Sturmgepeitscht - Markus Kleinknecht - E-Book

Sturmgepeitscht E-Book

Markus Kleinknecht

4,0

Beschreibung

Bei Recherchen tappt der Journalist Jan Fischer in eine Falle. Während ein Orkan über Sylt peitscht, muss er sich, zusammen mit einer jungen Frau, in einem einsamen Hotel verstecken. Doch ihre Feinde sind ihnen auf der Spur. Die Jagd beginnt, und bald kämpfen beide mitten im Sturm ums nackte Überleben. Nur Jans Freundin, die Fotografin Charlotte Sander, kann ihnen jetzt noch helfen. Doch wem kann sie trauen? Die Menschen auf der Insel haben ihre eigenen Gesetze, und Blut scheint dort allemal dicker als Wasser zu sein.

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Markus Kleinknecht

Sturmgepeitscht

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thaut Images / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6946-6

 

 

PROLOG

AllesChecker98: Was geht?

SuperNiceFace: Hansemen.

Nur nicht erwischen lassen. Irgendwo da drüben hockte er hinter einem der Fenster und wartete auf sie; das Gewehr im Anschlag. Flach atmend presste sie sich gegen die Mauer. Die Backsteinwand des ehemaligen Kasernengebäudes strahlte noch die gespeicherte Hitze der Nachmittagsstunden ab, obwohl die Sonne bereits hinter den gegenüber liegenden Gebäuden verschwunden war. Früher hatten hier Soldaten gelebt und geschwitzt. Doch die Kaserne war schon lange verlassen. Einsam lag der Exerzierplatz da. Ausgestorben.

Die junge Frau, die sich nicht aus ihrem Versteck traute, war die Einzige, die hier noch schwitzte. Bis hierher war sie gerannt. Ihre hellbraune Haut glänzte. Von der gab es viel zu sehen. Außer Turnschuhen trug die Frau nur eine sehr kurze Sporthose und einen Sport-BH. Ihr zarter Körperbau, die dunklen Haare und die Gesichtszüge verrieten eine asiatische Herkunft.

Ein Stirnband sorgte dafür, dass ihr der Schweiß nicht in die Augen lief. Zugleich diente es als Halterung für eine kleine Kamera, die aus der Perspektive der Frau alles aufzeichnete, was sie sah. Eine Actioncam. Äußerst robust und kompakt, aber mit hervorragender Bildqualität.

Es gab noch mehr Kameras. Überall verteilt auf dem Gelände. Keiner ihrer Schritte sollte unbeobachtet bleiben. Schließlich wollte man sehen, wie sie um ihr Leben rannte.

Die Frau blickte nach hinten. Umkehren war keine Option. Sie musste quer über den Exerzierplatz, um den Schutz der gegenüber liegenden Häuser zu erreichen. Nur dort würde sie sich in Sicherheit bringen können.

Ihre Augen suchten die Fensterfront ab. Wo steckte der Schütze? Wo hatte er sich versteckt?

Wirklich in einem der Gebäude? Damit würde er seinen Bewegungsradius freiwillig einschränken. Vielleicht lauerte er auch hinter einer Hausecke oder gar hinter dem Stamm einer der beiden großen Bäume, die links und rechts des großen Platzes standen. Von dort konnte er schießen und sein Ziel anschließend viel leichter verfolgen.

Die junge Frau hätte sich an seiner Stelle hinter einem der Bäume versteckt, um auf jemanden zu lauern. Aber hinter welchem? Links oder rechts?

Wenn sie mittig über den Platz lief, wäre sie von beiden Bäumen gleich weit weg, stellte aber immer noch ein sehr gutes Ziel dar. Entschied sie sich, möglichst dicht an einem der Bäume vorbeizulaufen, dann hätte sie die Entfernung zum anderen Baum fast verdoppelt. Das machte es dem Schützen schwieriger. Es sei denn, er hockte genau hinter diesem Baum und sie lief ihm somit direkt in die Schusslinie.

Die junge Frau hatte Angst vor einem direkten Treffer. Sie fürchtete sich vor dem Schmerz. Doch es blieb dabei: Sie musste über den freien Platz, und das Nachdenken machte es nicht besser.

Also rannte sie einfach los. Nicht wie ein Schwimmer, der vor dem Sprung ins Wasser noch einmal tief Luft holt. Dafür nahm sie sich keine Zeit mehr, nachdem die Entscheidung endlich gefallen war. Sie rannte quer über den ehemaligen Exerzierplatz, zuerst schnurgerade, dann abrupt einen Haken schlagend. Zwei Sidesteps, dann wieder geradeaus. Vielleicht schoss er ja daneben. Denn schießen würde er, so viel stand fest. Hier war ein hervorragender Ort für einen gezielten Schuss. Diese Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen.

1

Es klopfte an den Wohnwagen. Das musste der Verwalter des Campingplatzes sein, der alte Martens. Sonst wusste doch niemand, dass Jan Fischer auf Sylt war. Doch als Jan die Tür öffnete, stand ihm ein wahrhafter Hüne gegenüber. Der Mann trug einen wetterfesten Parka, der bis über den Hintern reichte. Eine grobe Leinenhose steckte in einem mächtigen Paar schwarzer Gummistiefel. Der Mann war mindestens zwei Meter groß. Um seinen gewaltigen Körper zu schützen, benötigte er sämtliche Kleidungsstücke in Super-XXL.

»Herr Fischer?«

»Ja.«

Die Hand, die ihm einen Dienstausweis der Polizei entgegenstreckte, verdiente ebenfalls eine XXL-Klassifizierung. Hauptkommissar Eggestein, stand neben dem Foto.

»Darf ich reinkommen?« Es klang wie eine Frage, war aber keine. Der hünenhafte Polizist hatte den Fuß bereits auf dem Tritt vor dem Wohnwagen und zwängte sich nun durch die schmale Türöffnung. Es war ein Wunder, dass sich der Wagen nicht auf die Seite neigte. Automatisch wich Jan zurück.

Mit seinen ein Meter 94 musste Jan im Camper schon immer aufpassen, sich nicht den Kopf zu stoßen. Hauptkommissar Eggestein aber streichelte mit den Haaren die Decke, egal, wo und wie er sich hinstellte.

Jan bemerkte, wie die Augen seines Gegenübers den Wagen absuchten, ohne dass er dabei übertrieben viele Kopfbewegungen machte.

»Gerade erst angekommen?«

»Wie man’s nimmt.«

»Was führt Sie her? Ist ja nicht gerade Campingsaison, was?«

Jan sah keinen Grund zu lügen.

»Ich suche jemanden.«

»Und wen?«

»Das wissen Sie doch vermutlich schon.«

»Ach ja?«

»Ganz offensichtlich. Jemand wird es Ihnen erzählt haben.«

Eggestein prüfte das Bett mit Blicken auf seine Stabilität. Dann setzte er sich ungefragt darauf, als wollte er zeigen, dass er es nicht eilig hatte. Seine Beine versperrten wie unabsichtlich den Weg zur Tür.

»Jemand hat es mir erzählt?«, wiederholte er Jans Feststellung.

»Ich habe kein Geheimnis draus gemacht, dass ich jemanden suche, und überall ein Foto herumgezeigt. Und von diesen Leuten hat es Ihnen jemand erzählt. Habe ich jetzt ein Problem?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Na ja, wenn der Ausweis echt ist, habe ich Besuch von der Polizei. Das muss ja einen Grund geben.«

»Zweifeln Sie daran, dass der Ausweis echt ist?«

»Nein.«

Eggestein atmete tief durch. »Zeigen Sie mir mal das Foto von der Frau, nach der Sie suchen!«

Jan tastete nach seinem Smartphone, dann fiel ihm ein, dass er es auf die Arbeitsfläche neben der Spüle gelegt hatte. Er entsperrte den Bildschirm, wählte die Fotogalerie und hielt seinem Besucher das Bild entgegen. Es zeigte eine junge Asiatin. Ihre Lippen waren dunkelrot geschminkt, die Augen durch Kajal und Wimperntusche fast schwarz.

»Haben Sie Anna-Lena irgendwo gesehen?«

Eggestein erwiderte mit einer Gegenfrage. »Anna-Lena? Soso. Warum suchen Sie das Mädchen?«

»Für Freunde.«

Eggestein nickte langsam. »Sie hat ja kaum was an.«

»Die Aufnahme ist aus dem Sommer.«

»Und Sie suchen sie für Freunde?«

Jan wusste, dass er dabei war, in eine Falle zu tappen. Nun wurde ihm zum Verhängnis, dass er seine Geschichte während der Suche nach Anna-Lena geändert hatte. In einer Bäckerei und im Fischrestaurant Smutje hatte er etwas anderes erzählt als dem Taxifahrer am Bahnhof.

»Freunde der Familie«, versuchte er, es zurechtzubiegen.

»Freunde der Familie?«

Jan nickte.

