gewalt und Aufregung. Genau wie bei Thomas Hardy, abgesehen davon, dass es ein Taschenbuch ist und acht Fotoseiten in der Mitte hat.«

»Ich weiß nicht«, sagte Patricia. »Ich habe nicht so viel Zeit …«

Aber Kitty war schon auf dem Weg zurück zu ihrem Auto. Patricia kam zu dem Schluss, dass dieser Krimi den Titel Patricia Campbell und die Unfähigkeit, Nein zu sagen trug.

Zu ihrer Überraschung verschlang sie das Buch innerhalb von drei Tagen.

Fast hätte Patricia es nicht zu dem Treffen geschafft. Kurz bevor sie losging, wusch Korey sich das Gesicht mit Zitronensaft, um ihre Sommersprossen loszuwerden, und als sie ihn in die Augen bekam, rannte sie kreischend auf den Flur und mit dem Gesicht voran gegen einen Türknauf. Patricia spülte ihr die Augen mit Wasser aus, legte ihr einen Beutel gefrorener Erbsen auf das Ei an ihrer Stirn und sagte Korey, dass sie in ihrem Alter genauso viele Sommersprossen gehabt hatte, wenn nicht mehr, und dann setzte sie sie zu Miss Mary aufs Sofa und ließ die beiden Die Bill-Cosby-Show sehen. Zum Treffen kam sie zehn Minuten zu spät.

Kitty lebte in Seewee Farms, einem zweihundert Hektar großen Teil der Boone Hall Plantation, den man vor langer Zeit als Hochzeitsgeschenk für irgendeinen Großgrundbesitzer abgetrennt hatte. Durch unglückliche Fügung und dumme Entscheidungen war das Grundstück in die Hände von Kittys Schwiegergroßmutter gefallen, und als die angesehene alte Dame sich schließlich elegant in ihr Grab zurückgezogen hatte, war es auf ihren Lieblingsenkel, Kittys Mann Horse, übergegangen.

Weit draußen mitten im Nirgendwo, am Rande überschwemmter Reisfelder und dichter Kiefernwäldchen, übersät von baufälligen Nebengebäuden, in denen niemand außer den Schlangen lebte, umgab das Grundstück das ungeheuer hässliche Haupthaus, schokoladenbraun gestrichen, mit durchhängenden Veranden und vor sich hin faulenden Säulen geschmückt, der Dachboden von Waschbären, die Wände von Opossums bewohnt. Es handelte sich um genau jene Art von prunkvollen Heimen im Zustand würdevollen Verfalls, wie sie Patricias Meinung nach die besten Bürger Charlestons bewohnten.

Nun stand sie vor der mächtigen Doppeltür in der Mitte der weit ausladenden Vorderveranda und drückte auf die Klingel, doch nichts passierte. Sie versuchte es erneut.

»Patricia!«, rief Kitty.

Patricia blickte sich erst um und sah dann auf. Kitty lehnte sich aus dem Fenster im ersten Stock.

»Geh zur Seitentür«, brüllte Kitty. »Wir können den Schlüssel für die Vordertür schon seit Ewigkeiten nicht wiederfinden.«

Sie traf Kitty an ihrer Küchentür.

»Komm rein«, sagte Kitty. »Kümmere dich nicht um die Katze.«

Patricia konnte nirgendwo eine Katze entdecken, aber dafür sah sie etwas, das sie mit Begeisterung erfüllte: Kittys Küche war eine Katastrophe. Alle Oberflächen waren von leeren Pizzaschachteln, Schulbüchern, Werbeprospekten und nassen Badeanzügen bedeckt. Alte Ausgaben von Southern Living rutschten von Stühlen. Der Küchentisch war mit den Teilen einer zerlegten Maschine übersät. Im Vergleich dazu wirkte Patricias Zuhause wie aus einem Einrichtungsmagazin.

»So sieht es aus, wenn man fünf Kinder hat«, sagte Kitty über die Schulter. »Bleib schlau, Patricia. Zwei reichen.«

Die Eingangshalle weckte Erinnerungen an Vom Winde verweht, abgesehen davon, dass die gewundene Treppe und der Eichendielenboden unter einer Lawine von Geigenkästen, zusammengeknüllten Sportsocken, ausgestopften Eichhörnchen, im Dunkeln leuchtenden Frisbees, gebündelten Parkscheinen, zusammenklappbaren Notenständern, Fußbällen, Lacrosse-Schläger, einem Schirmständer voller Baseball­schläger und einem toten, fast zwei Meter hohen Gummibaum in einem Blumentopf aus einem abgetrennten Elefantenfuß begraben waren.

Kitty suchte sich einen Weg durch das Gemetzel und führte Patricia in ein Empfangszimmer, in dem Slick Paley und Maryellen Wie-war-doch-gleich-ihr-Nachname auf der Kante eines Sofas mit etwa fünfhundert Kissen darauf saßen. Ihnen gegenüber hatte Grace Cavanaugh kerzengerade auf einem Klavierhocker Platz genommen. Ein dazu passendes Klavier entdeckte Patricia nicht.

