T A U B - Wolfgang Hölzle - E-Book

T A U B E-Book

Wolfgang Hölzle

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Der alternde Psychologe Steinle übernimmt die Aufgabe, den spätertaubten Ilian Quindt zu begutachten. Seine rätselhafte Persönlichkeit und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten ziehen den Psychologen in Bann. Ihre Begegnungen münden zunehmend in einen psychologischen Zweikampf, der beide Protagonisten auf eine Odyssee zu ihren eigenen verschlossenen Räumen führt. Vertrauen und Sympathie füreinander wachsen bei dieser inneren Spurensuche. Gleichzeitig nehmen im Äußeren die dramatischen Entwicklungen ihren Lauf. Als Ilian Quindt spurlos verschwindet, eskalieren die Ereignisse. Eine abgründige Intrige kommt zum Vorschein…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 306

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


TAUB

Die Geschichte des Ilian Quindt

Der Autor

Wolfgang Hölzle, promovierter Psychologe, arbeitete mehr als 30 Jahre im klinischen Bereich.

Wolfgang Hölzle

T A U B

Die Geschichte des Ilian Quindt

Für die Gazelle

mit den Pumapfoten

Umschlagentwurf: Copyright © Wolfgang Hölzle

Zeichnung in Röteltechnik

Zwei Hände, Symbol aus der Gebärdensprache

Umschlaggestaltung: Mario Mayer

Impressum

Copyright: © 2014 Wolfgang Hölzle

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9111-7

Lizenzerklärung

Dieses eBook ist nur für Ihre persönliche Nutzung lizensiert

I    DIE  SAAT

1

Joshua schlief sehr unruhig in den letzten Nächten. An seinen eigenen Schreien wachte er auf. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf und hoffte, die schwere Last in seinem Innern würde entweichen. Diese Nacht hatten die Ahnen ihn erneut besucht. Er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie bei ihm waren. Ihre Botschaften konnte er jedoch nicht enträtseln. Sein Großvater hatte immer gewusst, was die Ahnen mitteilen wollten.

Vorsichtig tastete Joshua sich zum Lichtschalter. Die Glühbirne flackerte scheu. Erst als er ein paar Mal mit dem Fingerknöchel behutsam an die dünne Glashülle klopfte, erhellte das Licht den kleinen Raum.

Er blickte zum Fenster. Das Moskitonetz am Fensterrahmen hielt einfach nicht. Joshua stand auf und drückte das Netz mit dem gebogenen Nagel nochmals fest.

Weit in der Ferne zuckte der Himmel leuchtend auf. Die Gewitter brauten sich seit langem nur noch im Westen zusammen. Selbst am wolkenverhangenen Kirinyaga fiel dieses Jahr nur wenig Regen. Wie viele Wochen hatte es im Hochland schon nicht mehr geregnet, fragte er sich. An solche langen Trockenzeiten erinnerte er sich gar nicht mehr.

Sein Großvater konnte noch Regen machen. Wenn der ausgedörrte Boden der Saat kein Leben mehr einhauchen konnte, verschwand sein Großvater spurlos aus dem Dorf und alle wussten, dass er den Regen bringen würde. Manchmal erst nach vielen Tagen, aber genau mit den dunklen Wolken am Himmel, tauchte der Großvater wieder auf. Kurze Zeit später regnete es. Er war ein von allen geachteter Mann, ein Arathi, ein Seher, dem alle im Dorf viel zu verdanken hatten.

Joshua sog die trockene Nachtluft ein. Nein, der Regen würde weiterhin ausbleiben. Zögernd setzte er sich auf das knarrende Bett und versuchte, sich an die nebelhaften Bilder der Nacht zu erinnern. Er entsann sich an einen Tümpel, an ein Bachbett. Die steil aufragende Felswand, aus der zwischen den Steinplatten das Wasser rieselte, kam ihm seltsam bekannt vor und dann auch wieder nicht. Er erinnerte sich außerdem, dass er immerzu auf die andere Seite des Gewässers starrte, aber er wusste nicht weshalb. Plötzlich fielen ihm die Menschen ein, die bei ihm waren, fremde Menschen, die er nicht kannte. Diese Fremden warteten ebenfalls am Rand des Tümpels und blickten desgleichen unentwegt auf die andere Seite des Ufers. Einer dieser Fremden hatte keine Ohren. Schrecklich musste es sein, ohne Ohren zu leben.

Was bedeutete all das? Bestimmt hätte sein Großvater es ihm sagen können. Aber dieser hatte schon vor langer Zeit die große Reise angetreten, saß nun im Kreis der Ahnen, lenkte die Geschicke der Kikuyu und hatte seinen undankbaren Enkel bestimmt vergessen. Auch sein eigener Vater war nach heftigen Stammesfehden schon sehr früh zu den Ahnen gerufen worden.

Schon als Junge hatte sich Joshua geweigert, von den Alten zu lernen. Ihre Bräuche hatte er belächelt, genauso wie ihre Ehrfurcht vor dem heiligen Berg Kirinyaga. Er wollte von den Gesängen und Tänzen seines Volkes, die den Regen bringen und die Heuschrecken vertreiben sollten, nichts wissen. Wo immer es möglich war, entzog er sich der täglichen Arbeit auf den Feldern, weswegen sein Großvater ihn besonders tadelte. Joshua hielt es nicht für wichtig, regelmäßig die Zäune zu reparieren, die in den Nächten die Rinder, Schafe und Ziegen vor den Raubtieren schützen sollten.

Der Enge des Dorfes und den alltäglichen Pflichten wollte er entfliehen. In die Stadt zog es ihn. Dort wollte er groß und frei werden, allen zeigen, dass er es weit bringen würde. Sogar seinen alten Namen hatte er deshalb abgelegt, um wirklich alles hinter sich zu lassen. Aus dem heiligen Buch der Christen hatte er sich den Namen jenes Mannes ausgesucht, von dem er nur wusste, dass seine Trompeten Mauern zum Einsturz bringen konnten. Diese Vorstellung gefiel ihm, und er nannte sich fortan Joshua.