»Hübsches Mädchen.«

»Ja.«

»Nicht ganz aus der Gegend.«

»Stimmt«, erwiderte Jan. »Sie kommt aus Hamburg.«

Natürlich wusste Jan, dass sich die Worte seines Gegenübers auf die asiatischen Gesichtszüge des Mädchens bezogen, doch er hatte keine Lust, darauf einzugehen.

Hauptkommissar Eggestein reichte das Smartphone zurück. Noch während Jan die Hand danach ausstreckte, meinte der Polizist: »Ich bin gekommen, weil wir unten am Strand ein totes Mädchen gefunden haben. Sie soll asiatisch aussehen. Thai, Japanerin, Vietnamesin. Irgend so was.«

Für einen Moment verharrte Jan in der Bewegung, und es wurde sehr still in dem engen Wohnwagen. Langsam steckte Jan das Smartphone in die Hosentasche. Er hatte das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, ohne zu wissen, was. Eggestein beobachtete Jans Reaktion ganz genau.

»Ehrlich gesagt, frage ich mich, Herr Fischer, wieso Sie sich hier auf diesem einsamen Campingplatz verstecken, obwohl das Wetter kein bisschen zum Campen geeignet ist. Warum nehmen Sie sich für Ihre Suche nicht ein schönes Hotel?«

»Ärztekongress«, antworte Jan knapp. »Kein Zimmer mehr frei.«

»Und wieso haben Sie keine Anmeldung ausgefüllt und bezahlen in bar?«

Vielleicht bluffte Eggestein, schoss einfach ins Blaue. Dass er das Anmeldebuch gesehen hatte, stand noch gar nicht fest. Martens war um diese Zeit vielleicht noch gar nicht da. Trotzdem ließ Jan sich darauf ein.

»Das … hat sich einfach so ergeben.«

»Verstehe«, meinte Eggestein. Dann deutete er mit dem Kopf zur schmalen Garderobe. »Schicke Jacke. Sieht teuer aus. Und neu. Mit Geld scheinen Sie also keine Probleme zu haben.«

Da kein Preisschild an der Jacke hing, vermutete Jan, dass Eggestein die Tragetasche entdeckt hatte, die ihm beim Kauf mitgegeben worden war.

»Schlussverkauf«, rechtfertigte Jan sich ungewollt. »Die war gar nicht so teuer. Und im Laden habe ich mit Karte bezahlt. Ich verwische keine Spuren. Darf ich Ihnen was zeigen?«

»Klar.«

»Es ist in der Jacke.«

»Ich bin gespannt.«

Jan trat zur Garderobe, während Eggestein ganz harmlos sagte: »Frage mich, was ein Drogenspürhund vom Zoll hier so anstellen würde. Ob er seinen Spaß in diesem Wohnwagen hätte?«

»Garantiert nicht«, erwiderte Jan, während er sein Portemonnaie aus der Innentasche der neuen Jacke holte, und seinen Presseausweis herauszog. »Ich suche das Mädchen für eine Story, an der ich dran bin.«

Der Presseausweis schien in Eggesteins Hand zu verschwinden. »Hm … hat sich was mit der Suche für Freunde, wie?« Eggestein grinste zufrieden. »Dann erzählen Sie mir mal von Ihrer Story.«

Jan nickte. »Das könnte ich. Aber erst, wenn ich die Tote selbst gesehen habe.«

»Sie wollen die Tote sehen?«

»Ganz genau.«

»Warum?«

»Weil es vielleicht gar nicht Anna-Lena ist. Und dann ergibt es keinen Sinn, dass wir über sie reden.«

»Hm …«, machte Eggestein noch einmal.

2

Hauptkommissar Eggestein fuhr die Hauptstraße entlang, vorbei an einem italienischen Restaurant und vorbei am Kultursaal, einem zweigeschossigen Gebäude mit vielen Sprossenfenstern, das zwischen den Gemeinden Wenningstedt-Braderup und Kampen lag. Hinter einer Bäckerei, bei der Jan am Vortag Anna-Lenas Foto gezeigt hatte, bog der Polizist rechts ab. Unweit von einem Abgang, der hinunter zum Meer führte, standen weitere Polizeiautos und ein Rettungswagen. Eggestein hielt neben den verlassenen Fahrzeugen. Eine ordentliche Brise schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Auto stiegen.

Der Polizist nickte Richtung Strandabgang.

Der Weg war erheblich kürzer als der Holzbohlensteg, der vom Campingplatz zum Wasser führte. Statt erst durch ein Stück Heidelandschaft zu führen, schnitt er sich mitten durch den südlichsten Teil eines kilometerlangen Kliffs. Teils mit Holzstufen versehen, wurde ein Höhenunterschied von mehr als 20 Metern überwunden.

Am Treppenende wandte sich Eggestein nach rechts. Jan sah bereits, wohin der Polizist wollte. 200 Meter Richtung Nordspitze der Insel standen einige Polizisten und Rettungssanitäter neben einem Geländewagen der Strandwache. Unmittelbar neben ihnen stieg eine rot schimmernde Wand auf. Das Fahrzeug parkte am Fuße des Roten Kliffs.

Der Geschiebelehm des Kliffs war das Werk einer über 100.000 Jahre zurückliegenden Eiszeit. Schuttmassen aus Gesteinsbrocken, Kalkstein, Lehm und Ton bildeten am Ende eines gewaltigen Gletschers den Kern der heutigen Insel. Ein steigender Meeresspiegel und die unermüdlichen Kräfte aus Wind und Wasser hatten an der Formation eine riesige Abbruchkante geschaffen. Zum Teil stieg diese Kante flach wie ein Sandberg auf einer Baustelle an, dann wieder stand man einer fast senkrecht aufstrebenden Wand gegenüber. Eisenhaltige Bestandteile ließen das Kliff buchstäblich rosten und machten es seit Jahrhunderten zu einer unfehlbaren roten Orientierungshilfe für Schiffsbesatzungen.

Das Wolkenloch, durch das vor einer halben Stunde noch die Sonne schien, hatte sich wieder geschlossen. Ein eisiger Wind zog über den Strand.

Die Herumstehenden sahen Jan und Eggestein kurz entgegen, dann wandten sich die Gesichter wieder ab. Jan folgte dem Kommissar an den Sanitätern vorbei. Plötzlich sah er den am Boden liegenden Körper.

Es war eine halbnackte Frau. Verdrehte Gliedmaßen ließen nur einen Schluss zu. Jan blickte an der Steilwand hinauf.

Er sah wieder zu der Frau. Sie war jung. Die Haare schwarz. Ihr Gesicht war scharf geschnitten wie bei einer Skulptur. Sie trug einen Sport-BH und eine kurze Sporthose. Auch wenn Jan sie nie persönlich getroffen hatte, war die Sache für ihn klar: Er hatte Anna-Lena gefunden.

3

Neben all den Uniformierten, die im Halbkreis um die tote Frau standen, waren Jan und Eggestein die einzigen in Zivil. Jan sah den verdrehten Körper an und dann wieder zum Polizisten.

»Ihre Füße sind blutig.«

»Könnte auch nur so aussehen und vom roten Lehm kommen«, erwiderte Eggestein.

»Nein. Die Füße sind aufgeschnitten. Das ist getrocknetes Blut.«

»Kann sein. Die Wand ist zum Teil scharfkantig. Aber ist es denn nun auch Ihr Mädchen?«

»Sie heißt Anna-Lena Thumsen«, meinte Jan. »Studentin. 21 Jahre alt. Studiert in Hamburg Betriebswirtschaftslehre. Viertes Semester.«

Eggestein nickte. »Das ist doch schon mal was.« Er blickte einen Kollegen an. Der zog einen Notizblock und begann mitzuschreiben.

»Und Sie sind sich sicher?«, fragte Eggestein mit einem Nicken in Richtung der Toten.

Jan ging auf die Knie, um das Gesicht der jungen Frau besser sehen zu können. Der Videoprint, der von einem im Internet kursierenden Film stammte, hatte ihn bis in ein Studentenwohnheim in Hamburg geführt. Zwischen Stadtpark und den Alsterkanälen gelegen, war es eine gute Wohnlage, auch wenn die Zimmer etwas klein geraten waren. Maria Fernandez, Anna-Lenas Zimmernachbarin, hatte Jan nach mehrfachem Klingeln in den Flur des vierten Stockwerks gelassen.

Da Frauen und Männer auf den Fluren des Wohnheims gemischt wohnten, war es kein Problem, dass sie Jan mit in den Gemeinschaftsraum nahm. Ein paar Sofas waren um einen niedrigen Tisch gruppiert. An der Wand hing ein großer Fernseher.