»Alles klar«, sagte Kitty und schenkte den anderen Wein aus einem Krug ein. »Reden wir über Axtmorde!«

»Brauchen wir nicht zuerst einen Namen?«, fragte Slick. »Und müssen wir nicht Bücher für den Rest des Jahres auswählen?«

»Das hier ist kein Buchclub«, sagte Grace.

»Was meinst du damit, dass das kein Buchclub ist?«, fragte Maryellen.

»Wir treffen uns einfach nur, um über ein Taschenbuch zu sprechen, dass wir zufällig gerade alle lesen«, sagte Grace. »Es ist kein richtiger Buchclub.«

»Wenn du das sagst, Grace«, sagte Kitty und drückte allen Anwesenden einen Becher Wein in die Hand. »Fünf Kinder wohnen in diesem Haus, und es wird noch mindestens acht Jahre dauern, bis das älteste auszieht. Wenn ich heute Abend kein Gespräch unter Erwachsenen führen kann, puste ich mir die Rübe weg.«

»Hört, hört«, sagte Maryellen. »Drei Mädchen – sieben, fünf und vier.«

»Vier ist ein so wunderbares Alter«, gurrte Slick.

»Tatsächlich?«, fragte Maryellen und kniff die Augen zusammen.

»Sind wir jetzt also ein Buchclub?«, fragte Patricia. Sie wusste immer gerne, wie genau der Stand der Dinge war.

»Ob wir ein Buchclub sind oder nicht, wen interessiert das?«, fragte Kitty. »Ich will jedenfalls wissen, war­um Betty Gore ihre gute Freundin Candy Montgommery mit einer Axt angegriffen hat und wie es dazu kam, dass stattdessen sie selbst in Stücke gehackt wurde?«

Patricia blickte sich neugierig um, um festzustellen, was die anderen Frauen dar­über dachten. Maryellen in ihrer chemisch gereinigten Blue Jeans, ihrem Haargummi und ihrer rauen Yankee-Stimme; die winzige Slick, die mit ihren spitzen Zähnen und ihren Knopfaugen aussah wie eine besonders eifrige Maus; Kitty in ihrer Jeansbluse mit den vorne aufgestickten goldenen Noten, die Wein aus einem Becher trank und deren Haar aussah wie das Fell eines Bären, der gerade aus dem Winterschlaf erwacht war; und schließlich Grace mit der Rüschenschleife um den Hals, die kerzengerade dasaß und die Hände ordentlich in ihrem Schoß zusammengelegt hatte, während sie wie eine Eule hinter ihrer breitrandigen Brille hervorblinzelte und die anderen begutachtete.

Diese Frauen waren komplett anders als sie. Patricia gehörte nicht hierher.

»Ich finde«, begann Grace, und die anderen setzten sich aufrechter hin, »dass das einen bemerkenswerten Mangel an Vorausplanung von Bettys Seite zeigt. Wenn man seine beste Freundin mit einer Axt ermorden will, dann sollte man ganz genau wissen, was man tut.«

Das brachte das Gespräch in Gang, und nach einer Weile stellte Patricia fest, dass sie sich, ohne dar­über nachzudenken, mitreden hörte. Zwei Stunden später und bereits auf dem Weg zu ihren Autos sprachen sie immer noch über das Buch.

Im darauffolgenden Monat lasen sie Die Michigan-Morde: Die wahre Geschichte der Schreckensherrschaft des Ypsilanti-­Rippers, dann Tod in Canaan: Ein klassischer Fall von Gut und Böse in einer Kleinstadt in Neu-England, gefolgt von Bitteres Blut: Eine wahre Geschichte über den Familienstolz des Südens, Wahnsinn und Mehrfachmorde – alle von Kitty vorgeschlagen.

Die Bücher für das Folgejahr wählten sie gemeinsam aus, und als all die unscharfen Fotos von Tatorten und die minutengenauen Zeitstrahlen der Tatnächte miteinander zu verschwimmen begannen, kam Grace auf die Idee, immer abwechselnd ein Buch über ein wahres Verbrechen und einen Roman zu lesen, sodass sie in einem Monat Das Schweigen der Lämmer und im nächsten Begrabene Träume: Im Kopf von John Wayne Gacy studierten. Sie lasen The Hillside Stranglers von Darcy O’Brien, gefolgt von Shakespeares Titus Andronicus, in welchem Kinder in eine Pastete eingebacken und ihrer Mutter zum Essen vorgesetzt wurden. (»Das Problem dabei ist«, bemerkte Grace, »dass man extrem große Pasteten bräuchte, um zwei Kinder hin­einzubekommen, selbst dann, wenn man sie vorher gut klein hackt.«)

Patricia fand es toll. Sie fragte Carter, ob er die Bücher mit ihr gemeinsam lesen wollte, aber er erwiderte, dass er es den ganzen Tag lang mit verrückten Patienten zu tun habe und deshalb auf gar keinen Fall zu Hause auch noch etwas über Verrückte lesen wolle. Patricia machte das hingegen nichts aus. Der Buchclub, der keiner war, mit all seinen schleichenden Gifttoden und Mordaufträgen und Racheengeln, verschaffte ihr neue Perspektiven im Leben.