Aber in der Stadt kam dann alles ganz anders. Bald fand er sich unter den Tausenden wieder, die sich Sorgen machen mussten, wie sie im nächsten Monat ihr schäbiges Zimmer bezahlen sollten. Früh am Morgen trug er in Nanyuki Zeitungen aus, machte hin und wieder Botengänge für die Gemeinde, belud Lastwagen mit Teekisten und sammelte auf den Straßen den Müll zusammen. Dann und wann verkaufte er billiges Eis und Getränke an die Touristen oder verdingte sich als deren Kofferträger. Aufgrund seiner guten Ortskenntnisse setzte man ihn bisweilen als Fahrer bei den Safaris ein.

Erst im Laufe der Jahre begriff Joshua, wie trostlos und leer sein Leben hier verlief. Inzwischen empfand er es als Strafe dafür, dass er die Weisungen der Alten so schmählich missachtet hatte. Seither fürchtete er sich mehr denn je vor den alten Geistern. Aber die Ahnen suchten ihn nun fast jede Nacht auf. Ihre Einflüsterungen verwirrten ihn immer mehr. Dieses Mal wühlte ihn jedoch noch etwas ganz anderes auf.

Die Ahnen riefen nach ihm. Aber sie riefen dieses Mal nicht ‚Joshua‘, sondern sie nannten jenen Namen, den er abgelegt hatte und nicht mehr hören wollte. Sie riefen ihn mit ‚Erevu’ an, jenem Namen, den auch sein Großvater trug. Daraufhin war er aufgewacht. Noch immer saß er auf der Bettkante und dachte nach.

Außer diesen Fremden, außer dem Mann ohne Ohren, mahnte ihn noch ein unbestimmtes Gefühl, sich an etwas erinnern zu müssen.

Es gelang ihm nicht, so sehr er sich auch bemühte. Lange saß er unbeweglich. Erst als ein fahles Morgengrau den kommenden Tag ankündigte, löschte Joshua das Licht, legte sich nieder und versuchte, wieder zu schlafen.

Auf einmal fuhr er hoch, riss seine Augen auf und blickte ins Leere. Er erinnerte sich.

Das Bachbett. Er kannte diese Wasserstelle. Joshua entsann sich jetzt genau, dass der Großvater ihn kurz vor seiner Reise zu den Ahnen noch einmal mitgenommen hatte, um den Regen ins Dorf zu bringen. Er musste wohl elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Drei Tagesmärsche hatten sie sich schon vom Dorf entfernt. Der Großvater verbrachte den ganzen Tag in jenem ausgetrockneten Bachbett, welches ihm die Ahnen heute Nacht gezeigt hatten. Der alte Mann kauerte in der sengenden Sonne, klopfte auf die heißen Steine und sang unaufhörlich. Er berührte sie jedoch nicht mit der Hand, sondern ganz behutsam mit einem Stock, mit einem Wanderstab.

Joshua erschrak, sein Herz raste.

Hastig knipste er das Licht an, legte sich flach auf den Boden und kramte alles unter seinem Bett hervor, was ihm in die Finger kam, bis er den gesuchten Stock in seiner Hand spürte. Ganz behutsam nahm er den alten Wanderstab aus Sandelholz an sich. Er hatte ihn von seinem Großvater feierlich überreicht bekommen, bevor dieser die große Reise antrat.

Der Wanderstab diente seinem Großvater als Geistführer. Lange und vergessen hatte dieser Stock unter seinem Bett gelegen. Er wischte Staub und Spinnweben von ihm ab, hielt ihn zitternd in der Hand und betrachtete ihn ehrfürchtig. Nach oben hin gabelte sich der Stab wie ein zuckender Blitz. Raue Hände hatten im Laufe vieler Jahre alle Kanten und Astlöcher geglättet.

Joshua hatte von den Ahnen eine Aufgabe bekommen, das wusste er nun. Schlafen konnte er nicht mehr. Wie gelähmt saß er mit dem Wanderstab in seinen Händen. Plötzlich wurde ihm heiß und längst Vergessenes strömte langsam wieder in ihn ein.

Während der Großvater damals in der Abendsonne im Bachbett den Regen herbei sang, erhielt Erevu die Aufgabe, die Glut des Lagerfeuers zu hüten. Aber er hatte anderes im Sinn. Er verfolgte ein junges Gnu, das sich von seiner Herde getrennt hatte. Erevu verlief sich ein wenig und fand erst wieder ins Lager zurück, als die Sonne schon lange Schatten warf. Die Glut war in der Zwischenzeit erloschen. Als sein Großvater zum Lagerplatz zurückkehrte, schämte er sich zutiefst. Schweigend aßen sie ihr getrocknetes Fladenbrot und eine halbe Melone.

Die Sonne verschwand und es wurde rasch kühler. Erevu fror. Der Großvater sprach kein Wort, legte sich nieder, hüllte sich in eine Decke und stellte sich schlafend.

Erevu schlang ebenfalls ein wärmendes Fell um sich und drückte sich an den Großvater. Er wusste, ein brennendes Feuer hielt in der Dunkelheit die Wildtiere ab. Angespannt achtete er auf jedes Geräusch. Seine Angst ließ ihn mehr frösteln als die Kälte der Nacht.

Der Vollmond hob die Hügelkette am Horizont über der dunklen Savanne empor. Langsam drehte sich der Großvater zu seinem Enkel und setzte sich auf.

