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Beschreibung

Die Förderung der mehrsprachigen Kompetenz durch sprachenübergreifenden Unterricht wird in Bildungsstandards und Rahmenplänen in Deutschland und anderen deutschsprachigen Ländern gefordert. Sie betrifft prinzipiell die Gesamtheit der Lernenden in ihrer Diversität. Aktuell mangelt es allerdings an ausreichenden Konkretisierungen und methodischen Vorschlägen. Im vorliegenden Band werden verschiedene Facetten sprachenübergreifenden Lernens beleuchtet, die im Kontext von Unterricht, Lehrmaterialentwicklung, Lehreraus- und -fortbildung sowie Forschung angesiedelt sind.

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Steffi Morkötter / Katja Schmidt / Anna Schröder-Sura

Sprachenübergreifendes Lernen

Lebensweltliche und schulische Mehrsprachigkeit

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8247-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0271-1 (ePub)

Inhalt

VorwortReferenzenMehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt in der PrimarstufeDas KOINOS-Projekt. Zum praktischen Umgang mit sprachlicher und kultureller Diversität an Grundschulen in Europa1. Einleitung2. Von der Literalität zur Multiliteralität und deren Bedeutung für den Unterricht3. Das KOINOS-Projekt4. (E-)fliegende Teppiche. Ein praktischer Ansatz zur Förderung von Multiliteracy5. Zusammenfassung und FazitBibliographieMehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze in der Sekundarstufe„Pourquoi apprendre le français – est-ce que l’anglais ne suffit pas ?“1. Ausgangslage2. Theoretische Verortung3. Untersuchungskontext und Gütekriterien4. Didaktisch-methodische Überlegungen zur Unterrichtsreihe5. Evaluation der Unterrichtsreihe6. Fazit und AusblickBibliographieAnhangAnregungen für die Leistungseinschätzung beim sprachenübergreifenden Lernen im Russischunterricht1. Einführung2. Eine Leistungsüberprüfung zum sprachenübergreifenden Lernen im Russischunterricht der Klassenstufe 8 (A2)3. FazitLiteraturAnhangMehrsprachigkeitsdidaktik in der LehrerInnenbildung„Plurale Ansätze werden mich in der zukünftigen Unterrichtsvorbereitung beeinflussen.“ – Unsicherheiten und Dilemmas künftiger Spanischlehrkräfte in Bezug auf plurale Ansätze1. Einleitung2. Plurale Ansätze und die Entstehung einer spezifischen Antinomie für FremdsprachenlehrerInnen: Mehrsprachiges oder einsprachiges Handeln?3. Empirische Studie: Kontext und Methodologie4. Präsentation der Ergebnisse5. Erkenntnisse und DiskussionBibliographieSensibilisierung für Mehrsprachigkeit in einem sprachenübergreifenden Ausbildungsmodell: Empirische Einblicke in subjektive Theorien von Studierenden des ‚Innsbrucker Modells der Fremdsprachendidaktik‘ (IMoF)1. Einleitung2. Subjektive Sichtweisen von Fremdsprachenlehrpersonen auf Mehrsprachigkeit und Team-Teaching respektive Team-Learning3. Forschungsdesign: Forschungsfragen und Forschungsmethodik4. Ergebnisse5. Diskussion und KonklusionBibliographieMehrsprachigkeitsdidaktische Aspekte in der Ausbildung zukünftiger Fremdsprachenlehrpersonen – ein evidenzbasierter Beitrag zur Professionalisierung in der PädagogInnenbildung Neu in Österreich1. Einleitendes2. Mehrsprachige Schulrealität versus monolingual ausgerichtete LehrerInnenausbildung3. Mehrsprachigkeitsorientierte Ansätze in der FremdsprachenlehrerInnenausbildung4. Ein design-based research-Projekt zu mehrsprachigkeitsdidaktischen Aspekten in der Ausbildung zukünftiger Fremdsprachenlehrpersonen5. Zusammenfassung und FazitBibliographieKonzeptionelle Überlegungen zu mehrsprachigkeitsförderndem LernenZur Eignung des EuroComGerm-Konzepts für das sprachenübergreifende Lernen in der Schule1. Einleitung2. Das EuroComGerm-Konzept3. EuroCom – Königsweg zur Mehrsprachigkeit, Adapter oder Sprachen-Parkour?4. Überlegungen zur Konzeption EuroComGerm-basierter Sprachlernangebote in der Schule5. FazitBibliographieAnhangÜberlegungen zur Analyse und Konstruktion von sprachenübergreifenden Aktivitäten: It’s getting logical1. Einleitung2. Mehrsprachigkeitsdidaktische Lehr-/Lernverfahren3. Kognitive Prozesse bei mehrsprachigkeitsdidaktischen Aktivitäten4. Ziele von mehrsprachigkeitsdidaktischen Übungen und Aufgaben mit Deskriptoren5. Gütekriterien für die Analyse mehrsprachigkeitsdidaktischer Übungen und Aufgaben bzw. Prinzipien für ihre Konstruktion6. Methodische Formate mit Operatoren für mehrsprachigkeitsdidaktische Übungen und Aufgaben7. Fazit und AusblickBibliographieAnhangÜberlegungen zur Erweiterung des Referenzrahmens für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen um die Dimension des sprachsensiblen Fachunterrichts1. Einleitung2. Der Begriff „plurale Ansätze“ und der REPA – eine mögliche Antwort auf die Zersplitterung der mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätze3. Plurale Ansätze und „sprachsensibler Fachunterricht“4. Sprachsensibler Fachunterricht und der REPA5. Die Frage des sprachsensiblen Fachunterrichts im Companion Volume des GER6. Zusammenfassung und PerspektiveBibliographieWebseitenDie AutorInnen und HerausgeberinnenDie Herausgeberinnen

Vorwort

Steffi Morkötter, Katja Schmidt & Anna Schröder-Sura

Der Begriff „sprachenübergreifendes Lernen“ verweist auf die Förderung von mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz als einer komplexen Kompetenz anstelle eines additiven Nebeneinanders einzelzielsprachlicher Kompetenzen, wie es bereits im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (Europarat, 2001, S.17) vor nahezu zwei Jahrzehnten dargestellt wurde1. Diese mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz wurde im Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) (Candelier et al., 2012) modelliert und in ihre Bestandteile Wissen, Einstellungen und Haltungen sowie Fertigkeiten zerlegt. Zuletzt wurde der Begriff im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (Europarat, 2020) ebenfalls in Form von Deskriptoren fortgeführt und die mehrsprachigkeitsdidaktische Orientierung wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Wenn man Lernende als plurilinguale und plurikulturelle Wesen sieht, muss man ihnen nötigenfalls auch den Einsatz all ihrer sprachlichen Ressourcen gestatten und sie dazu ermutigen, sowohl Ähnlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten als auch Unterschiede zwischen Sprachen und Kulturen zu entdecken“ (Europarat, 2020, S.34). Mit dieser Beschreibung werden aktuelle bildungspolitische Anforderungen treffend zusammengefasst.

Sprachenübergreifendes Lernen schließt sprachenverbindendes und sprachenvernetzendes Lernen mit ein (vgl. Hallet, 2015; Meißner, 2005), Begriffe, die die zwischensprachlichen und kulturellen Bezüge in den Vordergrund stellen.

Die Vorstellung von einer mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz und die Berücksichtigung der Gesamtheit sprachlicher Ressourcen der Lernenden verweisen auf die Notwendigkeit, neben Schulsprache(n), sowohl Herkunftssprachen der Lernenden („lebensweltliche Mehrsprachigkeit“) als auch Fremdsprachen („schulische Mehrsprachigkeit“) in Sprachlernprozesse einzubeziehen.