Sie und Carter waren im letzten Jahr ins Old Village gezogen, weil sie irgendwo hatten wohnen wollen, wo es viel Platz gab, wo es ruhig und vor allem sicher war. Sie wollten mehr als nur Nachbarn haben, sie wollten eine Gemeinschaft, in der das eigene Heim bestimmte Wertvorstellungen zum Ausdruck brachte – abseits des Chaos und der unablässigen Veränderung, die in der Außenwelt herrschten. Einen Ort, an dem die Kinder den ganzen Tag über draußen spielen konnten, ohne dass jemand sie beaufsichtigte, bis man sie zum Abendessen her­einrief.

Das Old Village lag von Charleston Downtown aus gesehen direkt auf der gegenüberliegenden Seite des Cooper River, in der Vorstadt Mt. Pleasant, aber während man in Charleston förmlich und kultiviert war und Mt. Pleasant eine Art engen ländlichen Verwandten von Charleston darstellte, handelte es sich beim Old Village um eine Lebensart. Das meinten zumindest jene Leute, die dort ansässig waren. Und Carter hatte lange und hart dafür gearbeitet, dass sie sich endlich nicht nur ein Haus, sondern auch eine Art zu leben leisten konnten.

Diese Art zu leben bestand aus einem Streifen Land mit Virginia-Eichen und eleganten Familienwohnhäusern zwischen dem Coleman Boulevard und Charleston Harbor, wo die Leute noch den vorbeikommenden Autos zuwinkten und niemand schneller als vierzig Stundenkilometer fuhr.

Hier hatte Carter Korey und Blue beigebracht, wie man am Dock Krabben fing, indem man rohe Hühnerhälse an langen Schnüren ins trübe Hafenwasser hinabließ, um wenig später die Schalentiere mit ihren bösen Augen her­auszuziehen und in Netze zu werfen. Eines Nachts ging er mit ihnen im grellen weißen Schein ihrer Coleman-Laternen Garnelen fangen. Sie gingen zum Austerngrillen und zur Sonntagsschule, zu Hochzeitsempfängen in der Alhambra Hall und zu Trauerfeiern bei Bestattungen Stuhr. An Weihnachten besuchten sie immer die Feier im Pierates-Cruze-Viertel, und Silvester tanzten sie Shag im Wild Dunes. Korey und Blue gingen an der Albemarle Academy auf der anderen Hafenseite zur Schule, schlossen Freundschaften, übernachteten bei anderen Kindern, Patricia fuhr im Carpool, niemand schloss die Tür ab, alle wussten, wo man seinen Ersatzschlüssel hinterlegte, wenn man auf Reisen war, und man konnte den ganzen Tag unterwegs sein und die Fenster zu Hause offen lassen, ohne das mehr geschah, als dass die Katze von jemand anderem bei einem auf der Anrichte schlief. Es war ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Es war ein wunderbarer Ort für eine Familie. Es war ruhig und milde und friedlich und sicher.

Aber manchmal sehnte Patricia sich nach einer Herausforderung. Manchmal sehnte sie sich danach her­auszufinden, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Manchmal erinnerte sie sich dar­an, wie das Leben als Krankenschwester gewesen war, bevor sie Carter geheiratet hatte, und sie fragte sich, ob sie immer noch die Hand in eine Wunde schieben und eine Arterie mit den Fingern hätte zuhalten können oder immer noch den Mut aufgebracht hätte, einen Angelhaken aus dem Augenlid eines Kindes zu ziehen. Manchmal wünschte sie sich ein bisschen Gefahr. Und darum war sie Mitglied eines Buchclubs.

Im Herbst 1991 schafften es Kittys heiß geliebte Minnesota Twins in die World Series, und sie brachte Horse dazu, die beiden Kiefern in ihrem Vorgarten mit der Kettensäge zu fällen und ein kleines Baseballfeld anzulegen. Sie lud alle Mitglieder ihres Buchclubs, der keiner war, sowie deren Ehemänner zu einem gemeinsamen Spiel ein.

»Ich muss mein Gewissen erleichtern«, sagte Slick beim letzten Treffen vor dem Spiel.

»Herr im Himmel«, seufzte Maryellen und verdrehte die Augen. »Das kann ja was werden.«

»Red nicht so von Leuten, von denen du keine Ahnung hast«, gab Slick zurück. »Also, ich bitte andere nicht gerne darum, zu sündigen …«

»Wenn Baseball eine Sünde ist, komme ich in die Hölle«, sagte Kitty.