„Lege deine Hände auf die Asche, Erevu“, forderte ihn der Alte auf. Der Knabe zögerte, dann gehorchte er. Die Asche war kalt. Nun legte der Großvater ebenfalls seine Hände auf die Asche und murmelte dabei Unverständliches. Dann legte er trockenes Gras auf den Aschehaufen und darüber Zweige. Vorsichtig durchbohrte er die Asche mit einem dünnen Stock. Jetzt holte der alte Mann tief Luft und blies seinen Atem bedächtig und unendlich lange in die kleine Öffnung. Plötzlich sprang ein vergessener Funke auf, entzündete das trockene Gras, dass es nur so knisterte. Bald züngelten die Flammen um das trockene Geäst.

Im Schein des Feuers lächelte der Großvater Erevu zu: „Wir sind nie allein, Erevu. Die Ahnen sind immer mit uns. Sie wärmen uns mit der Glut des Feuers und mit dem Licht der Sonne. Sie berühren uns mit dem Wind und mit dem Regen.“

Er erzählte seinem Enkel von dem großen Gott Ngai, der die Kikuyu erschuf und der auf dem Kirinyaga zu Hause sei. Dieser lebe dort friedfertig, ohne sich allzu sehr in die Belange seiner Menschen einzumischen. Erst wenn die Ahnen sich über mangelnden Respekt der Lebenden bei ihm beschwerten, schicke er zur Strafe eine Dürre oder auch eine Flut ins Land.

Der Alte legte drei dicke Äste auf das Feuer, hob seine Hände zum Himmel und sang mit kehliger Stimme in die Nacht. Als er geendet hatte, wandte er sich mit eindringlichen Worten an seinen Enkel:

„Erevu, höre gut zu. Wir alle wandern durch drei Leben in dieser Welt. Das erste Leben bekommen wir von den Ahnen geschenkt. Es ist kostbar wie eine Saat. In dieser Saat verbirgt sich unser wertvollster Schatz. Im ersten Leben gilt es nur, diese Saat wachsen und reifen zu lassen. Dazu müssen wir gar nichts tun. Die Ahnen wachen darüber. Sie begleiten und beschützen unseren Weg mit den wachsamen Augen des Löwen. Aber wir sterben und werden dennoch wiedergeboren.“

Der Alte sah ihn dabei aufmerksam an.

„Du bist kein Kind mehr, Erevu. Du siehst Aufgaben und Verantwortung.“

Er hörte aus den bedeutungsvollen Worten des Großvaters dennoch mehr Güte als Strenge heraus, und er wusste, dass dieser ihm die Nachlässigkeit wegen des Feuers verziehen hatte.

„Bald wirst auch du sterben, Erevu. Du wirst als ein Mann erneut geboren werden“, fuhr der Alte fort.

„Im zweiten Leben zeigst du Deine Kraft und Stärke, du willst erobern und siegen. Die Welt verneigt sich vor dir und alles scheint gut. Aber sei wachsam, Erevu. Die Welt lockt dich mit Glanz und Schimmer. Sie gaukelt dir einen leuchtenden, duftenden Garten vor, der dich verzaubert und dir alles verspricht. Dennoch bleibt es ein Irrgarten, der uns schläfrig macht und betäuben will. Die Welt will deine Sinne stumpf machen, damit du den Schatz verlierst und vergisst.“

„Was ist das für ein Schatz?“, erinnerte sich Joshua, verunsichert gefragt zu haben, da er damals wenig von den Worten des Großvaters verstand.

Dieser antwortete ihm: „Der Schatz ist deine Lebendigkeit, Erevu, die Gabe, das Leben mit all deinen Sinnen zu spüren, damit du der Melodie deines Lebens folgen kannst.“

Der Alte seufzte: „Viele werden von der Welt verschlungen, noch bevor sie das dritte Leben erreicht haben. Sie finden den Ausgang aus dem Irrgarten nicht mehr und können ihre Aufgabe nicht erfüllen.“

Noch mehr verstört fragte er damals, was denn dies für eine Aufgabe sei.

„Im dritten Leben, Erevu, musst du deine Sinne wach und offen halten, um den Schatz nicht zu verlieren. Wir alle haben die Aufgabe, einander lebendig zu machen, damit unser Leben nicht ohne Sinn, nicht leer und taub verdorrt. Die Ahnen und der weise Ngai helfen uns dabei, auch wenn wir ihre Wege nicht immer verstehen. Mit dieser Aufgabe erfüllst du den Kreislauf. Am Ende bist du bereit, die große Reise anzutreten, ohne auf deiner Wanderung hier etwas schuldig geblieben zu sein.“

Joshua konnte auch heute wenig von dem enträtseln, was sein Großvater ihm mit diesen Geschichten mitteilen wollte. Nur eines erkannte er, nämlich dass sein Leben, wenn man es denn überhaupt noch so nennen konnte, ihn tatsächlich allmählich zu verschlingen drohte.

Mit einer dunklen Ahnung spürte er, dass er etwas verloren hatte, was es wiederzufinden galt. Joshua umklammerte den Wanderstab fester. Er saß und wartete, bis der Morgen dämmerte.

Schon früh setzte er sich mit dem langen Stock in seinen Händen vor den Hauseingang und schaute. Etwas würde geschehen. Er musste nur ein weiteres Zeichen erhalten, dann würde er wissen, was zu tun war.

Die Krämer schlossen ihre kleinen Läden auf, stellten Kisten und Truhen heraus, öffneten sie, ließen Stoffe in allen Farben leuchten, behängten jeden Nagel mit Gewändern, Tüchern und Hüten, mit Ringen aus Messing und riesigen Halsketten aus Bambusstücken oder Elfenbein. Unter den Sonnenschirmen stellten die Frauen ihre Körbe ab und verteilten Auberginen, Okra, grüne Bohnen und Zuckererbsen auf kleinen Holzgittern, türmten Ananas, Avocados und Melonen auf dem Boden zu kleinen Pyramiden auf und stellten kleine Büchsen mit Kahawa und Tee um sich herum auf. Die Händler schleppten ihre Karren durch die Straße und suchten die besten Standplätze. Ein klappriger Bus fuhr hupend vorüber und vertrieb Hühner und streunende Hunde.

