Spüre meinen Zorn - Georg Brun - E-Book

Spüre meinen Zorn E-Book

Georg Brun

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Beschreibung

Von zahlreichen Messerstichen zerfetzt und in Blut getränkt: So findet die Polizei einen auf grausame Weise getöteten Mann vor. Der frischgebackene Leiter der Mordkommission Wolfgang Stöhrl erkennt sofort, dass dieser das Opfer ungezügelter Raserei wurde. Zunächst vermutet er eine Beziehungstat, doch als ein weiterer Mord geschieht, werden die Ermittlungen kompliziert. Beide Tote nutzten Dating-Plattformen, um nach unverbindlicher Lustbefriedigung mit einem speziellen Kick zu suchen. Trotzdem glaubt Stöhrl weiterhin an seine ursprüngliche Fährte. Als er sich immer mehr verrennt, stellt sein pensionierter Vorgänger auf eigene Faust Nachforschungen an. Denn Nathan Weiß hat ohnehin noch eine Rechnung offen: Seinen letzten Fall konnte er nicht lösen. Bald offenbart sich ihm eine Welt voller Hass und Begierde, die ihn auf die Spur einer Serienmörderin bringt. Doch woher stammt ihre blinde Wut? Und wie kann sie gestoppt werden? "Spüre meinen Zorn" blickt tief in die Abgründe einer gequälten Seele – düster, verstörend und packend bis zur letzten Seite!

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Seitenzahl: 415

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EDITION 211

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2022 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design

Titelmotive: © shutterstock/ANP, Dirj Ercken

E-Book Erstellung: Jara Dressler

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-189-8

www.bookspot.de

© Jeannine Bachmann

In München im Jahr 1958 geboren, ist Georg Brun mit einigen Abstechern stets ein »Münchner Kindl« geblieben. Auf mehrere Jahre im Bayerischen Landeskriminalamt und das Jura-Studium folgte eine langjährige Tätigkeit im Wissenschaftsministerium. Als Georg Brun im Jahr 1988 mit »Das Vermächtnis der Juliane Hall« sein erstes Buch veröffentlichte und dafür den Bayerischen Förderpreis für Literatur erhielt, begann sein erfüllendes Doppelleben als Jurist und Schriftsteller. Mit »Bodenloser Fall« und »Gewissenlose Wege« eröffnete er seine München-Krimi-Reihe rund um die junge Anwältin Olga Swatschuk. »Spüre meinen Zorn« ist der erste packende Fall des pensionierten Kommissars Nathan Weiß, der ebenfalls im Bookspot Verlag erscheint.

Mehr über den Autor unter www.georgbrun.de oder auf Instagram unter: @brungeorg

Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man.

Friedrich Nietzsche

Also sprach Zarathustra

Leider hat Nietzsche nicht recht.

Für Ilona, Udo und Jan Wengst

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Nachwort

Danksagung

Landmarks

Cover

1

Die dunkelbraunen glatten Haare hingen fettig und strähnig herab, die scharfe Hakennase erinnerte mit dem Höcker unter der steilen Zornesfalte an einen Geierschnabel, die bleistiftstrichdünnen Lippen zogen sich blutleer in die hängenden Mundwinkel hinein, die braungrünen Augen lagen verschattet und tief, die Wangenknochen hoch angesetzt über eingefallenen Backen und das Kinn viel zu spitz. Gern hätte Karin Fellermayr es vermieden, ihren Blick auf den dünnen, faltigen Hals fallen zu lassen, aber den erfassten ihre Augen zwangsläufig, als erst das trotzige Kinn in den Fokus gelangt war. Da wurde aus dem Missmut Zorn. Was hatte das Leben aus ihr gemacht? Rücksichtslos offenbarte ihr Spiegelbild die verlebten Jahre, unnütz vertändelte Zeit. Jetzt stand sie mit leeren Händen da, verlacht von einem bösartigen Schicksal. Als ob sich die ganze Welt gegen sie verschworen hätte, konnte sie nicht einmal ihre demente Tante Irma im Pflegeheim besuchen, weil eine angebliche Pandemie ein völliges Kontaktverbot und Herunterfahren des öffentlichen und sozialen Lebens erforderte. Wütend schüttelte sie den Kopf darüber, dass sich ein zivilisiertes Land von einem läppischen Erkältungskeim lahmlegen ließ.

Bisher hatte sie ihren Zorn wenigstens damit im Zaum halten können, nach Lust und Laune in die Berge zu gehen, sich auf Skitouren in den Tiroler Alpen auszutoben oder anspruchsvolle Bergtouren zu unternehmen. Doch jetzt war die Grenze geschlossen, aus dem Haus durfte sie nur mit einem triftigen Grund, und der Alpenverein bat dringend, Bergtouren zu unterlassen. Seit einer knappen Woche ging das jetzt so und seitdem brodelte ihr Lebenszorn immer heftiger.

»Du musst versuchen, deine Wut herauszulassen«, hatte ihre Therapeutin ihr schon vor langer Zeit geraten und ihr die Technik mit dem Wutkissen beigebracht. Für etwas mehr als dreißig Euro hatte sie sich das Kissen im Internet gekauft, das treffend angepriesen worden war: Das Kissen kann an der Wand aufgehängt oder auf den Boden gelegt werden. Es ist perfekt, um angestaute Wut richtig herauszulassen. Die dicke Polsterung und der weiche Stoff verhindern, dass es dabei zu Verletzungen kommt. Seitdem hing das Wutkissen im Schlafzimmer gleich neben dem Bett an der Wand, und die Delle in seiner Mitte bewies den regelmäßigen Gebrauch. Je nach Laune stellte sie sich das eine oder andere Gesicht aus der Reihe ihrer Peiniger vor und drosch dann drauflos. Doch jetzt, das spürte Karin überdeutlich, war Schluss mit dieser Therapeutenempfehlung, die nichts anderes war als eine infantile Ersatzbefriedigung. Sie würde künftig ihren Zorn wirkungsvoller austoben.

Trotzig reckte sie ihr Kinn vor, dann begann sie, sich die Haare abzuschneiden. Als nur noch ein zerzauster Bubikopf übrig war, griff sie zum Langhaarschneider, stellte ihn auf neun Millimeter und schor sich sorgfältig den Kopf zur postmodernen Einheitsfrisur. Nun stülpte sie sich die Plastikhandschuhe über und rieb ihren Schädel mit dem Bleichmittel ein, das sie zehn Minuten wirken ließ, ehe sie sich die Haare wusch.

Zufrieden betrachtete sie das Ergebnis: Ein raspelkurz geschnittener, blonder, etwas kantiger Frauenkopf blickte ihr entgegen. Sie setzte die grünen Kontaktlinsen ein und begann, sich mit der Auswahl an Abdeckstiften, die sie zur Verfügung hatte, ein perfektes Color-Correcting aufzulegen. Endlich waren die fahle Gesichtsfarbe überdeckt, das Bronzing dezent, aber wirkungsvoll, und die Tränensäcke verschwunden. Sie verließ das Bad Richtung Schlafzimmer und musterte sich im Vorbeigehen im Garderobenspiegel. Ihre knabenhafte Figur hätte gern um drei Pfund fülliger ausfallen können, aber immerhin waren Bauch, Schenkel und Po ziemlich straff für ihr Alter. Das hellte ihre Stimmung ein wenig auf, und als sie im Schlafzimmer in den langärmligen Latexbody schlüpfte, der sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte, meldete sich verhalten Vorfreude auf das, was kommen würde.

• • •

Rolf schaute auf seine goldene Armbanduhr. Noch blieben ihm zehn Minuten. Er kontrollierte ein letztes Mal das Bettlaken auf dem Queensize-Bett in der Schlafecke des kleinen Appartements, in dem er seit seinem Auszug aus der Ehewohnung hauste; reinweiß und akkurat glattgezogen, so musste es sein.

Auf dem Glastisch prangte der Sektkühler mit dem Rosé-Sekt aus Rheinland-Pfalz, elegant lag die weiße Serviette über dem Flaschenhals. Die beiden Sektflöten standen makellos auf ihren Spitzenuntersetzern. Kein Stäubchen trübte die Glasplatte. Die Zierkissen auf dem Zweisitzer wiesen exakt in der Mitte ihre Einschlagfurche auf. Auf dem Teppich fand sich keine einzige Staubfluse. Alles bestens vorbereitet für das Rendezvous.