»Sie arbeitet viel, Geld fürs Studium. Aber sonst ist sie oft da auf dem Sofa«, sagte Maria mit spanischem Akzent. Sie hatte kastanienbraune Haare, war kaum größer als einen Meter 50 und schien selten zu lächeln. Obwohl es äußerlich keinerlei Übereinstimmungen gab, fühlte Jan sich an Charlotte erinnert.

»Hier, das ist sie!« Maria zeigte auf ein Gruppenfoto über dem Sofa, auf dem sich alle Bewohner des Flurs und deren Freunde und Freundinnen anlässlich einer Weihnachtsparty um eine Feuerzangenbowle geschart hatten. 14 Flurbewohner und sechs Freunde. Das ergab auf dem Bild ein ziemliches Gedränge. Trotzdem war Anna-Lena auf dem Foto gut zu erkennen. »Die da. Du hast sie leider verpasst. Sie ist gestern weggefahren.«

»Länger?«

»Vielleicht eine Woche? Ich weiß es nicht genau.«

»Auch nicht, wohin?«

»Was? – Ach, doch. Nach Sylt. Du kennst die Insel?«

»Klar.«

»Nordsee. Nicht Ostsee. Richtig? Ich kann mir das nie richtig merken.«

»Ja, Nordsee. Reist sie allein?«

»Nein. Bestimmt nicht. Die Männer mögen sie. Weißt du. Das ist ja auch nicht schwer. Aber sie mag auch die Männer.«

»Was heißt das?«

Maria sah Jan kurz an, drehte den Blick dann weg. »Gar nichts. Ich bin katholisch. Aber sie kann machen, was sie will.«

»Also lässt sie sich öfter mit Männern ein? Mit unterschiedlichen Männern?«

»Sie mag Männer. Das ist alles.«

»Und deshalb ist sie auch mit Männern nach Sylt gefahren.«

»Ich glaube schon.«

»Zwei Männer?«

»Ich glaube. Sie hat sich manchmal mit zwei Männern getroffen.«

Jan nickte. Marias Worte stimmten mit dem überein, was er bisher über Anna-Lena herausgefunden hatte. Es war ein Glücksfall, dass er in einem Restaurant in Uninähe gleich jemanden gefunden hatte, der das Mädchen vom Screenshot des Videos erkannt und ihm die Wohnheimadresse gegeben hatte. Anna-Lena jobbte in dem Laden als Bedienung. Viel bekam sie dafür vermutlich nicht bezahlt. Aber wenn sie bei den Gästen so gut ankam, wie es schien, stimmte vielleicht zumindest das Trinkgeld.

»Kann ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Jan die Spanierin. Aber Maria schüttelte den Kopf.

»Du hast keinen Ersatzschlüssel? Falls sie ihren mal verliert oder so?«

»Ich … Das geht nicht.«

Jan legte den Kopf schief. Ein passender Hinweis aus dem Zimmer hätte eine Suche auf Sylt erheblich erleichtert. Aber Maria ging selbst auf eine direkte Bitte, das Zimmer ansehen zu dürfen, nicht ein. Und da nicht gesagt war, ob er darin überhaupt etwas über Anna-Lenas Aufenthaltsort gefunden hätte, bedrängte er Maria nicht weiter.

Kurz entschlossen war er stattdessen noch am selben Tag nach Sylt gereist. Er rangierte seinen Wagen auf den Autozug, der mit seiner Fracht gemütlich über den Hindenburgdamm zuckelte. Am Bahnhof von Westerland setzte Jan seine Suche fort, indem er einigen Taxifahrern Anna-Lenas Foto zeigte. Es war Winter. Deshalb stellte er es sich nicht so schwierig vor, die hübsche Asiatin auf der Insel zu finden. Ein Irrtum.

Seine Suche hatte zu lange gedauert.

Die junge Frau, die mit zerschmetterten Knochen vor Jan auf dem Strand lag, war zweifellos Anna-Lena Thumsen. Jan musste an Maria Fernandez denken. Die Spanierin würde sehr bald erfahren, dass ihre Zimmernachbarin nicht mehr ins Wohnheim zurückkehrte. Stattdessen würde das Zimmer spätestens zum Ende des Semesters ausgeräumt und neu belegt werden.

Langsam richtete Jan sich wieder auf. »Ich würde sagen, sie ist es.«

»Würde ich auch«, meinte Eggestein. »Wie viele Asiatinnen laufen hier im Winter schon halbnackt rum? Darüber sollten wir uns übrigens mal näher unterhalten. Was meinen Sie?«

Jan wusste, dass er nicht darum herum kommen würde. »Vielleicht irgendwo, wo es wärmer ist?«

Kommissar Eggestein zuckte mit den Schultern. Ihm schien der Wind nichts auszumachen. »Meinetwegen. Bei Smutje sollten wir ein ruhiges Eckchen finden. Gleich oben auf dem Kliff. Oder ziehen Sie das Präsidium in Westerland vor?«

»Was wird aus ihr?«, wollte Jan wissen, ohne direkt zu antworten. Beide blickten die tote Frau an.

»Ein paar Kollegen passen auf, bis die Kriminaltechniker eintreffen. Wird eine Weile dauern. Die kommen aus Flensburg. Aber so ist das eben, wenn man auf einer Insel lebt.«

»Sie wird bewacht?«

»Natürlich. Sie glauben ja nicht, was den Leuten sonst alles einfallen würde. Seit es diese Smartphones gibt, drehen die komplett durch. Die fotografieren und filmen alles. Absolut alles.«

»Ich weiß«, entgegnete Jan.

»Außerdem müssen wir die Möwen auf Abstand halten. Das sind nämlich die Aasgeier der Meere.«

Jan erwiderte nichts.

»Im Ernst.« Eggestein runzelte die Stirn. »Verdammte Viecher. Hacken einem Schiffbrüchigen glatt die Augen aus, während der noch lebt. Was meinen Sie, was die mit der Kleinen anstellen würden …«

»Ich denke lieber nicht darüber nach«, entgegnete Jan.

Auf dem schmalen Weg, der vom Strand zurück aufs Kliff führte, begegneten die beiden ein paar Männern der freiwilligen Feuerwehr. Zwei Mann trugen einen Generator, andere die Bauteile eines Lichtmastes. Offenbar ging man davon aus, dass die Kriminaltechniker bis zur Dämmerung und darüber hinaus mit Anna-Lena beschäftigt sein würden.

4

Schlicht Smutje prangte in magentafarbenen Leuchtbuchstaben auf dem Dach. Das Restaurant stand kaum 20 Meter von der Abbruchkante des Kliffs entfernt. Es bestand fast ausschließlich aus Holz und Glas. Der Wind zerrte an fest vertäuten Planen, die zeltähnlich über eine Außenterrasse und Teile eines Wintergartens gespannt waren. Sonnenschutz, dachte Jan. Durch das Knarren und Ächzen, mit denen sich die Halteseile gegen den Wind stemmten, fühlte Jan sich an Segelschiffe erinnert und irgendwie auch an die Verhüllungsaktion vom Reichstag in Berlin durch Christo und Jeanne-Claude. Ein befestigter Weg führte quer durch eine Grünfläche auf das ungewöhnliche Gebäude zu. Die Fenster waren beleuchtet, was besonders einladend aussah.

Im Gastraum des Smutje saßen bereits einige Gäste. Trotzdem war zur Mittagsstunde bei Weitem nicht so viel los wie abends. Eggestein führte Jan in den Wintergarten, der als Erweiterungsraum für das Lokal diente. Hier waren die Tische und Bänke etwas rustikaler als im Hauptgebäude.

Die Heizpilze, die Jan bereits am Vorabend gesehen hatte, veranlassten Eggestein, den Reißverschluss seines Parkas aufzuziehen. Jan tat es ihm mit seiner neuen Jacke gleich. Sie hatten sich gerade erst gesetzt, als ein äußerst adrett gekleideter Mann auf ihren Tisch zuschritt. Seine dunkelblaue Hose war modisch aufgeschlagen. Über einem weißen Hemd mit einer zweifarbigen Krawatte trug er eine graue Weste und ein senffarbenes Jackett. Ein Bart umrahmte den unteren Teil seines Gesichtes, jedes Haar schien einzeln gelegt, doch besonders auffällig war sein klarer Blick.

»Der Smutje«, sagte Eggestein, noch bevor der Mann den Tisch erreicht hatte. Jan nickte kurz. Schon war der Namensgeber des Lokals bei ihnen und streckte Jan die Hand entgegen.

»Sie vergeben mir hoffentlich, dass ich Herrn Eggestein von Ihrem gestrigen Besuch hier berichtet habe. Aber Gäste haben mir von dem toten Mädchen am Strand erzählt, und meine Mitarbeiter hatten mir von dem Foto erzählt, das Sie allen gezeigt haben.«

Er sagte tatsächlich Mitarbeiterstatt Angestellte. Automatisch fragte Jan sich, ob der Mann ein so guter Chef war, wie er tat. Trotzdem nickte er und sagte, dass das kein Problem sei. »Aber woher wussten Sie, wo ich zu finden bin?«

Der Smutje öffnete vielsagend die Hände. »Wir leben auf einer Insel.«

»Und auf der entgeht Ihnen offenbar nichts.«

Erneut zeigte der Wirt die geöffneten Hände.