Plötzlich kam Uzima angerannt, die Frau seines Neffen.

Sie begrüßte Joshua völlig außer Atem und berichtete in sich überschlagenden Worten, dass ein großes Unglück geschehen sei. Badru hätte sich den Arm gebrochen. Dabei sollte er doch heute mit den beiden Touristen wieder eine Fahrt in die Savanne unternehmen. Diese Fremden würden dafür gut bezahlen. Sie selbst und Badru könnten auf das Geld nicht verzichten.

Uzima bat ihn nun inständig, ob er nicht ausnahmsweise und nur für diesen heutigen Tag diese Aufgabe übernehmen könnte.

Joshua strahlte sie an, nahm sie in den Arm und bedankte sich überschwänglich bei ihr, was Uzima mit großer Verwirrung zur Kenntnis nahm.

Wenig später überreichte Badru unter vielen Erklärungen seinem Onkel Joshua die Wagenschlüssel für den Jeep und die notwendigen Papiere. Er nannte ihm ein Hotel im Westen von Nanyuki, in welchem die beiden Deutschen, ein Erwachsener und ein Kind, auf ihn warten würden.

Badru wusste, dass Joshua in letzter Zeit nur sehr ungern solche Aufgaben übernahm. Umso mehr überraschte es ihn, dass sich sein Onkel nun im Übermaß bei ihm bedankte. Joshua verstaute Badrus Wasserflasche in dem Jeep und Uzima legte ihm noch zwei große Melonen dazu.

Dann ließ er sich viel Zeit, um für den Wanderstab einen geeigneten Platz im Fahrzeug zu finden. Schließlich wickelte er ihn in ein großes Tuch und verstaute ihn so, dass er ihn während der Fahrt immer berühren konnte, wenn er wollte.

Der Jeep tuckerte davon. Badru und Uzima blickten ihm nach und konnten über ihren wunderlichen Onkel nur noch den Kopf schütteln.

2

„Wann kommt er denn endlich, Papa?“, drängelte Ilian immer ungeduldiger.

„Er wird schon kommen. Badru hat uns bisher noch nie im Stich gelassen“, beruhigte ihn sein Vater.

Dann hörten sie den Jeep mit dem kaputten Auspuff schon von Weitem. Er fuhr merklich langsamer als sonst.

Als das Fahrzeug anhielt, stieg aber nicht Badru aus. Ein hagerer kleiner Mann, dessen Alter nur mit Mühe zu schätzen war, kletterte aus dem Fahrzeug. Er zupfte an seinem übergroßen Hemd, klopfte auf seine abgewetzten Jeans, aus welcher Staubwolken entwichen. Suchend blickte er umher, entdeckte den Mann mit dem Kind, entblößte seine Zähne und ging mit breitem Lächeln auf die beiden zu.

In einem passablen Englisch begrüßte Joshua unter Verbeugungen Michael Quindt und seinen Sohn Ilian. Die beiden erfuhren nun, dass heute Badrus Onkel, Joshua, die Fahrt ins Hinterland übernehmen würde.

Ilian wollte unbedingt noch einmal Antilopen sehen und vielleicht Gazellen oder Wasserbüffel oder auch Nashörner. Die unzähligen rosagefiederten Flamingos am Nakurusee hatten ihn weniger begeistert als alle anderen Wildtiere. Vielleicht, ja vielleicht war es noch einmal möglich, einen Löwen zu sehen. Ihre Reise neigte sich dem Ende zu und Ilian war ein wenig enttäuscht, hatte er doch nur zwei Mal ganz aus der Ferne ein Löwenrudel ausmachen können. Michael Quindt teilte Joshua die Wünsche seines Sohnes mit.

In gebrochenem Englisch antwortete Joshua, dass es nur möglich sei, entweder Antilopen, Gazellen und Wasserbüffel zu sehen oder eben Löwen. Beides zugleich sei nicht machbar.

Der Vater teilte dies seinem Sohn mit, der sich mit dem einzigen Wort, das er in Swahili kannte, sofort entschied:

„Simba, Simba.“

Joshua blickte den neugierigen Jungen an, strahlte aus all seinen Zahnlücken und bedankte sich bei dem kleinen Ilian, der sich darüber ebenso wunderte wie sein Vater.

Eine Stunde fuhren sie nun schon den Bergen entgegen, ohne dass diese sich merklich näherten. Unmerklich wuchsen aus der Savanne kleine Hügelketten hervor, die der letzte Gewitterregen für kurze Zeit in einen lebendig grünen Fleckenteppich verwandelt hatte. Ein fremdartiger Duft wehte Michael Quindt hier um die Nase, der ihn an die längst vergangene Motorradfahrt durch die Eukalyptuswälder Madeiras erinnerte.

Ab und zu huschten ein paar Antilopen vorbei und eine kleine Elefantenherde erntete geruhsam in den Büschen. Ilian und sein Vater waren indessen mehr damit beschäftigt, sich im Jeep festzuhalten, als die Tiere zu beobachten. Ein heftiger Regenguss hatte die Schlaglöcher noch tiefer ausgewaschen, und der Jeep schüttelte seine Insassen erbarmungslos durch.

Nach einer Weile hielt Joshua das Fahrzeug an und gönnte seinen Passagieren eine kleine Verschnaufpause.

Ilian suchte mit dem Fernglas die Umgebung nach Tieren ab, ohne nennenswerten Erfolg. Sein Vater betrachtete den Himmel. Unzählige kleine Wolkenschiffchen mit grauem Kiel und flauschig weißen Segeln wurden vom Wind wie eine riesige Armada nach Osten gezogen. Am Horizont türmten sich bedrohliche Wolkenberge auf.