Ein letztes Mal stellte er sich vor den Spiegel und zog den Bauch ein. Ganz verhindern ließ sich die Wölbung über dem Hosenbund nicht, dummerweise unterstrich die schwarze Kunstlederhose den Bauchansatz sogar, aber sie hatten auf der Dating-Plattform Lack und Leder vereinbart, da konnte er jetzt nicht die legere Stretchjeans anziehen. Immerhin würde seine Audemars Piquet Royal Oak die Aufmerksamkeit seiner Besucherin auf sich ziehen und ein wenig von seinem Schmerbauch ablenken. Außerdem wollte er mit der Luxusuhr Eindruck schinden, denn obwohl die Verabredung eindeutig das erotische Abenteuer zum Gegenstand hatte, schien ihm die adrette Juliane, die gleich vor der Tür stehen würde, eine attraktive und erfolgsverwöhnte Frau zu sein.

Wenn sie im Bett hielt, was ihre Chats versprachen, wäre er nicht abgeneigt, das bevorstehende Abenteuer mehrfach zu erleben, auch wenn sie deutlich gemacht hatte, nur an einem einmaligen Treffen interessiert zu sein. Aber vielleicht ließ sich an dieser Einstellung etwas ändern. Jedenfalls wollte er zuversichtlich in diese Begegnung gehen.

Seit er sich vor neun Wochen von seiner Frau getrennt hatte, versuchte er, über diverse Dating-Seiten eine Frau zu finden, die eher an Erotik als an Liebe interessiert war. Leider musste er feststellen, dass sein Alter eine ziemliche Spaßbremse darstellte, und nun, in diesem verdammten Corona-Lockdown, ließen sich gar keine Verabredungen mehr treffen. Umso freudiger hatte er daher Julianes Avancen nachgegeben. Lack und Leder, unkompliziert, aber ausdauernd, hatte sie als Wunsch formuliert, und, wichtig: kein Interesse an einer festen Beziehung. Daher hatte sie von ihm verlangt, vor ihrem heutigen Besuch die Chats zu löschen. Es gibt eben Frauen, die wissen, was sie wollen, und die es wissen wollen, dachte Rolf, strich sich über den Bauch und versteckte die Schachtel Viagra. Wenn ich sie beeindrucke, will sie vielleicht doch öfter mit mir ins Bett, ohne dass wir daraus eine Beziehung machen, stellte er sich zunehmend aufgeregter vor.

Sie sah umwerfend aus in ihrem engen Seidenkostüm, durch das ein schwarz glänzender Body schimmerte, der zu den schwarzen Handschuhen passte. Das blonde Haar fiel locker auf ihre zierlichen Schultern, die grünen Augen funkelten vielversprechend und das Lächeln ihrer schmalen Lippen erregte ihn. Während sie sich setzte, streifte ihr Blick sein Handgelenk, ehe er sich in seinen Schritt senkte.

Rolf atmete den Bauch so gut es ging nach innen, drückte Brust und Becken heraus und fühlte einen pubertären Stolz, weil sich seine Manneskraft deutlich in der Kunstlederhose beulte. Sie nickte wohlwollend. Ob sie den Sekt oder den kleinen Mann meinte, verschloss sich Rolfs Erkenntnis, aber er summte, als er die Sektflöten füllte.

Sie deutete auf den Platz neben ihr, erhob das Glas und schenkte ihm mit tiefer Stimme einen betörenden Trinkspruch: »Lass uns lustvoll die Sehnsucht stillen!« Sie nippte dezent an ihrem Glas und legte eine Hand auf seinen Schenkel.

Jetzt wurde ihm die Hose doppelt eng. Wow, geht die ran, freute sich Rolf und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie drehte den Kopf sanft zur Seite, legte ihn leicht in den Nacken und bot ihm ihre Lippen. Er küsste sie. Ihr Mund fühlte sich hart an, aber willig öffnete er sich und empfing seine Zunge.

Ihr Biss kam unerwartet. Er zuckte zurück.

Sie ließ ein kehliges Zischen hören und legte ihre Hand zentral in seinen Schoß. Richtig, ermahnte er sich, sie will es hart und heftig. Seine Erregung wuchs.

»Hast du auch ein Bett?«

Was für eine Frage. Er stand auf, nahm ihre Hand und führte sie um das den Raum teilende Regal zur Schlafecke.

»Ordentlich und einladend. Wollen wir?« Sie knöpfte das Jackett ihres Seidenkostüms auf, aufreizend langsam, Knopf für Knopf. Allmählich kam ihr schwarzer Latexbody zum Vorschein, eine künstliche zweite Haut auf einem knabenhaften Körper.

Die kleinen Wölbungen erregten ihn sehr. Er wollte seine Hose öffnen, doch sie schüttelte den Kopf.

»Leg dich hin«, flüsterte sie. »Das ist meine Aufgabe. Vorher gibt es noch etwas Kino.«

Er legte sich hin und sah ihr zu, wie sie in Zeitlupe ihr Kostüm auszog, sich dann in dem schwarzen Catsuit über ihn kniete. Alles an ihr war schwarz, auch die Füße steckten in engen Gummistrümpfen. Gierig betrachtete er ihren Körper, den er bald besitzen würde: knabenhaft mit einer Mischung aus unschuldig und verrucht. Dieser Körper war anders als Gabrieles propere Fülle, es war genau die Abwechslung, die er erleben wollte.

Jetzt spielten ihre Hände mit seinem Hosenknopf. Rolf verscheuchte die Gedanken an seine Frau, schloss die Augen und gab sich Julianes Verführungskünsten hin. Sie ließ sich Zeit, zögerte den nächsten Handgriff berechnend hinaus. Er öffnete die Augen, betrachtete ihren Körper und sah, wie sie es genoss. Sein Atem ging heftig und er wünschte schon jetzt, sich öfter mit ihr zu treffen, so raffiniert, wie sie mit seinem Hosenschlitz umging. Endlich rutschte der Knopf aus seiner Lasche, endlich zog sie den Reißverschluss nach unten, griff unter dem Kunstleder nach seiner Erregung und flüsterte mit rauer Stimme: »Schließ die Augen.«

Er gehorchte.

Sie fasste den Hosenbund und zog die Hose über sein Gesäß nach unten, hielt inne, rutschte von seinen Schenkeln auf seine Seite, legte eine Hand auf seine Brust und tadelte ihn, als er blinzelte. »Schön die Augen zu und geduldig.«

Er stöhnte vor Erregung.

Sie beugte sich vor und bog sich etwas zurück. Er kannte dieses Spiel nicht, aber es törnte ihn mächtig an.

Ein scharfer Schmerz zerriss ihm die Kehle. Rolf wollte schreien, doch er brachte nur ein leises Gurgeln zustande. Er riss die Augen auf und sah einen roten Strahl. Verdammt, das schöne Bettlaken, dachte er, dann wurde es dunkel.

2

Der Kollege von der Spurensicherung brummte unwillig, als Wolfgang Stöhrl an die Tür des Appartements in der Maxvorstadt klopfte und einen Overall, Schuhüberzieher und Handschuhe verlangte.

»Habt ihr etwas Besonderes gefunden?«, fragte er den Spusi-Mann, den er noch nie gesehen hatte.

»Das wissen wir erst, wenn die Spuren ausgewertet sind«, brummte dieser gelangweilt. »Kannst reinkommen.«

Wolfgang Stöhrl nickte und betrat das Appartement in der Maxvorstadt. Auf den ersten Blick wirkte die Wohnung sehr aufgeräumt. In der Diele eine Wandgarderobe mit einer Winter-jacke und einem dunklen Mantel, darunter in einer Plastikschale ein Paar Winterstiefel und ein Paar Halbschuhe, auf der Ablage Lederhandschuhe, alles akkurat ausgerichtet und sauber, lediglich die Fußmatte wies Spuren von Straßendreck auf – kein Wunder bei dem wechselhaften Wetter. Ein Blick ins Duschbad wies den Bewohner ebenfalls als peniblen Ordnungsliebhaber aus: Tuben und Fläschchen exakt ausgerichtet, die Armaturen blitzblank poliert, keine einzige Schliere auf dem Spiegel.