»Ist der Vermieter vom Campingplatz ein Freund von Ihnen?«

»Natürlich. Und Nils hier ist es auch.« Der Smutje legte eine Hand auf Eggesteins Schulter, der im Sitzen noch genauso groß war wie der neben ihm stehende Mann. »Ich würde mich gerne dazusetzen. Hast du was dagegen, Nils?«

Eggestein zuckte mit den Schultern. Deshalb sah der Smutje Jan an.

»Wenn Sie sowieso alles erfahren, was auf der Insel läuft …«

»So ist es«, erwiderte der Smutje mit einem Lächeln, zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Kopfende des Tisches. Dann durfte Jan mit seiner Geschichte beginnen.

Wer war das Mädchen? Was wusste er über sie? Als er erzählt hatte, wie sich seine Recherchen in den letzten paar Tagen abgespielt hatten, und er mit dem Besuch im Studentenwohnheim bei Maria Fernandez endete, sahen Eggestein und der Smutje sich gegenseitig an.

»Das ist alles.«

Eggestein rümpfte die Nase. »Zwei Männer also. Und mit denen soll diese Anna-Lena nach Sylt gekommen sein.«

»So hat es Maria Fernandez erzählt.«

»Wissen Sie, wie die beiden Männer heißen?«

»Nein.«

»Wo wohnen sie?«

»Keine Ahnung. Wenn ich das wüsste, wäre ich bestimmt nicht mit dem Bild in der Gegend herumgelaufen und hätte nach Anna-Lena gesucht.«

»Nein«, stimmte Eggestein zu. »Aber vielleicht haben Sie sie ja irgendwann gefunden. Das könnte doch sein.«

»Glauben Sie das etwa?«

»Was glauben Sie, hat sie da am Strand gemacht?«, fragte Eggestein.

»Na, geklettert«, mischte der Smutje sich ein. »Die Gäste haben gesagt, sie würde genau vor der Steilwand liegen. Also entweder ist sie von oben abgestürzt oder sie ist geklettert.«

»Das Mädchen ist fast nackt«, meinte Eggestein dazu. »Knappe Hose und BH, sonst nichts. Barfuß. Wer klettert denn so ins Kliff?«

Der Smutje runzelte kurz die Stirn. »Was die Leute eben so machen, wenn sie Langeweile haben.«

»Geben Sie mir noch mal Ihr Handy«, bat der Polizist. Jan reichte es ihm. Eine Weile sah Eggestein das Foto an. »Und das da am Stirnband ist eine Kamera, sagen Sie?«

»Eine Actioncam«, stimmte Jan zu. »Benutzen Sportler, um spektakuläre Bilder zu produzieren. Die hat man zuerst hauptsächlich im Profibereich eingesetzt, also Wellenreiter, Fallschirmspringer, Motocrosser. Zur Sponsorensuche und für die Werbung. Doch mittlerweile sind die Kameras in Massen auf dem Markt. Und billig. Also hat heute fast jeder Mountainbiker so ein Ding am Kopf.«

Eggestein wusste, was Jan meinte. »Habe ich schon gesehen. Und solche Filme auch. Machen Spaß.«

Jan stimmte zu.

Dann meinte Eggestein: »Aber das Mädchen da unten am Strand hatte kein Stirnband mit einer Actioncam. Oder haben Sie eine Kamera gesehen?«

Jan schüttelte den Kopf.

»Hier auf dem Foto hat sie eine.«

Der Smutje beugte sich vor und sah über Eggesteins Schulter auf das Display von Jans Telefon.

»Für mich sieht es aus«, sprach der Polizist weiter, »als hätte sie auf dem Foto hier dieselben Klamotten an wie heute auch. Also diesen Sport-BH – man sieht auf dem Foto zwar nicht viel davon, doch ich glaube, es ist genauso ein BH. Stellt sich also die Frage, wo das Stirnband mit der Kamera ist.«

»Da müsst ihr wohl alles noch mal ordentlich absuchen«, empfahl der Smutje. »Denn wenn ihr die Kamera findet, wisst ihr, wie alles passiert ist. Das wäre ziemlich praktisch, würde ich sagen.«

Eggestein nickte. »Es sei denn, jemand hat sie ihr weggenommen.«

»Das wäre dann weniger praktisch«, meinte Jan. Der Polizist und der Smutje sahen sich wieder gegenseitig an, dann drehte Eggestein seinen Blick zurück zu Jan und ließ ihn dort ruhen.

»Ich möchte, dass Sie die Insel nicht verlassen, ohne mir vorher Bescheid zu geben«, sagte der Polizist schließlich. »Lässt sich das einrichten?«

Es klang wie eine Frage. Doch auch diesmal war es keine.

5

Das Angebot, mit einem Streifenwagen zurück zum Campingplatz gefahren zu werden, lehnte Jan ab. So weit war es zu Fuß nicht, und er konnte den Spaziergang gut gebrauchen, um seine Gedanken zu ordnen. Der Wind, der ihm um die Nase wehte, holte ihn ein Stück in die Wirklichkeit zurück. Das Gespräch mit Eggestein und viel mehr noch der Anblick der toten Anna-Lena am Strand hatten ihn heftiger mitgenommen, als er es sich zunächst eingestehen wollte.

Anna-Lena Thumsen war nicht die erste Tote, die er gesehen hatte. Für einen Lokalreporter gehörten Blaulichtgeschichten zum Geschäft. Nicht selten war Jan für das Harburger Tageblatt an Unfallstellen und Orten von Verbrechen gewesen. Manchmal schon, bevor es zum Abtransport der Toten gekommen war. Er hatte Erschossene, Erstochene und Ertrunkene gesehen. Und trotzdem hatte ihn das Bild der toten Anna-Lena mehr erschüttert als alle anderen Toten bisher.

Jan wusste auch, warum. Er kannte ihren Namen, ihr Gesicht und einen Teil ihrer Lebensgeschichte, schon bevor Anna-Lena gestorben war. Bei allen anderen Toten, über die er in der Zeitung berichtet hatte, war es andersherum gewesen.

Er dachte daran, dass Anna-Lena noch gelebt hatte, als er auf der Insel ankam. Wenn er mit seinen Nachforschungen schneller gewesen wäre, wenn er sie wirklich gefunden hätte, würde sie dann vielleicht noch leben?

Was, wenn er doch in ihr Wohnheimzimmer gekommen wäre? Vielleicht eine hingekritzelte Notiz gefunden hätte? Vielleicht einen Name oder eine Adresse auf Sylt. Er hätte Maria Fernandez weiter bearbeiten müssen. Vielleicht sogar bestechen. Jan war überzeugt davon, dass sie einen Ersatzschlüssel für Anna-Lenas Zimmer hatte. Stattdessen hatte er seine eigene Spürnase überschätzt und war ohne direkte Spur nach Sylt gefahren. Hatte er deshalb Mitschuld an Anna-Lenas Tod? Der Gedanke war irrational, trotzdem fühlte es sich so an, als würde er stimmen.

Langsam ging Jan an der Anmeldung vom Campingplatz vorbei. Als er den alten Martens in der Nähe des Flachbaus mit den Sanitäranlagen sah, hob dieser grüßend den Arm. Zuerst wollte Jan wortlos weitergehen, dann entschied er sich anders. Er war plötzlich ärgerlich auf den Verwalter, hatte der ihn doch quasi verraten. Wen ging es etwas an, dass Jan auf dem Campingplatz wohnte? Warum erzählte Martens dies in der Gegend herum?

6

Der Mann, dem Sonne und Wind das Gesicht seit gut 70 Jahren gegerbt hatten, steckte in einer Arbeitshose und einem an den Ärmeln zerschlissenen Wollpullover.

»Wie ich höre, sind Sie und der Smutje vom Kliff gute Freunde«, konfrontierte Jan den überrascht blickenden Mann ohne vorherige Begrüßung. Es klang wie eine Beschuldigung und war auch so gemeint.