Joshua stand währenddessen aufrecht wie ein Soldat vor dem Jeep und wartete. Dann bat er die beiden, wieder in den Wagen zu steigen, es sei nicht mehr weit. Michael Quindt musste im Fahrzeug plötzlich entsetzlich husten und Blut spucken, aber er verbarg es geschickt in einem Taschentuch, sodass Ilian es nicht bemerkte.

Noch eine viertel Stunde meldete die harte Federung die Fahrbahnbeschaffenheit rücksichtslos an die Passagiere zurück, bis Joshua abrupt anhielt. Er blickte sich um, drehte dann das Steuer nach rechts, drückte das Gaspedal und fuhr in hohem Tempo quer durch die Graslandschaft.

Michael wollte ihn gerade ungehalten fragen, wie lange die Fahrt noch dauern würde, als ein neuer Hustenanfall ihn daran hinderte.

Joshua trat unvermittelt auf die Bremse. Jetzt entdeckten sie den kleinen Fluss, der viel lehmig braunes Wasser mit sich führte.

Michael Quindt wollte etwas sagen, aber Joshua bedeutete ihm mit entschiedener Handbewegung, zu schweigen. Er befahl beiden, im Jeep sitzen zu bleiben. Ganz vorsichtig stieg er aus. Das winzige Bachbett hatte sich in einen Fluss verwandelt, der das Ufer überflutete. Die heftigen Gewitter hatten hier ihre Spuren hinterlassen. Hier würden sich heute keine Tiere zeigen, dachte Joshua. Er setzte sich wieder ans Steuer und bewegte den Geländewagen langsam den Fluss entlang aufwärts, bis ein mächtiger Felsanstieg ihnen die Weiterfahrt versperrte.

Sein Herz schlug laut. Genau hier, vor den Felsen im Bachbett, hatte sein Großvater vor vielen Jahren den Regen herbei gesungen. An diese Stelle hatten die Ahnen ihn in der letzten Nacht geführt, da gab es keinen Zweifel. Mit zitternder Hand stellte er den Motor ab und kletterte aus dem Jeep. Ein tosender Wasserfall stürzte zwischen den Felswänden hervor, die unter dem Wasserdruck beinahe auseinanderzubrechen drohten. Das ausgetrocknete Bachbett hatte sich in eine brodelnde Mulde verwandelt. Von hier aus wälzte sich das braune Wasser weiter talwärts. Nichts erinnerte mehr an die Stille des Ortes, den er vergangene Nacht gesehen hatte.

Nacheinander stiegen Michael und sein Sohn aus dem Fahrzeug.

Joshua erklärte ihnen, dies hier sei ein heiliger Ort. Er bat sie, ihre Schuhe auszuziehen. Ilian zögerte, aber sein Vater nickte ihm ermunternd zu. Langsam stapften sie über die Grasnaben zum Ufer. Vom Wasserfall wehte eine kühle Brise herüber.

Joshua verbeugte sich mehrmals vor dem Fluss und wies die beiden an, es ihm gleichzutun. Dann stand er regungslos vor dem Gewässer und summte eine kleine Melodie. Urplötzlich hörte er auf und erklärte den beiden, dass sie heute leider keine Tiere sehen könnten. Die Geister hätten mit dem erbosten Wasser alle Tiere verjagt.

Seine Fahrgäste nahmen dies enttäuscht zur Kenntnis und setzten sich an das Flussufer. Ilian kerbte mit einem Stein Figuren in den feuchten Ufersand und sein Vater sah dem Wasserstrom zu, wie er in der Ferne hinter einer Biegung verschwand.

Nach einiger Zeit wollte Joshua die beiden wieder zum Aufbruch bewegen. Michael Quindt, der nach einem weiteren Hustenanfall wieder freier atmen konnte, erklärte ihm, dass sie noch ein wenig hier bleiben würden.

Gedankenverloren betrachtete er seinen Sohn, der selbstvergessen die Umrisse eines Elefanten in den Sand zeichnete. Er wünschte sich, die Zeit möge stehen bleiben. Doch er wusste, dass sie für ihn sehr bald abgelaufen sein würde.

Joshua trottete unterdessen zum Jeep zurück und leerte fast die ganze Flasche Wasser. Warum hatten die Ahnen ihn zu diesem Ort geführt? Er hatte nichts falsch gemacht. Aber der Mann ohne Ohren war nicht da. Er setzte sich in den Wagen, verscheuchte die Ameisen, die seinen Jeep erkundeten und schloss einfach ein wenig die Augen.

Michael Quindt blickte zum Horizont. Die Sonne umhüllte die Bergkette mehr und mehr mit einem rötlichen Schleier. Auf einmal bemerkte er, dass sich das hohe Gras auf der anderen Seite eigenartig bewegte. Ja, auf der anderen Seite des Flusses streifte zweifellos etwas durch das Gestrüpp. In gleichmäßigen sanften Bewegungen teilten sich hohe Halme und fielen wieder zusammen.

Michael rief seinen Sohn: „Ilian, schnell, komm her.“

Ilian rannte zu seinem Vater, der ihm mit der Hand die Richtung wies, wo irgendetwas gemächlich durch das Gras schlich, langsam und ruhig, zuerst ein Stück flussabwärts, dann wieder zurück.

„Löwen?“, fragte Ilian aufgeregt und hielt sich am Ärmel seines Vaters fest.

Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, traten zwei mächtige Löwen aus dem hohen Gras heraus und näherten sich ganz ohne Eile dem Flussufer. Sie beachteten die beiden Menschen auf der anderen Seite gar nicht. Schon längst hatten sie deren Witterung aufgenommen und sie bereits eine Weile genau beobachtet.

Joshua war unterdessen auf seinem Fahrersitz eingenickt. Eine große Ameise krabbelte an seinem Bein hoch und weckte ihn auf. Er gähnte. Als er seinen Kopf zum Ufer drehte, erstickte er mit Mühe einen Schrei.