Methodisch schlägt der REPA zu diesem Zweck vier so genannte „Plurale Ansätze“ zur Förderung herkunftsbedingter und schulischer Mehrsprachigkeit vor (vgl. z.B. Melo-Pfeifer & Reimann, 2018): die Interkomprehensionsdidaktik, Interkulturelles Lernen, die integrative bzw. integrierte Sprachendidaktik und den Ansatz Eveil aux langues / awakening to languages. Allgemein gefasst handelt es sich um „Lehr- und Lernverfahren […], die zugleich mehrere Sprachen bzw. sprachliche Varietäten und Kulturen einbeziehen“ (Candelier et al., 2012). Sie widmen sich verschiedenen Schwerpunktsetzungen herkunftsbedingter und schulischer Mehrsprachigkeit und Plurikulturalität sowie der Entwicklung (meta)sprachlicher, inter- und transkultureller und strategischer Kompetenzen. Der Eveil aux langues-Ansatz wird eher dem frühbeginnenden (Fremd-)Sprachenunterricht zugeordnet und kann prinzipiell alle Sprachen und sprachlichen Varietäten und die Förderung eines sensiblen und respektvollen Umgangs mit sprachlicher und kultureller Vielfalt einbeziehen (Candelier, 2003; Mertens, 2018). Im Rahmen der integrierten Sprachendidaktik hingegen werden Verbindungen zwischen einer begrenzten Anzahl von Sprachen hergestellt mit dem Ziel, Kompetenzen in allen unterrichteten Sprachen bzw. die Entwicklung von Teilkompetenzen in bestimmten Sprachen zu fördern (Neuner, 2005; Wokusch, 2005). Die Interkomprehensionsdidaktik zielt entweder auf die parallele Auseinandersetzung mit zwei oder mehreren Sprachen einer Sprachenfamilie (germanische, romanische, slawische Sprachen usw.), wobei systematisch die Ähnlichkeiten für den Aufbau vor allem rezeptiver Kompetenzen genutzt werden, oder auf das Lernen einer Zielsprache unter starkem Rückgriff auf erst-, zweit- oder fremdsprachliches Wissen in einer oder mehreren anderen (nah)verwandten Sprache(n). Interkomprehension kann zum einen als eine Kommunikationsform und zum anderen als ein Verfahren zur Förderung des Sprachen- und Sprachenlernwachstums betrachtet werden (vgl. auch Doyé, 2010; Meißner, 2007). Das interkulturelle Lernen ist ein pluraler Ansatz für sich, ist aber auch in allen anderen Ansätzen enthalten2.

Die Erforschung und Förderung von lebensweltlicher und schulischer Mehrsprachigkeit bringen seit Jahrzehnten bedeutende Entwicklungen hervor. Für romanische Sprachen hat die Interkomprehensionsdidaktik im deutschsprachigen Raum u.a. in schulischen Kontexten beispielsweise vielversprechende Ergebnisse geliefert (z.B. Bär, 2009; Mordellet-Roggenbuck, 2011). Darüber hinaus liegen mittlerweile Vorschläge für und Erfahrungen mit einer Vernetzung der zumeist ersten Fremdsprache Englisch mit romanischen Sprachen (vgl. z.B. Leitzke-Ungerer et al., 2012) sowie mit Russisch und vorhandenen nicht-slawischen Sprachkenntnissen (Mehlhorn, 2014) vor. Eine Ausweitung sprachenübergreifender Projekte und Untersuchungen, auch für ‚kleinere‘ Sprachen wie beispielsweise Schwedisch (vgl. z.B. Kordt, 2015), ist im Sinne einer Mehrsprachigkeitsförderung wünschenswert und entspricht einer internationalen Vergleichsstudie zufolge ebenfalls SchülerInnenwünschen (vgl. Schröder-Sura et al., 2009, S.10). Auch im Bereich der fokussierten Kompetenzen ist in der Mehrsprachigkeitsdidaktik eine Erweiterung erkennbar, in diesem Fall insbesondere auf die produktive Ebene. Beispiele sind unter anderem mehrsprachige Kommunikation (z.B. in Foren und Chats: Prokopowicz, 2017) und Sprachmittlung, die sich zum Teil mit einer Annäherung lebensweltlicher und schulischer Mehrsprachigkeit verknüpfen lassen (vgl. hierzu für Sprachmittlung zwischen Türkisch und Spanisch z.B. Reimann & Siems, 2015; Fernández Ammann et al., 2015). Im Bereich lebensweltlicher Mehrsprachigkeit lassen sich insbesondere Untersuchungen und Maßnahmen ansiedeln, die dem Ansatz des Eveil aux langues bzw. awakening to languages folgen:

Discovering at school the diversity of languages and cultures, listening to dozens of languages, including some of the languages spoken by classmates, marvelling at the way those languages are written, comparing them and understanding how they work, taking an interest in those who speak them … (Candelier et al., 2004, S.209; unsere Hervorhebungen)

Auch hier existieren darüber hinaus Projekte, die das Erstellen eigener Produktionen durch SchülerInnen in einer internationalen und -kulturellen Perspektive in den Blick nehmen, wie beispielsweise das KOINOS-Projekt (siehe unten).

Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind in ihrer thematischen Ausrichtung bewusst weit gestreut, um einen Einblick in die Vielfalt der Ansätze und Entwicklungen, die in der Mehrsprachigkeitsdidaktik mittlerweile entstanden sind, zu ermöglichen. Sie reichen von Modellen und Forschungsergebnissen im Bereich der LehrerInnenausbildung (Barbara Hinger, Eva Maria Hirzinger-Unterrainer & Katrin Schmiderer, Benjamin Fliri, Sílvia Melo-Pfeifer) und Projekten in verschiedenen schulischen Kontexten (Grundschule, Sekundarbereich) bis hin zu Überlegungen zu sprachenübergreifendem Lernen und zum sprachsensiblen Fachunterricht (Michel Candelier) sowie zu sprachenübergreifenden Übungs- und Aufgabenformaten (Christiane Neveling). Auch unterschiedliche Zielsprachen und Sprachfamilien sind vertreten wie Russisch (Ursula Behr) sowie germanische (Birgit Kordt) und romanische Sprachen (Christian Helmchen, Sílvia Melo-Pfeifer, Tanja Prokopowicz).

Gerade weil die einzelnen Beiträge in ihren Ausrichtungen sehr unterschiedlich sind, ist das Ziel einer solchen Bündelung verschiedener pluraler Ansätze und Zielsprachen in einem Band, einen Austausch und eine Kooperation von Didaktiken (Deutsch-, Englisch-, Französisch-, Russisch-, Spanischdidaktik, Sachfachdidaktiken …) auf Schul- und Universitätsebene in den Bereichen Forschung, Unterricht, Lehrmaterialentwicklung und LehrerInnenaus- und -fortbildung anzuregen, um einer „Zersplitterung der mehrsprachigkeitsdidaktischen Bemühungen“ (Candelier, 2018, S.342) entgegenzuwirken.

Zu den einzelnen Beiträgen:

Im Rahmen von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt in der Primarstufe stellt Christian Helmchen das so genannte KOINOS-Projekt vor, das in Kooperation zwischen Universitäten und Schulen in Deutschland, Portugal und Spanien entstanden ist. Es wurden Konzepte zur Förderung von interkulturellen Kompetenzen und Multiliteralität von SchülerInnen entwickelt. Das Projekt lädt zur aktiven Teilhabe vieler sozialer AkteurInnen ein.

Für die Sekundarstufe wirft Tanja Prokopowicz die Frage auf: „Pourquoi apprendre le français – est-ce que l’anglais ne suffit pas ?“ Der Beitrag widmet sich einer Unterrichtsreihe aus dem Französischunterricht, die auf eine Förderung von individueller Mehrsprachigkeit und Sprachlernkompetenz abzielt. Ursula Behr geht mit Bezugnahme auf Russischunterricht in der Jahrgangsstufe 8 auf das vergleichsweise weniger bearbeitete Thema der Leistungseinschätzung beim sprachenübergreifenden Lernen ein und gibt Anregungen für die Konstruktion und Bewertung von Aufgaben, die sprachenübergreifende Kompetenzen erfordern. Die Ausführungen werden ergänzt um Informationen über die Erprobung, die Einschätzung der Anforderungen in den Aufgaben durch die Russischlernenden und die Beurteilung der Praktikabilität des Bewertungsansatzes durch die Russischlehrkräfte.