»Wer sagt denn so was?«

»Der Smutje.«

»Der Smutje? So ein Blödsinn. Wir sind keine Freunde, das können Sie mir glauben.«

»Und woher weiß er dann, dass die Polizei mich hier finden kann? Zu mir hat er gesagt, Sie hätten es ihm erzählt.«

Martens machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der erzählt mal dies und mal das, dreht die Dinge, wie sie ihm gefallen.«

»Sie meinen, der Smutje lügt?«

Martens zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie es so nennen wollen. Ich glaube, Leute wie er nennen das einen kreativen Umgang mit den Fakten. Aber vielleicht hat jemand Ihren Wagen am Tor gesehen. Gibt hier ja im Winter nicht so viele Autos mit HH. Und das hat der dann dem Smutje gesteckt.«

»Und der hetzt prompt die Polente auf mich?«

»Hat er das?«

Jan nickte, erzählte dann in knapper Form von Anna-Lena Thumsen und was ihn mit der Toten verband, während er mit dem alten Mann ein paar Meter über den Platz ging. Martens hörte aufmerksam zu. Dann blieb er auf Höhe einer einsamen Birke stehen. Der Baum hatte schon bessere Tage gesehen. Aber da er der einzige auf dem Campingplatz war, störte das hier niemanden. Martens zog ein Stofftaschentuch aus der Hose und schnaubte hinein. Umständlich knüllte er es wieder zusammen und steckte es weg.

»Das mit dem Mädchen tut mir leid«, sagte er, nachdem er das Zeremoniell beendet hatte. »Davon habe ich noch gar nichts gehört. Wann ist das passiert?«

»Am Vormittag. Aber offenbar hat niemand etwas gesehen. Jedenfalls glaubt Kommissar Eggestein jetzt, dass ich was mit der Sache zu tun haben könnte.«

»Haben Sie?«

Jan hob die Augenbrauen. »Natürlich nicht. Ich war hier im Wohnwagen.«

»Dann ist es doch gut.«

»Finde ich gar nicht.«

»Eines müssen Sie wissen: Der Smutje denkt nur ans Geld scheffeln. Da kann er noch so vornehm tun«, sagte Martens. »Die Restaurantgeschichte ist ja nur ein Hobby. Die richtige Kohle macht der feine Herr mit Immobilien. Hier, den Campingplatz wollte er sich auch schon unter den Nagel reißen, aber das hat nicht geklappt. Deshalb ist er heute noch sauer auf mich.«

Jan versuchte, das Gehörte einzuordnen. »Der Smutje wirkt so entspannt und freundlich. Auch wie er mit seinem Personal umgeht.«

Martens lachte auf. »Wenn er gut ist in dem, was er macht, muss er wohl so wirken. Sie sind nicht der Erste, der auf seine freundliche Art reinfällt. In Wahrheit sind der Smutje und Seinesgleichen doch verantwortlich dafür, dass hier alles den Bach runtergeht.«

Jan brauchte nichts dazu zu sagen, ein fragender Blick reichte, um Martens zum verbalen Rundumschlag ausholen zu lassen. Offenbar lagen bei dem Mann die entsprechenden Nerven blank. »Na, gucken Sie mal, was die aus der Insel gemacht haben. Nur noch Ferienwohnungen und Appartementanlagen, Golfplätze und Luxusherbergen. Die normalen Leute können sich das hier nicht mehr leisten. Gibt fast keine Kinder mehr. Wie auch? Sogar die Geburtsabteilung im Krankenhaus haben sie dichtgemacht. Weil es sich nicht mehr gelohnt hat. Kapiert?«

»Und das ist die Schuld vom Smutje?«

»Der Smutje, die Klenke und wie die ganzen Immobilienhaie sonst noch heißen. Wissen Sie, wie die das nennen, was sie machen? Na?«

Jan wusste es nicht.

»Filetieren und panieren. Ja, genau, mein Freund. Alles kleinhacken und in Häppchen verscherbeln. Wie hier mit dem Platz. Aber da hab ich nicht mitgemacht. Sonst wäre ich jetzt auch millionenschwer, das können Sie mir glauben. Aber da mache ich nicht mit.«

»Der Platz gehört Ihnen?«

»Klar ist das meiner. War schon immer in Familienbesitz. Und so wird das auch bleiben, solange ich noch lebe. So sieht das nämlich aus.« Martens holte erneut sein Stofftaschentuch aus der Hose und putzte sich die Nase. »Zuerst haben sie es ja mit diesem Wolkenkratzerding versucht. In den 70ern. Weiß heute fast keiner mehr. Aber die wollten tatsächlich ein Hotel mit 33 Stockwerken an den Strand stellen. 100 Meter hoch. Stellen Sie sich das mal vor. 100 Meter. Und mit über 1000 Parkplätzen in einer Tiefgarage. Ein Wahnsinn. Aber da haben sie nicht mit mir gerechnet. Wir haben ’ne schöne Bürgerinitiative gegründet. Ja, ja. Da hatte ich noch mehr Mumm in den Knochen als heute.«

Martens grinste kurz. »Haben wir denen schön versaut. Danach haben der Smutje und die Klenke angefangen, alles, was sie sich unter den Nagel reißen konnten, in kleine Häppchen zu hacken und Reibach zu machen. Hat zwar etwas länger gedauert, aber wir sehen ja, was wir heute davon haben: den höchsten Quadratmeterpreis von ganz Deutschland.

Und Sie haben gedacht, den gibt’s in München oder Frankfurt, was? Quatsch. Hier bezahlen die Leute sich dumm und dämlich. Hier parken die Reichen ihre Vermögen. Und die meiste Zeit des Jahres stehen die Wohnungen und Häuser dann leer. Ist das noch anständig, hä? Aber ich rege mich schon wieder auf. Das will ich eigentlich gar nicht mehr. Ist nicht gut für meine Pumpe.«

Martens hob den Blick und besah die geschlossene Wolkendecke. »Ich muss jetzt sowieso weitermachen. Schlechtwetter kommt auf. Da muss ich alles sturmfest machen.«

Jan folgte Martens Blick zum Himmel. Der war zwar grau, sah aber nicht viel anders als die Tage zuvor aus. »Sicher?«

»Sicher kann man sich nie sein«, meinte Martens nun wieder lachend und strich sich über den Bart. »Aber die vom Wetterdienst haben Orkan angesagt. Und da stellt man sich doch besser mal auf ein bisschen mehr Wind ein. Ich komme nachher auch noch mal bei Ihrem Wagen vorbei. Dann gucken wir zusammen, ob alles in Ordnung ist. Wir wollen ja nicht, dass Sie damit abheben, was? Nein, das wollen wir nicht.«

Lachend marschierte der Mann in seiner abgewetzten Hose und dem blauen Wollpullover über den Schotterweg davon. Einen Millionär hatte Jan sich immer anders vorgestellt. Als Martens aus seinem Blickfeld verschwand, sah Jan wieder nach oben. Nun bemerkte auch er, wie die Wolken vom Wind gejagt wurden.

7

Jan brühte sich einen Kaffee auf und stellte sich dabei die Frage, wie er weitermachen sollte. Anna-Lena war tot, aber war mit ihr auch die Story gestorben? So pietätlos es klang, ihr Tod machte alles nur noch dramatischer. Die Videos und ihre unverhohlene Sensationslust waren bereits eine Geschichte wert gewesen, aber nun …

War es unanständig, wenn Jan weiter nach den Produzenten der Filme suchte? Durfte er einen Artikel über sie schreiben, obwohl Anna-Lena einen so schrecklichen Tod gefunden hatte? Oder musste er es gerade deswegen tun?

Jan blickte aus den niedrigen Fenstern. Plötzlich kam es ihm in dem Wohnwagen viel dunkler und auch kleiner vor als bei seiner Ankunft. Für eine Weile schloss er die Augen, dann gestand er sich ein, dass er um Anna-Lena trauerte. Auch wenn das verrückt war. Er hatte sie nie getroffen. Er kannte sie nur aus einem kleinen Filmchen. Das war alles. Trotzdem trauerte er um sie.

Wie konnte es zu ihrem Tod kommen? Warum war er nicht schneller gewesen?

Die Quelle, durch die Jan auf die Internetvideos aufmerksam gemacht wurde, hatte sich fast so geheimnisvoll wie Deep Throat aus der Watergate-Affäre gegeben. Statt sich – wie sein Vorbild – mit einem Journalisten in einer Tiefgarage zu treffen, hatte er die Chat-Funktion einer Schach-App fürs Smartphone gewählt. Jan musste sich bei der App registrieren. Der Unbekannte forderte ihn zu einem Spiel auf. Nachdem Jan die Partie angenommen hatte, konnten sie fernab der üblichen Messenger-Dienste miteinander korrespondieren. Jan bekam mehrere Links zu Videodateien. Der Unbekannte schrieb, dass er sich Sorgen um das mit dem Paintballgewehr gejagte Mädchen mache. Warum er besorgt war, schrieb er nicht. Da war Jans Interesse aber auch schon so weit geweckt, dass er nicht weiter nachhakte.

Während der aufkommende Wind die Fensterdichtungen des Campingwagens prüfte, klappte Jan sein Notebook auf und öffnete noch einmal den nun schon so oft gesehenen Film.

Eine Kamera schwenkte über verlassene Betonbauten und einen großen leeren Platz. Nur Steine und Asphalt. Löwenzahn fraß sich durch winzige Fugen. Je ein Baum links und rechts des großen Platzes. Dann konnte man Anna-Lena sehen. Jedenfalls einen Teil von ihr. Ein Turnschuh sprang großformatig ins Bild.