Auf der einen Seite Vater und Sohn, auf der anderen Seite des Flusses zwei riesige Löwen, die sich ganz nahe am Ufer befanden. Er hielt sich den Mund zu, um nicht tatsächlich zu schreien. Zitternd suchten seine Hände den Wanderstock und umfassten ihn.

Dann nahm er all seinen Mut zusammen. Er trug die Verantwortung für die beiden. Schlotternd stieg er aus, näherte sich dem Ufer und bemühte sich, hastige Bewegungen zu vermeiden.

Michael Quindt sah in ein schweißnasses Gesicht, als Joshua neben ihm auftauchte. Dieser brachte in seiner Angst kein einziges englisches Wort mehr heraus, flüsterte heiser etwas in Swahili, unterstrich aber mit seinen Handbewegungen, dass sie sich schleunigst in den Wagen setzen sollten.

„Just one moment“, versuchte Michael den Fahrer zu beruhigen, hatte aber selbst doch ein mulmiges Gefühl. Dennoch wollte er unbedingt seinem Sohn diesen Anblick noch etwas länger gönnen.

Ilian registrierte Joshuas Angst gar nicht. Er war einfach sprachlos vor Glück.

Die Löwen standen jetzt direkt vor dem braunen Wasser, schnupperten daran und tranken ein wenig. Mit einem beherzten Sprung hätten sie das andere Ufer erreichen können.

Dann reckten die beiden Tiere ihre Köpfe und betrachteten in aller Ruhe die drei Menschen auf der anderen Seite, einen nach dem anderen.

Auf einmal ruhten ihre Augen ganz auf Ilian. Sein Vater zog ihn ganz zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr:

„Ilian, schau doch, sie sehen dich an, sie sehen dich wirklich an.“

Der Junge hatte mit seinen neun Jahren, umarmt von seinem Vater, keinerlei Angst vor den Löwen, sondern war restlos begeistert.

Nur Joshua zitterte. Auch er registrierte, dass die Löwen den Jungen genau in ihrem Blick hatten, ihn mit großen Augen festhielten, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Mit einem Mal wich Joshuas Angst einem unsäglichen Erstaunen. Er sah es in ihren Augen, die Löwen fixierten den Jungen gar nicht mit spitzen und scharf gestellten Pupillen. Sie suchten keine Beute. Die Pupillen der Löwen strahlten groß und weit wie die Augen der Nacht. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Aufmerksam hielten sie mit ihren Nachtaugen den Jungen fest.

Nur Löwen, so erinnerte sich Joshua an die Worte seines Großvaters, seien in der Lage, mit den großen Augen der Nacht das ganze Leben eines Menschen von der Quelle bis zur Mündung wahrzunehmen, ihn zu durchdringen bis in die entferntesten Winkel seiner Seele.

Wieder murmelte Joshua etwas Unverständliches in Richtung Ilians Vater und berührte dabei mit seinen Fingern die Stirn des Jungen.

All das bemerkte Ilian gar nicht. Er war nur unbändig stolz, dass die Könige der Savanne ihm so viel Beachtung schenkten.

Dann hielt es Joshua nicht mehr aus. Der englischen Sprache wieder mächtig, wies er die beiden energisch an, sie sollten unverzüglich in den Jeep steigen. Michael schleppte Ilian widerstrebend in das Fahrzeug. Sein Sohn konnte den Blick nicht von den Löwen lassen. Joshua startete den Motor und brauste los, fuchtelte dabei ununterbrochen mit den Händen und stieß merkwürdige Laute aus.

Ilian schaute zurück. Die Löwen rührten sich nicht von ihrer Stelle und schauten dem Jeep nach.

Zurück im Hotel redete Joshua noch aufgeregter als zuvor auf Ilians Vater ein, der ihm verwundert zuhörte. Dabei steckte er die Geldscheine für seine Dienste ein, bedankte sich und wiederholte noch einmal eindringlich seine sonderbaren Sätze. Zuletzt verbeugte er sich tief vor den beiden und berührte noch einmal Ilians Stirn.

Sein Vater wollte den Safariführer fotografieren, was dieser ängstlich ablehnte, sich aber bereit erklärte, von Vater und Sohn ein Foto zu schießen. Er knipste, drückte Michael Quindt den Apparat in die Hände, sprang in seinen Jeep und fuhr davon.

„Was hat er denn?“ fragte Ilian seinen Vater.

Dieser ging vor seinem Sohn in die Hocke und lächelte ihn an: „Joshua meinte, die Löwen seien nicht auf der Jagd gewesen, das hätte er in ihren Augen gesehen. Er war überzeugt, dass die Löwen wussten, dass du hierher kommst. Sie seien nur deinetwegen am Ufer erschienen, nur um dir zu begegnen. Er sagte, dass du nicht vergessen darfst, was sie dir mit ihren Augen anvertraut haben.“

Ilian verstand überhaupt nicht, was sein Vater ihm da erzählte.

„Aber Löwen können doch nicht mit den Augen sprechen“, entgegnete der Junge verstört.

„Ja, das stimmt. Aber vergiss trotzdem nicht, was ihre Augen gesagt haben.“ Michael streichelte ihm dabei durch sein dichtes Haar.

Es war schon dunkel, als Joshua unterwegs anhielt und den Wanderstock umfasste. Er stieg aus, den Stock in der Hand, und betrachtete den Mond, der weit im Osten hinter den Bergen emporstieg.

Er wusste, die Ahnen hatten ihn heute geleitet. Doch sie hatten ihm erneut Rätsel hinterlassen. Warum hatten sie aus dem stillen heiligen Ort einen zornigen Fluss gemacht? Und die riesigen Löwenaugen? Sie hatten den Jungen erkannt, aber wie konnte das sein? Sein Großvater hätte alles gewusst. Und wo war der Mann ohne Ohren? Er schämte sich für einen Moment, weil er sich bemühte, wie die Weißen zu fragen und zu denken. Sein Großvater war überzeugt, dass die Weißen mit ihrem Denken die Welt in Stücke teilten und damit nur Verwirrung, aber keinen Frieden finden würden.