Der thematische Teil zu Mehrsprachigkeitsdidaktik in der LehrerInnenbildung beginnt mit einem Beitrag von Sílvia Melo-Pfeifer, die eine explorative Studie an der Universität Hamburg präsentiert. Es wird den Forschungsfragen nachgegangen, inwiefern die strukturierte Integration von pluralen Ansätzen im Rahmen von Erstausbildungsprogrammen den Abbau einer monolingualen Denkweise von künftigen FremdsprachenlehrerInnen unterstützt, wie diese die unterschiedlichen pluralen Ansätze und deren pädagogische und didaktischen Vorteile betrachten und welche Irritationen und Dilemmas plurale Ansätze am Anfang des Professionalisierungsprozesses auslösen. Benjamin Fliri, Eva M. Hirzinger-Unterrainer, Katrin Schmiderer und Barbara Hinger geben empirische Einblicke in subjektive Sichtweisen von Studierenden des so genannten ‚Innsbrucker Modells der Fremdsprachendidaktik‘ (IMoF) zu mehrsprachigkeits- und teambezogenen Aspekten zu Beginn ihrer fremdsprachendidaktischen Ausbildung. Ebenfalls im österreichischen Kontext angesiedelt ist der Beitrag von Benjamin Fliri, der der Frage nachgeht, wie die Wirksamkeit und die Bedeutung der Mehrsprachigkeitsdidaktik aus studentischer Perspektive in der Initialausbildung wahrgenommen werden und welche Rückschlüsse sich hieraus für eine mehrsprachigkeitsorientierte LehrerInnenausbildung ziehen lassen.

Der Band schließt mit drei Beiträgen zu konzeptionellen Überlegungen zu mehrsprachigkeitsförderndem Lernen. Birgit Kordt widmet sich in ihrem Beitrag der Frage der Eignung des EuroComGerm-Konzepts für das sprachenübergreifende Lernen in der Schule. Die Besonderheiten dieses Konzepts werden anhand dreier Metaphern dargelegt. Anschließend werden anhand verschiedener Beispiele Überlegungen zur Konzeption EuroComGerm-basierter Sprachlernangebote in der Schule angestellt. Christiane Neveling arbeitet heraus, nach welchen Kriterien Aktivitäten zum sprachenübergreifenden Lernen analysiert bzw. konzipiert werden können, damit sie den Desiderata der mehrsprachigkeitsdidaktischen Forschung im Rahmen der Unterrichtsprinzipien des neo-kommunikativen Ansatzes entsprechen. Für eine Systematisierung werden vier Leitlinien genutzt: kognitive Prozesse bei mehrsprachigkeitsdidaktischen Aktivitäten, Ziele der Übungen und Aufgaben, Gütekriterien bzw. Konstruktionsprinzipien von Übungen und Aufgaben sowie methodische Formate. Überlegungen zur Erweiterung des Referenzrahmens für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen um die Dimension des sprachsensiblen Fachunterrichts stellt Michel Candelier an. Die dargelegten Überlegungen verstehen sich sowohl als Vorarbeit für eine solche Ergänzung des REPA als auch als Hinweise auf den Nutzen von pluralen Ansätzen in diesem Bereich.

Referenzen

Beacco, Jean-Claude; Byram, Michael; Cavalli, Marisa; Coste, Daniel; Egli Cuenat, Mirjam; Goullier, Francis & Panthier, Joanna (2016). Guide pourle développement et la mise en oeuvre de curriculums pour une éducationplurilingue et interculturelle. / Guide for the development and implementationof curricula for plurilingual and intercultural education. Straßburg: Europarat.

Bär, Marcus (2009). Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fall­studien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr.

Candelier, Michel (2003). Evlang – l’éveil aux langues à l’école primaire – Bilan d’une innovation européenne. Brüssel: De Boek – Duculot.

Candelier, M. (dir.) (2004). Janua Linguarum – The gateway to languages _ The introduction of language awareness into the curriculum: Awakening to languages. Strasbourg : European Centre for Modern Languages/ Council of Europe. [https://www.ecml.at/Portals/1/documents/ECML-resources/JAN-EN.pdf?ver=2018-04-03-120408-363] (07.11.2020).

Candelier, Michel (coord.); Camilleri-Grima, Antoinette; Castellotti, Véronique; De Pietro, Jean-François; Lörincz, Ildikó; Meißner, Franz-Joseph; Noguerol, Artur & Schröder-Sura, Anna (2012). Le CARAP: Un cadre de référence pour les approches plurielles des langues et des cultures: Strasbourg: Conseil de l’Europe.

Candelier, Michel (2018). Nachwort: Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen als fächerübergreifender Begegnungsort im Curriculum – Zur Relevanz im deutschen Bildungskontext. In Sílvia Melo-Pfeifer & Daniel Reimann (Hrsg.). Plurale Ansätze im Fremdsprachenunterricht in Deutschland. State of the Art, Implementierung des REPA und Perspektiven (S.341 – 354). Tübingen: Narr.

Coste, Daniel; Moore, Danièle & Zarate, Geneviève (1997/2009). Compétence pluri­lingue et pluriculturelle. Vers un Cadre Européen Commun de référence pour l’enseignement et apprentissage des langues vivantes : études préparatoires. Version révisée et enrichie d’un avant-propos et d’une bibliographie complémentaire. Strasbourg: Conseil de l’Europe.

Doyé, Peter (2010). Interkomprehensives Lernen als Weg zur Selbstständigkeit. In Peter Doyé & Franz-Joseph Meißner (Hrsg.). Lernerautonomie durch Interkom­prehension/Promoting Learner Autonomy Through Intercomprehension/L’autonomisation de l’apprenant par l’intercompréhension (S.128–145). Tübingen: Narr.

Europarat (Hrsg.) (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Spra­chen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt.

Europarat (Hrsg.) (2020). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Begleitband. Stuttgart: Klett.

Fernández Ammann, Eva Maria; Kropp, Amina & Müller-Lancé, Johannes (2015). Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen. Berlin: Frank & Timme.

Hallet, Wolfgang (2015). Mehrsprachiges Lernen im Fremdsprachenunterricht: Ebenen und Arten des sprachenvernetzenden Lernens. In Sabine Hoffmann & Antje Stork (Hrsg.). Lernerorientierte Fremdsprachenforschung und -didaktik. Festschrift für Frank G. Königs zum 60. Geburtstag (S.33–44). Tübingen: Narr.

Kordt, Birgit (2015). Die Affordanzwahrnehmung von SchülerInnen bei der schulischen Umsetzung des EuroComGerm-Konzepts – Einblicke in eine explorativ-interpretative Studie. In Elisabeth Allgäuer-Hackl; Kristin Brogan; Ute Henning; Britta Hufeisen & Joachim Schlabach (Hrsg.). MehrSprachen? – PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula (S.85–106). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohen­gehren.

Leitzke-Ungerer, Eva; Blell, Gabriele & Vences, Ursula (Hrsg.) (2012). English-Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem-Verlag.

Mehlhorn, Grit (2014). Interkomprehension im schulischen Russischunterricht? Ein Experiment mit sächsischen Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 8. Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19/1, 148–168.

Meißner, Franz-Joseph (2005). Mehrsprachigkeitsdidaktik revisited: über Interkomprehensionsunterricht zum Gesamtsprachencurriculum. Fremdsprachen Lehren und Lernen 34, 125–145.

Meißner, Franz-Joseph (2007). Grundlagen der Mehrsprachigkeitsdidaktik. In Erika Werlen & Ralf Weskamp (Hrsg.). Kommunikative Kompetenz und Mehr­sprachigkeit. Diskussionsgrundlagen und unterrichtspraktische Aspek­te (S.81–101). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.

Mertens, Jürgen (2018). Begegnung mit Sprachen / Eveil aux langues. In Sílvia Melo-Pfeifer & Daniel Reimann (Hrsg.). Plurale Ansätze im Fremdsprachenunterricht in Deutschland. State of the Art, Implementierung des REPA und Perspektiven (S.139–186). Tübingen: Narr.