Schnitt auf eine zweite, erhöhte Kamera. Totale vom menschenleeren Platz. Das Mädchen presste sich an eine Häuserecke, guckte darum herum, schien zu überlegen.

Obwohl nicht viel passierte, lag eine unaussprechliche Spannung in der Luft.

Plötzlich rannte Anna-Lena los, schlug ein paar Haken, rannte weiter. Sie trug nur die Turnschuhe, eine unfassbar kurze Hose und einen Sport-BH.

Plötzlich schlug neben ihr etwas auf dem Boden ein. Ein Geschoss. Blaue Farbe spritzte über die Pflastersteine. Anna-Lena hüpfte zur Seite, legte einen Zickzackkurs ein. Wieder wurde auf sie geschossen.

Jan hatte das Video schon zigmal gesehen. Trotzdem biss er sich auf die Unterlippe. Er wünschte sich, dass Anna-Lena entkam, wusste aber, dass eines der nächsten Geschosse treffen würde.

Als es so weit war, klappte Jan das Notebook zu, ohne es vorher auszuschalten. Seine Hand zitterte. Der Schachspieler, so nannte Jan seinen unbekannten Informanten wegen der App, über die sie kommunizierten, hatte mit seiner Befürchtung recht behalten.

Aber warum hatte er sich überhaupt Sorgen gemacht? Das Spiel, auf das Anna-Lena sich eingelassen hatte, war geschmacklos, aber gefährlich schien es nicht zu sein. Woher kam diese Vorahnung?

Wieder in Hamburg würde Jan versuchen, mehr über den Schachspieler herauszufinden. Doch vorher waren die Produzenten der Videos dran. Sie waren mit ziemlicher Sicherheit noch auf der Insel. Und wenn sie hier waren, würde Jan sie auch finden.

8

Jan hob den Blick und sah zu einem kleinen Wandbord auf, das in dem Campingwagen oberhalb einer Sitzecke verlief. Es war eine Ablagefläche für Bücher und andere Sachen. Weil Charlotte gerne Tee trank und alle Arten von Kräuteraufgüssen, die sich ebenfalls Tee nannten, obwohl sie nicht von der Teepflanze stammten, liebte, hatte Jan ihr in einem kleinen Teeladen eine besondere Spezialität gekauft. Da war er mit dem Screenshot noch auf der Suche nach Anna-Lena gewesen. Um die Videoproduzenten zu finden, würde er sich etwas Neues einfallen lassen müssen.

Kandierte Ingwerstückchen.

Mit heißem Wasser aufgegossen, sollte das Gebräu nach Aussage des Verkäufers süß schmecken, ohne den Geschmack des Ingwers zu verlieren, und wahre Wunder bei Erkältungen, Bauchschmerzen und allgemeiner Schlappheit bewirken. Jan wusste, dass er Charlotte damit eine Freude machen würde.

Charlotte fehlt ihm. Sie war für ihr Buchprojekt nach Mallorca gereist. Vor über zwei Monaten. Wann genau sie zurückkommen würde, wusste sie bei ihrer Abreise noch nicht. Jan hatte das akzeptiert. Er freute sich sogar für sie. Aber natürlich vermisste er sie auch. Er vermisste ihr Lachen, er vermisste ihre Begeisterung, wenn sie über Sachen sprach, die ihr neu waren und gut gefielen, und er vermisste den Sex mit ihr.

Er schlief gerne neben Charlotte ein und wachte gerne am nächsten Morgen neben ihr auf. Manchmal in seiner neuen Wohnung, meistens bei ihr. Aber was würde es bringen, wenn er sie jetzt anriefe, um ihr das zu sagen? Er würde ihr nur die Reise vermiesen. Sie sollte kein schlechtes Gewissen bekommen. Und auf keinen Fall sollte sie die Reise nur für ihn vorzeitig abbrechen.

Bisher hatten sie sich hauptsächlich Kurznachrichten geschickt, und das auch nur sehr unregelmäßig. Sie war sicherlich mit anderen Dingen beschäftigt, und er wollte ihr nicht das Gefühl geben, an ihr zu kleben.

Doch plötzlich wurde in Jan das Verlangen übermächtig, Charlottes Stimme zu hören. Er wusste, dass es mit seiner Trauer um Anna-Lena zu tun hatte. Trotzdem stand er auf, um das Telefon aus seiner Jacke zu holen. Er würde Charlotte anrufen. Jetzt.

Doch gerade als er die Taschen abtastete, begann das Handy zu klingeln. Als er es endlich fand, war das Klingeln schon wieder verstummt.

Jan rief das Anrufprotokoll auf. Die Nummer, die als Letztes angezeigt wurde, kannte er nicht.

»Sie haben gerade bei mir angerufen«, sagte Jan, als sich eine männliche Stimme auf seinen Rückruf gemeldet hatte. Behrens, wiederholte Jan den genannten Namen im Kopf. Aber er sagte ihm nichts.

»Jan Fischer?«, fragte die Stimme. »Sie haben mich vorgestern nach einem Mädchen gefragt. Das Foto, wissen Sie noch?«

»Sie sind noch mal wer?«

»Der Taxifahrer. Sie haben mich am Bahnhof angequatscht.«

Sofort hatte Jan ein paar Bilder vor Augen. Bahnhof Westerland. Skulpturen, die sich auf dem Vorplatz mit wehenden Haaren gegen den Wind stellten. Und ein mürrischer Kerl in einem Taxi.

»Wie hieß die Kleine noch mal?«, wollte die Stimme wissen. »Ich habe den Namen vergessen, den Sie gesagt haben.«

Jan antwortete nicht, also sprach die Stimme weiter. »Sie wissen, was mit dem Mädchen passiert ist?«

»Wissen Sie es?«, entgegnete Jan.

»Ist ja nicht so schwer«, meinte der Taxifahrer. »Der Spion hat vor einer Stunde darüber berichtet.«

»Der Spion?«

»Ja. Der Sylter Spion. Kennen Sie nicht?« Jan konnte hören, wie der Mann die Nase hochzog. »Ist eine Internetseite hier auf Sylt. Wird von ’nem jungen Burschen gemacht. Die Seite heißt so, und deshalb nennen alle den Jungen auch den Spion.«

»Okay, verstanden. Und was berichtet der Spion?«

»Na, er hat ein Foto von der Kleinen, wie sie am Strand liegt. Tot. Sanis sind auch schon da. Aber da soll nichts mehr zu machen gewesen sein. Sie ist von der Klippe gefallen. Dachte, Sie sollten das wissen. Na, weil Sie ja nach ihr suchen.«

Jan nickte. »Danke. Das ist nett von Ihnen. Aber tatsächlich wusste ich es schon.«

»Dann ist es ja gut. Hoffe, Sie sind nicht selber betroffen. Oder war das ’ne Verwandte von Ihnen?«

Nun begriff Jan, was den Mann zu seinem Anruf veranlasst hatte. Offensichtlich wollte er Informationen aus Jan herausholen. Erst die Frage nach dem Namen der Toten und nun, ob Jan ein Angehöriger sei. Vermutlich hatte der Mann vor seinen Kollegen am Taxistand damit angegeben, dass er mehr über die Sache wisse als der Spion. Mit Sicherheit zeigte er die Visitenkarte rum, die Jan ihm am Bahnhof gegeben hatte. Und als die anderen ihn anstachelten, rief er die Nummer an, um zu sehen, ob er von Jan noch mehr über das Mädchen erfahren konnte und darüber, was sie auf der Insel gemacht hatte.

»Wir waren nicht verwandt«, sagte Jan nach einem Augenblick des gespannten Schweigens. »Wie Sie selbst bei unserem ersten Gespräch festgestellt haben, bin ich von der Presse.«

»Aber Sie haben auch gesagt, es geht um was Privates.«

»Stimmt. Das habe ich. Aber das geht Sie eigentlich nichts an.« Jan war geneigt, das Gespräch möglichst schnell zu beenden.

»Nee, ich weiß. Habe auch nur so gefragt. Und weil ich wollte, dass Sie es wissen. Also, was mit ihr passiert ist.«

»Danke.«

»Schon okay. Wissen Sie, ich habe mit den Kollegen darüber gesprochen. Denen tut es natürlich auch leid, was passiert ist.«

Darauf entgegnete Jan nichts.

»Das Bild, das Sie mir gezeigt haben, das konnte ich denen natürlich nicht zeigen.«

Jan sagte nichts.

»Vielleicht könnten Sie es mir noch mal zuschicken? Auf die Nummer, die bei Ihnen angezeigt wird.«

Ein Kloß ballte sich in Jans Magen zusammen. »Wozu?«

»Zur Bestätigung«, antwortete der Mann. Und bevor Jan die Verbindung wütend trennen konnte, fügte er hinzu: »Eine Kollegin glaubt nämlich, dass sie das Mädchen gefahren hat, als es letzte Woche hier angekommen ist.«

Sofort hob Jan das Kinn und drückte das Telefon wieder fester ans Ohr.