Stöhrl ließ die Eingangssituation kurz auf sich wirken, dann betrat er den Wohnraum. Ein Zweisitzer stand vor einem niedrigen Glastisch, auf dem Sofa rechts und links je ein Zierkissen mit einer mit dem Lineal gezogenen Mittelkerbe. Wie bei meiner Mutter, dachte der Kriminalhauptkommissar und wunderte sich nicht, dass der Glastisch lupenrein geputzt war. Zwei Schritte weiter konnte er hinter das Bücherregal schauen, das als Raumteiler fungierte und die Schlafecke vom restlichen Wohnraum abtrennte. Was für ein Gegensatz zum Rest des Appartements. Das weiße Laken rot von Blut, etliche Blutspritzer auch auf dem hellen Flokati vor dem schmalen Doppelbett. Auf dem Bett eine grausam zugerichtete männliche Leiche mit halb herunterge-zogener schwarzer Kunstlederhose. Der Oberkörper in einem nach oben geschobenen weißen Kaschmirpullover von vielen Messerstichen zerfetzt, alles blutgetränkt, der Hals eine klaffende Wunde. Es gab keine Anzeichen für einen Kampf oder auch nur eine Abwehrreaktion des Opfers.

Stöhrl schloss die Augen und ließ den ersten Eindruck wirken. Hier musste unglaubliche Wut getobt haben, ein mörderischer Overkill. Emotionale Nähe, folgerte er nüchtern und betrachtete den aufgeschlitzten Unterleib. Er hatte schon viel gesehen in den zurückliegenden acht Jahren bei der Münchner Mordkommission, aber das hier verursachte ihm einen Würgereiz. Mühsam beherrschte er seinen rebellierenden Magen und studierte den Schritt des Opfers: Unversehrt, klein und schrumpelig lag der Penis mit eingetrockneten Spuren zurückliegender Erregung. Eigenartig, dachte Stöhrl, es muss sexuelle Handlungen gegeben haben, aber der mörderische Furor hat das Geschlechtsteil verschont. Warum?

»Was haben wir heute?«

Stöhrl drehte sich zu der vertrauten Stimme um und sah in das traurige Gesicht von Dr. Simon Sander. Der altgediente Gerichtsmediziner litt jedes Mal, wenn er einen Tatort besichtigte, ließ es sich aber trotzdem nicht nehmen, persönlich vorbeizuschauen.

»Herrje«, brummte er und trat ans Bett. Der Doktor betrachtete das Gesicht des Toten und bekreuzigte sich. Seine Lippen formten ein lautloses Gebet, dann schlug Sander erneut das Kreuzzeichen. Jetzt erst betrachtete er die Wunden und fühlte an einem Unterarm die Temperatur der Leiche. »Der rigor mortis ist abgeklungen, der Körper hat Raumtemperatur, zeigt aber noch keine Zersetzungserscheinungen – das heißt, lieber Stöhrl, unser Mann hier ist seit vierzig bis achtundvierzig Stunden tot.«

»Keine gute Nachricht.«

»Ich weiß. Aber bei dem Zustand, lieber Stöhrl, können Sie in der Familie oder dem nahen Umfeld nach Verdächtigen suchen. Ach ja: Suchen Sie einen Rechtshänder. Das Messer wurde eindeutig mit der rechten Hand geführt.«

Der Kommissar nickte und ging zur Küchenzeile in der anderen Ecke des Wohnraums. Überall das schwarze Pulver der Magna Brush, auch an der Kühlschranktür; aber die Spurensicherung hatte nur sehr wenig Fingerabdrücke genommen, die Flächen waren einfach zu sauber.

Stöhrl öffnete den Kühlschrank. Auch hier wohldurchdachte Ordnung, etwas Wurst in einer Schale mit durchsichtigem Deckel, Joghurt, Milch, Käse, im Gemüsefach Karotten und Fenchel, Butter in einer Butterschale und im Getränkefach zwei Flaschen Sekt – eine davon geöffnet. Stöhrl rieb sich die Nasenspitze, dann zog er die Tür des Hängeschranks auf und fand zwei Sektgläser. Er betrachtete die Gläser genau und ärgerte sich über den Spusi-Mann, der den Tatort inzwischen verlassen hatte. An einem der Gläser fand sich ein Hauch von Lippenstift. Vielleicht täuschte er sich, aber sicherheitshalber fischte er in seiner Jacke nach einem Beweismittelbeutel und gab die Sektflöte hinein. Sollte sich an dem Glas etwas finden lassen, dann war nach der Tat aufgeräumt worden.

Zurück im Büro trommelte Wolfgang Stöhrl seine Ermittler im großen Besprechungsraum zusammen, wo die fünf Kolleginnen und Kollegen mit genügend Abstand zueinander Platz nehmen konnten. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er das weite Rund betrat. Jeder und jede hatte zum jeweiligen Nachbarn zwei Meter Abstand, und Cordula Maier hatte sich eine bunte Maske über Mund und Nase gezogen – ein Anblick, an den sich Stöhrl erst noch gewöhnen musste.

Er räusperte sich und kam zur Sache. »Nina, was konnte dir der Streifenführer berichten?«

Eilfertig zog die junge Kriminalkommissarin Nina Lutz ihren Notizblock hervor, blickte Aufmerksamkeit heischend in die Runde und strich sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie gefiel Stöhrl: Als Mensch, als Frau und als ehrgeizige Polizistin. Er fing ihren fragenden Blick auf und nickte ihr zu; da legte sie los:

»Polizeiobermeister Becker traf am Tatort auf den Geschäftspartner von Rolf Lupfer, dem Opfer. Dieser Heinrich Koller besitzt einen Schlüssel zu dem Appartement, das er vor einigen Wochen an seinen Freund Lupfer vermietet hat, als dieser aus der Ehewohnung ausgezogen ist. Unser Opfer ist verheiratet, hat sich aber von seiner Frau getrennt. Heinrich Koller hat sich um Rolf Lupfer Sorgen gemacht, weil er diesen seit zwei Tagen nicht mehr erreicht hat, sie aber gemeinsam besprechen mussten, wie sie mit der pandemiebedingten Schließung ihrer Buchhandlung umgehen wollten. Daher hat er im Appartement nachgeschaut und Rolf Lupfer so schrecklich zugerichtet vorgefunden. Koller hat sofort die Polizei alarmiert. Binnen weniger Minuten war die Streife mit Streifenführer Becker vor Ort. Der Kollege hat den Kriminaldauerdienst informiert. Die Kollegen haben die Spusi geschickt und uns den Fall zugewiesen. Polizeiobermeister Becker hat von Heinrich Koller die Personalien aufgenommen, sich die Auffindesituation schildern und Namen und Anschrift der Ehefrau Lupfer geben lassen. Dann musste er das Kriseninterventionsteam zu Hilfe rufen, weil Koller nervlich zusammengebrochen ist.«

»Das heißt also, wir werden Herrn Koller später ausführlich befragen müssen«, bemerkte Stöhrl. »Was wissen wir sonst über das Opfer?«

»Nichts weiter, das war’s schon. Noch ist die Ehefrau Gabriele Lupfer, wohnhaft in Gern, nicht informiert.«

Stöhrl blickte in die Runde. Natürlich meldete sich niemand, diesen Dienst zu übernehmen. Es blieb an ihm hängen, die Familie von dem Schicksalsschlag zu unterrichten. Diesen Aspekt seines Berufes hasste er besonders.

Andererseits – oft war der Täter in der Familie zu finden, und auch der Mord an Rolf Lupfer roch nach einer Beziehungstat.

»Haben wir schon etwas von der Spusi?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Gut, dann machen wir ein paar Hausaufgaben. Karl, du schaust, was du über diese Buchhandlung herausfindest, Kunden, Lieferanten, finanzielle Situation et cetera, und du, Manfred, fragst bei der Spusi nach, was sie haben, vor allem das Handy unseres Opfers würde mich interessieren. Nina, du kommst mit zur Familie, und du, Cordula, sprichst noch mal mit dem Streifenführer Becker und klapperst die Nachbarn ab, ob jemandem vor zwei oder drei Tagen etwas aufgefallen ist.«

Damit waren zunächst alle Aufgaben verteilt. Stöhrl löste die Runde auf und gab Nina Lutz das Zeichen zum Aufbruch. Er freute sich darauf, bei diesem wichtigen Besuch die quirlige Kommissarin dabeizuhaben, und im hintersten Winkel seines Herzens ahnte er, dass es für Lutz mehr als nur eine kleine Auszeichnung war, von ihm mitgenommen zu werden.