»Mein Mann, er … nun ja«, sagte Slick, ohne Kitty zu beachten. »Leland würde nicht verstehen, war­um wir derart morbide Bücher in unserem Buchclub lesen …«

»Es ist kein Buchclub«, sagte Grace.

»… und ich wollte nicht, dass er sich Sorgen macht«, fuhr Slick unbeeindruckt fort. »Also habe ich ihm erzählt, dass wir einen Bibel-Lesekreis bilden.«

Fünfzehn Sekunden lang sprach niemand ein Wort. Schließlich sagte Maryellen: »Du hast deinem Mann erzählt, dass wir die Bibel lesen?«

»Man kann sein Leben lang die Bibel lesen und findet immer etwas Neues darin«, sagte Slick.

Das Schweigen zog sich in die Länge, während sie einander ungläubig anstarrten, und dann brachen alle in Gelächter aus.

»Das ist mein Ernst«, sagte Slick. »Wenn er es erfährt, erlaubt er mir nicht mehr, herzukommen.«

Sie begriffen, dass das Ganze kein Spaß war.

»Slick«, sagte Kitty gewichtig. »Ich verspreche, dass wir alle am Samstag eine aufrichtige und tiefe Leidenschaft für das Wort Gottes zeigen werden.«

Und das taten sie.

Die Männer machten sich in Kittys Vorgarten wichtig, schüttelten einander die Hände und machten Witze, mit ihren Wochenendstoppeln und ihren Clemson-Logos und Poloshirts, die in kurzen Stonewashed-Jeans steckten. Kitty teilte sie in Mannschaften ein, wobei sie die Paare aufsplittete, aber Patricia bestand darauf, dass Korey mitspielen durfte.

»Die anderen Kinder schwimmen alle am Dock«, sagte Kitty.

»Sie möchte lieber Baseball spielen«, sagte Patricia.

»Ich mache beim Pitchen keine halben Sachen, nur weil sie ein Kind ist«, erklärte Kitty.

»Sie kommt schon zurecht«, sagte Patricia.

Kitty hatte einen starken Wurfarm, und vom Pitcher’s Mound schlug sie mörderische Fastballs. Korey sah zu, wie sie Slick und Ed aus dem Spiel warf. Dann war sie mit Schlagen dran.

»Mom«, sagte sie, »und wenn ich vorbeischlage?«

»Dann hast du dein Bestes gegeben«, sagte Patricia.

»Was, wenn ich ein Fenster kaputt mache?«, fragte Korey.

»Dann kaufe ich dir auf dem Weg nach Hause einen Frozen Yogurt«, sagte Patricia.

Doch als Korey zur Home Plate ging, wurde Patricia mit einem Mal von einem Gefühl der Sorge durchzuckt. Korey hielt den Schläger ungelenk, und die Spitze zitterte in der Luft. Ihre Beine sahen zu dünn aus, ihre Arme zu schwach. Sie war doch noch ein kleines Kind. Patricia bereitete sich innerlich darauf vor, sie zu trösten und ihr zu versichern, dass sie ihr Bestes gegeben hatte. Kitty warf einen entschuldigenden Blick in Patricias Richtung und zuckte mit den Schultern, dann holte sie aus und ließ einen Fastball direkt in Koreys Richtung sausen.

Ein Knall ertönte, als der Ball mit einem Mal die Richtung änderte, in hohem Bogen auf Kittys Haus zuflog und dann im letzten Moment knapp über das Dach segelte, um irgendwo tief im Wald aufzuschlagen. Alle, einschließlich Korey, sahen wie erstarrt zu.

»Los, Korey!«, schrie Patricia und brach damit das Schweigen. »Lauf!«

Korey lief alle Stationen ab, und ihr Team gewann das Spiel mit 6 zu 4. Bei allen sechs Punkten war Korey am Schläger.

Sechs Monate später zeichnete sich ab, dass Miss Mary nicht mehr allein zu Hause wohnen konnte. Carter und seine beiden älteren Brüder einigten sich darauf, ihre Mutter für jeweils vier Monate aufzunehmen, und als jüngster der Brüder nahm Carter sie zuerst.

Dann rief Sandy am Tag, bevor er zu ihnen hätte fahren und sie abholen sollen, an und sagte: »Meine Kinder sind zu jung, um hier mit Mama zu wohnen, solange sie derart durcheinander ist. Wir wollen, dass sie sich so an sie erinnern, wie sie früher war.«

Carter rief seinen ältesten Bruder an, doch Bobby sagte: »Mom würde sich in Virginia nicht wohlfühlen. Es ist zu kalt hier.«

Es wurde laut, und dann drückte Carter, der am Fußende des Bettes saß, fest auf die Telefongabel und hielt es sehr lange in der Hand, bevor er sagte:

»Mom bleibt.«

»Für wie lange?«, fragte Patricia.