»Na ja, aber sie ist sich nicht sicher. Das Foto beim Spion ist nicht so ganz eindeutig. Man sieht nicht viel von ihrem Gesicht. Ist es nicht komisch, dass sie nur in diesen kurzen Klamotten unterwegs war? Ich meine, bei den Temperaturen?«

»Hat sie eine Adresse?«

»Wer?«

»Ihre Kollegin.«

»Die Steffi?«

»Wenn sie so heißt …«

»Ja.«

»Und?«

»Und was?«

»Wo hat Steffi die Frau hingefahren?«

9

Jan bog auf die Hauptstraße Richtung Norden. Die Adresse, die Behrens ihm genannt hatte, lag in Kampen. Zu Fuß kaum eine halbe Stunde vom Campingplatz entfernt, mit dem Auto keine zehn Minuten. Es war unglaublich, wie nahe Jan dem Mädchen schon gekommen war, nach dem er gesucht hatte. So dicht. Und doch hatte er es nicht gefunden. Und nun war es zu spät.

Ein Hinweisschild wies auf halbem Weg zur Uwe-Düne, der höchsten Erhebung Sylts. Bei gutem Wetter konnte man von der Holzplattform auf ihrer Spitze bis zur Nachbarinsel Rømø sehen, die schon zu Dänemark gehörte. Jan war am Vortag oben gewesen. Nur aus Neugier. Wie viel Zeit hatte ihn die Aktion gekostet? Eine Stunde vielleicht? Eine Stunde, in der er nach Anna-Lena hätte suchen können.

Jan schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf die Straße.

Die Bebauung Kampens richtete sich hauptsächlich Richtung Festland aus. Eine mit Heide bewachsene Dünenlandschaft machte den Charakter des Ortes aus. Nur wenige Gebäude, darunter ein Restaurant und ein Hotel, befanden sich westlich der Hauptstraße. Kleine Stichwege führten zu ihnen. In ebenso einen Stichweg wurde Jan vom Navigationssystem des Wagens dirigiert. Das Haus, das er suchte, lag am Ende einer kurzen Sackgasse. Villa passte eigentlich besser.

Obwohl das Gebäude im Stil den alten Fischer- und Walfängerhäusern von Sylt nachempfunden und traditionell mit Reet eingedeckt war, konnte Jan bereits von der Straße aus leicht erkennen, dass es sich um ein Luxusdomizil handelte. Die Wohnfläche auf zwei Geschossen musste über 300 Quadratmeter betragen. Im Spitzgiebel der Eingangsfront gab es auf Höhe des Dachbodens ein Bullauge, alle anderen Fenster hatten weiße Sprossen. Die große grüne Haustür war zweiflügelig. Ein Weg aus Granitpflaster führte direkt darauf zu. Umschlossen wurde das Grundstück von einer niedrigen weiß verputzten Mauer und einer nur gelegentlich von Büschen unterbrochenen Rasenfläche.

Ein paniertes Filetstückchen.

Die Villa stand hier ganz allein. Weit und breit kein anderes Haus.

Jan hielt die Videoproduzenten für junge Männer. Vielleicht waren sie wie Anna-Lena auch Studenten. Der Schachspieler hatte eine entsprechende Andeutung gemacht, ohne es weiter auszuführen. Auf Nachfrage hatte er ausweichend geantwortet und dann das Thema gewechselt.

Jan hielt auch den Schachspieler für nicht besonders alt.

Aber wie konnten sich Studenten eine solche Unterkunft leisten? Selbst wenn es im Winter Sonderpreise gab? Die Miete konnte auch jetzt kein Pappenstiel sein.

Jan legte kurz die Stirn in Falten, während er den kurzen Weg zur beeindruckenden Eingangstür ging. Kein Name an der Klingel. Vielleicht hatte die Taxifahrerin etwas verwechselt. Anna-Lenas Gesicht zum Beispiel. Oder sie hatte einfach nur Quatsch erzählt.

Trotzdem musste Jan vorsichtig sein. Wenn die Leute, mit denen Anna-Lena angereist war, von ihrem Tod wussten, konnten sie gefährlich sein. Genau betrachtet, konnten sie sogar etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben. Alles sah nach einem Unfall aus. Anna-Lena war vom Kliff gestürzt. Aber ihr Aufzug verriet, dass sie den halsbrecherischen Stunt für eine weitere Videoproduktion hingelegt hatte.

Besonders gerne würden sich die Macher des Films von einem neugierigen Journalisten keine Fragen stellen lassen. Diese zum Beispiel: Warum haben Sie das Mädchen einfach am Strand liegen gelassen?

Jan klingelte.

Niemand reagierte.

Bevor er nach Kampen gefahren war, hatte Jan einen Augenblick überlegt, Eggestein anzurufen und ihm von der Adresse zu erzählen. Wenn Anna-Lena in diesem Haus gewohnt hatte, würde das den Mann von der Kriminalpolizei natürlich interessieren. Doch dann hatte Jan sich entschieden, erst einmal selbst hinzufahren.

Jan trat einen Schritt zurück und sah zu den Fenstern. Nichts rührte sich, keine Gardine wurde bewegt.

Das Haus war verlassen.

Irgendwie war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Wenn die Videoproduzenten hier mit Anna-Lena gewohnt hatten, dann hatten sie sich vermutlich nach dem tödlichen Absturz des Mädchens so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Wenn sie denn hier gewohnt hatten.

Um ganz sicher zu gehen, ging Jan ums Haus. Der schmale Weg war eine Fortführung des Granitpflasters, das von der Straße zum Haus führte. An einem Fenster legte er ungeniert die Stirn gegen das Glas und schirmte mit den Händen das seitlich einfallende Licht ab.

Was er sah, war eine sehr teuer eingerichtete Küche. Er sah aber auch, dass auf einem Tisch und der Arbeitsfläche neben der Spüle benutztes Geschirr stand. Ein angebrochenes Paket Toast und leere Pizzaschachteln lagen herum.

Vielleicht war die Adresse doch nicht so verkehrt. Jedenfalls musste hier bis vor Kurzem jemand gewohnt haben. Und dieser jemand hatte vor seiner Abreise nicht aufgeräumt. Wenn er denn abgereist war. Schon wiederein Wenn.

Dieser Gedanke beschäftigte Jan noch, dann sprang er reflexartig vom Fenster zurück. Direkt hinter der Scheibe war ein Gesicht aufgetaucht. Wut stand darin geschrieben. Die Augen waren weit aufgerissen, die Stirn gekraust und die Lippen fest aufeinander gepresst.

Wild gestikulierte eine Frau hinter dem Fenster und beschimpfte ihn, ohne dass Jan die Worte verstehen konnte. Das Isolierglas dämpfte die Geräusche zu sehr. Doch es war klar, dass die Frau ernsthaft böse auf ihn war. Jan war für sie nicht mehr als ein Spanner, der sich die Nase am Fenster platt drückte.

Es war aber nicht der sich über ihn ergießende Zorn, der Jan so erschreckt hatte und sein Herz rasen ließ. Es war das Gesicht selbst. Das kantige Kinn und die hohen Wangenknochen, an denen ein Luftballon bei der leichtesten Berührung zerplatzt wäre. Auch wenn es unmöglich schien: Hinter dem Fenster drohte ihm Anna-Lena Thumsen mit geballter Faust.

Auch als die Haustür aufgerissen wurde und die junge Frau zu ihm in den Vorgarten stürmte, hatte Jan die Überraschung noch nicht überwunden.

Freundinnen, dachte er. Oder sogar Schwestern. Ich darf ihr nichts sagen. Nicht einfach so. Erst mal sehen, was sie weiß.

»Was soll das? Glotzen Sie immer bei fremden Leuten durchs Fenster?«

»Ich habe vorher geklingelt.«

»Na und?«

»Ich weiß, das war trotzdem nicht in Ordnung. Aber ich habe jemanden gesucht. Und da wollte ich sehen, ob das hier das richtige Haus ist.«

»Und wer soll das sein?«

Vorsicht, Jan. Sag nicht zu viel …

»Zwei Videoproduzenten aus Hamburg. Und eine Frau.«

Das Gesagte traf ins Schwarze. Die junge Frau sah ihn abschätzend an. »Warum suchen Sie diese Leute?«

»Ich bin Journalist. Die Videos dieser Männer und der Frau sind ein echtes Phänomen. Wahnsinnige Klickzahlen. Ich will einen Artikel darüber schreiben.«

»Sie sind von der Presse?«

»Ganz genau«, bestätigte Jan. »Ich will über die Produktion schreiben. Über die Menschen, die sich so was ausdenken. Ob es weitere Projekte gibt. Und so …«

Der Blick der Frau lag auf Jans Gesicht, dann wanderte er zur Seite. Hinter seinem Rücken schwoll das Dröhnen eines starken Motors an. Als Jan sich umdrehte, sah er einen VW Amarok über den Asphalt rollen. Obwohl der Pick-up weiß lackiert war, ging allein von seinem wuchtigen Äußeren eine Art Bedrohung aus. Dazu grollte ein Sechszylinder-Turbomotor dunkel und böse.