3

Nathan Weiß rührte gedankenversunken in seinem Tee. Der halbe Löffel Honig hatte sich in dem kräftigen Lapsang Souchong längst aufgelöst. Das leise Klingeln des Metalls am zarten Porzellan beruhigte Nathan, dem immer noch seine morgendliche Pfeife fehlte, obwohl er seit mehr als zehn Jahren nicht mehr rauchte. Morgens ersetzte die Spezialität aus dem Wuyi-Gebirge das Aroma seiner früheren Veicht-Hausmarke, abends trat regelmäßig ein Glas 16-jähriger Lagavulin die Stellvertretung an.

Das Vereinigte Königreich und das Reich der Mitte rahmen mit diesen Getränken meinen Tageslauf ein, dachte Nathan schmunzelnd, und seine Gedanken schweiften kurz zum verbindenden Element: Hongkong. Tja, das war über all die Jahre sein Sehnsuchtsort geblieben; doch jetzt, nach der Zerschlagung jeglicher demokratischen Freiheit für die Menschen in Hongkong, war es zu spät, dorthin zu reisen. Wieder einmal spürte er das Bedauern über Versäumtes.

Seine Gedanken kehrten zu dem reißerischen Artikel einer führenden Münchner Boulevardzeitung zurück: Rätselhafter Mord an Münchner Buchhändler, lautete die Schlagzeile. Der Verfasser des Beitrags spekulierte heftig über die Hintergründe der Bluttat und vertrat die These, der Buchhändler sei wegen seines allzu offensichtlichen Eintretens für die deutsche Sprache hingerichtet worden.

Nathan trank einen Schluck seines Rauchtees und schüttelte den Kopf über so viel Unsinn. Neuerdings feierten Verschwörungstheorien leider eine schreckliche Wiederauferstehung und eigneten sich offensichtlich auch zum Ankurbeln der Verkaufszahlen. Trotzdem fesselte ihn der Bericht, weil er eine gewisse Ratlosigkeit der Münchner Mordkommission zum Ausdruck brachte. Das amüsierte und tröstete ihn, denn er hatte seinen bitteren Abschied aus dem Dezernat für Gewaltdelikte immer noch nicht verdaut. Nur weil er den Tod eines Spaziergängers, der nach einer Spuckattacke auf seine Freundin an der Isar erstochen worden war, ergebnislos zu den Akten gelegt und zwei Morde an vermissten Frauen nicht aufgeklärt hatte, war sein Antrag, seine Dienstzeit zu verlängern, abgelehnt und er ohne feierlichen Abschied in den Ruhestand abgeschoben worden. Der sich daran anschließende horror vacui dauerte schon ein knappes Jahr.

Verdammt, ärgerte er sich, da bin ich 62 Jahre alt, im Vollbesitz meiner Kräfte und gehöre zum alten Eisen. Dabei war Nathans Aufklärungsquote insgesamt ausgezeichnet; gerade einmal eine Handvoll Fälle waren unter seiner Ägide unaufgeklärt geblieben. Allerdings hatte er sich mit seinen manchmal seltsam anmutenden Methoden im Polizeipräsidium einige Feinde gemacht, und ein bequemer Beamter, der den Vorgesetzten nach dem Mund redete, war Nathan nie gewesen.

Mal sehen, ob sich Wolfgang Stöhrl an dem Buchhändler-Fall die Zähne ausbeißt, hoffte Nathan neidisch, denn allzu gern würde er diesen Fall lösen. Bedächtig trank er den nächsten Schluck Tee, fuhr seinen Computer hoch, ging ins Internet und scrollte in der Online-Ausgabe von Münchens seriöser Tageszeitung, bis er auf den Bericht zu dem Mord an dem Buchhändler stieß. Die wenigen bekannten Fakten entsprachen dem reißerischen Boulevardbericht, allerdings wies dieser Artikel darauf hin, dass die Polizei von einer Beziehungstat ausging.

Dann hat es Stöhrl natürlich leicht, grummelte Nathan und widmete sich der Berichterstattung über die Pandemie. Höchst unerfreulich, was er da las, und was in Norditalien geschah, ging zu Herzen. Dieses Virus ließ sich keineswegs mehr als eine andere Form der Influenza abtun. Nathan überlegte, ob er sich persönlich Sorgen machen musste, immerhin litt er seit Jahren unter Übergewicht, Bluthochdruck und Asthma, auch wenn ihn das weniger belastete als das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und überflüssig zu sein. Der Einzige, der ihn während dieser Lockdown-Phase vermissen würde, war Ali, der Ober in seiner Stammwirtschaft.

Seit seiner Pensionierung ging Nathan jeden Tag ins Maxl-Bräu zum Mittagessen und ließ sich von Ali Schweinshaxn, Ganserl, Hirschgulasch oder auch Weißwürst’ servieren, was die Tageskarte eben hergab, und zum Verdauungsespresso hielten sie dann einen kleinen Plausch. Ali, ein waschechter Türke, aber in zweiter Generation in München und hier geboren, sprach das schönste Münchner Bayerisch, das Nathan je gehört hatte, und war außerdem das wandelnde Lexikon in Sachen Nachbarschaftsgeschichten.

Ja, seufzte Nathan, Ali wird mich vermissen, aber ich vermisse ihn noch viel mehr. Er legte eine Hand auf den Bauch, der sich bedenklich vorwölbte, und grübelte, welchen Sport er im Freien ausüben könnte, um einen triftigen Grund zu haben, das Haus zu verlassen.

Nathan hielt sich für fantasiebegabt, aber ein für ihn geeigneter Sport fiel ihm nicht ein. Seit er von den Uniformierten zur Kriminalpolizei gewechselt war, hatte er auf den obligatorischen Dienstsport verzichtet – es war einfach keine Zeit geblieben, notorisch unterbesetzt, wie sein Kommissariat all die Jahre gewesen war.

Er könnte zum Einkaufen gehen und sich an den Regalen des Supermarkts die Zeit vertreiben, sinnierte Nathan, verwarf den Gedanken jedoch als unvernünftig und öffnete stattdessen seine bevorzugte Dating-Plattform; vielleicht hatte sich ja heute Nacht jemand für sein Profil interessiert.

• • •

Wolfgang Stöhrl saß mit der Ermittlergruppe des Kommissariats K11 wieder im großen Besprechungsraum und fasste die Erkenntnisse des vorigen Tages zusammen: »Von Lupfers Nachbarn ist niemandem in den letzten Tagen etwas Verdächtiges aufgefallen und die Spusi hat außer einigen wenigen Fingerabdrücken, die alle dem Opfer zugeordnet werden können, bisher keine verwertbaren Hinweise gefunden. Ob sich aussagekräftiges DNS-Material ergibt, erfahren wir erst in einigen Tagen. Dringend tatverdächtig erscheint mir die Ehefrau. Ihr Alibi ist dünn wie fettarme Hühnerbrühe und sie hat als Einzige ein nachvollziehbares Motiv. Willst du von unserem Besuch bei der Witwe berichten, Nina?«

Lutz streckte ihren Rücken durch und lächelte ihm dankbar zu. Diese Dienstbeflissenheit gefiel Stöhrl an der jungen Kommissarin. Sie war wie die Musterschülerin in der Grundschule, die bei jeder Frage der Lehrerin den Finger hob, aber ruhig wartete, bis sie aufgerufen wurde, im Gegensatz zum verhassten Streber, der ungeduldig mit dem Finger schnippte.