»Für immer«, sagte er.

»Aber Carter …«, setzte sie an.

»Was soll ich deiner Meinung nach machen, Patty?«, fragte er. »Sie auf die Straße setzen? Ich kann sie nicht in ein Pflegeheim geben.«

Sofort erweichte Patricia sich. Carters Vater war jung gestorben, und seine Mutter hatte ihn allein großgezogen. Sein nächstälterer Bruder war acht Jahre vor ihm zur Welt gekommen, und so waren Carter und seine Mutter auf sich allein gestellt gewesen. Die Opfer, die Miss Mary für Carter gebracht hatte, waren in ihrer Familie Legende.

»Du hast recht«, sagte sie. »Wir haben das Zimmer in der ausgebauten Garage. Das bekommen wir schon hin.«

»Danke«, sagte er nach einer langen Pause, und er klang so aufrichtig dankbar, dass Patricia wusste, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Aber Korey würde demnächst in die Mittelstufe kommen, und Blue konnte sich nicht auf seine Matheaufgaben konzentrieren und brauchte Nachhilfe, obwohl er erst in der vierten Klasse war, und Carters Mutter konnte ihre Gedanken nicht immer in Worte fassen, und ihr Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.

Die Hilflosigkeit vergiftete Miss Marys Charakter. Früher einmal waren ihre Enkelkinder ihr Ein und Alles gewesen. Nun kniff sie Blue so fest in den Arm, dass ein blaugrüner Bluterguss zurückblieb, weil er versehentlich ihre Buttermilch umgestoßen hatte. Sie trat Patricia vors Schienbein, als sie erfuhr, dass es keine Leber zum Abendessen gab. Sie wollte ständig zur Bushaltestelle gebracht werden. Nach einer Reihe von Vorfällen begriff Patricia, dass man sie nicht ohne Aufsicht zu Hause lassen durfte.

Eines frühen Nachmittags, als Miss Mary bereits ihre Cornflakesschüssel auf den Boden geworfen und anschließend ihre Toilette im Garagenzimmer mit einer ganzen Rolle Klopapier verstopft hatte, schaute Grace vorbei.

»Ich wollte dich zu der Spoleto-Abschlussnacht einladen«, sagte Grace zu Patricia. »Ich habe Karten für dich, Kitty, Maryellen und Slick. Ich dachte, es wäre nett, wenn wir mal eine Kulturveranstaltung besuchen.«

Patricia wünschte sich nichts sehnlicher, als mitzugehen. Die Spoleto-Abschlussnacht fand draußen auf dem Middleton Place statt. Man picknickte auf dem Hügel am See, während das Sinfonieorchester von Charleston klassische Musik spielte, und am Ende gab es ein Feuerwerk. Doch dann hörte sie Ragtag im Hobbyraum winseln und Miss Mary etwas Gemeines sagen.

»Tut mir leid, aber ich kann nicht«, sagte Patricia.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Grace.

Und dann sprudelte alles aus ihr raus. Welche Angst es Patricia machte, dass Miss Mary bei ihnen wohnte, wie schwer es für sie war, mit den Kindern am Esstisch zu sitzen, was für eine Belastung das Ganze für sie und Carter darstellte.

»Aber ich will mich nicht beklagen«, sagte Patricia. »Sie hat so viel für Carter getan.«

Grace sagte, es täte ihr leid, dass Patricia es nicht zum Spoleto schaffen würde, bevor sie ging, und Patricia verfluchte sich dafür, zu viel geredet zu haben.

Am nächsten Tag fuhr ein Pick-up-Truck in Patricias Auffahrt vor. Hinten drin saßen Kittys Jungs, und sie hatten eine tragbare Toilette, eine Gehhilfe, Bettpfannen, Waschwannen, Plastikgeschirr mit großen Griffen und Kisten voller unzerstörbarer Teller dabei. Kitty wuchtete sich aus dem Fahrersitz.

»Als Horses Mutter bei uns gewohnt hat, haben wir den ganzen Kram hier angesammelt«, sagte sie. »Morgen bringen wir das Krankenhausbett. Ich muss nur erst ein paar mehr Leute zusammentrommeln, damit wir es heben können.«

Patricia begriff, dass Grace mit Kitty gesprochen und ihr von der Lage berichtet haben musste. Noch bevor sie Grace anrufen konnte, um sich bei ihr zu bedanken, klingelte es erneut an der Tür. Eine kleine schwarze Frau, mollig, aber mit scharfem Blick, die ihr Haar in einem steifen, altmodischen Helmschnitt und weiße Trainingshosen und einen weißen Schwesternkittel unter einer lilafarbenen Strickjacke trug, stand auf ihrer Veranda.