Mordellet-Roggenbuck, Isabelle (2011). Herausforderung Mehrsprachigkeit. Interkomprehension und Lesekompetenz in den zwei romanischen Sprachen Französisch und Spanisch. Landau: VEP.

Neuner, Gerhard (2005). Mehrsprachigkeitskonzept und Tertiärsprachendidaktik. In Britta Hufeisen & Gerhard Neuner (Hrsg.). Mehrsprachigkeitskonzept – Tertiärsprachenlernen – Deutsch nach Englisch (S.13–34). Straßburg: Europarat.

Prokopowicz, Tanja (2017). Mehrsprachige kommunikative Kompetenz durch Interkomprehension. Eine explorative Fallstudie zu romanischer Mehrsprachigkeit aus der Sicht deutschsprachiger Studierender. Tübingen: Narr.

Reimann, Daniel & Siems, Maren (2015). Herkunftssprachen im Spanischunterricht. Sprachmittlung Spanisch – Türkisch – Deutsch. Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 51/15, 33–43.

Schröder-Sura, Anna; Meißner, Franz-Joseph & Morkötter, Steffi (2009). Fünft- und Neuntklässler zum Französischunterricht in einer quantitativen Studie. französisch heute, 40/1, 8–15.

Wokusch, Susanne (2005). Didactique intégrée : vers une définition. Babylonia 4/2005 Vers une didactique intégrée: concept et pratiques, 14-16.

Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt in der Primarstufe

Das KOINOS-Projekt. Zum praktischen Umgang mit sprachlicher und kultureller Diversität an Grundschulen in Europa

Christian Helmchen

Abstract

Das Leben, Lernen und Arbeiten in einer sprachlich und kulturell vielfältigen Umgebung ist bereits jetzt Realität für eine Vielzahl von Menschen. Auch in Zukunft werden die Fähigkeiten, mit sprachlicher und kultureller Diversität umzugehen und Nutzen aus ihr zu ziehen, von stetig wachsender Bedeutung sein. Aus diesem Grund muss die Förderung multiliteraler Kompetenzen von SchülerInnen bereits in der Primarschulbildung ihren Platz finden. Das KOINOS-Projekt, das in Kooperation zwischen Universitäten und Schulen in Deutschland, Portugal und Spanien entstanden ist, hat didaktische Konzepte zur Förderung von Multiliteralität und interkulturellen Kompetenzen von SchülerInnen entwickelt, stellt sie der Öffentlichkeit zur Verfügung und lädt zur aktiven Partizipation vieler sozialer AkteurInnen ein. In diesem Beitrag werden das Projekt sowie daraus hervorgegangene Materialien und deren praktische Umsetzungen exemplarisch vorgestellt.

1.Einleitung

Sprache kommt in der post-industriellen Wissensgesellschaft (vgl. bspw. Bell, 1976) ein herausragender Stellenwert zu. Sie ist der Schlüssel zum Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen. Der Grad ihrer Beherrschung entscheidet in bedeutendem Maße über den Bildungserfolg eines Individuums und mithin über dessen ökonomisches Potential und sozialen Status. Sie befähigt in Schule, Ausbildung und Arbeitspraxis zum Zugang, zur Verarbeitung, zur Nutzung und Weitergabe komplexer Informationen; der angemessene Umgang mit ihren verschiedenen Registern erlaubt situationsgerechtes Handeln in unterschiedlichen sozialen Kontexten.

Die Bedeutung, die der Grad der Sprachbeherrschung für den Kompetenzerwerb in allen Schulfächern hat, zeigt sich in den Ergebnissen der PISA-Studien sehr deutlich. In ihrer Analyse konstatiert Gogolin, „dass das Verfügen über ‚Sprache‘ eine notwendige Grundlage dafür ist, Kompetenz in der Sache zu erlangen“ und dass „den sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler […] eine überaus bedeutende, die Schule insgesamt durchdringende und Fächergrenzen kreuzende Rolle“ (Gogolin, 2006, S.37) zukommt. Dies zeige sich schon allein daran, dass für den Begriff der Grundbildung, der in der deutschen Fassung der PISA-Tests verwandt wurde, im Englischen die Bezeichnungen Mathematical bzw. Scientific Literacy gewählt wurden. Es könne deshalb kaum verwundern, so Gogolin, dass sich geringe Lesekompetenzen negativ auf die Leistungsfähigkeit in anderen Wissensdomänen auswirken (vgl. ebd.).

Gogolin bezieht sich hier auf (Lese-)Kompetenzen in der deutschen Sprache. Im Hinblick auf eine in hohem Maße globalisierte Welt, deren Verflechtungen stetig weitreichender und zugleich enger werden, in der der Umgang mit sprachlicher Vielfalt zum alltäglichen Normalfall geworden ist, muss diese Analyse erweitert werden. Schon heute ist eine monolinguale Literalität in vielen Bereichen des Lebens nicht mehr ausreichend. Kompetenzen in verschiedenen Sprachen erleichtern unter Umständen nicht nur das Verständnis einer schlecht übersetzten Bedienungsanleitung für ein Elektrogerät oder eines Tutorials auf einer Website. Sie sind häufig notwendig für den Zugang zu Wissen aus anderen Sprachregionen, beispielsweise in der schulischen und universitären Ausbildung, bei der Verwendung von Informationstechnologie, bei der Arbeit im Ausland oder in einem Hotel, im Umgang mit ArbeitskollegInnen oder MitbürgerInnen mit einem anderen sprachlichen Hintergrund. Zudem beschränkt sich Literalität heute nicht mehr auf die Rezeption mündlicher oder schriftlicher Texte. Die Formen der Informationsverbreitung haben sich gewandelt und sind vielfältiger geworden, ein Umstand, der zugleich wachsende Kompetenzen und Flexibilität von RezipientInnen und Handelnden fordert; eine Entwicklung, die sich zweifelsohne fortsetzen und Menschen vor immer neue Herausforderungen stellen wird. Klar ist, multilinguale und multimodale Literalität sind schon jetzt für viele keine Option mehr, sie sind Notwendigkeit und es ist Bildungsauftrag der Schule, SchülerInnen auf die vor ihnen liegenden Herausforderungen in diesem Bereich vorzubereiten.

Tatsächlich ist eine Vielzahl der SchülerInnen bereits von zuhause aus mehrsprachig; z.B. hatten in Hamburg im Schuljahr 2018 / 2019 ca. 50 % der SchülerInnen einen Migrationshintergrund (vgl. Schuljahresstatistik, 2018), bundesweit sind es ca. 33 % (vgl. Statistisches Bundesamt, 2018). Diese SchülerInnen sind in der Regel mehrsprachig und verfügen so bereits über ein erhebliches sprachliches und kulturelles Kapital. Trotz der im wissenschaftlichen Diskurs seit langer Zeit geforderten Berücksichtigung und Förderung sprachlicher und interkultureller Kompetenzen bei SchülerInnen mit Migrationshintergrund zeigt sich in der Praxis nach wie vor eine weitgehende Ignoranz, teilweise sogar eine negative bzw. defizitorientierte Sichtweise in Bezug auf herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit (vgl. bspw. Hu, 2003; Roche, 2013). Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass LehrerInnen häufig nicht wissen, wie die im Klassenzimmer vorhandenen (Herkunfts-)Sprachen sinnstiftend in den Unterricht einbezogen werden können (vgl. Heyer & Schädlich, 2014). Es überrascht deshalb nicht, dass die das ERASMUS+ Projekt KOINOS – Europäisches Portfolio plurilingualer literaler Praxis begleitende Forschung zeigt, dass viele der am Projekt teilnehmenden lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen bislang keinen Raum für ihre Herkunftssprachen in der Schule sehen und in sprachlicher Hinsicht eine klare Trennung zwischen intra- und extraschulischer Umgebung vornehmen. So beschreiben die SchülerInnen zwar, wie sie Deutsch bzw. institutionell erworbene Sprachen in der Schule nutzen, der Gebrauch der Herkunftssprachen bleibt jedoch dem häuslichen Umfeld oder Besuchen im Herkunftsland vorbehalten. Diese von den SchülerInnen wahrgenommene Trennung zwischen den sprachlichen Repertoires (sozial / lokal bzw. Familie, Freunde, Schule) zeigt sich in einer klaren visuellen Unterteilung ihrer sprachlichen Umgebungen. So schaffen die Kinder in den visuellen Narrativen durch von ihnen gezeichnete Linien voneinander getrennte Räume, denen jeweils deutlich nur eine Sprache zugeordnet wird. Überlappungen, zur Abbildung mehrsprachiger Räume, zeigen sich hingegen nicht (vgl. Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018, S.10f., Abb.1).