»Als wir Gabriele Lupfer den Tod ihres Mannes mitteilten, schien sie nicht überrascht. Von Trauer keine Spur. Sie war seit Langem mit ihrem Mann zerstritten und froh, als er endlich auszog. Wir waren noch keine zehn Minuten bei ihr, da machte sie eine erstaunliche Bemerkung, nämlich: Hoffentlich hat er seine Lebensversicherung noch nicht umgeschrieben. Das werden wir überprüfen; es soll sich um eine halbe Million Euro Versicherungssumme handeln. Außerdem dürfte sie die Erbin sein. Das scheint sich zu lohnen. Wir haben sie gefragt, wo sie vor zwei Tagen war; sie hielt diese Frage für unverschämt und gab an, tagsüber gearbeitet und abends allein daheim gewesen zu sein. Sie war wenig auskunftsfreudig, wortkarg und abweisend, aber es hat sie sehr interessiert, wann die Leiche freigegeben wird, damit ihr Mann schnell unter die Erde kommt. Nach meiner Einschätzung«, beendete Nina Lutz ihren Bericht, »hat Gabriele Lupfer einen ordentlichen Brass auf ihren Mann. Ich würde ihr locker zutrauen, dass sie im Streit total ausrastet.«

»Wir haben bei der Telekom die Auswertung der Gesprächsliste und des Bewegungsprofils von Gabriele Lupfer beantragt, um ihr Alibi zu überprüfen«, ergänzte Stöhrl. »Leider haben wir von unserem Opfer kein Handy gefunden und müssen davon ausgehen, dass der Täter oder die Täterin es mitgenommen und vermutlich entsorgt hat. An der Auswertung von Lupfers Laptop sitzen die Spezialisten im Landeskriminalamt.«

»Chef, was ist eigentlich dran an diesem Artikel unserer Lieblingszeitung?«, fragte Cordula Maier, das dienstälteste Mitglied der Mordkommission. Als Kriminalhauptmeisterin war sie traditionell für die Aufgaben zuständig, welche den Kommissarinnen und Kommissaren eher lästig waren, also zum Beispiel langweilige Nachbarbefragungen oder eben das Durchforsten der Zeitungen nach möglicherweise interessanten Artikeln.

»Vermutlich völlig aus der Luft gegriffen«, antwortete Stöhrl, »aber wenn du magst, begleitest du mich zu Lupfers Geschäftspartner. Wir müssen uns auf jeden Fall über den geschäftlichen Hintergrund von Rolf Lupfer informieren.«

»Sehr gern.« Cordula Maier strahlte.

Ich sollte ihr viel öfter eine Freude machen, überlegte Wolfgang Stöhrl und beendete die morgendliche Runde.

• • •

Enttäuscht loggte sich Nathan Weiß von der Dating-Plattform aus. Es hatte sich niemand sein Profil angeschaut, geschweige denn, Kontakt aufgenommen. Ein korpulenter Pensionist ohne sportliche Ambitionen und aufregende Vorlieben lockte in diesen Pandemiezeiten offensichtlich keine Frau hinter dem Ofen hervor. Wenn diese Misserfolgsserie anhielt, würde er sein Profil aufhübschen, das Alter ein wenig nach unten abrunden, den Bauch flacher machen, ein Foto von vor siebzehn Jahren einstellen und das ganze intellektuelle Klavier bedienen. Vermutlich machten das alle Männer seiner Kategorie, denn wer immer älter als fünfzig war, warb mit Freizeitaktivitäten aller Art und tiefgehenden Leidenschaften für Kino, Theater, Oper, Konzerte, Museen und Literatur. Damit konnte Nathan nicht dienen. Das letzte Konzert, das er besucht hatte, war der Auftritt von Queen in der Olympiahalle mit diesem begabten Freddie-Mercury-Ersatz gewesen, der letzte Kinobesuch galt dem damals neuesten James-Bond-Film – und selbstverständlich würde er in den nächsten Bond gehen, wenn der endlich in die Filmtheater kam. Und ja, mit seiner letzten Freundin war er vor rund sechs Jahren im Volkstheater gewesen und hatte gelangweilt einer Geschichte über irgendeinen dieser englischen Könige zugeschaut, über die Shakespeare seine Dramen geschrieben hatte. Aber diese Freundschaft war nicht nur an seinem Unverständnis für die Bühnenkunst gescheitert, sondern wie alle seine Beziehungen auch und vor allem an seinen unmöglichen Dienstzeiten und seiner Vorliebe, die grausamen Details der Verbrechen, die er aufklären sollte, möglichst blumig auszuschmücken. Dabei war Christine das Beste gewesen, was ihm das Schicksal in den letzten fünfzehn Jahren geschenkt hatte: Sie aß gern und viel, vertrug ordentlich Wein und Whisky und überraschte mit ihrem erotischen Einfallsreichtum; aber sie liebte eben auch Christian Stückls Inszenierungen, Violinkonzerte von Beethoven und Romane von Daniel Kehlmann – und über alles wollte sie gebildet plaudern.

Nathan kannte Stückl nur von der Oberammergauer Passion, Beethoven kam ihm dank des Tatatataaa der Fünften bekannt vor, und mit Daniel Kehlmann und all dessen klugen Kollegen wusste er überhaupt nichts anzufangen.

Nathan las am liebsten Fachbücher für Kriminalistik und ab und zu einen Krimi über Serienmörder. Damit konnte er die Frauen scheinbar wenig beeindrucken. Sein wacher Instinkt als Mordermittler sagte ihm, dass er rasch aufflöge, wollte er sein Profil aufpolieren; allein deshalb war er bisher bei der Wahrheit und erfolglos geblieben. Möglicherweise, dachte er, tummle ich mich auf der falschen Plattform. Er würde sich schlaumachen, mit welchen Kontaktbörsen er mehr Erfolg haben könnte.

Aber nun wollte er seiner Neugier auf den neuesten Mord in München nachgeben, allein schon, weil ihn eine gemeine, aber belebende Hoffnung antrieb, sein Nachfolger Stöhrl könnte die eine oder andere Ermittlungspanne produzieren. Seiner Intuition gehorchend wollte er zunächst den Ansatz des Sensationsreporters verfolgen, und so googelte er Buchhandlungen mit deutschem Profil.

Die Ausbeute war mäßig; immerhin entdeckte er einen Laden in Neuhausen, der damit warb, ein besonderes Augenmerk auf deutsche Schriftsteller zu legen. Ob das die Buchhandlung des Mordopfers ist, fragte sich Nathan und überlegte, wie er das am geschicktesten herausfinden konnte. Denn auch wenn die Boulevardzeitung danebenlag: Einen Anknüpfungspunkt für die Verschwörungstheorie würde es geben, denn nur so funktionierten Verschwörungserzählungen: Sie bildeten sich um einen realen Kristallisationspunkt.

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Sie trafen Heinrich Koller im Büro der Buchhandlung Lesertraum. Nachdem er sie eingelassen hatte, setzte er sich in einen altmodischen Ohrenbackensessel und blickte Wolfgang Stöhrl und Cordula Maier erwartungsvoll an.

»Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen«, eröffnete Stöhrl das Gespräch.

»Es muss ein Schock für Sie gewesen sein, Ihren Partner so aufzufinden.«

»Grauenvoll«, flüsterte Koller. Sein hageres Gesicht war aschfahl, seine Mundwinkel zitterten.

»Hatte Herr Lupfer Feinde?«, fragte Cordula mit einfühlsamer Stimme.

»Nicht im wirklichen Leben«, antwortete Koller seltsam tonlos.

»Wie meinen Sie das?«, setzte sie nach.

»Wir sind in den letzten Wochen im Internet angefeindet worden. Wegen einer Werbeaktion, die wir auf unserer Webseite gestartet hatten. Es ging uns darum, mehr deutsche Literatur zu bewerben, da haben uns einige in die rechte Ecke gestellt. Glauben Sie mir, das sind wir nicht.«

»Können wir uns diese Anfeindungen anschauen?«

»Selbstverständlich. An Rolfs Schreibtisch steht sein Laptop; damit hat er immer unsere Facebook-Seite betreut.«

»Am liebsten würden wir ihn mitnehmen und von den Spezialisten im Landeskriminalamt untersuchen lassen. Ginge das?«, übernahm Stöhrl wieder die Gesprächsführung. »Wissen Sie, ob Herr Lupfer ein modernes Handy hatte?«

»Ja, logisch«, antwortete Koller und Stöhrl fragte sich, auf welche seiner beiden Fragen sich dieses Ja bezog. Er ärgerte sich über sich selbst; man stellt keine zwei Fragen auf einmal, das sollte er wirklich wissen.

»Danke«, versuchte er die Situation zu retten. »Dann nehme ich den Rechner mit. Was für ein Handy hatte Herr Lupfer?«

»Ein iPhone11, er liebte es, immer das neueste iPhone zu besitzen.«

Interessant, stellte Stöhrl fest und sah, dass sich Cordula eine Notiz machte. Er nickte ihr zu. Sie verstand und rief die Kollegen an, die den Computer abholen sollten.

»Können Sie mir etwas über Herrn Lupfers Freundeskreis erzählen?«, setzte Stöhrl die Befragung fort.