»Mrs. Cavanaugh meinte, dass Sie vielleicht meine Hilfe gebrauchen können«, sagte die Frau. »Ich heiße Ursula Greene und kümmere mich um alte Leute.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Patricia. »Aber …«

»Ich passe auch gelegentlich auf Kinder auf, das kostet nichts extra«, sagte Mrs. Greene. »Ich bin keine Babysitterin, aber Mrs. Cavanaugh sagte, dass Sie vielleicht dann und wann mal rauswollen. Ich verlange elf Dollar die Stunde und dreizehn Dollar abends und nachts. Es macht mir nichts aus, für die Kleinen zu kochen, aber ich will es nicht ständig tun müssen.«

Das war billiger, als Patricia erwartet hatte, aber sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, dass irgendjemand bereit sein würde, es mit Miss Mary auszuhalten.

»Bevor Sie eine Entscheidung treffen«, sagte sie, »möchte ich Sie meiner Schwiegermutter vorstellen.«

Sie gingen auf die Sonnenveranda, wo Miss Mary saß und fernsah. Sie zog ein finsteres Gesicht, als man sie unterbrach.

»Wer ist das?«, fragte sie spitz.

»Das ist Mrs. Greene«, sagte Patricia. »Mrs. Greene, ich möchte Ihnen …«

»Was will sie hier?«, fragte Miss Mary.

»Ich bin hier, um Ihnen die Haare zu bürsten und die Nägel zu machen«, sagte Mrs. Greene. »Und um Ihnen später etwas zu essen zu kochen.«

»War­um kann die das nicht tun?«, fragte Miss Mary und richtete einen knorrigen Finger auf Patricia.

»Weil Sie der da langsam den letzten Nerv rauben«, sagte Mrs. Greene. »Und wenn sie keine Pause kriegt, wirft sie Sie wahrscheinlich vom Dach.«

Miss Mary überlegte einen Moment und sagte dann: »Mich schubst niemand von irgendeinem Dach.«

»Wenn Sie so weitermachen, helfe ich ihr vielleicht noch dabei«, sagte Mrs. Greene.

Drei Wochen später saß Patricia auf einer grünen Steppdecke im Middleton Place und lauschte dem Sinfonieorchester von Charleston, das Händels »Feuerwerksmusik« spielte. Über ihr erblühte die erste Feuerwerksrakete am Himmel wie eine leuchtend grüne Pusteblume. Feuerwerke rührten Patricia an. Man musste extrem viel Zeit und Mühe darauf verwenden, sie richtig hinzubekommen, und dann waren sie so schnell vorbei, und nur wenige Menschen konnten sich an ihnen erfreuen.

Im Licht des Feuerwerks betrachtete sie die Frauen um sich herum. Grace, die mit geschlossenen Augen in einem Gartenstuhl saß und der Musik lauschte; Kitty, die auf dem Rücken lag und schlief, ein Plastikweinglas gefährlich schräg in einer Hand; Maryellen in ihrem Overall, die die Beine vor sich ausgestreckt hatte und sich die gehobene Gesellschaft Charlestons ansah; und Slick, die mit angezogenen Beinen und auf die Seite gelegtem Kopf zuhörte, als sei sie zu Hause.

Patricia begriff, dass dies die Frauen waren, mit denen sie sich seit vier Jahren jeden Monat traf. Sie hatte mit ihnen über ihre Ehe und Kinder gesprochen, hatte sich über sie geärgert und sich mit ihnen gestritten und jede von ihnen mindestens einmal weinen sehen, und irgendwann, inmitten von abgeschlachteten Studentinnen, schockierenden Kleinstadtgeheimnissen, vermissten Kindern und wahren Berichten über Kriminalfälle, die Amerika für immer verändert hatten, hatte sie zwei Dinge erkannt: Sie steckten alle zusammen in dieser Sache drin, und wenn ihre Männer jemals eine Lebens­versicherung auf sie abschlossen, dann steckten sie in Schwierigkeiten.

Helter Skelter

Mai 1993

Kapitel 3

»Aber wenn ich Blue nicht dazu bringe, sich beim Abend­essen zu uns zu setzen, wenn Carters Mutter dabei ist«, sagte Patricia beim Buchclub-Treffen »dann kommt Korey auch nicht dazu. Sie ist sowieso schon pingelig mit dem Essen. Ich fürchte, dass das so eine Teenager-Sache ist.«

»Jetzt schon?«, fragte Kitty.

»Sie ist vierzehn«, erwiderte Patricia.

»Ein Teenager zu sein hat nichts mit irgendwelchen Zahlen zu tun«, sagte Maryellen. »Es ist das Alter, in dem man sie nicht mehr mag.«

»Magst du die Mädchen nicht?«, fragte Patricia.

»Niemand mag seine Kinder«, sagte Maryellen. »Wir lieben sie zu Tode, aber wir mögen sie nicht.«

»Meine Kinder sind Tag für Tag ein Segen«, sagte Slick.

»Fang an zu leben, Slick«, sagte Kitty. Sie biss von einer Käsestange ab und wischte den Regen von Krümeln, der in ihren Schoß niederging, auf Grace’ Teppich.