Das KOINOS-Projekt,1 das zwischen 2015 und 2017 entwickelt und durchgeführt wurde, leistet einen Beitrag zum praktischen Einbezug von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt in den Schulalltag. Mit dem Wunsch, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander zu leisten, wurde der Name KOINOS gewählt, der übersetzt „im Dienst der Gemeinschaft“ bedeutet. Das Projekt entstand als Kooperation zwischen Grundschulen und Universitäten in Deutschland (Hamburg), Portugal (Aveiro) und Spanien (Barcelona) und hat sich unter anderem die Förderung mehrsprachiger, multimodaler Literalität unter allen SchülerInnen zur Aufgabe gemacht. Die im Rahmen des Projektes von WissenschaftlerInnen und LehrerInnen gemeinsam entwickelten, erprobten und überarbeiteten Materialen sowie alle Ergebnisse des Projekts, Dokumentationen, Erfahrungsberichte und Unterrichtsvorschläge können unter www.plurilingual.eu in verschiedenen Sprachen eingesehen werden.

Dieser Artikel soll einen Einblick in das KOINOS-Projekt gewähren und anhand eines Beispiels die Förderung von Multiliteralität unter Einbezug der sprachlichen und kulturellen Diversität der Schülerschaft im Projekt exemplarisch veranschaulichen. Zu diesem Zweck wird zunächst der Begriff der Literalität um die Multiliteralität definitorisch erweitert. Nach einer kurzen Beschreibung des Projekts folgt die Vorstellung der lokalen und digitalen ‚Fliegenden Teppiche‘, einem im KOINOS-Projekt entstandenen und erprobten Instrument zur Förderung von Multiliteralität, bevor über Potenziale und Perspektiven, aber auch über Grenzen und Herausforderungen gesprochen wird.

 

Abbildung 1: Visual Narratives von zwei SchülerInnen, entstanden im KOINOS-Projekt

2.Von der Literalität zur Multiliteralität und deren Bedeutung für den Unterricht

Wie bereits in der Einleitung angedeutet, ist ein Wandel des Literalitätsbegriffs zu konstatieren (vgl. auch Chik, 2014). Diese Entwicklung und ihr immer noch mangelnder Widerhall in der schulischen Praxis war Motivation für die Entstehung von KOINOS. Während beispielsweise Cuq (2003) Literalität als die Lese- und Schreibkompetenzen von Individuen in einer bestimmten Sprachgemeinschaft definiert, präsentieren Kalantzis und Cope (2008) eine erheblich offenere Begriffsdeutung und bezeichnen Literalität als die Fähigkeit, sich mit einem unbekannten Text auseinanderzusetzen, nach Hinweisen auf dessen Bedeutung zu suchen, ohne ein Gefühl der Distanz oder Exklusion zu empfinden. Literalität bedeute ferner, die Funktionsweise eines Textes zu verstehen sowie dessen Kontext und Zweck zu erfassen. Schließlich sei es die Fähigkeit, in unbekannten Kontexten aktiv kommunizieren zu können und aus Erfolgen und Fehlern in der Kommunikation zu lernen. Was hier bereits in der höheren Abstraktheit anklingt, wird schließlich durch den Terminus Multiliteralität begrifflich und konzeptuell an die Realität lokaler und globaler Entwicklungen hin zu vielfältigen und dynamischen Sprachmilieus mit einer großen Fülle medialer Darbringungsformen in allen Bereichen des Lebens – beruflich, sozial und privat – angepasst (vgl. Cope & Kalantzis, 2009; Kalantzis & Cope, 2008; Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018 für eine Zusammenfassung).

Diese Entwicklung darf allerdings nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs definitorische Berücksichtigung erfahren, sie muss in der schulischen Ausbildung von Menschen auch ihren praktischen Niederschlag finden. In einer solchen Multiliteralitätspädagogik wird Wissen nicht länger als transferier- und reproduzierbares Produkt, sondern als Prozess sozialer Ko-Konstruktion wahrgenommen (vgl. Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018). Sie unterliegt zudem der Annahme, dass sich Literalität nicht ausschließlich im Rahmen schulischer Aktivitäten und einem Bildungsplan folgend entwickelt, sondern in gleichem Maße von sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird (vgl. Chik, 2014). Zudem setzt sie „eine gewisse Relativierung von ‚Sprache‘ und geschriebenem Text als Informationselement und zu vermittelndes Objekt“ (Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018, S.3) voraus, um dem hybriden und transsemiotischen Charakter kommunikativer Prozesse sowie der kollektiven Konstruktion von Sinn Rechnung zu tragen. Multiliteralitätspädagogische Konzeptionen, wie sie beispielsweise in den Pluralen Ansätzen zu Sprachen und Kulturen (Candelier et al., 2012; vgl. auch Melo-Pfeifer & Reimann, 2018), dem Translanguaging (Nutzung semiotischer Repertoires, García & Wei, 2014) oder der Visual Literacy (das visuelle Element in Texten, Chik, 2014) zu finden sind, unterstützen LehrerInnen dabei, SchülerInnen auf die Herausforderungen einer Welt mit hohen Anforderungen an Literalität vorzubereiten. Sie erlauben es zugleich, alle im Klassenzimmer vorhandenen sprachlichen und kulturellen Ressourcen produktiv zu nutzen und eine größere Anzahl von Lernenden in den Lernprozess einzubeziehen sowie ihnen Anerkennung und Wertschätzung zu vermitteln.

Der Einbezug sprachlicher und kultureller Vielfalt muss sich allerdings durch das gesamte Curriculum fortschreiben und darf nicht auf einzelne, sprachliche Fächer – wie es bisher zumeist aufgrund von scheinbar besonderer Eignung der Fall ist – limitiert bleiben. Die Vermittlung von Anerkennung und Wertschätzung ist für SchülerInnen und deren Eltern nur dann wirklich glaubhaft und kann nur dann nachhaltig positive Wirkung entfalten – und zwar sowohl auf schulischer als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene –, wenn sie nicht zum gelegentlichen Anstrich des Unterrichts mit vermeintlicher kultureller Exotik verkommt oder, wie Melo-Pfeifer und Helmchen bemerken, auf „das typische ‚Wie sagt man das in deiner Sprache‘?“ (2018, S.4) reduziert bleibt. Ziel muss es deshalb sein, Multiliteralität systematisch und interdisziplinär in den Schulcurricula zu verankern und im Unterricht zu fördern.

3.Das KOINOS-Projekt

Der Fokus von KOINOS liegt auf der Förderung und Ausbildung von Literalität unter der Berücksichtigung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt im Klassenzimmer und darüber hinaus. Neben mehrsprachigen Kompetenzen steht so die Stärkung des Bewusstseins für sprachliche und kulturelle Vielfalt in der unmittelbaren schulischen Umgebung der LehrerInnen und SchülerInnen sowie auf europäischer Ebene im Zentrum des Projekts (vgl. auch Helmchen & Melo-Pfeifer, 2018; Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018). Auf diese Weise tritt KOINOS unter dem Leitbild von Lehren und Lernen als sozialem Prozess für gesellschaftlichen Zusammenhalt ein. Ziel ist es zudem nicht ausschließlich, Materialien und Unterrichtsvorschläge für Lehrende zu entwickeln, die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse sollen sich zudem in der universitären Ausbildung von LehrerInnen widerspiegeln, um den immer noch weitreichend vorherrschenden „monolingualen Habitus“ (Gogolin, 1994) des Schulsystems aufzubrechen. Es muss auch Aufgabe der Universitäten sein, zukünftigen LehrerInnen das Bewusstsein und das Rüstzeug für den Umgang mit einer mehrsprachigen und kulturell vielfältigen Schülerschaft mit auf den Weg zu geben.