»Rolf hatte viele Bekannte, das bringt unser Beruf so mit sich. Freunde haben wir wenige, und die gemeinsam. Ich bin – war – sein bester Freund.« Koller schluckte. Das »war« kam ihm schwer über die Lippen, der Tod seines Freundes ging ihm sichtlich nahe.

»Würden Sie mir die Namen der Freunde sagen?«

»Natürlich. Erwin Müller, Florian Hartinger und Andreas Kindinger. Wenn Sie möchten, schreibe ich Ihnen nachher die Telefonnummern und Adressen auf.«

»Das wäre nett – andere Frage: Wie war das Verhältnis von Herrn Lupfer zu seiner Ehefrau?«

»Seit vielen Jahren schwierig. Gabi war von Anfang an die falsche Frau für Rolf. Sie hat keinen Sinn für Bücher. Aber er war diesem oberflächlichen Püppchen lange Jahre verfallen. Gut, dass er sich endlich getrennt hat.«

Stöhrl rief sich das Bild von Gabriele Lupfer in Erinnerung. Sie war ihm nicht attraktiv, sondern unsympathisch erschienen, was vermutlich an ihren Antworten lag. Er hatte in ihr sofort die Verdächtige erkannt, da war kein Platz mehr gewesen für eine differenzierte Wahrnehmung. »Er hat seine Frau verlassen?«

»Zum Schluss konnte er ihre Feindseligkeit nicht mehr ertragen, ja, da ist er ausgezogen – wollte es schon lange, aber er musste warten, bis mein Appartement für ihn frei wurde.«

»Er hat mit der Trennung gewartet, bis Sie ihm Ihre Wohnung vermieten konnten?«, fragte Cordula ungläubig.

Heinrich Koller nickte: »Rolf war immer schon ein Zauderer. Als das Appartement frei war, habe ich ihm gut zugeredet. Dann hat er sich endlich entschieden.«

»Wann war das?«

»Ende Januar.«

»Gab es Affären?«

»Meinen Sie, ob Rolf welche hatte?«

»Ja.«

»Nein, er war bis zum Schluss scharf auf seine Frau, das war ein echtes Drama.«

»Warum?«

»Gabi hat Sex immer als Waffe eingesetzt.« Koller spuckte diesen und den nächsten Satz richtiggehend aus. »Sie ist ein berechnendes Luder.«

»Hatte Frau Lupfer eine Affäre?«

Koller zuckte die Achseln. »Zutrauen würde ich es ihr.«

»Wie geht es nun mit dem Laden weiter?«

»Erst einmal führe ich das Geschäft alleine fort«, antwortete Koller und seine Stimme klang brüchig. »Irgendwann werde ich mir einen neuen Partner hereinholen.«

»Und wirtschaftlich?«, fragte Cordula Maier.

»Das ist kein Problem. Rolf hat seine Lebensversicherung auf mich abgeschlossen.«

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Er war rasch fündig geworden und fühlte sich in seiner Vermutung bestätigt: Es gab Anfeindungen seitens selbst ernannter Multikulti-Liberaler, weil die Buchhandlung Lesertraum vor zwei Monaten einen Aufruf gestartet hatte, mehr deutsche Autorinnen und Autoren zu lesen. Einige bösartige Kommentare zielten empfindlich unter die Gürtellinie und beschuldigten Rolf Lupfer und dessen Kompagnon Heinrich Koller des Rechtsextremismus. Aus solchen Hassbotschaften ließ sich für einen sensationslüsternen Journalisten durchaus ein Mordmotiv konstruieren. Allein, Nathan Weiß glaubte nicht an diese Fährte. Er durchsuchte den Online-Shop der Buchhandlung nach rechtsextremen Angeboten und fand kein einziges. Nein, diese Spur führte nicht zum Täter.

Trotzdem hätte Nathan gern gewusst, ob sein naiver Nachfolger Stöhrl auf diese taube Nuss hereinfiel. Mehr als ihm lieb war, ärgerte sich Nathan immer noch über die Beförderung Stöhrls zum Leiter seiner früheren Ermittlungsgruppe, des weit über München hinaus legendären Kommissariats K11, das für vorsätzliche Tötungsdelikte, Geiselnahme und Menschenraub zuständig war. Man hatte seiner Meinung nach einen Tauben zum Dirigenten eines ordentlichen Orchesters gemacht. Stöhrl würde die Aufklärung dieses Falls verpatzen, es sei denn, er hatte tatsächlich das Glück, dass es sich um eine Beziehungstat handelte. Nathan wünschte sich einmal mehr, selbst noch aktiv sein zu können und überlegte, ob er dieser Buchhandlung einen Besuch abstatten sollte. Aber jetzt, im Lockdown, war das Geschäft geschlossen. Wie also sollte er dort herumstöbern können?

Nathan fuhr seinen PC herunter, ging in die Küche und brühte sich eine zweite Kanne Tee auf. Die minutenlange Prozedur beruhigte seine Unrast. Er musste endlich im Ruhestand ankommen und akzeptieren, nicht mehr für die Verfolgung von Verbrechen gebraucht zu werden. Langsam zog er mit dem Wasserkocher seine Kreise über dem Teefilter, aus dem es dunkel in die gläserne Kanne tropfte. Das Raucharoma verbreitete sich in der Küche und erinnerte ihn schmerzhaft an den Verzicht auf die Pfeife. Loslassen fiel Nathan unendlich schwer. Er hing an Dingen und Gewohnheiten. Wenigstens hatte er in der Teezubereitung ein Ritual gefunden, mit dem sich die Zeit vertreiben ließ. Erfüllend war es nicht, erfüllend war eigentlich nur die Jagd nach Verbrechern. Er hatte sogar schon ernsthaft versucht, in der Fantasie Morde aufzuklären und an einem Kriminalroman gearbeitet. Es war ein untauglicher Versuch, denn Nathan stand mit dem Erfinden von Geschichten ebenso auf Kriegsfuß wie mit flüssigem Formulieren. Schon als junger Kommissar hatte er seinen Kollegen das Verfassen der Berichte überlassen und sich tagelang gequält, wenn er selbst an die Schreibmaschine musste. Er war eine kreative Niete, solange er nicht die Witterung eines Verbrechers aufnehmen konnte. Dann aber arbeitete sein Kopf wie ein Präzisionsuhrwerk und gebar Idee um Idee, wie er einen Täter dingfest machen konnte. Ich bin eben eine völlig einseitige Begabung, sinnierte er resigniert.

Nathan betrachtete die gefüllte Teekanne, nahm den Teefilter heraus und legte ihn auf einen Teller. Da konnten die nassen Blätter noch ein wenig ihren Duft verströmen. Langsam ging Nathan ins Wohnzimmer zurück, schenkte sich eine Tasse ein, nahm einen Löffel Honig und rührte klirrend um.

Rätselhafter Mord an Münchner Buchhändler – die Schlagzeile verfolgte ihn, der reißerische Bericht ließ ihn nicht los. Leider stand so gut wie nichts zum modus operandi in dem Artikel. War der Buchhändler erschossen worden? Oder brutal niedergeschlagen? Die Art und Weise, wie ein Opfer ums Leben gebracht wurde, sagte sehr viel über den Täter und seine Beziehung zum Opfer aus. Nathan hatte die Vorgehensweise der Täter immer genau analysiert, oft lag darin der Schlüssel zum Erfolg. Man musste einen Blick dafür haben – und Stöhrl, mokierte sich Nathan, hat diesen Blick nicht. Verzweifelt nagte der Wunsch in ihm, sein ehemaliger Dezernatsleiter Dr. Pfannerl würde ihn anrufen und um Unterstützung in einer interessanten Ermittlung bitten. Leider wusste Nathan: Das würde nie geschehen, denn der aufgeblasene Kriminaldirektor, ein arroganter Jurist, der von Polizeiarbeit keine Ahnung hatte, mochte ihn nicht. Einzig um ihn zu ärgern, hatte sich Pfannerl für Wolfgang Stöhrl als Leiter der Mordkommission starkgemacht, anstatt den wesentlich qualifizierteren Manfred Wirtz zu befördern. Doch nun durfte sich Nathan darüber nicht mehr ärgern; er musste loslassen und sich eine andere sinnvolle Beschäftigung suchen.