Joshua seufzte, verstaute den Wanderstock wieder im Jeep, fuhr in die Stadt zurück, übergab seinem Neffen den Geländewagen und das ganze Geld, bedankte sich noch einmal bei ihm und machte sich mit dem Stock in der Dunkelheit auf den Heimweg.

Als er spät in der Nacht in seinem Bett lag, breitete sich eine wohltuende Wärme und Ruhe in ihm aus. Er spürte, dass es noch irgendetwas zu tun gab, aber es beunruhigte ihn nicht mehr. Denn jetzt wusste er, dass die Ahnen ihn leiten und ihm den Weg weisen würden, seine Aufgabe zu Ende zu bringen. In dieser Nacht fiel Joshua in einen langen traumlosen Schlaf.

Zwei Tage später fuhren Michael Quindt und sein Sohn Ilian in einem scheppernden Taxi zum Bahnhof. Während der Zugfahrt ließen sie sich noch ein letztes Mal von der Weite des Landes, von den Farben und den fremden Gerüchen verzaubern.

Am Abend stiegen sie in Nairobi ins Flugzeug.

3

„So, Ilian, genug für heute“, lächelte ihn seine Mutter an und legte das Buch beiseite.

„Nur noch eine Seite, bitte“, bettelte Ilian.

„Nein, jetzt ist es wirklich genug. Ich hab‘ dir ja schon fast die ganze Geschichte vorgelesen. Jetzt ist Schlafen angesagt, mein kleiner Großer.“ Sie begrub seine Proteste mit einem lauten Kuss.

Ilian kostete ihre Nähe und Wärme aus, die er so lange vermisst hatte. Es tat ihm wohl, zu sehen, dass es ihr besser ging, dass hinter ihrer Trauer auch wieder Freude aufleuchtete.

Er spürte ebenso, dass sie seine Nähe suchte, auch wenn sie ihren Kopf hin und wieder abwandte, um sich einige Tränen aus den Augen zu wischen.

Eingerollt lag sein Kopf oft auf ihrem Schoß. Dabei hielt er die Augen weit offen und ließ sich von ihrer Stimme in die Ferne tragen, in die Savannen und Steppenlandschaften. Er begegnete Löwen und Elefanten, Zebras und Antilopen, wie sie auf der Suche nach Weideplätzen und Wasserstellen viele Gefahren zu bestehen hatten.

Dabei schweiften seine Erinnerungen zurück an jene Safarireise nach Kenia vor zwei Jahren. Diese Reise war das erste große Abenteuer in seinem Leben. Alle Erlebnisse hatten sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.

Seine Mutter war damals gegen die Reise gewesen, hatte Angst, dass Ilians Atembeschwerden dort zunehmen könnten, deckte ihn und seinen Vater mit Tabletten, Asthmasprays und Ratschlägen ein. Ilian hatte während dieser Reise so wenige Atembeschwerden wie noch nie, nur sein Vater hustete häufiger als sonst.

Er wusste damals nicht, dass sein Vater krank war, sterbenskrank. Zurück aus dem Urlaub hörte dessen fürchterlicher Husten gar nicht mehr auf. Ilian konnte den körperlichen Verfall seines Vaters nicht verstehen. Aber er wusste mit einem Mal, dass er mit ihm nie mehr das große weite Land besuchen würde.

Ilian weinte nicht am Grab. Er beobachtete nur versteinert den dunkelbraunen Sarg, der unter den Trompetenklängen einer kleinen Kapelle langsam in die Erde gelassen wurde.

Seine Mutter weinte tagaus, tagein. Ilian wollte sie trösten. Er versuchte, stark zu sein und schob seine Trauer beiseite, ohne es selbst zu bemerken.

Dennoch konnte er den Schmerz seiner Mutter nicht lindern. Irgendwann weinte sie nicht mehr, saß nur noch schweigsam und blickte aus erloschenen Augen.

Daraufhin zogen sie zu den Großeltern. Auch hier besserte sich der Zustand seiner Mutter nicht. Morgens wollte sie nie aufstehen, konnte es nicht. Tagsüber schaute sie meistens abwesend durch die Fenster.

Als er eines Tages von der Schule nach Hause kam, war seine Mutter fort. Er erfuhr, dass sie für einige Zeit in einem Krankenhaus leben würde, sie brauche Ruhe und Abstand von allem.

Nach der Hausaufgabenüberwachung durch seine strenge Großmutter versuchte er, so schnell er konnte in den weiträumigen Garten zu entkommen, in welchem es immer etwas Neues zu entdecken gab. Einmal fand er unter einem Busch sogar einen kleinen Igel. Zusammen mit seinem Großvater fütterte er diesen heimlich, ohne dass die Großmutter davon erfuhr. Später bastelten sie für das Igelkind einen Unterschlupf. Zuletzt zimmerten die beiden zum Entsetzen der Großmutter ein kleines hölzernes Igel-Haus mit festem Dach.

Seinen Großvater, der bislang die meiste Zeit zurückgezogen im Hause verbrachte, zog es mit einem Mal häufiger in den Garten. Er erzählte seinem Enkel etwas über die alten Bäume, holte bald Rechen und Gartenschere hervor, die sonst nur die Gärtner in die Hände nahmen, und er zeigte ihm, wie man einen Baum schneidet. Die Großmutter schimpfte, der Großvater lachte wieder mehr, Ilian freute sich und der kleine Igel wuchs prächtig heran.

Die beiden Verschworenen schmiedeten immer wieder Pläne, wie sie der gestrengen Großmutter entwischen konnten.