Das Projekt, für das gezielt Schulen mit einer sprachlich und kulturell vielfältigen Schülerschaft ausgesucht wurden, gliedert sich in die vier folgenden Bereiche:

I

Bewusstmachung. SchülerInnen und LehrerInnen befassen sich mit der eigenen und der sie umgebenden Mehrsprachigkeit bzw. kulturellen Vielfalt;

II

Multimodalität. Materialen und Aufgaben in verschiedenen Formaten bereiten SchülerInnen auf die Anforderungen der Informationsgesellschaft vor;

III

Einbindung der Eltern. Die teilnehmenden Schulen binden Eltern aktiv in den Unterricht und den Schulalltag ein, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern sowie die Nachhaltigkeit der Projektmaßnahmen zu gewährleisten;

IV

Internationale Kooperation. Ziel des Projektes war es nicht nur, SchülerInnen für sprachliche und kulturelle Vielfalt in ihrem Klassenzimmer bzw. ihrer Schule zu sensibilisieren, sondern ein Bewusstsein für dieses Thema mit europäischer Dimension zu schaffen.

4.(E-)fliegende Teppiche. Ein praktischer Ansatz zur Förderung von Multiliteracy

Beispielhaft für das KOINOS-Projekt und seinen Anspruch, Multiliteralität zu fördern sowie der sprachlichen und kulturellen Vielfalt im Klassenzimmer und darüber hinaus Anerkennung und Wertschätzung entgegenzubringen, sind die ‚Fliegenden Teppiche‘. Es existieren zwei Formen dieser ‚Fliegenden Teppiche‘, die gemeinsam von den SchülerInnen erstellt werden: eine lokale, physische Form und eine länderübergreifende, digitale Form. Sie bilden die Basis von KOINOS und dienen der Sammlung und Rezeption von Dokumenten, die die sprachliche und kulturelle Vielfalt der SchülerInnen repräsentieren und für alle erfahrbar machen. KOINOS legt dabei keine bestimmten Themen fest. Die Inhalte der ‚Fliegenden Teppiche‘ können von den Schulen und Lehrkräften unter Berücksichtigung des Curriculums oder anderer Besonderheiten, Bedürfnisse und Anforderungen ausgewählt werden.

Gemäß der für das KOINOS-Projekt grundlegenden Auffassung vom Lernen (und Lesen) als interaktionistischen und soziokulturellen Prozess (vgl. bspw. Cassany, 2009; Cummins, 1996; Zavala, 2008), in dem Wissen gemeinsam, mehrsprachig und interkulturell konstruiert wird, ermöglichen, fördern und fordern die ‚Fliegenden Teppiche‘ den Austausch zwischen den LeserInnen und machen sie zugleich zu AutorInnen eines gemeinschaftlich entstehenden Projekts. Auf diese Weise unterstützen sie die Arbeit der Lehrkräfte bei der Entwicklung und Förderung von Lesegewohnheiten, fördern das Interesse an der Verwendung von Materialien in verschiedenen Formaten, animieren zu gemeinsamen Lernprozessen, regen Verbindungen zwischen der inner- und der außerschulischen Welt an, stärken das soziale Miteinander und ermuntern – nicht nur die SchülerInnen – zu Offenheit für kulturelle und sprachliche Vielfalt (vgl. Vallejo Rubinstein & Noguerol Rodrigo, 2018).

Beim lokalen ‚Fliegenden Teppich‘ handelt sich um einen Koffer, der mit verschiedenen Materialien gefüllt ist und eine detaillierte Anleitung für die Durchführung der damit verbundenen Aktivitäten enthält. Darüber hinaus befindet sich im Koffer ein Notizbuch, in dem die Familien Dinge festhalten können, die sie mit den anderen teilen möchten. Zusätzlich zu den Materialien, die von den Lehrkräften bereitgestellt werden, werden SchülerInnen und deren Eltern eingeladen, Beiträge in verschiedener Form (digital, audio, analog etc.) aus ihren Herkunftskulturen und -sprachen einzubringen; dies können zum Beispiel Bücher, Comics, Ton- und Videoaufnahmen, Links zu Websites, Zeichnungen, Fotos oder Gegenstände sein, sowohl in der Landessprache als auch in einer Herkunftssprache. Nach einem Workshop (Leitfaden s. Anhang), in dem über die Nutzung aufgeklärt wird, wandert der ‚Fliegende Teppich‘ von Kind zu Kind. Familien werden gebeten, sich einen ruhigen Moment zu nehmen, das Material zu lesen und sich darüber auszutauschen. Darüber hinaus werden die Familien gebeten aufzuschreiben, was während der Lektüre vor sich gegangen ist, welche Gedanken sie sich zu den Materialien gemacht haben und was ihnen am besten gefallen hat. Vorbereitete Fragen und Kommentare helfen den Kindern dabei, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken. Durch das gemeinsame Rezipieren der gesammelten Materialien können SchülerInnen in Begleitung ihrer Eltern Erfahrungen mit Multiliteralität (multimodal, mehrsprachig, interkulturell) machen und sich der sprachlichen und kulturellen Lebenswirklichkeiten ihres Umfelds bewusst werden. Durch die Einbindung der Eltern in den Entstehungs- und Verwendungsprozess der Materialien wird zudem eine Verbindung zwischen Schule und Elternhaus geschaffen, die den von KOINOS explizit gewünschten Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander leistet.

Die ‚E-fliegenden Teppiche‘ (vgl. exemplarisch Abbildung 2 & 3, http://plurilingual.eu/de/e-portfolio/fliegende-teppiche) dienen dem Austausch zwischen Schulen der verschiedenen Partnerländer. Auch hier soll die Förderung von Multiliteralität und der Kontakt mit sprachlicher und kultureller Vielfalt im Fokus stehen. Durch die Kommunikation und Kollaboration über Grenzen hinweg entsteht hier die Notwendigkeit für LehrerInnen und SchülerInnen, sich mit digitalen Medien auseinanderzusetzen und diese zu verwenden sowie Strategien zu entwickeln, sprachliche Barrieren zu überwinden. Das KOINOS-Portal dient dabei neben klassischen Emails als Plattform für die Kommunikation zwischen Lehrenden zur Planung, Durchführung und Reflexion der gemeinsam entwickelten Unterrichtsprojekte sowie zum Austausch für die SchülerInnen. Für diese ‚E-fliegenden Teppiche‘ können SchülerInnen beispielsweise Audio- und Videoaufnahmen oder Zeichnungen (visuelle Narrative, vgl. Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018) herstellen, in denen die SchülerInnen sich und ihre Sprachen vorstellen, ihren AustauschpartnerInnen Lektürevorschläge unterbreiten, ihnen Tonaufnahmen ihrer Lieblingslieder bzw. Links dazu schicken oder die Durchführung bestimmter Aktivitäten empfehlen.

Abbildung 2: ‚E-fliegender Teppich‘ der Rudolf-Roß-Grundschule (Hamburg)

Durch den Austausch über diese Aktivitäten, Rückfragen und Bemerkungen entfaltet KOINOS sein interaktionales Potential. Eine solche Aktivität ist beispielsweise das Projekt ‚Alba‘, in dem ein Mädchen aus dem Jahr 3025 die SchülerInnen per Videobotschaft bittet, die Sprache zu retten, die in der Zukunft nur sehr reichen Menschen vorbehalten ist. Sie fordert die SchülerInnen deshalb auf, ihre Lieblingsworte zu sammeln, die um ein bestimmtes Thema kreisen, in diesem Fall das Thema ‚Mut‘. Im Anschluss wird das Ergebnis mit den SchülerInnen der anderen Schulen geteilt. Die Form der Präsentation wird den TeilnehmerInnen überlassen. In einem anderen Projekt, El còmic arreu del món (Das Comic rund um die Welt), erstellen SchülerInnen der verschiedenen teilnehmenden Schulen gemeinsam ein Comic in verschiedenen Sprachen. Beide Unterrichtsprojekte fördern die rezeptive und produktive Auseinandersetzung mit der bzw. den eigenen Sprache(n) und bieten zugleich die Erfahrung, dies auch mit unbekannten Sprachen zu tun. So wird die Neugier auf und das Bewusstsein für sprachliche (Bedeutungs-)Vielfalt angeregt und die Motivation für den Erwerb fremder Sprachen gesteigert.