4

Die letzten Tage hatte sie gespannt die Berichterstattung zu dem rätselhaften Mord an einem Münchner Buchhändler verfolgt. Wenn sie den Zeitungen glauben konnte, tappte die Polizei völlig im Dunkeln. Der Boulevard erging sich genüsslich in verschiedenen Theorien, wobei die These, die Witwe habe den Mord begangen, langweilig, und diejenige, es handle sich um ein Attentat aus dem linksextremen Milieu, arg an den Haaren herbeigezogen war. Vermutlich bildete Münchens jüngster Mord für die Zeitungen, die auf die stummen Verkäufer angewiesen waren, einen willkommenen Kontrast zu den vorherrschenden Corona-Schlagzeilen, während Münchens seriöseste Tageszeitung nach drei Tagen das Interesse an der Bluttat verloren hatte. Ehrlicherweise geriet ihr der Tod des Buchhändlers allmählich auch aus dem Fokus. Er hatte erhalten, was er verdient hatte. Einem Mann, der völlig ichbezogen darauf aus war, mit einer wildfremden Frau eine Lack-und-Leder-Nummer zu schieben, musste man keine Träne nachweinen. Es hatte sich gut angefühlt, ihn für seine Lust und Gier zu bestrafen. Tagelang war ihr Zorn danach besänftigt und ihr Wutkissen unbehelligt geblieben. Doch nun rumorte es wieder in ihr, kochte ihr Lebensüberdruss hoch und gab der Wut auf Alles und Jeden neue Nahrung. Letzte Nacht hatte sie erstmals seit dem Buchhändler wieder von ihrem Onkel geträumt. Der hatte damals den gleichen Blick auf sie geworfen wie Rolf, als sie zur Tür hereingekommen war. Nenn ihn nicht beim Namen, ermahnte sich Karin scharf. Kein Mitleid, keine Namen, keine menschliche Erinnerung. Gesichtslose Täter, die es nicht verdient hatten, Opfer genannt zu werden. Es wurde Zeit, dem nächsten Frauenverächter eine Falle zu stellen.

Sie legte unter Berücksichtigung aller Vorsichtsmaßnahmen in einer bekannten Dating-App ein neues Profil an und musste nicht lange auf die ersten Zuschriften warten. Mindestens einer dieser offenbar allzeit bereiten Männer schien ein lohnendes Ziel abzugeben. Karin rieb sich die Hände und dachte an ihren Onkel. Schade, dass sie den nicht mehr zwischen die Finger bekam. Aber immerhin, Ähnlichkeit half. Nun würde sie erst einmal diesen Justin – bestimmt ein falscher Vorname, ärgerte sie sich – anfüttern. Mit Speck fängt man Mäuse, giftete sie in Gedanken vor sich hin, und mit erotischen Anzüglichkeiten erlegt man egoistische, geile Männer.

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Die Verdachtsmomente gegen Gabriele Lupfer hatten sich erhärtet. Ausweislich ihrer Verbindungsdaten hatte sie sich im fraglichen Zeitraum der Ermordung ihres Ehemannes nicht nur ganz in der Nähe seines Appartements befunden, sondern auch mit ihm telefoniert. Von den wenigen Fingerabdrücken, welche die Spurensicherung in der akkurat geputzten Wohnung sichergestellt hatte, gehörten die meisten dem Opfer und wenige andere seiner Ehefrau. Fingerabdrücke dritter Personen fanden sich nicht. Diese Erkenntnisse standen im Widerspruch zu der Aussage Gabriele Lupfers, ihren Mann niemals in dessen Appartement besucht zu haben. Genug Anhaltspunkte jedenfalls für Wolfgang Stöhrl, Frau Lupfer an diesem Freitag zu einer ausführlichen Vernehmung ins Kommissariat zu bestellen. Er nahm sich vor, die keineswegs trauernde Witwe so lange weichzukochen, bis sie ein Geständnis ablegte. Schließlich war es an der Zeit, diesen Fall ratzfatz erfolgreich abzuschließen. Ein knappes Jahr nach seiner Ernennung zum Leiter des Mordkommissariats K11 in der Nachfolge des legendären Mordermittlers Nathan Weiß wollte Stöhrl mit einem raschen Erfolg endlich aus dem langen Schatten seines Vorgängers treten. Viel zu viele im Kollegenkreis hielten ihn für ein Leichtgewicht, und auch das wohlwollend herablassende lieber Stöhrl des Gerichtsmediziners Dr. Sander empfand er als Ausdruck minderer Wertschätzung. Nach acht Jahren bei der Mordkommission habe ich Anerkennung verdient, sprach er sich gut zu und studierte mit einem gewissen Stolz den Untersuchungsbericht über das Sektglas, das er und nicht die Spurensicherung im Schrank von Rolf Lupfer entdeckt hatte.

Leider überdeckte der Lippenstiftrest eine eindeutige Analyse, und die wenigen Hautpartikel, die haften geblieben waren, ließen eine aussagekräftige DNS-Analyse nicht zu. Immerhin konnte man die Lippenstiftmarke gut bestimmen; nur zwei Hersteller kamen infrage, und gewiss ließe sich feststellen, ob Gabriele Lupfer so einen Lippenstift besaß. Er rieb sich die Hände und ging vergnügt in den Besprechungsraum.

»Guten Morgen«, rief er in die Runde und setze sich auf den Platz am Kopfende des Besprechungstisches. Von Woche zu Woche wurde ihm dieser Platz selbstverständlicher und er hatte allmählich das Gefühl, seinen Chefposten ordentlich auszufüllen. Trotzdem fühlte er sich immer noch unsicher und musterte daher seine Kollegenschar genau, ob in dem einen oder anderen Augenpaar noch etwas zu sehen war von den Vorbehalten, die ihm vor einem knappen Jahr entgegengeschlagen waren, als er Nathan Weiß beerbt hatte. Diesen Eindruck empfand er nicht mehr, und das erfreute ihn. Alles in allem, atmete Wolfgang Stöhrl erleichtert auf, war das heute ein sehr angenehmer Freitagvormittag.

»Wir müssen jetzt das Verhör von Gabriele Lupfer vorbereiten«, stieg Stöhrl in den morgendlichen Gedankenaustausch ein. »Bemerkenswert ist ja, dass die luxuriöse Uhr, immerhin eine Audemars Piquet Royal Oak im Wert von gut 10.000 Euro, an Rolf Lupfers Handgelenk blieb, aber sein iPhone11 verschwunden ist. Der Täter oder die Täterin hatte also definitiv kein Interesse an Wertgegenständen. Auch das spricht gegen Gabriele Lupfer. Was haben wir sonst noch?«

Zu seiner Freude meldete sich Nina Lutz. Ihre Geste, sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, ehe sie zu sprechen anfing, kannte er bereits zur Genüge, und wenn er ehrlich war, mochte er diesen kleinen Tick der jungen Kommissarin, die erst vor einem halben Jahr zu K11 gestoßen war.

»Die Obduktion hat nicht nur gute Aussagen zum Tatwerkzeug, einem scharfen kurzen Keramikmesser erbracht, sondern auch feinste Spuren von Talkumpuder an Lupfers Oberkörper. Das spricht für die Verwendung von Latexhandschuhen und erklärt, warum wir in dem Appartement kaum Fingerabdrücke gefunden haben. Vermutlich hat der Täter oder die Täterin Schutzkleidung getragen, was sehr ungewöhnlich wäre, es sei denn …« Hier machte Nina Lutz eine Effekt heischende Pause. »Es sei denn, es ist vor der Tat zu erotischen Handlungen gekommen, wofür die heruntergezogene Hose des Opfers ebenso spricht wie die Sekretspuren an Lupfers Penis. Sollte Lupfer mit seiner Mörderin auf Lack-und-Leder gestanden haben, wäre es nicht abwegig, dass die Frau einen Ganzkörperlatexbody getragen hat.«

»Wenn wir nicht noch von irgendwo her Hinweise erhalten, dass Lupfer schwul oder bi gewesen ist, können wir also definitiv von einer Täterin ausgehen«, folgerte Stöhrl zufrieden.