Patricia sah Grace zusammenzucken.

»Niemand denkt, dass du deine Kinder nicht liebst, Slick«, sagte Grace. »Ich liebe Ben Jr., aber ich werde den Tag, an dem er aufs College geht und wir endlich ein bisschen Ruhe in diesem Haus haben, feiern.«

»Ich glaube, sie essen nicht richtig wegen den Bildern, die sie in den Magazinen sehen«, sagte Slick. »Man nennt das den ›Heroin-Chic‹, könnt ihr euch das vorstellen? Ich schneide die Werbeanzeigen raus, bevor ich Greer ein Magazin gebe.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Maryellen.

»Wie kommst du zu so was?«, fragte Kitty, brach eine Käsestange durch und ließ noch mehr Krümel auf Grace’ Teppich rieseln.

Grace konnte nicht mehr an sich halten. Sie holte Kitty einen Teller.

»Ach, nein danke«, sagte Kitty und wedelte mit der Hand. »Ich brauche keinen.«

Der namenlose Buchclub, der keiner war, hatte sich in Grace’ Wohnzimmer mit den dicken Teppichen und dem sanften Lampenschein eingerichtet. Ein gerahmter Audubon-Druck hing über dem Kamin, passend zu den gedämpften Kolonialstil-Farben des Zimmers – Raleigh-Peach und Bruton-White –, während das Klavier in der Ecke dunkel vor sich hinglänzte. Alles in Grace’ Haus schien makellos. Jeder American-Windsor-Stuhl, jeder Walnuss-Beistelltisch, jede chinesische Porzellanlampe, all das sah für Patricia aus, als sei es schon immer hier gewesen und das Haus darum herum gewachsen.

»Teenager sind langweilig«, sagte Kitty. »Und es wird immer schlimmer. Frühstück, Wäsche, Saubermachen, Abendessen, Hausaufgaben, immer das Gleiche, Tag für Tag. Wenn sich irgendetwas auch nur das kleinste bisschen verändert, kriegen sie einen Anfall. Ehrlich, Patricia, mach dich locker. Überlege dir, worum es sich zu kämpfen lohnt. Niemand stirbt dar­an, dass er nicht jede Mahlzeit bei Tisch einnimmt oder einen Tag mal keine frische Unterwäsche anzieht.«

»Und wenn genau das der Tag ist, an dem man von einem Auto angefahren wird?«, fragte Grace.

»Ich glaube, wenn Ben Jr. von einem Auto angefahren werden würde, hättest du größere Probleme als den Zustand seiner Unterhosen«, sagte Maryellen.

»Nicht unbedingt«, sagte Grace.

»Ich friere belegte Brote ein«, platzte es aus Slick her­aus.

»Was machst du?«, fragte Kitty.

»Um Zeit zu sparen«, sagte Slick hektisch. »Ich mache die ganzen Schulbrote für die Kinder, drei am Tag, fünf Tage die Woche. Das sind sechzig belegte Brote. Ich mache alle am ersten Montag des Monats, friere sie ein, und jeden Morgen hole ich eins aus dem Tiefkühlfach und stecke es ihnen in die Tasche. Mittags ist es dann aufgetaut.«

»Das muss ich ausprobieren«, wollte Patricia sagen, weil es wie eine fantastische Idee klang, aber ihr Kommentar ging in Kittys und Maryellens Gelächter unter.

»Das spart Zeit«, sagte Slick, wie um sich zu rechtfertigen.

»Man kann keine belegten Brote einfrieren«, sagte Kitty. »Was passiert mit dem Belag?«

»Keiner beschwert sich«, sagte Slick.

»Weil sie sie nicht essen«, erklärte ihr Maryellen. »Entweder schmeißen sie sie in den Müll, oder sie tauschen sie mit den Trotteln in ihrer Klasse. Ich würde gutes Geld darauf verwetten, dass sie nie auch nur ein einziges deiner Gefrierbrand-Spezialgerichte gegessen haben.«

»Meine Kinder lieben das Mittagessen, das ich ihnen mitgebe«, sagte Slick. »Sie würden mich niemals anlügen.«

»Sind das neue Ohrringe, Patricia?«, fragte Grace, um das Thema zu wechseln.

»Ja«, sagte Patricia und drehte den Kopf, um sie ins Licht zu halten.

»Wie viel haben die gekostet?«, fragte Slick, und Patricia sah alle leicht zusammenzucken. Nur die Fragerei nach Dingen, die mit Geld zu tun hatten, war noch geschmackloser, als über Gott daherzureden.

»Carter hat sie mir zum Geburtstag geschenkt«, sagte Patricia.

»Sie sehen teuer aus«, sagte Slick unbeirrbar. »Ich wüsste zu gerne, wo er sie gekauft hat.«

Carter kaufte Patricia zum Geburtstag normalerweise irgendwas aus der Drogerie, aber diesmal hatte er ihr die Perlenstecker geschenkt. Patricia trug sie heute Abend aus Stolz darauf, dass sie etwas Ernsthaftes und wirklich Wertvolles von ihm bekommen hatte. Doch jetzt kam sie sich wie eine Angeberin vor, deshalb wechselte sie das Thema.