Abbildung 3: ‚E-fliegender Teppich‘ der Grundschule Baró de Viver (Barcelona)

Gemäß der Zielsetzungen von KOINOS erfüllen diese Projekte die von Kalantzis und Cope (2008; sowie Cope & Kalantzis, 2009) definierten Anforderungen an eine zeitgemäße Form der (Multi-)Literalität und unterstützen SchülerInnen dabei, Kompetenzen zu entwickeln, die sie dazu befähigen, sich in vielfältigen und dynamischen sprachlichen Milieus mit unbekanntem Text auseinanderzusetzen, nach Hinweisen auf Bedeutung zu suchen, ohne dabei ein Gefühl der Distanz oder Exklusion zu empfinden. In einer weiteren Aktivität stellten SchülerInnen Weihnachtspostkarten für die SchülerInnen einer portugiesischen Partnerschule her und drehten einen Videoclip über das Making-of, den sie den anderen online zur Verfügung stellten. Die affektive Komponente, die dem Austausch persönlicher Nachrichten unter den SchülerInnen innewohnt, dient dabei einem der primären Projektziele, der Stärkung sozialer Kohäsion, in diesem Fall über die Grenzen der unmittelbaren Umgebung der SchülerInnen hinaus.

Von großer Bedeutung für eine erfolgreiche Durchführung der Projekte ist die Integration der von den Partnerklassen erstellten Materialen in den Unterricht. Dabei werden keine Sprachkenntnisse der LehrerInnen vorausgesetzt; sie sollen sich gemeinsam mit ihren SchülerInnen auf eine sprachliche und interkulturelle, kooperative Entdeckungsreise begeben. Zur Unterstützung der am Projekt beteiligten LehrerInnen finden sich auf dem KOINOS-Portal Hilfsmittel wie ein Aktivitätenraster, in dem Ziele, Themen, Materialien und Organisation gemeinsam festgelegt und festgehalten werden können.

5.Zusammenfassung und Fazit

Literalität ist der Schlüssel zur Teilhabe an der Mediengesellschaft. Sie ist die Voraussetzung für autonomes und lebenslanges Lernen und befähigt Individuen somit, sich stetig weiterzuentwickeln. Literalität beschränkt sich im 21.Jahrhundert aber nicht mehr auf die Rezeption mündlicher oder schriftlicher monolingualer Texte. Der kompetente Umgang mit einer großen Diversität medialer Darreichungsformen in verschiedenen Sprachen ist bereits jetzt von immenser Wichtigkeit für das Lehren und Lernen und wird mit voranschreitender Globalisierung und technologischem Fortschritt weiter an Bedeutung gewinnen. Die frühe Förderung von Multiliteralität muss deshalb Kernanliegen einer modernen Pädagogik sein. Wenngleich die Förderung von Literalität Hauptaufgabe der Schule ist, kann die Ausbildung von Lesekompetenz nicht allein darauf beschränkt bleiben (vgl. Ehmig & Reuter, 2011). Für eine wahrhaft wirksame Förderung müssen alle am Bildungsprozess von Menschen beteiligten sozialen AkteurInnen einbezogen werden. Dazu gehören neben professionellen Institutionen wie beispielsweise Bibliotheken und Jugendzentren auch die Familien – als der Ort, an dem die Lesesozialisation ihren Anfang nimmt. Hertel, Jude & Naumann (2010, S.272) konstatieren dazu:

Neben der Bereitstellung von Ressourcen und der aktiven Gestaltung der Lernumgebungen im Elternhaus sind auch die Einstellungen und Überzeugungen der Eltern zum Lesen sowie ihre eigene Lesepraxis wichtige Faktoren der Lesesozialisation. Das Verhalten der Eltern wirkt sich nicht nur im Sinne einer Vorbildfunktion aus, vielmehr ist auch davon auszugehen, dass sich deren Einstellung zum Lesen wiederum auf die vorhandenen Ressourcen und die Leseförderung auswirken.

KOINOS bezieht die verschiedenen AkteurInnen ein, um eine nachhaltige Förderung von Literalität zu ermöglichen. Zugleich erkennt KOINOS die kulturelle und sprachliche Diversität aller SchülerInnen an und nimmt sie explizit in den Lehr- und Lernprozess auf. Damit trägt das Projekt dazu bei, einen Grundstein für Multiliteralität zu legen. Zweifelsohne ist die Voraussetzung einer nachhaltigen Entwicklung die fortwährende Förderung dieser Kompetenzen. Das KOINOS-Projekt entstand in Zusammenarbeit mit Grundschulen; Melo-Pfeifer und Helmchen (2019) geben allerdings bereits einen Ausblick auf eine mögliche Fortführung der in den Grundschulen begonnenen Arbeit in der Sekundarstufe, in der eine dialogische Auseinandersetzung mit der eigenen Mehrsprachigkeit und der Mehrsprachigkeit der Anderen aufgegriffen wird, um Mehrsprachigkeit insgesamt zu würdigen und wertzuschätzen. Dabei wäre die Beibehaltung der dem Projekt zugrundliegenden didaktischen Prinzipien denkbar. In fortgeschrittenen Altersgruppen mit bereits weiter ausgebildeten technischen Fähigkeiten könnten SchülerInnen der Sekundarstufen I und II beispielsweise „[…] ‚multilingual digital narratives‘ erstellen und die Erzählung mit vielgestaltigen ästhetischen Elementen verknüpfen (z.B. Filmsequenzen)“ (ebd., 6). Darüber hinaus wäre es denkbar, die Kommunikation und Kollaboration zwischen den SchülerInnen der verschiedenen Länder zu synchronisieren, um eine simultane und interaktive Ko-konstruktion von Wissen zu ermöglichen. Dies würde auch den multilingualen Charakter des Projekts weiter dynamisieren. Die SchülerInnen hätten reale Sprechanlässe und Motivation, in verschiedenen Sprachen zu interagieren, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Ein höheres Maß an für den Fremdsprachenunterricht immer wieder geforderter Authentizität bzw. authentischer Sprachverwendung ist anders kaum zu erreichen. Bislang wurden relativ einfache digitale Kommunikationswege verwandt (E-Mail, KOINOS-Plattform), da vor allem der Inhalt im Vordergrund stand. Viele Digital Natives wären allerdings zur Nutzung (teils deutlich) komplexerer Anwendungsprogramme fähig, die es in ein Folgeprojekt einzubinden gälte. Schließlich ist es Ziel des Projekts, Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien zu erweitern.

Auf einer transdisziplinären Ebene der Kollaboration könnte der Blick auf einen Gegenstand aus der Perspektive verschiedener Sprachen und vor verschiedenen kulturellen Hintergründen die Ambiguitätstoleranz der SchülerInnen fördern und sie zu multiperspektivischem Denken anregen, ähnlich wie dies im bilingualen Unterricht geschieht. Zu bedenken wäre hierbei allerdings, dass SchülerInnen auf die Kommunikation mit SchülerInnen anderer Länder vorbereitet werden müssten. Insbesondere eine simultane Kommunikation würde eine bereits gut ausgebildete interkulturelle Sensibilität (savoir être / savoir comprendre, vgl. Byram, 1997) erforderlich machen, um Offenheit der SchülerInnen gegenüber anderen Perspektiven sowie die Relativierung eigener Standpunkte zu gewährleisten und so Missverständnissen etc. vorzubeugen und eine einvernehmliche Kollaboration zu ermöglichen. Dieser Aspekt wurde im KOINOS-Projekt bislang nicht berücksichtigt. Im Fokus stand zunächst vor allem der Kontakt mit sprachlicher und kultureller Vielfalt; eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema des Umgangs mit kultureller Fremdheit wäre eine wünschenswerte Erweiterung.