Ilian war erleichtert, als seine Mutter nach langer Zeit wieder vom Krankenhaus zurückkehrte. Sie war blass und dünn geworden, erholte sich aber zusehends. Bald ging sie fast jeden Abend aus. Aber sie vergaß nie, ihm zuvor einige Seiten aus den afrikanischen Märchen vorzulesen.

Eines Tages stand sie plötzlich mit Werner da.

Seine Großmutter war von dem gepflegten jungen Mann mit den guten Manieren begeistert. Werner handelte mit Arzneien, verkaufte diese sogar nach Afrika, wie man ihm sagte.

Der Großvater war von der neuen Errungenschaft seiner Tochter weniger angetan. Ilian hörte, wie seine Mutter und der Großvater jetzt häufiger in Streit gerieten.

Werner brachte ihm bei jedem Besuch ein Geschenk mit. Einmal bekam er sogar ein kleines Gibbonäffchen, dass er ‚Tonka‘ taufte. Von diesem Zeitpunkt an, schloss er Werner in sein Herz, ganz egal, was der Großvater von ihm hielt.

Vier Monate später heirateten seine Mutter und Werner.

Das kleine Äffchen war neben der wunderschönen Braut die Attraktion auf der Hochzeit.

Danach zogen sie in die Stadt. Es fiel Ilian schwer, seinen Großvater zu verlassen. Er weinte und auch der Großvater hatte Tränen in seinen Augen. Dieser nahm ihn zur Seite und versprach ihm, dass er auf jeden Fall für den Igel weiterhin gut sorgen werde.

Die Zoobesuche mit Werner und seiner Mutter ließen bald ebenso nach wie die Besuche beim Großvater, auch wenn Ilian noch so sehr drängelte. Das Lachen seiner Mutter verschwand wieder. Ihre Stirn lag häufiger in Falten und zum Vorlesen hatte sie längst keine Lust mehr. Wenn Werner oft nach vielen Tagen von einer Reise zurückkehrte, schlossen sich die beiden ein und nach einiger Zeit hörte er sie streiten.

Ilian wollte wieder zurück zu seinem Großvater, zumindest ihn häufiger besuchen. Werner war meistens dagegen. An einem Sonntag beharrte Ilian so sehr auf den Besuch, dass Werner zähneknirschend einlenkte. Heute würde er also den Großvater, die Großmutter und ebenso den kleinen Igel wiedersehen. Er erinnerte sich noch daran, wie aufgeregt er an jenem Tag war. Vielleicht bekam er deshalb schon früh am Morgen seine Atembeschwerden. Er konnte es einfach kaum erwarten, seinem Großvater die neuen Kunststückchen von Tonka zu zeigen, wie dieser mit einem Tennisball werfen konnte.

Auf der Fahrt dorthin endete alles.

Ilian hatte eine feste Mauer um sich gebaut. Es gab weder Türen noch Fenster. Keine Verbindung mehr nach draußen, das war Ilian das Wichtigste. Niemandem sollte es jemals gelingen, hier einzudringen. Jedes trojanische Pferd hatte er schon aus der Ferne erkannt und den Einlass verwehrt. Allen Belagerungen und Lockungen hielt er mühelos stand.

Inzwischen hatte man es aufgegeben, seinen schützenden Panzer zu durchbrechen.

Deshalb wusste er nicht genau, was mit einem Mal da draußen vor sich ging. Es war anders als sonst. Jemand scherte sich einen Teufel um sein Bollwerk, schlug mit aller Macht gegen seine Mauern und drang unbarmherzig und schmerzhaft zu ihm vor. Dennoch dauerte es lange, bis er jene schmale Frau mit dem blauen T-Shirt wirklich wahrnahm, aber auch das erst, nachdem sie ihm schmerzhaft die Arme verdrehte. Nur kurz hob er den unsichtbaren Kokon und blickte in freundliche aber angespannte Gesichtszüge.

Johanna verhinderte seinen erneuten Rückzug dadurch, dass sie ihm die Ohren lang zog, bis er schrie und nach ihr trat. Sie konnte seinen Tritt nur mühsam mit den Händen abwehren, schlug dabei ihre eigene Hand hart gegen die Tischkante, dass sie aufschrie und das Gesicht verzerrte. Gebannt beobachte Ilian ihren offenen Mund und die Grimasse, ohne dass er auch nur das Geringste hören konnte.

Noch einmal trat er mit seinem Fuß gegen sie. Dieses Mal wich Johanna geschickt aus und strahlte ihn triumphierend an.

Sie wusste nicht, wie lange er diese innere Luke offen halten würde. Rasch hielt sie sich eine Tafel neben ihr Gesicht, auf der ‚Ich heiße Johanna‘ stand. Sie wiederholte diesen Satz mehrmals überdeutlich und versuchte, den Jungen mit ihrem Blick festzuhalten. Es gelang.

Sofort zeigte sie ihm eine zweite größere Tafel. ,Ilian, ich kann Dich hören‘, hatte sie darauf geschrieben. Unaufhörlich wiederholte Johanna diesen Satz mit ausdrücklichen Lippenbewegungen.

‚Ich kann Dich sprechen hören, Ilian, auch wenn du deine Stimme nicht hörst‘, stand auf der nächsten Tafel. Überdeutlich formten ihre Lippen diese Worte.

Er verstand den Satz nicht, wendete seinen Blick ab, bis sie ihm erneut in beide Ohren kniff.

Noch immer blickte Ilian erstaunt in ihr Gesicht. Johanna legte die Tafel beiseite, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie lächelte ihn an, streckte ihre Arme aus und zog ihn behutsam zu sich heran. Der Junge ließ es geschehen. Er zitterte.

Zuletzt wiegte sie ihn unendlich lange in ihren Armen, sang ein Lied nach dem anderen und ließ ihn die Vibrationen ihres Brustkorbes spüren, bis sein Zittern nachließ.