»Habt ihr Probleme mit Sumpfratten?«, fragte sie Grace. »Ich hatte diese Woche zwei auf der hinteren Veranda.«

»Bennett hat seine Luftpistole dabei, wenn er draußen sitzt, und ich mische mich da nicht ein«, sagte Grace. »Wir müssen langsam mal über das Buch reden, wenn wir zu einer christlichen Zeit wieder loswollen. Slick, du wolltest doch anfangen?«

Slick straffte sich, ordnete ihre Notizen und räusperte sich.

»Diesen Monat geht es bei uns um Helter Skelter von Vincent Bugliosi«, sagte sie. »Und ich glaube, es handelt sich um eine perfekte Anklageschrift gegen den sogenannten Sommer der Liebe, das Jahrzehnt, in dem Amerika vom Weg abgekommen ist.«

Dieses Jahr las ihr Buchclub, der keiner war, die Klassiker: Helter Skelter, Kaltblütig, Zodiac, Ann Rules Der Fremde neben mir und eine neue Ausgabe von Fatal Vision mit einem weiteren Epilog, der die Leserschaft über die Fehde zwischen dem Autor und seinem Gegenstand auf dem Laufenden hielt.

Vor 1988 hatte nur Kitty Bücher über wahre Verbrechen gelesen, weshalb ein Großteil der wichtigen Bücher an ihnen vorbeigegangen waren, und dieses Jahr wollten sie die Lücken schließen.

»Bugliosi hat den Fall völlig falsch verhandelt«, sagte Maryellen. Weil Ed für die Polizei von North Charleston arbeitete, hatte sie immer eine Meinung dazu, wie mit einem bestimmten Fall zu verfahren sei. »Wenn sie bei der Spurensicherung nicht so geschlampt hätten, hätten sie ihre Anklage auf physisches Beweismaterial stützen können und wären nicht auf Bugliosis Helter-Skelter-Strategie zurückgeworfen gewesen. Sie können von Glück sagen, dass der Richter zu seinen Gunsten geurteilt hat.«

»Wie hätte man sonst Anklage gegen Manson erheben sollen?«, fragte Slick. »Er war an keinem der Tatorte, als die Leute umgebracht wurden. Persönlich hat er niemanden niedergestochen.«

»Mit Ausnahme von Gary Hinman und den LaBiancas«, sagte Maryellen.

»Für die hätte er niemals lebenslänglich bekommen«, sagte Slick. »Die Verschwörungsstrategie hat funktioniert. Manson ist der, der nicht frei auf der Straße rumlaufen sollte. Nehmt euch vor falschen Propheten in Acht.«

»Die Bibel ist wohl kaum die beste Quelle für juristische Strategien«, sagte Maryellen.

Kitty beugte sich vor, nahm sich eine weitere Käsestange, ließ sie fallen, hob sie vom Teppich auf und biss hin­ein. Grace wandte den Blick ab.

»Das erste Kapitel«, sagte Kitty kauend. »Sie haben einundvierzigmal auf Rosemary LaBianca eingestochen. Was meint ihr, wie fühlt sich das wohl an? Ich meine, wahrscheinlich spürt man jeden einzelnen Stich, oder?«

»Ihr müsst euch alle Alarmanlagen einbauen lassen«, sagte Maryellen. »Unsere steht in direkter Verbindung mit der Polizei, und das Police Department von Mt. Pleasant hat eine Reaktionszeit von drei Minuten.«

»Ich glaube, in drei Minuten könnte trotzdem jemand einundvierzigmal auf einen einstechen«, sagte Kitty.

»Ich will nicht diese hässlichen Aufkleber überall auf den Fenstern haben«, sagte Grace.

»Du lässt lieber einundvierzigmal auf dich einstechen, als dein Haus ein bisschen verschandeln zu lassen?«, fragte Maryellen.

»Ja«, sagte Grace.

»Ich fand es faszinierend, Einblick in so viele verschiedene Lebensstile zu erhalten«, sagte Patricia und wechselte damit einmal mehr gekonnt das Thema. »Ich habe eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert und hatte dabei immer das Gefühl, die Hippie-Bewegung verpasst zu haben.«

»Das war ein Riesenschwachsinn«, sagte Kitty. »ich war 1969 am College, und glaubt mir, der Sommer der Liebe ist komplett an South Carolina vorbeigegangen. Die ganze freie Liebe gab’s drüben in Kalifornien.«

»Meinen Sommer der Liebe habe ich im Versuchstier­labor an der Princeton verbracht«, sagte Maryellen. »Manche Leute müssen sich ihre Ausbildung selbst finanzieren, vielen Dank auch.«