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Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze in der Sekundarstufe

„Pourquoi apprendre le français – est-ce que l’anglais ne suffit pas ?“

Tanja Prokopowicz

Abstract

Neben der Förderung von individueller Mehrsprachigkeit nimmt die Sprachlernkompetenz einen wichtigen Stellenwert in den Bildungsstandards und den Kerncurricula für den Fremdsprachenunterricht ein. Sie soll SchülerInnen dazu befähigen, sich auch über den schulischen Fremdsprachenunterricht hinaus Sprachen selbständig anzueignen. Voraussetzung für die Ausbildung von Sprachlernkompetenz ist die Fähigkeit, das eigene Fremdsprachenlernen zu reflektieren und geeignete Sprachlernstrategien auszubilden bzw. anzuwenden (vgl. KMK, 2012; HKM, 2016). Im Beitrag wird eine Unterrichtsreihe aus dem Französischunterricht vorgestellt, die sowohl der Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit als auch der Sprachlernkompetenz der SchülerInnen dient.

1.Ausgangslage

Das Desiderat zur Förderung individueller Mehrsprachigkeit findet sich nicht nur im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR, Europarat, 2001), sondern auch in Referenzdokumenten jüngeren Datums, wie den bundesweit geltenden Bildungsstandards für diefortgeführte Fremdsprache(Englisch / Französisch) für die allgemeine Hochschulreife (KMK, 2012) oder den für den hessischen Schulkontext maßgeblichen Kerncurricula für die gymnasiale Oberstufe (HKM, 2016) wieder. Allerdings ist zu beobachten, dass die Unterrichtswirklichkeit den curricularen Vorgaben zu integrativem Sprachenlernen nur ansatzweise gerecht wird. Der Fremdsprachenunterricht ist in aller Regel eher einzelsprachlich ausgerichtet und Fremdsprachenlehrkräfte sehen sich in erster Linie als VertreterInnen ihres Sprachfaches. Sie spielen jedoch bei der Nutzung des mehrsprachigen Potentials und der Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit ihrer SchülerInnen eine zentrale Rolle, insbesondere wenn es darum geht, sprachenübergreifendes Lernen zu initiieren.

Der vorliegende Artikel beruht auf einer Unterrichtsreihe1 im Französischunterricht, die sowohl die individuelle Mehrsprachigkeit als auch die Sprachlernkompetenz der SchülerInnen fördern sollte. Die Reihe „Pourquoi apprendre le français − est-ce que l’anglais ne suffit pas ?“ zielte darauf ab, Bezüge zu vorgelernten Sprachen systematisch im Unterricht aufzugreifen und auch Vorverweise auf potentiell nachzulernende Sprachen zu integrieren (vgl. HKM, 2016, S.10). Auf diese Weise wurde die Forderung nach integrativem Sprachenlernen in der unterrichtlichen Praxis umgesetzt (vgl. Nieweler, 2017, S.50). Darüber hinaus wurden den SchülerInnen Möglichkeiten zum selbstgesteuerten Lernen eröffnet, um ihre Sprachlernkompetenz auszubauen. Der Artikel gibt einen Einblick in die Konzeption und Durchführung der Unterrichtsreihe. Folgende Fragestellungen stehen dabei im Zentrum: 1. Wie kann die Förderung individueller Mehrsprachigkeit im Rahmen eines kommunikativen und schülerorientierten Französischunterrichts umgesetzt werden? 2. Wie kann neben der individuellen Mehrsprachigkeit gleichzeitig die Förderung von Sprachlernkompetenz erfolgen?

2.Theoretische Verortung

Im Folgenden werden die sprachen- und bildungspolitischen Grundlagen skizziert, vor deren Hintergrund sich das Lehr- und Lernziel ‚individuelle Mehrsprachigkeit‘ etabliert hat. Daran anknüpfend werden Möglichkeiten zur Förderung sprachenübergreifenden Lernens in der unterrichtlichen Praxis aufgezeigt. Kapitel 2.3 hebt auf Sprachlernkompetenz ab, die neben der Mobilisierung des mehrsprachigen Repertoires auch die Fähigkeit zum reflexiven Sprachenlernen umfasst.

2.1Bildungsziel individuelle Mehrsprachigkeit

Das Bildungsziel Mehrsprachigkeit folgt dem bereits 1995 formulierten Wunsch der Europäischen Union, die Mehrsprachigkeit ihrer BürgerInnen zu fördern: „Jeder sollte 3 Gemeinschaftssprachen beherrschen“ (Europäische Kommission, 1995, S.62). Entsprechend macht sich der GeR für das übergeordnete Lehr-/Lernziel „mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz“ stark (Europarat 2001, S.163). Doch was genau ist unter individueller Mehrsprachigkeit bzw. mehrsprachiger Kompetenz zu verstehen? Mehrsprachigkeit bedeutet nicht, mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen zu können, denn „als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen […] hat“ (Bertrand & Christ, 1990, S.208). Diese sog. individuelle Mehrsprachigkeit1 ist daher nicht als zufälliges, summarisches Produkt aller erlernten Fremdsprachen, sondern als ein sprachenvernetzender Lernprozess zu verstehen, der damit pädagogisch planbar ist. Individuelle Mehrsprachigkeit ist darüber hinaus die materielle Grundlage für mehrsprachige Kompetenz.

Das Verständnis von mehrsprachiger Kompetenz, das dem GeR zugrunde liegt, geht auf Coste, Moore & Zarate (1997, S.12) zurück: « On désignera par compétence plurilingue […] la compétence à communiquer langagièrement […] possédée par un acteur qui maîtrise, à des degrés divers, plusieurs langues, […] tout en étant à même de gérer l’ensemble de ce capital langagier et culturel ». Die Formulierung « à des degrés divers » verweist auf unterschiedlich ausgebildete Kompetenzbereiche in mehreren Sprachen. Bei mehrsprachiger Kompetenz handelt es sich also um ein integratives Konstrukt, das die Verschränkung einzelner Kompetenzen und Kompetenzbereiche betont: « [I]l n’y a pas là [sic] superposition ou juxtaposition de compétences toujours distinctes, mais bien l‘existence d’une compétence plurielle, complexe, voire composite et hétérogène » (ebd; vgl. auch Europarat, 2001, S.163). Dies bedeutet eine Abkehr von additiven Auffassungen hin zu einem integrativen Verständnis vom Sprachenlernen und Kompetenz. Beacco beschreibt dies so: « Le cœur de l’éducation plurilingue et interculturelle réside dans les transversalités à établir » (2010, S.9). Die zu etablierenden Verbindungen beziehen sich auf alle den Lernenden zur Verfügung stehenden Sprachen und kulturellen Erfahrungen, welche „gemeinsam eine kommunikative Kompetenz [bilden], in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren“ (Europarat 2001, S.17). Sämtliche Sprach(lern)erfahrungen bilden daher ein mehrsprachiges Repertoire (ebd.):

[D]ie Spracherfahrung eines Menschen [erweitert sich] in seinen kulturellen Kontexten […], von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt).

Auf Grundlage des GeR wurden 2004 die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Hauptschul- und den mittleren Bildungsabschluss formuliert (KMK, 2004). Neben dem Erwerb interkultureller Kompetenz als oberstem Lernziel (ebd., S.6) soll der Unterricht in der ersten Fremdsprache die Grundlage für die Bewältigung mehrsprachiger Situationen schaffen, indem am Ende der Sekundarstufe I „die kommunikativen, interkulturellen und methodischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler für ihr Handeln in mehrsprachigen Situationen […] verlässlich ausgebildet worden sind“ (ebd.). In den Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die allgemeine Hochschulreife