10

Das Rollband lief mit stoischer Gelassenheit an den Fluggästen vorüber. Charlotte Sander stand mit einem in die Ferne gerichteten Blick daneben, strich sich mit Mittel- und Zeigefinger mehrfach über die Lippen und bemerkte zunächst gar nicht, wie ihr Koffer an ihr vorüberglitt. Dann schien sie wie aus einem Traum zu erwachen, ging an einigen anderen Passagieren vorbei, die sie vom Sehen aus dem Flugzeug kannte, und zog das Gepäckstück vom Transportband. Zwei Monate war sie nicht in Hamburg gewesen.

Ein Winter auf Mallorca war der Titel eines Essaybandes von George Sand ebenso wie die zur selben Zeit komponierten 24 Préludes von Frédéric Chopin. Erst im Februar 1839 war das Liebespaar in seine Heimat zurückgekehrt. Charlotte hatte die Spuren der beiden Künstler verfolgt, hatte 100e Fotos im Gepäck, die im Auftrag eines Buchverlags entstanden waren. Ihre eigene Reise war nun auch zu Ende. Oder etwa nicht?

Unruhe nagte an Charlotte. Für den Winter in Hamburg war sie zu dünn angezogen, doch auch das bemerkte sie kaum, während ihre hochhackigen Stiefel durch die Flughafenhalle zum Ausgang klackerten.

Charlotte war ein auffälliger Typ. Sie war groß, sie kleidete sich grell, ihr Kopf bestand fast nur aus Locken, und ihre Augen leuchteten in einem derart intensiven Grün, dass sie das Gesicht noch mehr als der Leberfleck über dem linken Mundwinkel dominierten. In aufrechter, geradezu stolzer Haltung zog Charlotte ihren Trolley hinter sich her. Da niemand wusste, dass sie an diesem Tag nach Hause kam, war niemand da, um sie zu begrüßen. Auch Jan nicht.

Jan.

Dachte Charlotte an seinen Namen, dann dachte sie automatisch auch an sein Gesicht. Und an seine Hände.

Sie musste mit Jan sprechen. Am besten sofort.

Mit der Rolltreppe fuhr Charlotte zum S-Bahnhof hinunter. Die hell erleuchtete Stadt glitt während der Zugfahrt hinter den Fenstern vorbei. Etwas Regen schlug gegen die Scheiben. Am Hauptbahnhof stieg Charlotte in die Bahn Richtung Harburg um. Zwischenzeitlich hatte sie ihre Jacke aus dem Koffer geholt.

Der Winter auf Mallorca war auch nicht warm, im Gegenteil, häufig regnerisch und trüb, doch das Klima der Mittelmeerinsel war trotzdem kein Vergleich zu den Temperaturen in Hamburg. Ein kalter Atem zog durch die Stadt. Die Leute in der S-Bahn waren entsprechend vermummt: dicke Stiefel, dicke Jacken, Wollmützen. Charlotte fand einen Sitzplatz, stellte den Rollkoffer vor ihre Knie.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein. Irgendwie falsch.

Vermutlich würde sich dies bald geben. Denn sie hatte so etwas schon früher erlebt. Nach Flugreisen brauchte Charlotte immer eine Weile, um auch gefühlsmäßig wieder in der Heimat anzukommen. Sie hoffte, dass es auch diesmal so sein würde. Aber sie wusste es nicht mit Bestimmtheit. Denn einiges hatte sich geändert. Die Charlotte Sander, die vor zwei Monaten nach Spanien geflogen war, war eine andere gewesen.

11

Ohne ihr Gepäck erst nach Hause zu bringen, ließ Charlotte sich mit einem Taxi vom Harburger Bahnhof direkt in den Hafen fahren. Sie wollte Jan sofort sehen. Zwei Monate war sie fort gewesen. Bilder und Erinnerungen schossen ihr während der Fahrt durch den Sinn.

Mallorcas Olivenhaine im Winter. So trostlos und doch erhaben. Dann das Weihnachtsfest, das so anders als in Deutschland gefeiert wurde. Statt eines Tannenbaums wurde zu Heiligabend eine Krippe im Haus aufgebaut. Den Abend verbrachte man mit Essen, Trinken und viel Lachen. Geschenke gab es da noch keine, die wurden erst im Januar gebracht, zum Festtag der Heiligen Drei Könige. Diese erreichten am Abend des fünften Januars auf geschmückten Schiffen das Land. Ein jubelnder Tross zog anschließend mit Karren voller Geschenke durch die Straßen. Am nächsten Morgen fanden die Kinder ihre Gaben zu Hause im Wohnzimmer vor.

George Sand und Frédéric Chopin waren bei ihrem Aufenthalt auf der Insel nicht sehr glücklich. Als nicht verheiratetes Paar wurden sie 1838 von den meisten Einheimischen mit nur wenig Herzlichkeit empfangen. Ganz anders war es Charlotte ergangen. Die Freundlichkeit, mit der die Insulaner sie behandelten, war überwältigend.

Zu den meisten Fotolocations war Charlotte allein mit ihrem Mietwagen gefahren. Immer hatte sie das Buch von George Sand dabei. Sie wollte die Stimmung spüren, die diese über 100 Jahre alten Texte durchdrang, um so die richtigen Fotos zu schießen. Doch manchmal war auch Javier Moreno bei ihr, ein Lokaljournalist, den ihr der Buchverlag als Unterstützung zur Seite gestellt hatte, oder Lucia, Javiers zwei Jahre ältere Schwester. Beide kannten Wege und Orte, die Charlotte allein niemals gefunden hätte. Und beide waren überaus liebenswerte Menschen. Wie liebenswert, hätte Charlotte zu Anfang selbst nicht gedacht.

Das Taxi schlängelte sich vom Harburger Hafen die Straße am Deich entlang. Seit etwas mehr als einem Jahr wohnte Jan in der ehemaligen Kirche, die eine Evangelistengemeinde am Ufer der Süderelbe gebaut und dann nach einer Weile wieder verlassen hatte. Es handelte sich zweifellos um ein ungewöhnliches Zuhause. Die ersten Monate hatte Jan dort ganz allein gewohnt, doch dann zog er sich in die im ersten Stock liegende Einliegerwohnung zurück, die ursprünglich für den Verwalter des Gebäudes vorgesehen war, und überließ den großen Gemeindesaal Christian Freitag für sein Lauffeuer.

Christian hatte bereits mit Jan und Charlotte beim Harburger Tageblatt zusammengearbeitet, bevor dieses wegen sinkender Zahlen bei Lesern und Werbekunden eingestellt wurde. Nach einer kurzen Gründungsphase brauchte Christian dringend einen Ort, wo er sein neues Online-Magazin Lauffeuer produzieren konnte. Die Mieten in Harburg oder auch andernorts waren für das finanziell ohne Reserven arbeitende Lauffeuer zu hoch. Jan hingegen verlangte fast keine Miete. Er war froh, nicht mehr allein in dem riesigen Gebäude zu sein und gleichzeitig einem Freund helfen zu können.

Die ehemalige Kirche stand einsam in der Gegend. Ohne Kirchturm trotzte sie wie mit eingezogenem Kopf Wind und Regen. Manchmal konnte man sie wegen des Nebels, der von der Süderelbe heraufkroch, gar nicht sehen. Doch als sich das Taxi ihr heute näherte, lag sie in einer der im Februar seltenen Sonnenstunden da. Die neben dem Gebäude geparkten Autos sagten Charlotte, dass in der Redaktion gearbeitet wurde. Jans Auto konnte sie allerdings nicht entdecken.

Charlotte bezahlte den Taxifahrer, ließ sich ihren Koffer geben und schlich die Treppe zur Einliegerwohnung hinauf, ohne vorher in der Redaktion Hallo zu sagen. Sie mochte die Mitarbeiter des Lauffeuers zwar sehr, im Moment wollte sie aber nur mit Jan reden.

Die Tür zur Wohnung war abgeschlossen. Das war schon mal ungewöhnlich. Normalerweise verließ Jan sich darauf, dass alle, die zur Haupteingangstür im Erdgeschoss hereinkamen, in die Redaktion wollten und sich nicht nach oben zu ihm verirrten. Er schloss die Wohnung eigentlich nur dann ab, wenn er plante, über Nacht weg zu sein. Und das geschah wiederum in der Regel nur dann, wenn er bei Charlotte schlief.