»Keiner der Freunde, mit denen ich gesprochen habe, hat was in Richtung schwul verlauten lassen«, warf Manfred Wirtz ein. »Aber alle meinten, Lupfer sei durchaus an Sex interessiert gewesen.«

Stöhrl dankte dem Hauptkommissar, der sich selbst Hoffnungen gemacht hatte, die Mordkommission leiten zu dürfen und der eindeutig der Favorit von Nathan Weiß auf den Chefposten gewesen war. Wirtz schien diese Zurücksetzung verdaut zu haben, jedenfalls taute er allmählich auf. Wenn das so weitergeht, hoffte Wolfgang Stöhrl, bekommen wir noch ein gutes kollegiales Verhältnis.

»Das lässt auch darauf schließen, dass seine Frau die Hände im Spiel hat«, nuschelte Cordula Maier hinter ihrer Maske. »Heinrich Koller hat gesagt, Lupfer sei seiner Frau verfallen gewesen. – Sie macht ihm ein Versöhnungsangebot, mal wieder eine richtig heiße Nummer, und wenn er dann vor ihr liegt …« Cordula fuhr sich mit der Handkante über die Kehle, und alle im Raum nickten.

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Eher lustlos scrollte Nathan durch die Profile der Dating-Plattform fresh-adventure, auf die er durch eine leicht anrüchige Fernsehwerbung aufmerksam geworden war. Viele der Seiten schienen ihm professionell gestaltet; da fragte er sich, ob dies Versuche von Prostituierten waren, trotz des Corona-Lockdowns Kunden zu finden, oder ob es sich um maschinengenerierte Profile handelte, die den unbedarften Lüstling in die Falle von Cyberkriminellen locken sollten.

Vielleicht sollte ich mich auf diesem Gebiet weiterbilden, überlegte Nathan, und schauen, was ich im Umfeld von Internetkriminalität bewegen könnte. Da war kriminalistische Expertise erwünscht; vielleicht ließe sich auf diesem Feld ein interessanter Beratervertrag an Land ziehen, und sein Leben im Ruhestand hätte wieder einen Sinn. Mal schauen, nahm er sich vor und scrollte weiter, ob sich ein interessantes Profil für einen kleinen Chat fand, denn er gestand sich durchaus sein weiter bestehendes Interesse an der erotischen Begegnung mit Frauen ein.

Als er schon aufgeben wollte, blieb er an einem Profil hängen: Lack und Leder, zupackend und kräftig, ohne Interesse an einer Beziehung. Hast Du Lust auf eine erfahrene Lady und traust Dir zu, ihr den erwünschten Spaß zu verschaffen? Jede Bildzuschrift wird beantwortet.

Das Foto zeigte eine vermutlich knapp 50-jährige Frau mit knabenhafter Figur in einem schwarzen Latexanzug. Das hagere Gesicht drückte mit einem bohrenden Blick aus sehr grünen Augen Herausforderung und Verlockung aus und wirkte dabei umwerfend ehrlich. Der bereits leicht faltige Hals zeigte sich in natürlicher Offenheit, das zartbittere Lächeln ungeschminkt, das lockige rote Haar leicht verwuschelt, alles in allem eine Frau, die offensichtlich zu dem stand, was sie war: nicht mehr die Jüngste, aber lebenslustig. Nathan pfiff leise durch die Zähne. Roxette wusste, was sie wollte. Er klickte auf die Schaltfläche Merken. Obwohl sie optisch nicht sein Typ war, würde er, dem Lack und Leder auch nichts gab, vielleicht einmal auf dieses Profil zurückkommen. Man weiß ja nie. Er schaute sich noch einige weitere Profile an, ohne auf einen interessanten Eintrag zu stoßen, schloss die App und griff zum Telefon.

Sein alter Spezl Udo Wackel lachte röhrend durchs Telefon, als Nathan ihn fragte, wie er Programmieren lernen könne.

»Willst jetzt Computerspiele entwickeln oder was, alter Knabe?«, fragte der seit einigen Jahren im Ruhestand befindliche frühere Chef des Sachgebiets Programmierung im Bayerischen Landeskriminalamt. »Kannst dich wohl immer noch nicht damit abfinden, dass du jetzt in Pension bist. Gräm dich nicht, nach einiger Zeit kommt das von allein.«

»Du hast leicht reden«, grummelte Nathan. »Du hast bald mehr um die Ohren als früher. Einfach bei deinem Sohn ins Software-Start-up einsteigen … Mit so einem Ruhestand wäre ich auch zufrieden. Nein, ich will ein wenig sachkundiger werden im Bereich Computerkriminalität, und da dachte ich, es könnte nicht schaden, von der Programmiererei was zu verstehen.«

»Wenn du meinst, aber eines sage ich dir gleich: Das ist kein Spiel und keine leichte Kost. Wenn du ernsthaft einsteigen willst, heißt das lesen, lesen und noch mal lesen und ganz viel ausprobieren.«

»Klingt schon mal wie eine Gebrauchsanweisung gegen Langeweile.«

Sie plauderten einige Minuten über alte Zeiten, dann versprach Udo, Nathan ein Buch für Einsteiger zu schicken, elektronisch natürlich, und zehn Minuten später war er im Besitz einer PDF-Datei Java-Programmierung.

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Das Gutachten über die Umweltverträglichkeit der Produktionsanlage zur Herstellung dieser hochkomplexen Chemikalie ging ihr gar nicht von der Hand. Die Unterlagen des mittelständischen Unternehmens wiesen an einigen Stellen Lücken und in mindestens zwei Teilbereichen Unstimmigkeiten auf. Vernünftiges Bewerten war bei der Unschärfe der diversen Angaben unmöglich. Das Unternehmen würde seinen Antrag massiv nachbessern müssen, was ihr zusätzlichen Aufwand bereiten würde, bis das von ihrem Chef als zeitkritisch eingestufte Projekt abgeschlossen war.

Während sie noch überlegte, wie sie den Brief an die Firmenleitung formulieren sollte, spürte Karin den ihre Kehle hochsteigenden Zorn. Mit jedem Tag, den dieser Lockdown andauerte, wuchs ihre Reizbarkeit und lenkte sie von ihrer beruflichen Aufgabe ab. Noch musste sie ihren Job weitermachen, noch brauchte sie das Einkommen, ehe sie sich in ein oder zwei Jahren zur Ruhe setzen konnte, je nachdem, wie lange ihre pflegebedürftige Tante noch lebte. Tante Irma! Im Pflegeheim eingesperrt wie in einem Zuchthaus! Kein Besuch, nichts – das verstand die bald 90-jährige, demente Frau doch nicht! Schon war die Wut im Rachen angekommen. Karin stieß einen schrillen Schrei aus und warf die Unterlagen der Chemiefabrik vom Tisch.

Sie fuhr ihren beruflichen Laptop herunter und schaltete ihren privaten Computer ein. Während der betagte Desktop-PC langsam hochfuhr, mixte sie sich in der Küche mit Wasser, Gurke, Minze und Banane einen erfrischenden Smoothie und kehrte mit dem grün schimmernden Getränk vor den Bildschirm zurück.

Sie loggte sich in die Dating-Plattform fresh-adventure ein, auf der sie ihren nächsten Delinquenten ermitteln wollte, und überprüfte, wie oft ihr neues Roxette-Profil besucht worden war. Mit zwölf Besuchen in den letzten vier Stunden konnte sie zufrieden sein. Bei drei neuen Bildzuschriften nickte sie, doch die letzte Antwort von Justin elektrisierte sie. Der Knabe kam auf den Punkt und schlug ein Datum für das Lack-und-Leder-Spiel vor. Allerdings wollte er zu ihr kommen. Das ging selbstverständlich gar nicht. Wenn er keinen besseren Vorschlag machte, musste sie ihn vom Haken lassen.

Sie überlegte kurz, wie sie ihm antworten sollte, und entschied sich für die klare und knappe Variante: Diskretion ist oberstes Gebot. Lass Dir einen passenden Ort einfallen, dann geht das heute noch klar.

Fertig. Mehr war nicht zu sagen. Wenn der gute Justin seine Ehefrau betrügen wollte, musste er es eben geschickt anstellen. Dabei hoffte sie, er möge eine Lösung finden, denn mit diesem Gesicht war er ein mehr als verdienter Delinquent. Die Ähnlichkeit zu ihrem Onkel war frappierend. Justin für seine Lüsternheit zu bestrafen, würde sie noch mehr befriedigen als die Vollstreckung des Urteils an Rolf. Vielleicht löschte dies ihren brodelnden Zorn. – Das Wutkissen war längst keine Hilfe mehr.

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